Digitalisierung -  - E-Book

Digitalisierung E-Book

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Beschreibung

Diese Ausgabe befasst sich mit dem topaktuellen Thema Digitalisierung. Sie durchdringt inzwischen alle Lebensbereiche. Dies eröffnet Chancen und Möglichkeiten, ebenso jedoch fordert es den Einzelnen und die Gesellschaft, die Politik und die Wissenschaften. Wie also kann und muss heute fruchtbringend und verantwortungsvoll mit Digitalisierung – auch praktisch – umgegangen werden?

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InhaltsverzeichnisThPQ 168 (2020), Heft 2

Schwerpunktthema:

Digitalisierung

Ines Weber

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Martin Faßnacht

Liberté, Egalité, Solidarité. Die retrospektive und prospektive Digitalisierung der ThPQ

1 Liberté, Egalité, Solidarité

2 Digitalisierungsprojekte an der Universitätsbibliothek Tübingen im Bereich der Theologie

3 Arbeitsschritte in einem Digitalisierungsprojekt

4 Art des Digitalisierungsprojektes: retrospektiv und/oder prospektiv?

5 Workflow Digitalisierung ThPQ

6 Präsentation und Distribution

Franz Böhmisch

Handschriftenforschung mit Computer und Smartphone. Digitalisate zu Tobit und Sirach

1 Genizafragmente

2 Hebräische Tobitfragmente aus der Geniza

3 Methoden zur Auffindung zusammengehörender Handschriften (sog. „joins“)?

4 Neue Handschriften und theologische Erkenntnisse

5 Die Gestaltung der griechischen Sirachhandschriften

6 Ausblick

Annett Giercke-Ungermann

Chancen und Herausforderungen digitaler Lehr-/Lernkonzepte in der Theologie

1 Mögliche Chancen einer E-Learning-Kultur

2 Herausforderungen auf dem Weg zu einer E-Learning-Kultur

3 Ein abschließender Ausblick

Ewald Staltner

„Design- und Digitalisierungsmanagement“. Antworten der Praxis auf die Herausforderungen der digitalen Transformation

1 Digitalisierung

2 Gesellschaft 4.0

3 Arbeit 4.0

4 Herausforderungen für die Bildung

5 Fachrichtung Design- und Digitalisierungsmanagement

Viera Pirker

Digitalität als ‚Zeichen der Zeit‘?

1 Was kennzeichnet ‚Zeichen der Zeit‘?

2 Digitalität als Kontext

3 Theologie und Digitalität

4 Digitalität als ‚Zeichen der Zeit‘

Michael Fuchs

Digitalisierung – Eine Zeitdiagnose

1 Szenarien der Vernetzung

2 Szenarien der Steigerung und Selbsttranszendenz

3 Szenarien der Ersetzung

4 Szientismus und menschliche Zukunft

Abhandlungen

Gudrun Becker

Die Linzer Synagogen – Eine Zeitreise

Tag des Judentums 2019

Günter Merz

Von Kaisers „Gnaden“ – Geduldet, aber nicht gewollt. Adlergasse 10

Verena Wagner

Zwei bedeutende jüdische Sakralbauten der Vergangenheit in Linz a. D.

1 Das Bethaus an der Marienstraße (1861–1877)

2 Die Synagoge an der Bethlehemstraße (1877–1938)

Literatur

Marianne Grohmann

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

„Mehr Mut zu digitaler Bildung“, so lautete das Ergebnis einer Umfrage, die vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos Public Affairs mit 9.005 Personen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren in neun Ländern durchgeführt und von der Vodafone Stiftung im September 2019 veröffentlichte wurde. Laut dieser Studie stellen die Deutschen „der digitalen Bildung in Deutschland“ im Vergleich zu anderen Ländern „ein schlechtes Zeugnis aus. Nicht einmal ein Viertel der Deutschen (23 Prozent) bewertet die digitale Bildung an Schulen als gut oder sehr gut. Noch unzureichender wird die Situation an Kindergärten bewertet.“1 Dabei böte die Digitalisierung, die inzwischen alle Lebens- und Arbeitsbereiche, bewusst oder unbewusst, offensichtlich oder versteckt, erfasst sowie verändert hat, ja permanent weiter verändert, vielfältige Chancen und Möglichkeiten. Sie fordere aber auch heraus: den Einzelnen und die Gesellschaft, die Politik und die Wissenschaften sowie den gesamten Bildungssektor. Demnach stellen sich folgende Fragen: Wie gilt es in und durch Bildung mit der digitalen Welt umzugehen? Sind digitale und digitalisierte Informationen schon Wissen bzw. Erkenntnis oder welche Form der Aneignung ist vonnöten? Wie wirkt sich die Digitalisierung auf den Menschen, das Bild von ihm und seine Rolle im Geschehen um die Digitalisierung aus? Vor diesem Hintergrund will das aktuelle Themenheft – sehr praktisch – nachfragen, wie heute fruchtbringend und verantwortet mit Digitalisierung umgegangen werden kann und muss.

