Diversität der Altersbildung -  - E-Book

Diversität der Altersbildung E-Book

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Beschreibung

In den letzten Jahren hat sich die geragogische Praxis stark ausdifferenziert und professionalisiert. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Buch bewährte wie innovative Konzepte und Methoden zu Lernen und Bildung im Prozess des Alterns, für das Alter und mit älteren und alten Menschen zusammengeführt. In zahlreichen Fachbeiträgen werden diverse Handlungsansätze für die Implementierung von Lern- und Bildungsprozessen vorgestellt. Diese formen die derzeitige Bildungspraxis angesichts neuer Herausforderungen, auch durch die Digitalisierung oder die Corona-Pandemie angestoßen. Die Beitragenden zeigen auf diese Weise die gegenwärtige Vielfalt der Altersbildung auf.

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Die Herausgeberinnen

Dr. habil. Renate Schramek ist Professorin an der Hochschule für Gesundheit in Bochum mit den Schwerpunkten Bildungsplanung, Lernprozessgestaltung, Didaktik, Lebenslanges Lernen, mit einem speziellen Blick auf Altersbildung und Gesundheitsbildung. Sie war viele Jahre lang stellvertretende Direktorin des Forschungsinstituts Geragogik »FoGera«. Sie ist Gründungsmitglied und aktuell Sprecherin des »Arbeitskreises Geragogik« – eines anerkannten Arbeitskreises in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) – und u. a im Wissenschaftlichen Beirat des ZAWiW der Universität Ulm und im Vorstand der Interdisziplinären Fachgesellschaft Didaktik Gesundheit (IFDG) tätig.

Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) im Fachbereich Sozialwesen am Standort Köln. Als Professorin für Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Geragogik engagiert sie sich darüber hinaus in Forschung und Transfer für die Themen Bildung im Lebenslauf, intergenerationelle Beziehungen und Identitätsentwicklung. Als Mitglied in verschiedenen Arbeitskreisen und Fachgesellschaften vertritt sie dort geragogische Haltungen und Positionen und setzt sich für eine diversitätsorientierte Altersbildung ein.

Dr. Cornelia Kricheldorff ist Professorin (em.) für Soziale Gerontologie und Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Katholischen Hochschule Freiburg. Sie ist Gründungsmitglied und langjährige Sprecherin des AK Geragogik. Aktuell in selbstständiger Tätigkeit im Bereich Kommunale Beratung, Prozessbegleitung, Training, auch in geragogischen Projekten.

Renate Schramek,Julia Steinfort-Diedenhofen,Cornelia Kricheldorff (Hrsg.)

Diversität der Altersbildung

Geragogische Handlungsfelder, Konzepte und Settings

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040756-5

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-040757-2

epub:        ISBN 978-3-17-040758-9

Inhalt

 

 

Intro – Einführung

Renate Schramek, Julia Steinfort-Diedenhofen & Cornelia Kricheldorff

Teil I       Begleitung als geragogischer Ansatz

1   »Begleitung« als Basiskonzept und Praxis der Geragogik – Zur Bedeutsamkeit von Lernmotivationen und dem Prinzip der Wechselseitigkeit

Elisabeth Bubolz-Lutz

2   Ehrenamtliche Gesundheitsbegleitung – Partizipatives Lernen und der Peer-to-Peer-Ansatz im Kontext von Gesundheitsförderung und Prävention

Britta Bertermann, Anja Ehlers & Stephanie Lechtenfeld

Teil II      Biografische Ansätze in der Geragogik

3   »Mein Leben hat einen Sinn ergeben!« – Resilienz im Alter durch kohärenzstärkende Biografiearbeit

Karla Verlinden

4   »Lebensgeschichten« – Ein entwicklungspsychologisch fundiertes Begegnungsprogramm für Jung und Alt

Dirk Kranz, Nicole Maria Thomas & Jan Hofer

Teil III    Geragogische Ansätze in Sozialraum und Quartier

5   Graue Theorie? Implikationen aktueller Theoriediskurse der Sozialen Arbeit für eine geragogische Praxis in Sozialraum und Quartier

Stefanie Engler & Cornelia Kricheldorff

6   Seniorenvertretung und partizipative Sozialplanung als Felder der Altersbildung – Bedarfe, Anforderungen und Prozesse des kommunalen »Learning by Doing Policy«

Werner Schönig

7   Lernprozesse im Generationendialog

Stephanie Lechtenfeld & Elke Olbermann

Teil IV    Bewährte Ansätze und Methoden in der Geragogik

8   Qigong – Ein Angebot für die Zielgruppe 80 plus

Gertrud Völkening

9   Draußen-unterwegs-sein-Tage – Ein Angebot für Menschen mit Demenz und ihre Familien

Michaela Penz

10 Die Planungszelle als Methode in der Geragogik – Über nichtintendierte positive Effekte und die Freude am lebenslangen Lernen

Frauke Schönberg & Bettina Kruth

11 Forschen ohne (Alters-)Grenzen – Forschendes Lernen in der nachberuflichen Phase

Eva Hrabal, Markus Marquard & Annette Wettstein

12 Resonanzräume. Konzepte, Methoden und Interventionen kultureller Altersbildung in Zeiten von Corona aus heterotopologischer Perspektive

Miriam Haller

13 Theatergeragogik

Jessica Höhn

14 »Never too old for Rock’n’Roll« – Altershomogene Rock- und Popchöre für Menschen im dritten Lebensalter

Kai Koch

15 »20« – Ein besonderes Projekt. Seniorenstudent*innen erstellen ein Magazin

Bettina Lörcher

Teil V      Geragogische Ansätze in der Digitalisierungsdebatte

16 Digitales Ehrenamt im Alter – Ein Schulungskonzept für ältere Begleitende im Rahmen des Projekts »KommmiT«

Mario R. Jokisch, Michael Doh, Miriam Brehm & Isabell Tatsch

17 Durch Begleitungskompetenz Engagement und Digitalisierung gestalten und Technikbildung stärken

Renate Schramek & Claire Lichteiker

18 Digitale Bildung in der stationären Altenhilfe

Walter Wittkämper, Alina Schäfer, Cora Stockem & Lukas Valentin Hemgesberg

Teil VI    Neue Themenfelder in der Geragogik

19 Altersbildung und Klimawandel – Konzeptionelle Analyse aktueller Praxen für nachhaltige Entwicklung

Julia Steinfort-Diedenhofen

20 Erfolgreiches Altern durch Bildung im Strafvollzug

Nora Sellner & Guido Heuel

Die Autor*innen

Intro – Einführung

Renate Schramek, Julia Steinfort-Diedenhofen & Cornelia Kricheldorff

Diversität ist in vielen geragogischen Handlungsfeldern, Konzepten und Settings zur positiv konnotierten Formel für den Umgang mit Vielfalt geworden. Aber allein mit der Feststellung, dass Pluralität im Alter die Normalität ist, lässt sich die Vielfalt in der geragogischen Praxis noch nicht ausreichend fassen. Mit dem Begriff der Diversität wird zudem eine Haltung ausgedrückt, die nicht auf das Einebnen von Unterschieden abzielt, sondern auf deren Wertschätzung. Mit der bewussten Verwendung und Orientierung an dem englischen Begriff »diversity« – der mit dem Anspruch eines bewussten und wertschätzenden Umgangs mit Vielfalt von Gruppen in der Gesellschaft einhergeht – schließen wir uns der wertschätzenden Betrachtung als leitenden Faktor an. Diversität in der Altersbildung bedeutet, die differierenden Bedarfe und Anliegen der unterschiedlichen Gruppen von Adressat*innen mit einem differenzierten Blick auf die jeweiligen Bildungsanliegen zu sehen, zu unterscheiden und anzuerkennen. Es geht unseres Erachtens darum, die Vielfalt der Lern- und Bildungsansätze und -themen und die damit verbundenen Konzepte und Settings aufzuzeigen, und diese zu fokussieren.

Im Jahr 2022 in die nachberufliche Lebensphase zu starten bedeutet für viele ältere Menschen in den westlichen Industrienationen, mit vielfältigen, aber auch ambivalenten Identitätsoptionen konfrontiert zu sein. Ältere Menschen sind mehr denn je mit der Chance und Aufgabe beschäftigt, die Jahre nach der Phase der Erwerbs- und/oder Familienverantwortung »zu reflektieren und in die Hand zu nehmen«. Die Gestaltung dieses Lebensabschnittes ist aber nicht als separierte Leistung des alternden Menschen zu verstehen, sondern als zwischenmenschliches, vielfach auch intergenerationales Geschehen, welches zudem durch institutionelle Rahmen und gesellschaftliche Strömungen geprägt, ermöglicht und zum Teil auch verhindert wird. Die hieraus entstehenden Spannungsverhältnisse zwischen Selbst und Welt sind der Moment, in denen geragogische Bildungsprozesse ihren Ansatz- und Ausgangspunkt finden. Die Altersbildung ist daher nicht als eindimensionales Geschehen zu verstehen, sondern als prozesshaftes, komplexes und relationales Phänomen, welches auf allen Ebenen durch Diversität geprägt wird. Das bedeutet:

Für das Subjekt: »Die Alten« und das kalendarische Alter sind keine zutreffenden Kategorien. Altersbildung braucht ein differenziertes Altersbild. Die Unterschiedlichkeit zeigt sich konkret in individuellen Reflexions- und Handlungsbemühungen.