In diesem Sinne wird das Heft vom Leiter der Fachinformationsdienste und Koordinator des Index Theologicus an der Universitätsbibliothek Tübingen, Martin Faßnacht, eröffnet. Er zeigt überaus anschaulich, welchen Gewinn das Digitalisieren von wissenschaftlicher Literatur nicht nur für Forscherinnen und Forscher bringt, sondern auch für jene Menschen, die sich geografisch fern von Präsenzbibliotheken bilden wollen. Erläutert wird ein solcher Digitalsierungsvorgang am Beispiel unserer eigenen Zeitschrift, der ThPQ. Den Mehrwert von Digitalisaten verdeutlicht auch Franz Böhmisch, ehemaliger Assistent am Institut für Bibelwissenschaften des Alten und Neuen Testaments an der Katholischen Privat-Universität Linz. Er führt uns mitten in die Welt der Forschungswerkstatt biblischer Handschriften und Fragmente. Dank der Digitalisierung sind diese inzwischen nicht nur weltweit erreichbar, sie können auch mittels computergestützter Spezialprogramme viel genauer und mit überraschend neuem Erkenntnisgewinn ausgewertet werden, als dies noch in Zeiten des analogen wissenschaftlichen Arbeitens möglich gewesen ist. Vor welchen Herausforderungen die universitäre Lehre im Bereich der Theologie im Hinblick auf e-Learning steht und wie entsprechende Lehr-Lern-Konzepte verantwortet und mit einem wirklichen Kompetenzzugewinn für Studierende aufgebaut werden müssten, fragt Annett Giercke-Ungermann, Referentin im Fernstudiengang Religionspädagogik sowie Referentin für e-Learning an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Für den schulischen Bereich gibt Ewald Staltner, Direktor der Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe Steyr, eine Antwort. Angesichts der Veränderungen, welche die Digitalisierung in der Arbeitswelt nach sich gezogen hat, hat man einen neuen Schulzweig, ausgestattet mit einem völlig neuen Lehrplan und innovativen Lehr-Lern-Konzepten, kreiert und installiert. Im Anschluss an diese praktischen Beispiele thematisiert Viera Pirker, Universitätsassistentin am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien, die Digitalisierung und ihre Folgen aus theologischer Perspektive. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse fordert sie eine Reflexion über das Menschsein bzw. das Menschenbild als solches und damit auch über die Rolle des Menschen und sein Handeln im fortschreitenden Digitalisierungsprozess. Michael Fuchs, Professor für Praktische Philosophie/Ethik an der Katholischen Privat-Universität Linz, schließt hier direkt an, wenn er das gegenüber dem 19. sowie 20. Jahrhundert veränderte Menschenbild nachzeichnet und dabei darauf aufmerksam macht, dass einzig dem Menschen die Fähigkeit innewohnt, kritisch zu denken und verantwortet zu handeln, eine Fähigkeit, die angesichts einer sich scheinbar dem technischen Fortschritt ausgeliefert fühlenden Menschheit nicht aus den Augen verloren werden darf.

Bereichert wird unser Heft durch drei freie Beiträge, die allesamt als Vorträge am Tag des Judentums im Jahr 2019 an der Katholischen Privat-Universität gehalten worden sind. Den Auftakt macht Gudrun Becker, die uns auf einen virtuellen Stadtrundgang durch das jüdische (Glaubens-)Leben in Linz mitnimmt. Im Anschluss daran erläutert Günter Merz, in welcher Weise Juden nach 1740 in Linz zwar geduldet waren, welche Einschränkungen jedoch damit im religiösen Leben sowie im Alltagsleben verbunden gewesen sind. Verena Wagner schließlich führt sehr plastisch die Entstehungs- und Errichtungsgeschichte der beiden jüdischen Gotteshäuser – Bethaus und Synagoge –, aber auch die Zerstörungsgeschichte, eingebettet in die beeinflussenden sozialen und gesellschaftlichen Faktoren, vor Augen.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Jede Epoche, jedes Jahrhundert, jedes Jahrzehnt birgt ihre/seine ganz eigenen Herausforderungen. Das gilt auch für unsere Zeit. Heutige Technologisierungs- und Digitalisierungsprozesse werden vielfach mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verglichen. Ein derartiger Abgleich allerdings ist angesichts der beschleunigten und viel tiefergreifenden Veränderungsprozesse im 21. Jahrhundert kaum möglich. Eine Grundkonstante jedoch lässt sich benennen: Der Mensch! Ihm war und ist es stets Gabe wie Aufgabe, sich den Neuerungen wünschenswerterweise kritisch reflektiert zu öffnen und diese verantwortet zu nutzen, um so seine wie seiner Mitmenschen Zukunft fruchtbringend mitzugestalten.

Kleinere Veränderungen gehen auch am Redaktionsteam nicht vorüber. Andreas Telser, Assistenzprofessor am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik, der unsere Arbeit mehr als zwei Jahre mit seinem profunden Wissen und seinem kritischen Blick bereichert hat, wird uns verlassen. Ihm sei im Namen der gesamten Redaktion herzlich für seine solide Arbeit gedankt. Wir wünschen ihm für seine weiteren Wege alles erdenkliche Gute und Gottes Segen. Klara-Antonia Csiszar, Professorin für Pastoraltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz, wird seinen Platz in der Redaktion einnehmen. Darüber freuen wir uns sehr!

Ihre

Ines Weber

(Chefredakteurin)

1https://www.vodafone-stiftung.de/kurzstudie-mehr-mut-zu-digitaler-bildung/ [Abruf 01.03.2020]

Martin Faßnacht

Liberté, Egalité, Solidarité

Die retrospektive und prospektive Digitalisierung der ThPQ

♦ War es bis vor nicht allzu langer Zeit unumgänglich, besonders Fachliteratur in Bibliotheken zu entlehnen, so bieten heute via Internet abrufbare Digitalisate öffentlichen Zugang zu schier unerschöpflichen Quellen schriftlichen Schaffens – dies unabhängig von Ort, Zeit und Stand. Welchen konzeptionellen, logistischen und technischen Aufwand sowie Mehrwert ein solches Projekt bedeutet, zeigt unser Autor, Leiter der Abteilung Fachinformationsdienste und Koordinator des Index Theologicus an der Universitätsbibliothek Tübingen, exemplarisch anhand der aktuell in Umsetzung begriffenen Digitalisierung der Theologisch-praktischen Quartalschrift. (Redaktion)

Vor nicht allzu langer Zeit war der Besuch einer Bibliothek der einschlägige Weg, Zugang zu wissenschaftlicher Literatur zu erhalten. Hatte die Leserin / der Leser die Bibliothekspforten durchschritten, stand ihr / ihm der Weg zum Buch frei. Oder doch nicht ganz? Während meiner Mitarbeit am Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster bekannte mir eine italienische Kollegin, eine ihrer befreienden Erfahrungen im wissenschaftlichen Informationssystem sei der freie Zugang zum Buch in einer deutschen Bibliothek gewesen. Keine Bestellscheine ausfüllen, kein Schlange stehen vor Bibliotheksschaltern, keine Wartezeit bei der Bereitstellung der Bücher, kein Vertrösten auf den nächsten Tag! Nun ist es auch in einer deutschen Bibliothek noch keine Ewigkeit her, seit die Nutzer mit Mantel und Tasche in die Bibliothek marschieren, am Regal das Buch entnehmen und sogleich entlehnen können – und in vielen italienischen Bibliotheken dürfte sich diese Praxis mittlerweile ebenso etabliert haben. Auch wenn es nach wie vor Bücher gibt, die bestellt werden müssen – vor allem die Schützenswerten –, steht fest: Der freie Zugang über ein Freihandmagazin hat viele Erwartungen der Nutzer an die Zugänglichkeit benötigter Literatur mit einem Schlag erfüllt.

Erwartungen und Bedürfnisse der Nutzer in Bezug auf den Zugang haben sich in den letzten Jahren rasant verändert. Im Zeitalter der Digitalität gehen sie weit über die analogen Bedürfnisse hinaus und sind nur noch durch Breitbandgeschwindigkeit und Hardware limitiert. Heutzutage muss man immer seltener Bibliotheksportale durchschreiten, vielmehr genügt es, Onlineportale aufzurufen, um die benötigte Literatur direkt auf seinem Mobile Device lesen und nutzen zu können, weil neue Inhalte durchgängig elektronisch produziert und publiziert werden. Das gilt für die alten Druckausgaben naturgegeben nicht. Da sich aber auch die vorgängig analog publizierten Inhalte dem digitalen Paradigma nicht verweigern können, ohne immer seltener wahrgenommen zu werden, haben sich viele Kulturinstanzen der Aufgabe angenommen, diese Inhalte in das digitale Format zu transformieren. Auch die Universitätsbibliothek Tübingen – u. a. mit ihren Fachinformationsdiensten – ist daran aktiv beteiligt.

1 Liberté, Egalité, Solidarité

Elektronisch verfügbare Texte rufen nach wie vor Kritik auf den Plan. Und es ist angesichts der digitalen Möglichkeiten sicherlich klug, nicht über-optimistisch zu werden. Lesegewohnheiten, Vorteile des haptischen Mediums, Energieverbrauch und Langzeitspeicherung elektronischer Information sind dabei einige Stichwörter. Das digitale Paradigma ist aber dem unbedarften Leser nicht von außen aufgezwungen, sondern bietet sich dem Leser selbstverständlich an. Es ist vergleichbar dem Wikipedia-Kritiker, der seine Studierenden übertrieben vor dem Gebrauch der Online-Enzyklopädie auf seinem Fachgebiet warnt und in allen anderen Fällen selbst darin nachschlägt.

Was ist also der Vorteil elektronisch verfügbarer Texte? Oder präziser formuliert: elektronischer Texte, die im Open Access frei zugänglich sind?

Die drei gering modifizierten Schlagwörter der französischen Revolution fassen prägnant die enormen Vorteile zusammen: Freiheit, unabhängig örtlicher Gegebenheiten zu jeder Tages- und Nachtzeit schnell auf die Texte zugreifen zu können; Chancengleichheit, ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Statusgruppe, für die heutzutage Lizenzen erworben werden (z. B. der Gruppe von Lehrenden und Studierenden einer Universität), oder ohne die Privilegien wohnortnaher Informationsstrukturen lesen, sich bilden und forschen zu können; Solidarität und wirtschaftliche Sparsamkeit, den elektronischen Zugang nur einmal bezahlen zu müssen und nicht von jedem Nutzer (oder seiner Bibliothek) einzeln und durch jährliche Lizenzierung1 auf alle Ewigkeit immer wieder.

Es kommt also weder auf Wohnort noch Status und auch nicht auf das Budget des Einzelnen oder der einzelnen Bibliothek an, ob ein Buch oder eine Zeitschrift vor Ort zugänglich ist oder nicht. Und das ist nicht nur im Hinblick auf die Solidarität mit Nutzern aus Entwicklungsländern, sondern auch schon im Hinblick auf die sehr unterschiedliche Ausstattung der Bibliotheken in Deutschland ein wichtiger Gesichtspunkt.2

2 Digitalisierungsprojekte an der Universitätsbibliothek Tübingen im Bereich der Theologie

Die Universitätsbibliothek Tübingen hat im Bereich der Theologie ein erstes Digitalisierungsprojekt 2010 gestartet. Zentrale Quellen zur „Deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts“ wurden online gestellt.3 Die Vorgabe lautete, dass nur Quellen in das Projekt aufgenommen werden, die nicht schon anderweitig digital zur Verfügung standen. Zwanzig Zeitschriften und 58 Bücher wurden ausgewählt, insgesamt wurden mehr als 500.000 Einzelseiten und ca. 46.000 Metadaten erzeugt.

Ein zweites Projekt schloss sich mit der Digitalisierung von zwei renommierten Rezensionszeitschriften an. 66.000 Rezensionsartikel und 109.000 Metadaten aus dem Theologischem Literaturblatt (1880 –1943) und der Theologischen Literaturzeitung (1876 –1995) wurden im Open Access publiziert. Wurden die beiden ersten Projekte anteilig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Universitätsbibliothek Tübingen finanziert, so konnte für das dritte Projekt die Diözese Rottenburg-Stuttgart als Ko-Finanzier gewonnen werden: während die Jahrgänge 1819 –1900 der Theologischen Quartalschrift (ThQ) schon im ersten Digitalisierungsprojekt digitalisiert wurden, stehen nun auch alle Artikel von 1901– 2005 digital zur Verfügung.