Für die Gruppe: Das Altern wird immer auch durch Beziehungen und Begegnungen in all ihrer zwischenmenschlichen Dynamik und Unterschiedlichkeit geprägt. Diese ist maßgeblich sowohl für die Person als auch und zwischen den Generationen und sie wirken sich auf das Lernen und die Altersbildung aus.

Für die Institutionen und Organisationen: Die unterschiedlichen institutionellen und nicht institutionellen Handlungsfelder, in denen Angebote zur Altersbildung gemacht werden oder selbstorganisiert Altersbildung stattfindet, haben eine umfassende Pluralität erreicht. Dies führt für die die dort tätigen Akteur*innen oft zu einer unübersichtlichen Situation.

Für die Gesellschaft: Wir leben in einer Welt, in der sich Orientierungspunkte verschieben. Dies führt dazu, dass stetig neue Formate, Konzepte und Settings innerhalb der klassischen und neuen Handlungsfelder der Altersbildung gebraucht und entwickelt werden.

Das Wertschätzen, Anerkennen und Fortentwickeln dieser Vielfalt auf allen Ebenen ist das, was wir aktuell in der Praxis der Altersbildung erleben. Mit dem vorliegenden Praxisband wollen wir daher die Diversität in der Altersbildung nachzeichnen und damit konkret und praxisnah aufzeigen, wie wir in der geragogischen Community dieser Unterschiedlichkeit Raum geben. Die wachsende Diversität in der Altersbildung interpretieren wir Herausgeberinnen als Chance, das Anliegen der Geragogik auf eine breite Basis zu stellen.

Der benannten Vielfalt wird auch insofern Rechnung getragen, als dass die vorliegenden Beiträge stilistisch kaum geglättet wurden und damit die individuelle Handschrift der Autoren und Autorinnen sichtbar machen. Damit zielt der stark praxisbezogene Band auf die Zusammenführung von bewährten und innovativen Konzepten und Methoden zu Lernen und Bildung im Alter(n), für das Altern und mit älteren und alten Menschen. Unser Ziel ist es aufzuzeigen, wie die Praxis heute gemeinsam mit älteren Menschen und in spezifischen Lebenslagen gestaltet werden kann.

Im vorliegenden praxisbezogenen Band wird die Diversität der Altersbildung im Jahr 2022 aufgezeigt. Auch wenn die dafür gewählten Leitbegriffe Konzept, Methode, Format und Intervention zunächst als theoretische Konstrukte erscheinen, wird auf der Basis ihrer Konkretion, also über Beispiele aus der Praxis, die Notwendigkeit deutlich, die inzwischen sehr vielfältigen Ansätze der Altersbildung speziell für verschiedene Gruppen Älter in unterschiedlichen Lebenslagen und Settings zu schärfen. Geschaffen wird damit eine neue Basis für den in der Folge anstehenden und weiterführenden fachwissenschaftlichen Diskurs, um daraus wiederum handlungspraktische Konsequenzen ziehen zu können: ein kontinuierlicher Praxis-Theorie-Dialog, der sich in reflexiven Schleifen vollzieht.

Die Gliederung des Buches folgt der Logik der derzeit für die Praxis der Altersbildung relevanten Ansätze und Methoden. Auch werden so die geragogischen Grundprinzipien sichtbar, aber sie bildet auch die Weiterentwicklungen und die deutliche inhaltliche Ausdifferenzierung in der Geragogik während der letzten Jahre ab.

Der erste Teil fokussiert »Begleitung als geragogischer Ansatz«. Damit wird ein zentrales Unterscheidungsmerkmal der Geragogik zu den Bildungsangeboten beleuchtet, die traditionell und vorwiegend verortet in Bildungsinstitutionen und in der typischen Komm-Struktur stattfinden und die alte Menschen in der Rolle als Besucher und Kunden und weniger als mitgestaltende Akteure ansprechen. Begleitung meint hier nicht nur ein verändertes methodisches Repertoire im Sinne von Lernbegleitung, sondern zielt vor allem auch auf wenig bildungsgewohnte ältere und alte Menschen, die in der Bearbeitung ihrer eigenen Anliegen und Fragen einen ermöglichenden Rahmen für Reflexion und Denkanstöße erhalten. Dies wird im Beitrag von Elisabeth Bubolz-Lutz grundlegend entwickelt und in einem Praxisbeispiel von Anja Ehlers und Britta Bertermann konkretisiert.

Der zweite Teil beleuchtet »Biografische Ansätze in der Geragogik«. Dieser Ansatz ist nicht neu, in seiner konkreten Ausgestaltung und seiner Orientierung an der Förderung und Ermöglichung eines reflexiven Rahmens in der Bildungsarbeit mit älteren und alten Menschen hat er aber mittlerweile eine deutliche Weiterentwicklung erfahren. In der Verbindung mit präventiven Aspekten zeigt Karla Verlinden in ihrem Beitrag die Chancen und Möglichkeiten der Förderung von Resilienz durch kohärenzstärkende Biografiearbeit auf. Dirk Kranz, Nicole Maria Thomas und Jan Hofer stellen in einem zweiten Beitrag ein spannendes geragogisches Bildungssetting in der Verknüpfung von Biografie und intergenerationellem Lernen vor. Ihr Begegnungsprogramm »Lebensgeschichten« ermöglicht für junge und alte Menschen gleichermaßen einen Austausch über grundlegende Fragen des Lebens und ist gleichzeitig ein Rahmen für einen vergleichenden Perspektivenwechsel, der zu neuen Sichtweisen und Bewertungen im Hinblick auf die eigenen biografischen Prägungen, in Übereinstimmung und im Unterschied zu anderen Menschen und Generationen, führen kann.

Im dritten Teil stehen »Geragogische Ansätze in Sozialraum und Quartier« im Fokus, die in ihrer Ausgestaltung sowohl mit methodischen Ansätzen der Sozialen Arbeit als auch mit der gezielten Ansprache spezieller Gruppen von Adressat*innen und thematischer Anliegen in Gemeinden und Wohnquartieren verbunden sind. Vor diesem Hintergrund greift der Beitrag von Stefanie Engler und Cornelia Kricheldorff die Implikationen aktueller Theoriediskurse in der Sozialen Arbeit und ihre Relevanz für die geragogische Praxis in Sozialraum und Quartier auf. Er schafft damit eine Rahmung für den Theorie-Praxis-Diskurs.

Daran anschließend beschäftigt sich Werner Schönig mit den spezifischen Anliegen und Bedarfen im Kontext von Senior*innenvertretung und partizipativer Sozialplanung. Hier werden relativ neue Felder der Altersbildung im Sinne einer kommunalen »Learning by Doing Policy« betrachtet. Stephanie Lechtenfeld und Elke Olbermann beleuchten dann notwendige Lernprozesse im Generationendialog. Dieser steht aufgrund des demografischen Wandels, der Veränderungen in den Generationenbeziehungen und vor dem Hintergrund von Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen vor neuen Herausforderungen und Aufgaben und hat für das Zusammenleben in Sozialraum und Quartier eine besondere Relevanz, wenn dieses gut gelingen soll.

Im vierten Teil werden »Bewährte Ansätze und Methoden in der Geragogik« vorgestellt, die jedoch einer stetigen Weiterentwicklung und Differenzierung unterliegen und z. B. im Sinne von Diversität bezogen auf neue Teilnehmendengruppen oder in anderen Settings umgesetzt werden. Auch aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten und Entwicklungen wirken hier prägend. Zu Anfang stellt Gertrud Völkening ein Konzept der chinesischen Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform für Körper und Geist, Qigong, für Menschen im hohen Alter dar. Fokussiert werden speziell förderliche Aspekte bei körperlichen Einschränkungen im hohen Alter. Hier wie auch in den folgenden Beiträgen wird die Bedeutsamkeit stärkender, auf die Potenziale der Menschen fokussierter Methoden betont. Bei Michaela Penz sind dies verschiedene Aspekte von Stressreduktion durch einen naturverbundenen Ansatz für Menschen mit Demenz. In dessen Mittelpunkt stehen förderliche Wirkungen von Naturerleben auf das Wohlbefinden bei Menschen mit einer Demenzerkrankung und ihren engen Familienangehörigen.