Die Auswahl der Quellen in den bisherigen Projekten basiert auf verschiedenen Kriterien: Im ersten Projekt wurden die Quellen nach inhaltlichen Kriterien ausgewählt, im zweiten Projekt lagen formale Kriterien zugrunde (Gattung Rezension).

Das jetzt anstehende vierte und bei der DFG zur Förderung eingereichte Digitalisierungsprojekt, in dessen Rahmen auch die Jahrgänge 1848 – 2015 der Theologisch-Praktischen Quartalschrift (ThPQ) digitalisiert werden sollen, hat ein völlig anderes Auswahlkriterium. Da die theologische Fachcommunity in Deutschland eine umfangreiche Retrodigitalisierung theologischer Fachzeitschriften als ein wichtiges Desiderat ansieht, hat die UB Tübingen ein Massendigitalisierungsprojekt initiiert, an dem außer der ThPQ noch weitere 66 Zeitschriften teilnehmen. Die Auswahlkriterien lauten: Die Zeitschriften müssen im Index Theologicus (IxTheo) ausgewertet werden (Qualitätskriterium) und sind noch nicht oder nur teilweise schon digital verfügbar. Um das Projekt logistisch handhaben zu können, wurden nur deutschsprachige Zeitschriften in das Projekt aufgenommen. Nach Beendigung des Projekts stehen mehr als 150.000 Aufsätze und Rezensionen neu im Open Access weltweit zur Verfügung. Damit wird systematisch die Lücke fehlender retrospektiver Open Access Stellung von theologisch wichtigen Zeitschriften verkleinert.

Ein wichtiger Unterschied zu den früheren Digitalisierungsprojekten besteht darin, dass sich die Digitalisierung nicht nur retrospektiv auf das Material bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bezieht, sondern nach dem Prinzip der Moving Wall jährlich ein weiterer Jahrgang, der aus der Embargofrist fällt, online gestellt werden kann.4 Dadurch wird das Geschäftsmodell der Printzeitschriften nicht gefährdet, gleichzeitig werden die Inhalte aber zeitverzögert elektronisch verfügbar. Für ein solches „mitlaufendes“ Verfahren braucht es andere Tools und Workflows als bei abgeschlossenen Digitalisierungsprojekten.

3 Arbeitsschritte in einem Digitalisierungsprojekt

Im Rahmen eines Zeitschriften-Digitalisierungsprojektes fallen prinzipielle Arbeitsschritte an:

1. Jede einzelne Seite einer Printzeitschrift wird gescannt und im TIFF-Format unter einem eindeutigen, sprechenden Dateinamen abgespeichert.

2. Jeder einzelne Aufsatz und jede einzelne Rezension wird formal katalogisiert: Erfassung der Metadaten wie Autor, Autoren-Identitätsnummer (GND)5, Titel, Untertitel, Seitenzahl sowie die Zuordnung zu Heft, Band und Jahrgang.

Wenn die Ressourcen dazu vorhanden sind, außerdem:

3. Inhaltliche Erschließung: Jeder Aufsatz wird verbal mit Schlagwörtern und/oder klassifikatorisch mit Notationen erschlossen.

Die beiden ersten Arbeitsschritte sind obligatorisch, da sonst die Scans einem Aufsatz nicht zugeordnet werden können. Es muss ja bestimmt werden können, dass z. B. die ersten zehn Scans zu Aufsatz A und die nächsten fünf Scans zu Aufsatz B gehören. Die Katalogisierung der Aufsätze wie die Zuordnung der einzelnen Scans zu den Aufsätzen kann in einem großen Digitalisierungsprojekt nicht händisch erfolgen. Hier werden halb-automatische Verfahren eingesetzt, um große Stückraten pro Stunde zu erreichen.

4 Art des Digitalisierungsprojektes: retrospektiv und/oder prospektiv?

Die Wahl der Tools hängt von der Art des Digitalisierungsprojektes ab. Ist es abgeschlossen oder sollen nach dem Moving Wall Prinzip auch zukünftig regelmäßig ganze Jahrgänge ins Open Access überführt werden?

In retrospektiven, abgeschlossenen Projekten genügt es, die Präsentation der Digitalisate verschiedener Zeitschriften in einer großen Digitalisierungsumgebung unter einheitlicher URL zu organisieren. Die UB Tübingen verwendet dazu die an der Universitätsbibliothek Heidelberg entwickelte Software DWork.6 DWork ist darauf ausgelegt, als Frontend für die Nutzer eine gut funktionierende Präsentationsschicht bereit zu stellen und zugleich als Backend für die Organisation der Metadaten und Scans zu dienen. Für prospektive Projekte ist DWork jedoch nicht geeignet. Hier brauchen die Herausgeber und Schriftleiter selbst die Möglichkeit, Metadaten und PDFs der einzelnen Aufsätze eingeben, hochladen und gemäß den Absprachen mit dem Verlag mit einem Zeitstempel versehen zu können, so dass nach Ablauf der Embargofrist der Aufsatz automatisch ins Open Access überführt wird, ohne dass nach Jahren noch etwas an den Datensätzen verändert werden muss. Für eine solche Anforderung ist die Software Open Journal Systems (OJS) geeignet.7

OJS bietet die Möglichkeit, jeder am Digitalisierungsprojekt beteiligten Zeitschrift einen Internetauftritt mit eigenständiger URL und hoher Sichtbarkeit sowie der Indizierung durch die wichtigsten Suchmaschinen wie Google zu garantieren. Als Backend für die prospektive Erfassung von Aufsatzmetadaten und dem Hochladen von PDFs neuer Hefte ist es eine weltweit tausendfach genutzte und bewährte Software. Als Backend für retrospektive Digitalisierungsworkflows wie z. B. der automatischen Zuordnung von Scans und Katalogisat ist OJS allerdings ungeeignet. Die UB Tübingen wird deswegen bei dem kommenden Digitalisierungsprojekt sowohl DWork als auch OJS einsetzen und somit das Beste beider Tools nutzen. In DWork als Backend werden die Workflows abgearbeitet, danach werden die Metadaten samt PDFs nach OJS als Frontend migriert.

5 Workflow Digitalisierung ThPQ

Die folgend dargestellten Arbeitsschritte sind für jede am Projekt beteiligte Zeitschrift durchzuführen und werden modellhaft an der ThPQ skizziert:

1. Scannen der ThPQ Jahresbände von 1848 bis einschließlich 2015 durch einen externen Dienstleister: hochgerechnet ca. 42.500 Seiten.

2. Katalogisierung von hochgerechnet ca. 4.400 Aufsätzen und Rezensionen der ThPQ nach bibliothekarischen Qualitätsstandards im gemeinsamen Katalog K10plus des Südwestdeutschen Bibliotheksverbundes (SWB) und des Gemeinsamen Bibliothekverbundes (GBV). 63 % können dabei mit einem halb-automatischen Verfahren bearbeitet werden. Das Software Programm der Firma ImageWare (Bonn) übernimmt die Metadaten strukturiert aus dem Inhaltsverzeichnis.8 In 37 % der Fälle sind die Inhaltsverzeichnisse der ThPQ in Fraktur gedruckt oder anderweitig nicht für das bildgestützte ImageWare Verfahren geeignet und müssen händisch katalogisiert werden.

3. Anlegen eines Projektes für jeden Jahrgang der ThPQ in DWork.

4. Jahrgangsweises Einlesen der 42.500 ThPQ-Scans nach DWork.

5. Semi-automatisches Editieren der Seitennummern in DWork.

6. Export der Metadaten der einzelnen ThPQ Aufsätze und Rezensionen aus dem SWB und Import nach DWork.

7. Strukturdatenerfassung: Zusammenfassung von Titelseite, Vorwort etc. als Strukturdatum Frontmatter; Strukturdatum Inhaltsverzeichnis; Zusammenfassung von nicht wissenschaftlichen Textbeiträgen, Verzeichnissen etc. als Strukturdatum Backmatter.

8. Zuordnung der Scans zu den Metadaten der Aufsätze/Rezensionen. Aufgrund der sowohl in DWork als auch in den SWB-Metadaten vorhandenen Seitennummern werden die Zuordnungen der Scans zu den Metadaten automatisch erstellt.

9. Qualitätskontrolle: Prüfung der Zuordnung der Metadaten und Digitalisate.

10. Konvertierung der Scans aus dem TIFF-Format ins JPG-Format; Erkennung und Überführung der Bilddateien in maschinenlesbaren Text (OCR); Generierung eines PDFs für jeden Aufsatz/Rezension; Automatische Erzeugung eines persistenten Identifier (DOI)9 pro Aufsatz/Rezension, der unabhängig von einer bestimmten URL zum Volltext führt.

11. Anlegen eines OJS Mandanten für die ThPQ.

12. Export der Metadaten und der zugehörigen PDFs aus DWork und Import nach OJS.

13. Einspielung in den K10plus als Online-Katalogisat. Dabei wird aus dem Metadatensatz des Print-Katalogisates ein Online-Katalogisat mit URL und DOI als Link auf das PDF erzeugt. Mittels eines Abrufzeichens werden die Aufsätze und Rezensionen automatisch in den IxTheo übernommen.

6 Präsentation und Distribution

Die retrospektiv erzeugten Digitalisate und Metadaten aller Jahrgänge der ThPQ von 1848 bis 2015 werden in einem eigenständigen OJS Mandanten präsentiert. Dieser Mandant kann zukünftig auch für die aktuellen Hefte, die noch einem Embargo unterliegen, genutzt werden. Einzelne Aufsätze können trotz Embargo als Volltext freigeben werden.

Für die Auffindbarkeit ist neben einem sichtbaren, persistenten und durch Suchmaschinen ausgewerteten Online-Auftritt auch die Indizierung in international einschlägigen Datenbanken unverzichtbar. Diese sind als weltweiter Hub erster Anlaufpunkt für die wissenschaftliche Literaturrecherche. Alle Aufsätze und Rezensionen werden deswegen in der internationalen Open Access Bibliografie Index Theologicus nachgewiesen. Das ist nur durch die oben dargestellten Arbeitsschritte 2 und 13 möglich. Durch die Katalogisierung im gemeinsamen Verbundkatalog K10plus können die Aufsätze und Rezensionen sowohl im IxTheo als auch in den Bibliothekskatalogen der einzelnen Verbundbibliotheken recherchiert und gefunden werden.

Die Projektbeteiligung nicht nur der ThPQ, sondern auch der anderen ausgewählten Zeitschriften ist ein großer Dienst an der weltweiten Fachcommunity und trägt dazu bei, dass die deutschsprachige, theologische Forschung der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte auch zukünftig einfach, schnell, kostenfrei, umfassend und auf moderne Weise neu genutzt werden kann. In geisteswissenschaftlichen Fächern wie der Theologie ist das ein sehr großer Mehrwert und ein bleibendes Verdienst aller am Projekt beteiligten Herausgeber und Verlage.

Der Autor:Dr. Martin Faßnacht, geb. 1964, Ausbildungen zum Tischler, Theologen und Bibliothekar; berufliche Tätigkeit: 2000–2011: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments und am Institut für neutestamentliche Textforschung, Münster; seit 2011: Leiter des Index Theologicus/FID Theologie und Abteilungsleitung Fachinformationsdienste (FID) an der Universitätsbibliothek Tübingen; GND: 122054482; ORCID: http://orcid.org/0000-0002-2672-4387.