Zwar gehen auch die weiteren Beiträge dieses Teils vom Individuum, seinen Potenzialen und Anliegen aus und intendieren eine Stärkung der Person, doch betrachten sie weitergehend umwelt- oder sozialraumbezogene Themen und rücken damit neben der eigenen Lebensgestaltung auch Fragen der gemeinsamen Gestaltung, der Mitverantwortung und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen in den Blick. Der Beitrag von Frauke Schönberg und Bettina Kruth fokussiert die Methode »Planungszelle« als Verfahren zur (Bürger*innen-)Beteiligung an Sachentscheidungen und greift damit verbunden weitere Wirkdimensionen von Bildung auf. Neben dem Eigenwert werden hier und in den folgenden Beiträgen gesellschaftliche Aspekte von Altersbildung fokussiert. So beziehen sich auch Eva Hrabal, Markus Marquard und Annette Wettstein mit dem Ansatz des Forschenden Lernens – ausgehend von den Interessen und Weiterbildungsbedürfnissen Älterer und deren Eigentätigkeit – auf Ergebnisse und Wirkungen in den öffentlichen Raum. Der im Programmbereich des »Zentrums für allgemeine wissenschaftliche Weiterbildung« (ZAWiW) fest etablierte Ansatz stellt eine Brücke zwischen Bürger*innen und Wissenschaft dar. Aus dem Bedürfnis, sich selbst weiter zu entwickeln, neues Wissen zu schaffen, für sich und andere neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, sind Ältere hier lernend in eigenen, von Wissenschaftler*innen begleiteten Forschungsprozessen tätig.

Während die Beiträge fast durchweg Bezug auf die aktuell noch andauernde Pandemie nehmen und mehr oder weniger eine Anpassung der Konzeptionen an das Gebot des »social Distancing« erfordern, stellt Miriam Haller dar, wie sich die Methoden und Interventionen während der Pandemie und bei notwendiger, räumlicher Distanz verändern. Nachvollziehen können die Leser*innen in ihrem Beitrag, wie neue Resonanzräume zur kulturellen Teilhabe und neue Ausdrucksformen erschlossen werden. Das zunehmend wachsende Feld der kulturellen und musischen Bildungsarbeit mit Älteren ist auch Gegenstand in der folgenden zwei Beiträge. Jesica Höhn befasst sich mit dem Theaterspiel als kultureller Ausdrucksform Älterer und Kai Koch fokussiert musische Angebote im dritten Lebensalter. Er beschreibt dabei altershomogene Chorarbeit am Beispiel von Rock- und Popchören. Den Abschluss des vierten Teils bildet der Beitrag von Bettina Lörcher, der auf ein von Senior*innen gestaltetes Magazin zum 20. Geburtstag des Senior*innenstudiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München blickt. Reflektiert werden Austausch- und Dialogprozesse – ein zentraler Aspekt geragogischer Praxis – zwischen den Generationen und der Wissenschaft.

Im fünften Teil werden drei beispielhafte »Geragogische Ansätze in der Digitalisierungsdebatte« in den Fokus gerückt. Aufgezeigt werden Praxisbeispiele, die den achten Altersbericht der Bunderegierung »Ältere Menschen und Digitalisierung« (2020) um wichtige, geragogische Perspektiven ergänzen und aufzeigen, wie stark Bildung und Begleitung in diesem Feld miteinander verzahnt sind.

Wie digitale Kompetenzentwicklungen älterer Menschen auf kommunaler Ebene gefördert werden können, zeigen Mario R. Jokisch, Michael Doh, Miriam Brehm und Isabell Tatsch in ihrem gemeinsamen Beitrag zum digitalen Ehrenamt im Alter. Als zentralen Baustein identifizieren sie den Ausbau informeller Bildungs- und Begleitungsangebote. Als niedrigschwelliges Angebot zur digitalen Inklusion und Teilhabe im Quartier stellen sie ein Schulungskonzept für ältere Begleitende im Rahmen des Verbundprojekts »KommmiT« vor und geben dabei methodische und curriculare Einblicke sowie empirische Befunde zu den Lernerfolgen und psychologischen Auswirkungen digitaler Souveränität. In einem weiteren Beitrag wird Technikbildung als Ansatz eingeführt. Renate Schramek und Claire Lichteiker zeigen darin auf, wie sich durch die Digitalisierung neue Welten eröffnen, wenn Ältere durch qualifiziertes, zugehendes Engagement begleitet werden. Am Beispiel individueller Herausforderungen im Pflegealltag mit Menschen mit Demenz wird in Situationen des alltäglichen Lebens die »Robotbegleitung« für Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen erläutert, bei der in Gestalt einer Puppe verschiedene personalisierbare und individualisierbare technische Funktionen zum Einsatz kommen. Fokussiert wird insbesondere der spezifische Begleitungsansatz, durch den die Kompetenzentwicklung sowohl von Menschen mit Demenz als auch ihren pflegenden Angehörigen angeregt und gefördert wird. Hier wird erneut deutlich: Damit digitale Technik ihre Wirkungen entfalten kann, braucht es gerade bei älteren und pflegebedürftigen Menschen eine gezielte Begleitung.

Der letzte Beitrag greift den inzwischen etablierten mediengeragogischen Begleitungsansatz für die stationäre Altenhilfe (Wittkämper 2005, 2012) auf. Walter Wittkämper, Alina Schäfer, Cora Stockem und Lukas Valentin Hemgesberg konkretisieren anhand beispielhafter Projekte, welche Gestaltungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten die digitale Bildung in der stationären Altenhilfe ermöglichen kann. In verschiedenen Formaten und Interventionen wird in dem Beitrag dargestellt, wie Kompetenzentwicklungen im Umgang mit digitalen Medien sowohl im Rahmen der Einzelfallhilfe und der sozialen Gruppenarbeit als auch der Gemeinwesenarbeit gefördert werden können. In allen Beiträgen wird ersichtlich: Ohne Bildungs- und Begleitungsarrangements werden die Chancen digitaler Innovationen im und für das Alter(n) nur unzureichend genutzt. Gerade in diesem Sektor werden künftig weitere Anstrengungen nötig sein, damit notwendige Kompetenzen (weiter-)entwickelt werden können. Die Altersbildung steht hier gerade in der Synthese von digitalem und analogen Zugängen vor neuen Entwicklungsschritten.

Der praxisbezogene Band endet im sechsten Teil mit der Einführung in »Neue Themenfelder in der Geragogik« und identifiziert damit zwei bislang blinde Flecken:

Julia Steinfort-Diedenhofen benennt als neues Lernfeld der Geragogik die Anregung und (Weiter-)Entwicklung von Nachhaltigkeitskompetenzen und zeigt in ausgewählten Projekten, welche didaktischen Orientierungen zukunftsweisend sein können. Der Beitrag mit dem Titel »Altersbildung und Klimawandel« gibt damit einen Überblick über ein neues Feld und vertieft exemplarisch, wie der Umgang mit dem Klimawandel als Lern- und Bildungsanlass gleichermaßen eine intergenerationelle Chance und Herausforderung bildet. Schließlich zeigen Nora Sellner und Guido Heuel in ihrem Beitrag erstmals auf, dass Bildungsmaßnahmen im Strafvollzug für ältere und alternde Inhaftierte innovative und passende Methoden und Konzepte benötigen. Dabei werden Hintergründe und Bedingungen für das Gelingen des Vollzugsziels und der Resozialisierung älterer und alternder Menschen wie auch die wachsende Anzahl älterer Strafgefangener aufgezeigt. Gefragt wird nach spezifischen Konzepten erfolgreichen Alterns, in denen die besondere Lebenssituation in Unfreiheit Berücksichtigung findet und wie Lern- und Bildungsprozesse sich daran orientieren können.

Zu vermuten ist, dass sich die Themenfelder im Kontext von Altern, Lernen und Bildung mit ihrer Fortentwicklung zukünftig noch weiter diversifizieren. Als entscheidende Markierungen zur Sondierung relevanter Felder stellen sich unserer Ansicht nach sowohl bekannte als auch neue Fragen:

•  Wie kann die Altersbildung ihre Potenziale einbringen, um den demografischen Wandel weiter durch Lern- und Bildungsprozesse im und für das Altern nachhaltig zu gestalten?

•  Was kann jede*r selbst tun, um weiter zu lernen und sich einzubringen?

•  Wie können Beziehungen in sich (weiter) verändernden Lebenssituationen und Settings gestaltet werden?

•  Wie können sich Organisationen und Institutionen als lernend begreifen und sich für notwendige Innovationen öffnen?

•  Mit welchen Methoden, Konzepten und Interventionen wollen und können wir arbeiten? Wie können wir deren Wirkungen begründen und Ressourcen dafür bereitstellen?

•  Wie gelingt es uns, das geragogische Menschenbild und die damit verbundenen normativen Haltungen zu schützen?