Weiterführende Literatur:

Zu Open Access:

Bundesministerium für Bildung und Forschung, Open Access, https://www.bildung-forschung.digital/de/open-access-2471.html [Abruf: 10.01.2020]. Hier wird das Thema aus verschiedenen Blick-winkeln und mit verschiedenen Medien beleuchtet: Forschungspolitische Sicht, rechtliche Fragen, Qualität, Open Access Initiativen, innovative Projekte etc. Span-nend darin der Podcast von Holger Klein zum Thema Open Access, https://www.bildung-forschung.digital/de/open-access---der-podcast-zum-thema-2761.html [Abruf: 10.01.2020].

Zur Digitalisierung:

Fridtjof Küchemann, Leseforscher zur Digitalisierung. Der Kontakt zu unserer Kultur steht auf dem Spiel, Artikel vom 15.10.2018, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rubrik Debatten, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/interview-acht-leseforscher-zur-digitalisierung-15833105.html [Abruf: 10.01.2020]. Kritischer Blick auf mögliche Auswirkungen digitalen Lesens, der eine heftige und kontroverse Debatte ausgelöst hat.

1 Solche Lizenzierungsmodelle bieten JSTOR (Journal Storage, eine in New York ansässige Non-Profit-Organisation), DigiZeitschriften (ein von deutschen Kultureinrichtungen getragener Verein) und ATLA (American Theological Library Association) an.

2 Die Chancen elektronischer Open Access Publikationen im Hinblick auf neue Publikationsformate, Forschungsmethoden, interaktive Inhalte, neue Fragestellungen sowie den Möglichkeiten linguistischer Verfahren im Bereich der Digital Humanities werden hier nicht dargestellt. Siehe dazu den Beitrag von Franz Böhmisch in dieser Ausgabe.

3http://idb.ub.uni-tuebingen.de/digitue/theo/ [Abruf: 10.01.2020].

4 Beispiel: Eine Zeitschrift mit einem Embargo von drei Jahren überführt im Jahre 2020 den Jahrgang 2016 in den Open Access, 2021 den Jahrgang 2017 etc.

5 Im deutschsprachigen Bereich (D-A-CH) wird zur Autorenidentifikation die Gemeinsame Normdatei (GND) verwendet.

6http://dwork.uni-hd.de [Abruf: 10.01.2020].

7 OJS ist ein Redaktions- und Präsentationssystem für digitale Zeitschriften, mit dem der gesamte Redaktionsprozess von der Einreichung eines Artikels über das Review-Verfahren bis zur digitalen Publikation abgebildet werden kann. Die Vergabe von Zeitstempeln steuert auf Artikelebene die Open Access Stellung.

Ein Beispiel für eine Zeitschrift mit einjährigem Embargo ist das von Marianne Heimbach-Steins im Aschendorff-Verlag herausgegebene Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften: https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/jcsw/index [Abruf: 10.01.2020].

8 Siehe hierzu Martin Faßnacht / Winfried Gebhard, Index Theologicus – neue Produktionsverfahren bei der Bibliographieerstellung, in: b. i. t. online 19 (2016), 511– 514. https://www.b-i-t-online.de/heft/2016-06-nachrichtenbeitrag-fassnacht.pdf [Abruf: 10.01.2020].

9 Ein Digital Object Identifier (DOI) ist ein eindeutiger, dauerhafter, digitaler Identifikator.

Franz Böhmisch

Handschriftenforschung mit Computer und Smartphone

Digitalisate zu Tobit und Sirach

♦ Der Fortschritt in der Digitalisierung von Handschriften und Fragmenten, die sonst kaum für die Benützung freigegeben sind, schafft ganz neue Möglichkeiten für die Forschung. Das gilt nicht zuletzt auch für die Bibelwissenschaft, da es hier einen reichen Schatz an Texten und Fragmenten gibt, deren Aufarbeitung tiefere Einsichten in die Geschichte und Überlieferung des Bibeltextes liefert. Der Autor dieses faszinierenden Beitrags, ein ausgewiesener Spezialist in der Textforschung u. a. zum Buch Jesus Sirach, zeigt an konkreten Beispielen, wie neuere Computerprogramme spannende Einsichten selbst am heimischen Schreibtisch erlauben. (Redaktion)

„Die Bayerische Staatsbibliothek hat soeben ihr 2,5 millionstes Digitalisat online gestellt. Damit sind rund 70 Prozent ihres urheberrechtefreien Bestandes frei im Internet zugänglich.“ So steht es seit dem 12.11.2019 auf der Homepage dieser Institution.1

Meine Generation („Konzilskinder“) ist die erste, die seit ca. 25 Jahren mit dem Internet und der anwachsenden Verfügbarkeit von Daten und digitalen Reproduktionen (Digitalisaten) lebt und zugleich die letzte, die noch eine (fast) computerfreie Kindheit erlebt hat. Beides hat Vorteile.

Die Digitalisierung der Handschriftenkunde, gerade auch im Bereich der biblischen Handschriften, die uns hier inter­essiert, ist Element eines globalen digitalen Kulturwechsels.2 Die leichte Zugänglichkeit der digitalen Materialien führt zugleich zu einer Demokratisierung des Zugangs zu den Bibelhandschriften. Es ist gleichermaßen möglich, an den Handschriften zu arbeiten, ob man nun am Computer in einem Dorf im bayrischen Wald oder in Cambridge oder Jerusalem sitzt. Beispiele aus der Forschung zum Alten Testament sollen dies konkret aufzeigen: einesteils zu den hebräischen Tobit-Handschriften aus der Ben-Ezra-Geniza in Kairo und andernteils Beobachtungen zum griechischen Sirachtext.

QR-Code mit Linkliste http://bibelarbeit.net/digitalisate.html

1 Genizafragmente

Beim Stichwort Hebräische Handschriften denken die meisten Theologinnen und Theologen an Qumran. Alle Handschriften vom Toten Meer werden mit ausgezeichneten Fotografien in der Leon Levy Digital Library präsentiert: https://www.deadseascrolls.org.il/. Die Phase der Erst-Editionen der Qumranhandschriften ist jedoch weitgehend abgeschlossen. Ganz anders stellt sich die Situation bezüglich der fünfzig Jahre älteren Genizafunde aus Kairo dar, von denen noch tausende von Handschriften nicht einmal durchgesehen sind. In Kammern der Synagogen in Kairo (eine Geniza in der Ben-Ezra-Synagoge der palästinensischen Juden in Kairo und wohl eine weitere Geniza in der Karäersynagoge Dar Simcha, die vor allem der Karäer Firkowitch ausgebeutet hat und die sich hauptsächlich in St. Petersburg befinden3) wurden seit dem 19. Jahrhundert Handschriften gefunden oder über den Antiquitätenhandel verkauft, die teilweise über tausend Jahre dort abgelegt worden waren. Darunter finden sich tausende von Blättern mit liturgischen Texten und Gebeten entlang des dreijährigen Zyklus des jüdischen Gottesdienstes im Land Israel, der später durch den einjährigen Zyklus der babylonischen Juden ersetzt wurde, so dass diese Texte oft in Vergessenheit geraten sind. Die Genizot enthielten jedoch auch großartige Bibelfragmente, darunter wohl auch die einzigartigen Reste einer Torarolle im Ashkar-Gilson-Manuskript aus dem 7. oder 8. Jahrhundert.4 Mehrere tausend Handschriften bewahren Alltags-Dokumente wie Briefe, Bücherlisten, Petitionen oder Rechnungen in Hebräisch, Arabisch, Aramäisch, Syrisch, Persisch, ja sogar in Deutsch in hebräischen Buchstaben und berichten aus dem Alltagsleben von Juden, Christen und Muslimen in der damaligen multikulturellen Mittelmeergesellschaft. Die Bedeutung dieser dokumentarischen Zeugnisse hat vor allem Shlomo Dov Goitein in seinem Monumentalwerk „A Mediterranean Society“ herausgearbeitet.5 Überraschend waren schon zu Beginn der Hatz auf die wichtigsten Handschriften in der Geniza auch hebräische Texte der Bücher Jesus Sirach, des Aramäischen Levi Dokuments ALD6 und der Damaskusschrift aufgetaucht, die fünfzig Jahre später in Qumran und Masada gefunden wurden, womit ihr Alter erwiesen war. Seit 2018 sind Digitalisate vieler hebräischer Handschriften aus aller Welt frei über das Portal „KTIV ביתכ“ (https://web.nli.org.il/sites/NLIS/en/ManuScript/) zugänglich, auch aus den Genizabeständen von St. Petersburg, die vorher nicht online zugänglich waren. Besonders über das Webportal des Friedberg Genizah Project (FGP) wurde es in den letzten Jahren möglich, online auf die Geniza-Fragmente aller Bibliotheken zuzugreifen. Um Zugang zu den Datenbanken des FGP zu erhalten, muss man sich auf http://genizah.org registrieren.

Durch die neuen computerbasierten Verfahren der Handschriftenanalyse, die im FGP implementiert worden sind, sind viel tiefgreifendere Möglichkeiten der Genizarecherche möglich geworden, deren Potenzial erst noch erschlossen werden muss, z. B. in der automatischen Erkennung zusammengehöriger Fragmente („joins“).

2 Hebräische Tobitfragmente aus der Geniza

Bei einer Recherche im Mikrofilmraum der Nationalbibliothek Israels im Februar 20167 nach Fragmenten aus St. Petersburg, einer der umfangreichsten Sammlungen von Genizahandschriften weltweit, suchte ich auch gezielt nach einem Tobitfragment St. Petersburg Evr. III B 34, das im alten publizierten Katalog hebräischer Fragmente der Antonin-Sammlung in St. Petersburg von Abraham I. Katsh8 von 1962 bereits als hebräisches Tobitfragment verzeichnet war, früher aber nicht in der europäischen Literatur auftauchte. Evr. III B (manche zitieren nach dem Russischen die Abkürzung EBP, im Friedberg Genizah Portal FGP genizah.org lautet die Abkürzung Yevr.) bezeichnet in den Katalogen die Antonin-Sammlung und ist mit der Fragmentnummer 34 bei Katsh zu ergänzen. Bei der Durchsicht des Mikrofilms war zu erkennen, dass es zu dem bekannten Fragment T-S A45.25 in Cambridge gehört. Zurück im Hotel schaute ich mit dem Smartphone auf einem 4“-Bildschirm in das FGP und stellte fest, dass Rabbi Yosaif Mordechai Dubovick es im Diskussionsforum zum Fragment Moss. I,38 als join zugeordnet hatte, das mittlerweile bereits durch S. Bhayro veröffentlicht worden ist.9 Mit Hilfe des „Joins Suggestions“-Systems im FGP war ausgehend von T-S A45.25 (Taylor-Schechter Sammlung in Cambridge) sogar auf dem 4“-Smartphone T-S NS 151.4 als weiteres Blatt dieser Handschrift zu identifizieren. Zu Evr. III B 34 gibt es zwei Veröffentlichungen mit der Edition des Textes von Alexander Scheiber.10 Diese Erstedition ist in der europäischen Literatur wenig bekannt. Über das Bibliografie-System des FGP, in dem zu jedem Fragment die wichtige Literatur gesammelt ist, sind solche Angaben aufzufinden. Das St. Petersburger Fragment ist als Digitalisat nun seit 2018 auch im FGP enthalten.

Somit belegen mittlerweile sechs Geniza-Fragmente drei verschiedene Tobithandschriften aus der Ben-Ezra-Geniza11

1) T-S A 45.29 geschrieben von Joseph ben Jacob ha-Babli aus dem 12. Jahrhundert,

2) T-S A 45.26 und St. Petersburg Evr. III B 34 (= Yevr. III B 34 oder Antonin B 34) nach Stefan C. Reif nicht später als das 14. Jahrhundert und

3) T-S A45.25; T-S NS 151.4 und Moss. I,38 aus dem 15. Jahrhundert.