•  Wie sichern wir die Qualität? Was bedeutet für uns professionelles Handeln? Wie entwickeln wir ein inter- oder transdisziplinäres Verständnis weiter?

Zu wünschen ist, dass der Diskurs um diese beispielhaft benannten Fragen weiterhin über die Grenzen der Disziplinen und im Austausch zwischen Theorie und Praxis geschieht. Dies gelingt in der Geragogik seit nun fast drei Jahrzehnten (z. B. im Rahmen des Arbeitskreises Geragogik, aber auch an anderen Stellen der Vernetzung). Wie vielfältig sich dieser Austausch gestaltet und wie eng dieser mit dem Ansatz von diversity verbunden ist, ist mit diesem Werk nachgezeichnet.

Dieses Buch entsteht in einer besonderen Zeit, in der das praktische Handeln in vielen Feldern der Arbeit mit älteren Menschen massiven Veränderungen unterlag und noch unterliegt. Ob COVID-19 am Ende nachhaltige konzeptionelle und methodische Innovationen hervorbringen wird, lässt sich erst rückblickend feststellen. Sicher ist aber, dass durch die Pandemie alternative Methoden, Kommunikationswege und -formen implementiert wurden, die teilweise zwar nicht neu waren, aber eben zuvor noch nicht konsequent – besonders nicht konsequent im Hinblick auf die vielfältigen Gruppen älterer Menschen – eingesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund möchten wir nicht eindeutig von einem Innovationsschub in der Altersbildung durch COVID-19 sprechen, wohl aber – wie auch in vielen anderen Bereichen – von einer situationsangemessenen schnellen Reaktion auf aktuelle Bedarfe in unterschiedlichen Feldern und Bildungssettings. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf digitalen Angeboten, durch die ein kompletter Kommunikations- und Kontaktabbruch verhindert werden konnte. Allerdings muss hier berücksichtig werden, dass wenig technikaffine ältere Menschen dabei leicht den Anschluss verlieren und sich damit soziale Ungleichheiten verstärken konnten. Die große Gefahr der Ausgrenzung und eine weitgreifende Bildungsungleichheit durch ungleich verteilte Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Technologien sowie durch ungleiche auf die Nutzung derselben bezogenen Fähigkeiten ist durch die Pandemie ebenso zu verzeichnen wie der große Auftrieb neuer Entwicklungen, die die Altersbildung zukunftsfähig vorantreiben.

Aller Voraussicht nach erwartet uns in der konzeptionellen und methodischen Ausgestaltung der Altersbildung in den nächsten Jahrzehnten der Ausbau einer Doppelstruktur von digitalen und analogen Maßnahmen und Angeboten, eher in der Logik von Blended Learning, welche aus Sicht der Herausgeberinnen in der Praxis der Altersbildung wünschenswert und notwendig ist. Digitale Angebote können die Interaktion und Kommunikation in der beziehungsorientierten Altersbildung nicht ersetzen, sie aber gerade in Krisenzeiten bereichern bzw. Teilhabe überhaupt erst ermöglichen. Somit bringt COVID-19, trotz aller damit verbundenen persönlichen und wirtschaftlichen Einschränkungen und Schicksale, zumindest beim Ausbau neuer digitaler Angebote einen kräftigen Schub. Dieser kann durchaus als ein weiterer Baustein, jedoch nicht als Ersatz der bereits bestehenden Konzepte und Methoden einer vielfältigen mit Diversität verbundenen Altersbildung verstanden werden.

Wir wollen auf diesem Weg vor allem die unterschiedlichen Handlungsfelder, Konzepte und Settings, die die Praxis der Altersbildung im Jahr 2022 in Deutschland prägen, exemplarisch abbilden.

Die konkrete Gestaltung einer auf Diversität ausgerichteten Altersbildung ist aktuell durch zahlreiche Konzepte und Ansätze in vielfältigen Handlungsfeldern geprägt. Daher versuchen wir mit diesem praxisbezogenen Band zudem eine Systematisierung und Konkretisierung geragogischen Handelns. Dabei mischen wir bewährte Zugänge mit innovativen Formaten, die angesichts neuer Herausforderungen, wie etwa durch die Digitalisierung oder die Corona-Pandemie angestoßen, die Praxis formen. Daher stellen wir den Beiträgen nachfolgend – ausgehend von einer für die Handlungsebene bedeutsamen Systematisierung leitender Begriffe – einen Vorschlag zur begrifflichen Schärfung voran. Die Beitragenden dieses Buches haben mit den Begriffen (»Konzept«, »Methode«, »Format« und »Intervention«) gearbeitet.

Unter dem Terminus »Konzept« verstehen wir praxisbezogene, planerische Rahmungen, die auf Kompetenzgewinne bzw. den Erhalt und die Verbesserung von Lebensqualität durch Anregung bzw. eine Begleitung von Lernprozessen abzielen. Innerhalb der Konzepte werden Gestaltungs- und Kontexterfordernisse der heterogenen Zielgruppen berücksichtigt. Konzepte in der Altersbildung können sich sowohl auf Einzelpersonen, auf die verschiedenen Gruppen sowie auf das Gemeinwesen, institutionelle und gesellschaftliche Kontexte beziehen. Das Spektrum reicht somit von Einzelkonzepten für diverse und spezifische Zielgruppen über strategische Instrumente für sozialräumliche Entwicklungen mit Diversitätsbezug und/oder mit institutionellem Rahmen, die der Gestaltung des demografischen Wandels durch Lernen und Bildung zuträglich sind.

Den Begriff »Methode« beziehen wir überwiegend auf die konkrete und direkte Arbeit mit älteren Menschen innerhalb von geplanten oder selbstgesteuerten informellen, non-formalen oder formalen Bildungssituationen. Bei der Verwendung des Begriffes »Methode« wird daher direkt bzw. indirekt Bezug genommen auf die jeweiligen Personen und Zielgruppen sowie auf den konzeptionellen Rahmen, in dem die Methode angewandt wird. Die meisten Methoden beziehen sich auf die direkte Arbeit mit älteren Menschen, wenngleich auch Methoden mit einem breiteren Fokus innerhalb der Altersbildung ihren Ort haben.

Als »Format« verstehen wir die Art und Weise, wie das jeweilige Bildungssetting angelegt ist. Dem folgend können sich Formate darin unterscheiden, ob sie als Online- oder Präsenzveranstaltung, als Kurs etc. geplant sind oder ob sie einer Logik des Blended Learning folgen oder nicht. Geragogische Formate unterscheiden sich auch hinsichtlich der Mitbestimmungsoptionen, Beteiligungsformen und -möglichkeiten und ihrer Ausrichtung auf Einzelpersonen oder Gruppen. Relevante Kriterien sind hier die Gruppengröße (kleine Lerngruppen vs. Großgruppen) und die Intention (Arbeitsgruppe vs. interessierte Teilnehmene).

Eine »Intervention« bezeichnet für uns die Tatsache, dass sowohl durch selbstgesteuerte und informelle Lernprozesse als auch durch non-formale und formale Bildungssituationen Wirkungen erzeugt werden – mit unterschiedlichen Wirkrichtungen (Subjektebene, Beziehungsebene, institutionelle Ebene und gesellschaftliche Ebene) und die unterschiedlichen Ausmaßes sein können. Bildung als Intervention verbinden wir mit der Frage nach geplanten oder impliziten Wirkungen des Bildungsansatzes und/oder des Bildungssettings.

Wie auch in anderen Bereichen bedingen sich Konzept und Methode gegenseitig. In der praktischen Arbeit sind abhängig vom Kontext verschiedene Formate denkbar. Ob und in welcher Weise mit dem jeweiligen geragogischen Konzept auch eine explizite oder implizite Intervention verbunden ist, wird in den vorliegenden Beiträgen jeweils reflektiert. Damit wird an eine Tradition angeknüpft, deren Entwicklungslinien sich bis in ihre Anfänge systematisch nachvollziehen lassen. In der geragogischen Community, die sich aus vielen fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen zusammensetzt, vollzieht sich seit nun fast einem halben Jahrhundert eine eigenständige Auseinandersetzung mit Konzepten, Methoden und Formaten der Altersbildung, die sich in der konkreten Praxis zunehmend diversifizieren. Um die Entwicklung hin zu der derzeitigen Diversität in der Altersbildung zu würdigen, möchten wir drei zentrale Stationen skizzieren, die den Weg bis heute geebnet und maßgeblich geprägt haben:

1.  Als Ausgangspunkt für die weiteren geragogischen Disziplinentwicklungen legte Bubolz-Lutz 1983 eine erste Buchveröffentlichung zu »Bildung im Alter« vor. Ihre grundlegenden Ausführungen wurden seitdem stetig weiterentwickelt. Schon in diesem Grundlagenwerk werden die verschiedenen Ansätze im Hinblick auf ihre bezugswissenschaftlichen Quellen systematisiert und »auf ihre inhaltlichen Aussagen zum Verständnis des Alterns in unserer Gesellschaft, zu Bildungszielen und -inhalten und zur Planung und Durchführung von Altenbildung« dargestellt (ebd.). Damit wurde bereits zu einem frühen Zeitpunkt ein geragogischer Diskurs möglich, der die vielfältigen Ansätze vergleichend gegenüberstellt und diskutiert.