Das Tobitfragment T-S NS 151.4, das ich identifizieren konnte, gehört also zu der jüngsten Tobithandschrift aus der Geniza. Der Text dieses hebräischen Tobitmanuskripts entspricht weitgehend dem Tobittext H4 in der Edition von Stuart Weeks, Simon Gathercole und Loren Stuckenbruck12, der als „Rückübersetzung“ aus griechischen Texten ins Hebräische verstanden wird, aus dem ersten Jahrtausend stammt und sich unterscheidet von der Qumranfassung des Tobitbuches.

Ein bisher kaum beachtetes Problem der Geniza-Papiere tritt bei dieser Tobithandschrift zu Tage: Es finden sich Wasserzeichen im Papier, was man auf den gängigen Digitalisaten nicht sieht. Ein solches Wasserzeichen, und zwar offensichtlich dasselbe, hat bereits Moshe Gaster in einer von ihm edierten anderen Tobithandschrift beschrieben, die mittlerweile nicht mehr existiert.13 Bei Qumran-Digitalisaten und in der „digital papyrology“ werden mittlerweile häufig neben normalen Farbfotografien auch Infrarotaufnahmen oder gar multispektrale Aufnahmen gemacht und digital zur Verfügung gestellt, die oftmals erst die Lesung von verblichener Schrift ermöglichen.

3 Methoden zur Auffindung zusammengehörender Handschriften (sog. „joins“)?

Marina Rustow hat in einem zum Einstieg in die Arbeit mit Genizafragmenten empfehlenswerten Vortrag aus dem Jahr 201514 über die Suche nach Handschriftenverknüpfungen drei Wege zum Auffinden solcher „Joins“ zusammengestellt: 1. Automated Joins, 2. By hand, 3. Hybrid method. In diesem Beitrag möchte ich eine weitere Möglichkeit ergänzen und ihre Anwendung beschreiben, nämlich 4. Recherche über computergenerierte Daten zu Zeilenabstand und Schriftdichte:

Während früher das Erinnerungsvermögen von Forscherinnen und Forschern grundlegend war, um zusammengehörende Fragmente zu identifizieren, wurde in das FGP ein Mechanismus eingebaut, der mit Hilfe von Algorithmen neuronaler Netze Ähnlichkeiten von Fragmenten erkennt. Dabei wurde von den Mitarbeitern des FGP unter der Leitung von Jaacov Choueka, einem aus Kairo eingewanderten israelischen Computerlinguisten, ein Ansatz entwickelt und mathematisch bewiesen, nach dem man Fragmente einer Handschrift wie Fotografien eines Menschen dann als ähnlich identifizieren kann, wenn charakteristische Parameter ähnlich sind. Etwas vereinfacht gesagt: Man kann also mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware Fotos von Genizafragmenten zusammenführen. Hunderte von erfolgreichen Identifikationen und Fragmentverknüpfungen („Joins“) mit Hilfe der Vorschläge dieser Software waren das Ergebnis in den letzten Jahren. Die vorgeschlagenen „joins suggestions“ sind jedoch nicht sofort Treffer, man kann in ausgewählten 300 Handschriften dann vielleicht ein Fragment finden, das zum Ausgangsfragment gehört oder vom selben Schreiber stammt. „It is better to go through 300 fragments than through 330.000 fragments“, fasst Rustow im genannten Vortrag bei Minute 20:54 zusammen. Das Angebot der „joins suggestions“ in FGP ist 2015 auf drei verschiedene Algorithmen erweitert worden und erlaubt es nun, nicht nur a) zu einem bestimmten Fragment Vorschläge aus der Software zu erhalten, sondern auch b) Vorschläge aus der Arbeit von mindestens vier Experten-Nutzern des Systems zu bündeln und c) eine erweiterte Abfrage, die aus den 1.000 häufigsten Verknüpfungen nochmals die besten heraussucht. Die Schnellansicht der vorgeschlagenen Fragmente kann man dann einzeln durcharbeiten, einzelne in einen workspace (Liste von aktuell bearbeiteten Fragmenten) einlagern und später vertieft weiterarbeiten. Diese Arbeit dauert immer noch Wochen, aber eben nicht mehr Jahre.

Zu den von Rustow ausführlich beschriebenen und mit Bildern dokumentierten Methoden lässt sich mit Hilfe der vom FGP-System bereitgestellten Daten eine weitere, offensichtlich noch kaum eingesetzte, jedoch aufgrund der computerbasierten Daten im FGP möglich gewordene Methode hinzufügen: Fragmentsuche über die durchschnittliche Zeilenhöhe, den Zeilenabstand und die Schriftdichte. Es ist den Fachleuten der Paläographie und Informatik im Friedberg Genizah Project gelungen, Algorithmen aufzufinden und einsatztauglich zu programmieren, die mit Hilfe von Großrechnern der Uni Tel Aviv computergeneriert

1) das beschriebene Areal einer hebräischen Handschrift und die Ausrichtung auf dem Blatt identifizieren und es senkrecht ausrichten,

2) Ränder und Zeilen markieren sowie Spalten und Zeilen zählen,

3) die durchschnittliche Höhe der Buchstaben, den Zeilenabstand und die Schriftdichte berechnen.

Mein Gedankenexperiment zum zusätzlichen Nutzen der vorgestellten Suchmethode war: Zerrisse man ein Fragment, welche Parameter änderten sich und welche nicht? Ränder können wegerodiert oder nur noch ein handtellergroßer Rest aus der Mitte der Seite übriggeblieben sein. Wenn aber die Algorithmen zur automatischen Zeilenfindung und Buchstabenkontrolle richtig funktionieren, dann sollten die durchschnittliche Texthöhe, Zeilenhöhe und Textdichte vergleichbar sein. Und diese Informationen stellt das FGP für viele Fragmente zur Verfügung.