2.  Fast dreißig Jahre später legt ein interdisziplinäres Autorinnen-Team (Bubolz-Lutz, Gösken, Kricheldorff und Schramek 2010; Bubolz-Lutz, Engler, Kricheldorff und Schramek 2022, 2., erw. und überarb. Aufl.) das »Lehrbuch Geragogik« vor, in dem Bildung und Lernen im Prozess des Alterns u. a. auch im Hinblick auf die leitenden Konzepte und Methoden gebündelt werden. Die Autorinnen schlagen vor, Bildungskonzepte als »Teile eines auf einen speziellen Lebensabschnitt gerichteten Konzepts ›lebensbegleitenden Lernens‹ aufzufassen« (ebd. S. 129). Weiter verweisen sie auf die Notwendigkeit einer »differenziellen Didaktik« (ebd. S. 131), um der Heterogenität der Zielgruppen und Lebenslagen in den konkreten konzeptionellen Überlegungen und methodischen Zugängen gerecht zu werden. In der Folge dieses differenziellen Ansatzes wird auf die konstruktivistisch begründete Ermöglichungsdidaktik als geragogisches Leitkonzept verwiesen. Dieses bietet ein komplexes Konstrukt, welches den Rahmen für eine Vielfalt geragogischer Konzepte und Interventionen für die Gestaltung von Lernräumen in der Praxis bietet.

3.  Zuletzt wurde im Jahr 2018 im Handbuch »Alter(n), Lernen, Bildung« die fortschreitende Vielfalt von Handlungsansätzen und Methoden zusammengeführt (Schramek, Kricheldorff, Schmidt-Hertha, Steinfort-Diedenhofen 2018, S. 143ff.). Es wird deutlich, dass – je nach Kontext und Tradition – spezifische Herangehensweisen in Bildungs- und Lernprozessen gewählt werden, die sich »in den jeweils für das Feld typischen Konzepten und Methoden ausdrücken« (ebd.). In neun ausgewählten Beiträgen zeigt sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten, in denen sich Bildungsprozesse im Alter und für das Altern vollziehen.

Literatur

Bubolz-Lutz, E./Gösken, E./Kricheldorff, C./Schramek, R. (2010): Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Kohlhammer, Stuttgart.

Bubolz-Lutz, E./Engler, S./Kricheldorff, C./Schramek, R. (2022): Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Kohlhammer, Stuttgart (2., erweiterte und überarbeitete Auflage, im Druck).

Schramek, R./Kricheldorff, C./Schmidt-Hertha, B./Steinfort-Diedenhofen, J. (Hrsg.). (2018): Alter(n) – Lernen – Bildung. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart.

Teil I    Begleitung als geragogischer Ansatz

1          »Begleitung« als Basiskonzept und Praxis der Geragogik – Zur Bedeutsamkeit von Lernmotivationen und dem Prinzip der Wechselseitigkeit

Elisabeth Bubolz-Lutz

Neben Beratung ist »Begleitung« sowohl ein zentrales geragogisches Konzept als auch ein wirksames Format in der Praxis der Altersbildung. »Begleitung« zielt auf einen gestalteten persönlichen Kontakt, ist also im Kern nicht nur als »Lernimpuls«, sondern als »Beziehungsarbeit« zu verstehen. Sie realisiert sich in Gesprächen, im Trösten, im Zuhören und Unterstützen vor allem im nachbarschaftlichen Miteinander, in der Quartiersentwicklung, in Seniorenzentren und -treffpunkten und im Freiwilligen Engagement. Im Fokus stehen zwar Personen im fortgeschrittenen Lebensalter, dennoch geschieht Begleitung zumeist im intergenerationellen Austausch. Das Begleitungsgeschehen ist auch nicht nur auf Zweierbeziehungen beschränkt – auch Gruppen wie Selbsthilfe- und Lerngruppen können begleitet werden. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Erfahrungen mit Begleitung in den o. g. Handlungsfeldern vorliegen und welche konzeptionellen Ansätze hier Orientierungen bieten können. In der Geragogik ist ein praxeologisches Vorgehen von Beginn an etabliert. Deshalb geht es nicht nur um die Frage, welche Konzepte sich wie umsetzen lassen, sondern auch darum, von den Erfahrungen der Praxis zu lernen und zu fragen, welche Impulse sie zu einer weiteren Konzeptentwicklung in der Geragogik geben können.

Während es sich bei Beratung um eine Interventionsform handelt, die im professionellen Kontext angesiedelt ist, geschieht »Begleitung« sowohl im Kontext organisierter Altersbildung als auch im Alltäglichen und in den »intermediären Kontexten« von sog. offener und auch zugehender Seniorenarbeit. Hier sind hierarchische Strukturen eher selten und oftmals sind nicht einmal explizite Verabredungen in Zeit und Raum dazu notwendig. Insofern kann man Begleitung auch als zuweilen nicht bewusst gesteuertes »Lern- und Beziehungsgeschehen« beschreiben. Dennoch ist die Wirksamkeit von Begleitung erwiesen, und zwar aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln: Sie stärkt sowohl die Begleiteten als auch die Begleitenden. Die Evaluation eines fünfjährigen Modellprojektes zur Begleitung pflegender Angehöriger konstatiert, dass sich die Angehörigen durch die erhaltene Begleitung vorwiegend in Form von kontinuierlichen Gesprächen entlastet fühlen; sie schätzen ihre eigene gesundheitliche Situation als verbessert und die häusliche Pflegesituation als stabilisiert ein (Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2011, S. 128; Kricheldorff/Bubolz-Lutz 2013, S. 260). Wer diese Form der Begleitung erfahren hat, möchte das Angebot nicht mehr missen. Berichtet wird auf der anderen Seite von einer Vielzahl von emotionalen Gewinnen, die die Freiwilligen selbst in ihrer Begleitungstätigkeit erleben und erfahren (Kricheldorff/Brijoux 2015).

Besondere Aufmerksamkeit wird der Tätigkeit des »Begleitens« im Rahmen einer sehr weit gefassten »Entwicklungsbegleitung« oder im Kontext des Lehrens und Lernens eingeräumt. Im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements ist gleich ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Begleitungsprofile zu finden: z. B. wenden sich Senior*innen- oder Demenzbegleitung speziell Personen im höheren Alter zu, die Unterstützung benötigen, Pflegebegleitung will hingegen pflegende Angehörige stärken (zu unterschiedlichen Engagementprofilen und ihrer Bedeutung siehe Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2021 sowie das dazugehörige Themenheft der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 54). Auf der anderen Seite sind es ältere Menschen selbst, die sich in der Begleitung engagieren. Sie setzen nicht nur bestehende und bewährte Konzepte um, sondern sind auch in der Konzeptionsentwicklung erfolgreich. Viele der Engagierten bringen ihre beruflich erworbenen Kompetenzen ein, wollen die »Lücken schließen«, die sie im beruflichen Zusammenhängen erkannt haben, oder sind von einer Krisen- oder Notsituation selbst betroffen (gewesen) und von daher für spezielle Problem- und Bedarfslagen in Bezug auf das Älterwerden besonders sensibilisiert.

Im Folgenden wird der Begleitungsansatz als ein Format (sozial-)geragogischen Denkens und Handelns begründet (Kap. 1.1). Vorgestellt wird ein Verständnismodell, das sich an der Motivationslage der Begleiteten orientiert – sechs zentrale lern- und entwicklungsförderliche Faktoren werden benannt und erläutert (Kap. 1.2), gefolgt von konkreten Anregungen zur Gestaltung eines an den Motivationslagen ausgerichteten Begleitungsprozesses (Kap. 1.3). Im Rückgriff auf Aussagen zum Erleben von begleiteten Personen wird dann eine erweiterte Sicht des Begleitungsansatzes skizziert. Anhand der Beschreibungen von Befragten aus verschiedenen Quartiersprojekten wird belegt, dass Begleitung als »wechselseitiges« Geschehen erlebt wird und dass gerade in der Wechselseitigkeit die Akzeptanz und der besondere Wert von Begleitungserfahrungen liegt (Kap. 1.4). So wird im Anschluss an drei Beispielen illustriert, wie sich »wechselseitige« Begleitungsprozesse anlegen, planen und gestalten lassen. Vorgestellt wird eine relationale Sicht auf die Tätigkeit von Begleitenden und Begleiteten, bei der die Anlässe ausschlaggebend sind, und nicht die vorgefertigten gängigen Rollenerwartungen (Kap. 1.5). Abschließend soll ein Blick auf die Herausforderungen der Zukunft dazu ermutigen, die Entwicklungsmotivationen aller Akteure in den Blick zu nehmen und dem Aspekt der Wechselseitigkeit in der Anlage von Begleitungsprozessen mehr als bisher Raum zu geben (Kap. 1.6).

1.1       Ausgangslage – Begleitung als Format der Altersbildung

Dass Leben im Alter »nichts für Feiglinge« ist, hat sich als Slogan im allgemeinen Bewusstsein leicht verankern können. Jedem bzw. jeder kommen sofort Assoziationen von schwierigen Anpassungsleistungen, mit denen sich der bzw. die Einzelne überfordert fühlt. Dass das Älterwerden unter günstigen Bedingungen aber auch »späte Freiheit« verspricht, die durch Eigeninitiative Wirklichkeit werden kann, ist die andere Seite der Medaille, die derzeit allerdings aufgrund der öffentlichen Diskussion der Hochaltrigen als gefährdete »Risikogruppe« aus dem Blick gerät. So fordert und ermöglicht das Älterwerden gleichermaßen das begleitet Werden und das Begleiten – unter Verweis auf das Angewiesensein des Menschen auf Ansprache, aber auch auf die Fähigkeit zu Austausch und gegenseitiger Unterstützung. Geragogische Konzepte gehen von dieser anthropologischen Prämisse aus. Sie betonen, wie wichtig es einerseits ist, menschliche Entwicklung als Ganzes zu betrachten und zu Beginn und am Ende das Angewiesensein auf Hilfe anderer als zum Leben gehörig anzunehmen. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass die Fähigkeit zu Zuwendung und Beziehungsgestaltung uns ebenfalls »in die Wiege« gelegt ist, dass bereits kleine Kinder soziales Verhalten zeigen und der Mensch nicht nur hilfe-, sondern auch »helfensbedürftig« ist (Dörner 2012). So gehört nicht nur die Betonung der Selbstwerdung, sondern auch das miteinander Werden zum geragogischen Grundverständnis. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit von Begleitung herleiten: Mitmenschliche Begleitung zu empfangen als Zuwendung, Zuspruch, Mitgefühl, Unterstützung und Hilfe ist im Alter speziell da notwendig, wo mehrere Säulen der Identität wanken, wo körperliche wie auch finanzielle Einbußen die Lebensbalance beeinträchtigen, wo Verluste im Bereich von sozialen Bezügen und beruflicher Einbindung zu verkraften sind und Gewohnheiten, Werteinstellungen und Sinndeutungen ins Wanken geraten (vgl. Petzold 1992). Mitmenschliche Begleitung zu geben ist im Alter ebenfalls notwendig, weil es wichtig ist, gebraucht und anerkannt zu sein, eine Bedeutung für andere zu haben und sich als selbstwirksam zu erleben. Somit liegt es auf der Hand, das »Geben und Nehmen« als ein größeres Ganzes zu betrachten und »Begleitung« als eine Tätigkeit zu verstehen, die bei beiden Interaktionspartner*innen auf ähnlichen Grundmotivationen beruht und die auf Wechselseitigkeit hin angelegt ist.

»Beratung« hat als ein »Basisformat« der Geragogik, die speziell auf den Aspekt des Lernens ausgerichtet ist, inzwischen Eingang in unterschiedliche Praxisfelder gefunden (vgl. Bubolz-Lutz 2003, S. 198 ff.; Schramek 2018). Hier erfährt sie jeweils spezielle Akzentuierungen und Ausdifferenzierungen – so wird z. B. in der Bildungsberatung für Menschen im Alter zwischen Expertenberatung, Beratung zur Lösung von Problemen und einer Entwicklungsberatung unterschieden (Schramek 2018, S. 85). Als Zielgruppen werden benannt: Aktivitätsorientierte Ältere, Menschen im Übergang, Sozialorientierte, physisch Belastete und ruhestandsorientierte Ältere (Kolland/Gallistl/Wanka 2018, S. 105). Da eben diese Zielgruppen auch für Begleitungsangebote angesprochen werden, lässt sich eine klare Trennlinie zwischen Beratung und Begleitung auf der Grundlage unterschiedlicher Zielgruppendefinitionen wohl nicht aufrechterhalten. Eher könnte hier die besondere »Schwere« der Probleme sichtbar werden, die professionelle Beratung notwendig macht.

»Begleitung« erweist sich als ein ebenso vielseitiges und vielschichtiges Konzept, das allerdings noch weiterer Konturierung bedarf. Sie zeigt sich vornehmlich sowohl im Bereich des freiwilligen/ehrenamtlichen Engagements als auch im informellen Kontext von Familie, Freundschaften und Nachbarschaften. Auf einer anderen Ebene wird ebenfalls ein Bedarf sichtbar, unter Qualitätsaspekten die (ehrenamtlich) Begleitenden fachlich zu begleiten. So ist der Begleitungsansatz weiter zu präzisieren –etwa auch im Hinblick auf die Abgrenzung zu den eher auf Entlastung ausgerichteten »niedrigschwelligen Betreuungsangeboten« (nach § 45b und c SGB XI) und den auf Information und Vernetzung zielenden Lotsendiensten (z. B. den Pflegelotsen in Unternehmen).

Begleitung ist nicht stets mit beruflichem Handeln verknüpft. Dies mag ein Grund dafür sein, dass das Konzept im Rahmen von beruflicher Qualifizierung bisher eher am Rande steht. Dennoch erscheint der Begleitungsansatz sowohl durchaus theoretisch begründbar als auch in seiner Klarheit in Bezug auf die vom Begleitenden eingenommene Perspektive »Schulter an Schulter« als ernstzunehmender und bereits in der Praxis vielfältig ausgestalteter Beitrag zur Gesundheitsförderung: Je nach gewähltem Aufgabenschwerpunkt finden sich sowohl emotionale und psychosoziale Aspekte (wie z. B. das Trösten, das Ermutigen) und kognitive Aspekte (z. B. das Informieren) als auch Unterstützungs- und Hilfeleistungen (z. B. eine Begleitung zum Arzt oder ins Krankenhaus oder die Einführung in die Nutzung hilfreicher technischer Systeme). Insofern ist ein Begleitungsprozess als individueller oder auch kollektiver Lernprozess aufzufassen. Hier kann auch »Bildung« im eigentlichen Sinne geschehen, insofern Verstehen und darauf bezogenes Handeln möglich werden (zum Bildungsverständnis der Geragogik siehe Bubolz-Lutz et al. 2010; Bubolz-Lutz/Engler/Kricheldorff/Schramek 2022). Auch kann die Ausrichtung auf den speziell in der Sozialgeragogik etablierten Leitsatz des Empowerments, also der Ermutigung und Befähigung zum eigenen Verstehen und Handeln, als konzeptionelle Basis für die weitere Fundierung des Ansatzes dienen.

1.2       Lernmotivationen als Basiskonzept für Begleitung – der »Motivationsstern«

Zur Präzisierung eines geragogisch orientierten Begleitungskonzepts leisten Ergebnisse unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen einen erhellenden Beitrag. Diese geben Antworten auf die Frage, welche Aspekte eine »gesunde« Entwicklung fördern und deshalb auch in Begleitungsprozessen in besonderer Weise bedeutsam sein können.

Die Bedeutung von persönlichen Grundmotivationen für den Fortgang von Entwicklung, Lernen und die Bewältigung von Lebenskrisen und -herausforderungen ist unbestritten. So verwies bereits der Psychologe White (1955) auf das Vorhandensein einer Kompetenzmotivation bei kleinen Kindern, die er als Antriebskraft für ihre Entwicklung und ihr Entdecken der Welt beschrieb. In der Folge wurden vielfach Modelle zu Lernmotivationen vorgestellt, das wohl bekannteste ist die achtstufige Bedürfnishierarchie von Maslow (1970). Diese hat allerdings Kritik erfahren, etwa im Hinblick darauf, dass eine Hierarchie von Bedürfnissen in der Praxis nicht nachzuvollziehen ist. Zudem sei eine willkürliche Auswahl vorgenommen worden – tendenziell destruktiv wirksame Grundmotivationen wie z. B. Gewinnung und Erhalt von Macht oder Aggression würden nicht abgebildet. In der Folge und teilweise auch unter Bezugnahme auf Maslow wurden weitere Theorien entwickelt, die auf grundlegende Bedürfnisse rekurrieren. Ein Bedürfnis oder psychologischer Bedarf wird dann als »grundlegend« eingestuft, wenn seine Befriedigung für das Wohlbefinden des Einzelnen von wesentlicher Bedeutung ist, während seine Frustration das Risiko für Passivität, Unvermögen und Defensive erhöht (Ryan/Deci 2000a und b; Vansteenkiste/Ryan 2013).

In Bezug auf die grundlegenden, speziell für Lernen und Entwicklung förderliche Motivationen haben die US-amerikanischen Lernpsychologen Deci und Ryan aus ihren Untersuchungen den Stellenwert des bereits von Antonovsky hervorgehobenen Selbstwirksamkeitserlebens, also des »Bedürfnisses nach Kompetenz oder Wirksamkeit« (1993, S. 231ff.) bestätigt. Sie arbeiteten darüber hinaus zwei weitere zentrale Faktoren als Antriebe heraus, nämlich einen hohen Grad an Selbstbestimmung und das Erleben von Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit. Auf der Grundlage von Labor- sowie Felduntersuchungen wird hier im Hinblick auf den Aspekt der Lernförderlichkeit vor allem auf den Grad der Selbstbestimmung beim Lernenden abgehoben: Je höher die Freiheit der Selbstwahl beim Lernen (dies betrifft sowohl den Inhalt als auch das Format) eingeschätzt wird, desto höher ist die Lernmotivation und desto besser fällt das Lernergebnis aus (allerdings nur im Zusammenwirken mit dem Selbstwirksamkeitserleben). Als Effekte eines autonomieorientierten Lernsettings wird u. a. die Fähigkeit benannt, selbstbestimmt zu handeln und Lernergebnisse autonom zu steuern (ebd. S. 232). Die »Selbstbestimmungstheorie der Motivation« hat die Entwicklung des didaktischen Konzeptes des »Selbstbestimmten Lernens« und die Förderung von autonomieunterstützenden Lernumgebungen maßgeblich angeregt. Das in diesem Zusammenhang als bedeutsam erachtete Erleben von »Eingebundenheit« wird z. B. dadurch erreicht, dass die Lernbegleitung in einer Gruppensituation Anregungen gibt, wie sich die Akteure wechselseitig Mitgefühl und Anteilnahme zeigen können. Damit wird die hohe Bedeutsamkeit des Beziehungsaspektes und damit der »sozialen Umgebung« betont. Die Autoren schlussfolgern:

»Umwelten, in denen wichtige Bezugspersonen Anteil nehmen, die Befriedigung psychologischer Bedürfnisse ermöglichen, Autonomiebestrebungen des Lerners unterstützen und die Erfahrung individueller Kompetenz ermöglichen, fördern die Entwicklung einer auf Selbstbestimmung beruhenden Motivation. Die Erfahrung, eigene Handlungen frei wählen zu können, ist der Eckpfeiler dieser Entwicklung« (S. 236).

Inzwischen haben umfangreiche Forschungen und Meta-Analysen überzeugend bestätigt, dass die drei psychologischen Bedürfnisse eine herausragende Rolle bei Entwicklung, Anpassung und Wohlbefinden spielen – und zwar über Kulturen hinweg (vgl. z. B. Yu/Levesque-Bristol/Maeda 2018).

Abb. 1.1: »Motivationsstern« – Lernförderliche Aspekte als Orientierung für die Gestaltung von »Begleitung« (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2015, S.46)

Der kanadische Psychologe Kasser hat im Jahr 2004 den Faktor des Erlebens von Sicherheit als besonders lernförderlich benannt. Dieses Sicherheitsbedürfnis, das bereits Maslow beschrieb, werde unter den Bedingungen der Frustration von Bedürfnissen (starke Kontrolle von außen, ein Erleben von Vernachlässigung oder überfordernden Umständen) besonders dringlich. Es umfasst das Bedürfnis nach einem sicheren Ort, z. B. einer Wohnung, nach einer Prävention vor gesundheitlichen Einbußen, einem Schutz vor Gefahren, finanziell sicheren Verhältnissen und einer bestehenden Ordnung mit Regelungen und Gesetzen. In Lernsettings wird ein Gefühl von Sicherheit dadurch gefördert, dass es erlaubt ist, Fehler zu machen, dass keiner ausgelacht oder blamiert wird und dass die Lernbegleitung durch Raumgestaltung und überschaubare Lernzeiten einen verlässlichen Rahmen bietet.

Der hier skizzierte Ansatz in Bezug auf Bedarfe und Bedürfnisse im Sinne von Antriebsmotivationen bietet eine Möglichkeit, die kontextbezogenen Einflüsse auf die Entwicklung von Menschen zu verstehen. Daraus ergibt sich ein plausibler Ausgangspunkt zur Erprobung von Maßnahmen, die diesen Lernmotivationen Rechnung tragen und sowohl Entwicklung als auch Wohlbefinden fördern.

In Abbildung 1.1 finden sich diese unterschiedlichen Aspekte in Sternform abgebildet, um damit zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine Rangfolge unterschiedlicher Antriebe handelt. Vielmehr deutet die gewählte Form darauf hin, dass diese verschiedenen Faktoren im Zusammenspiel relevant sein können und dass es Raum für weitere Ergänzungen sowie neue Erkenntnisse gibt. Ohne Frage lassen sich diese Aspekte im Sinne menschlicher Motivbündel auch generationenübergreifend finden – im höheren Alter haben sie jedoch aufgrund erheblicher zu beobachtender Mangelsituationen in Teilen der Bevölkerung besonderen Erklärungswert. Zudem ist anzumerken, dass es sich bei dieser einfach gehaltenen Darstellung nicht um eine komplexe und in sich schlüssige Motivationstheorie handelt, sondern vielmehr um eine Auswahl von Aspekten, die Praktiker*innen Anregungen und Orientierung zur Gestaltung von Lern- und damit auch von Begleitungsprozessen bieten können.

1.3       Praktische Umsetzung zum Erwerb von Begleitungskompetenzen

Die Sterndarstellung bietet eine Orientierung zur Beantwortung der Fragen »Was kann Begleitung bewirken?« und »Wie lässt sie sich vom Begleitenden ausgehend gestalten?«, um Lernen und Entwicklung beim Gegenüber anzustoßen. Hier dienen die ausgewählten Grundmotivationen, die nachweislich zur Entwicklung von Lebenszufriedenheit führen, als Hinweise. Entsprechend lassen sich daraus auf Entwicklungsförderung zielende Leitlinien formulieren (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2015, S. 45ff.).

Verstehen – Wahrnehmung der eigenen Situation und Verständnis erleichtern

Nach dem Sozialmediziner Antonovsky erleichtert uns das Bemühen um »verstehen« die Bewältigung von einschneidenden (zuweilen traumatischen) Lebensereignissen. Menschen versuchen, sich die Situation, in die sie geraten sind, vor Augen zu führen, sie chronologisch in ihrer Entstehung nachzuvollziehen und nach den Entstehungszusammenhängen zu suchen. Haben wir verstanden, »…wie es dazu kommen konnte«, kann dies der erste Schritt zu einer Akzeptanz der Situation sein. Von dieser »Plattform« aus können wir uns dann die Frage stellen, was an der derzeitigen Lage zu verändern ist und was wir als unveränderlich akzeptieren müssen.

Begleitung bemüht sich um Verständnis – etwa unter Rückbezug auf das Zustandekommen von Krisensituationen. Sie bündelt das Wissen z. B. über die Angebote zur Unterstützung und Hilfenetzwerke vor Ort. Speziell darauf vorbereitete Begleitende können hilfreiche Personen und Organisationen benennen. Anfragen können so gezielt erfolgen. Im Begleitungsprozess wird der Prozess des Verstehens unterstützt durch die Bereitstellung von relevanten Informationen, aber auch durch Impulse und Fragen, die zum Selbstverständnis beitragen können, wie z. B.: Erzählen Sie doch einmal:

•  Haben Sie eine Idee, wie diese Situation entstanden sein könnte? Wie sind Sie in diese Situation gekommen?

•  Wo gab es für Sie Weichenstellungen?

•  Was haben Sie damals gefühlt oder gedacht?

•  Mit welchem Empfinden schauen Sie heute auf die Situation?

•  Was würden Sie gerne verändern?

•  Was ist nicht zu verändern – und ist zu akzeptieren?

Autonomie – Eigeninitiative fördern, Selbstwahl herausfordern und Perspektivenwechsel einüben

Die Theorie der Lernmotivation von Deci und Ryan (1993) belegt die Bedeutung von Autonomie/Selbstbestimmung im Rahmen menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens. Entwicklung und Lernen werden durch das eigene Wollen stark beeinflusst. Personen, die sich selbst entschieden haben, etwas zu lernen, sind darin erfolgreicher als diejenigen, die sich dazu gezwungen fühlen. Autonome bzw. selbstbestimmte Entscheidungen können Unterschiedliches betreffen: Wir entscheiden uns für ein konkretes Vorhaben, das wir uns selbst ausgedacht haben, wir schließen uns einem Projekt an, wir treffen die Wahl zwischen verschiedenen Optionen bis dahin, dass wir zustimmen, Unabänderliches in unserem Leben anzunehmen. Haben wir die jeweiligen Entscheidungen getroffen, kann die »Energie wieder fließen«. Bleiben wir in der Unentschlossenheit »stecken«, macht uns das eher handlungsunfähig.

In einem psychosozial ausgerichteten Begleitungsprozess wird der Prozess der Selbstwahl und der Selbstbestimmung unterstützt, damit Handlungsspielräume gesehen und genutzt werden können. Wichtig ist allerdings zu wissen, dass Selbstbestimmung dort ihre Grenze hat, wo sie andere beeinträchtigt oder gefährdet – oder deren Möglichkeiten der Selbstbestimmung einschränkt. Insofern ist die Einübung von Selbstbestimmung stets mit einer Kompetenzentwicklung zu Abstimmungen, Austausch und Perspektivenwechsel verknüpft. Zudem sollte in der Begleitung zur Sprache kommen können, an welchen Wendepunkten des Lebens es an der Zeit ist, die Wünsche nach autonomer Lebensführung (zumindest teilweise) aufzugeben und sich der Obhut anderer anzuvertrauen. Begleitung achtet das Autonomiebedürfnis des Gegenübers und ermöglicht Eigeninitiative. Sie regt in Gesprächen und Aktionen zur Besinnung auf das Eigene an, auch auf das Eigene des Gegenübers und seine »Sicht auf die Dinge«. Im Begleitungsprozess wird der Prozess der Selbstbestimmung unterstützt durch Impulse und Fragen wie z. B.

•  Schätzen Sie Ihr Leben eher selbst- oder eher fremdbestimmt ein? In welchem Maße?

•  Gibt es jemanden, der Ihr Leben maßgeblich bestimmt? Gibt es Lebensumstände, von denen Sie sich bestimmt fühlen? Wie ist das für Sie?

•  Wenn Sie die Wahl hätten, was würden Sie am liebsten tun? Wer oder was hindert Sie daran?

•  Gibt es realistische Ziele, um Ihre Situation zu verbessern?

•  Welchen Schritt möchten Sie als nächstes tun? Wie kann ich Sie dabei unterstützen?

•  Mit Blick auf Ihre derzeitige Situation: Wäre es vielleicht an der Zeit, Hilfe von anderen anzunehmen oder Verantwortung abzugeben? Wenn ja, was hindert Sie daran? Was könnten kleine Schritte in diese Richtung sein?

Selbstwirksamkeit – das Erleben eigener Kompetenzen stärken

Menschen benötigen das Erleben eigener Handlungsfähigkeit – sog. Selbstwirksamkeit.

Haben wir das Gefühl, nichts bewirken zu können (im Sinne von »mir sind die Hände gebunden«), trägt das dazu bei, dass wir uns zurückziehen oder unangemessen fordernd auftreten, um doch noch unsere Wirksamkeit zu erleben. Das Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit kann über die Anerkennung von außen gestärkt werden. Zuweilen benötigen wir auch einen Hinweis darauf, welche Wirkungen wir erzielen, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Begleitung versucht, das Erleben der Selbstwirksamkeit des Gegenübers zu stärken. Sie ist deshalb in besonderer Weise auf Wertschätzung der Bemühungen und der Leistungen ausgerichtet. Impulse zum Erleben von Selbstwirksamkeit können z. B. sein:

•  Wie schaffen Sie das alles nur? Mit welchen Strategien helfen Sie sich durch den Tag?

•  Erhalten Sie genügend Anerkennung von Ihren Verwandten und Freunden? Welche Chance geben Sie den anderen, Anerkennung zu zeigen?

•  Erleben Sie selbst Ihre Wichtigkeit – oder lassen Sie sich durch mangelnde Anerkennung entmutigen?

•  Was brauchen Sie, damit Sie das Gefühl haben, am »richtigen Platz« zu sein?

•  Wissen Sie selbst Ihren eigenen Einsatz und Ihre Kompetenzen zu schätzen?

Sicherheit – das Sicherheitsgefühl stärken und neue Begegnungs- und Erfahrungsräume schaffen

Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Sicherheit, nach Räumen, Orten und Beziehungen, in denen uns »nichts passieren« kann, ist für unsere Existenz unabdingbar. So wie für Demenzerkrankte das Bedürfnis nach Sicherheit berücksichtigt werden muss, gilt dies auch für Senior*innen in besonders fordernden Lebenssituationen oder auch für pflegende Angehörige. Aus Mangel an Sicherheitsgefühl (z. B. aufgrund von Mobilitätseinschränkungen) erfolgt oftmals ein Rückzug mit ungünstigen Folgen.

Begleitung regt dazu an, sich selbst »sichere Orte« zu schaffen oder auch solche Orte aufzusuchen. Sie regt an, die eigene Privatsphäre der Wohnung zu öffnen, um Unterstützung anzufragen und die Scheu zu überwinden, Hilfe anzunehmen (Bubolz-Lutz 2013). Dass Begleitung durch Freiwillige eine verstärkte Nutzung weiterer externer Hilfsangebote nach sich zieht, wurde in der Evaluation von Pflegebegleitung (Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2011, S. 175) sowie von Familienbegleitung (Kricheldorff/Brijoux 2015) nachgewiesen. Berichtet wird von einer vermehrten Nutzung externer Hilfsangebote (Pflegedienst, Selbsthilfegruppe) bei 88 % der Befragten. Durch die Nutzung externer Hilfen können wieder Spielräume zur Gestaltung des eigenen Lebens gewonnen werden, Rhythmen können sich entwickeln, die ihrerseits Sicherheit geben. Impulse in Bezug auf die Stärkung des Sicherheitserlebens könnten sein:

•  Wie sicher fühlen Sie sich: in Ihrer Wohnung, Ihrer Nachbarschaft, auf Ihren Wegen, bei Angeboten zu Begegnung und Bildung? Was bräuchten Sie, um sich noch sicherer zu fühlen?

•  Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Aktionsradius? Würden Sie ihn gern erweitern?

•  Gibt es besondere Personen oder Organisationen, mit denen zusammen Sie sich sicher fühlen? Wenn ja, wie könnten Sie sie ansprechen/aufsuchen?

Sinn – zur Sinngebung und Reflexion über die eigenen Lebenswerte anregen

Auch die Suche nach der Sinnhaftigkeit der derzeitigen Lebenssituation kann bei der Bewältigung schwieriger Situationen helfen. Wer einen Sinnbezug herstellen kann (»Vielleicht gibt es doch etwas, das ich aus dieser Situation lernen kann«), dem gibt das neuen Lebensmut. Auch Gespräche über das, was einem im Leben besonders wichtig und wertvoll war und ist, können helfen, den eigenen »roten Faden« im Leben zu spüren und sich selbst in Kontinuität und Ganzheit zu erleben (»Sich selbst im Lebensganzen verstehen lernen« ist nach Petzold 1985 zentrales Ziel von Altersbildung). Antonovsky (1997) spricht hier vom »Kohärenzsinn«, den es zu entwickeln gilt als die Empfindungsfähigkeit eines Individuums für die stimmige Verbundenheit mit sich selbst und seinem sozialen Gefüge.

Begleitung räumt – unter Rückbezug auf den Salutogenese-Ansatz von Antonovsky (1997) – den Fragen nach dem Verständnis von Lebenssituationen und dem darin aufscheinenden Sinn einen besonderen Platz ein. Seelsorgerliche oder geistliche Begleitung sprechen diesen Aspekt unmittelbar an. Austausch über Sinnfragen und Anleitung zur Reflexion über das eigene Leben können durch folgende Impulse angeregt werden:

•  Haben Sie eine Vorstellung, wozu diese Situation für Sie – trotz allem – »gut sein« könnte?

•  Welche Vorstellungen zum Sinn Ihres Lebens haben Sie bisher in Ihrem Leben getragen? Könnten diese auch heute für Sie hilfreich sein?

Zugehörigkeit – Begegnung und Entwicklung von Vertrauen fördern

Es gibt einen Bedarf nach Resonanz, nach einer persönlichen Vertrauensperson, mit der wir sprechen können. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, des Eingebunden-Seins in eine Beziehung, Familie, Nachbarschaft oder Gemeinde hilft, Vertrauen ins Leben zu entwickeln. Der Soziologe Hartmut Rosa (2016) spricht von einem menschlichen »Resonanzbedürfnis«, das darauf zielt, sich von einem Gegenüber oder durch ein Erlebnis berühren zu lassen und darauf in eigener Weise zu antworten. Wird eine solche Resonanzbeziehung erlebt, etwa im Austausch mit einem Gegenüber, so geraten die Beteiligten »in Schwingung« – und es geschieht Transformation, also Veränderung. Menschen, die sich »gut begleitet« fühlen, berichten häufig von einem entsprechenden Erlebnis, das sie »verwandelt« habe.