Doch das Messer sieht man nicht - I.L. Callis - E-Book + Hörbuch

Doch das Messer sieht man nicht E-Book und Hörbuch

I.L. Callis

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Beschreibung

Zeitgeschichtliches Flair trifft auf düstere Thriller-Elemente – eindrücklich, verstörend, hochspannend. Berlin, 1927: Anaïs Maar ist jung und schwarz, boxt und schreibt für ein Boulevardblatt. Als sie über eine Reihe von Prostituiertenmorden berichten soll, wittert sie ihre langersehnte Chance auf Anerkennung. Währenddessen tanzen die Berliner auf dem Vulkan – Luxus, Spekulation und nächtliche Exzesse stehen Arbeitslosigkeit, Inflation und menschlichem Elend gegenüber. Anaïs kämpft nicht nur gegen den »Ripper von Berlin«, sondern auch mit den gefährlichen Vorzeichen eines dramatischen Epochenwandels.

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Seitenzahl: 529

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Zeit:11 Std. 6 min

Sprecher:Mona Fischer
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-98707-142-3

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Und der Haifisch, der hat Zähne

Und die trägt er im Gesicht

Und MacHeath, der hat ein Messer

Doch das Messer sieht man nicht.

Bertolt Brecht, »Die Dreigroschenoper«, 1928

Untern Linden, wie ihr wisst,

Wandeln, die da rufen: Pst.

Mild gesinnte Herzen finden

Kannst du immer untern Linden.

In Berlin, in Berlin,

Wenn die Bäume wieder blühn.

Für acht Groschen ist Mama

Hinten auf dem Hofe da,

An den Herrn und an Jeannettchen

Leiht sie Kammer, Licht und Bettchen.

In Berlin, in Berlin,

Wenn die Bäume wieder blühn.

Karl Müchler, 1820

Ich atme jedes Mal auf, wenn ich über die Grenze komme – und dieses verfluchte Rotzland im Rücken habe.

Der Schriftsteller Kurt Tucholsky an den Maler George Grosz

PROLOG

Luzifer.

Mutterseelenallein lief sie mitten in der Gasse durch die Nacht, sie schlingerte auf schief getretenen Absätzen über das Kopfsteinpflaster. Das Gaslicht ließ ihr kurzes Haar golden leuchten wie einen Heiligenschein.

Er saugte den vertrauten Höllengestank der Gosse ein, diesen ekelerregenden, alles umschlingenden und so berauschenden Pesthauch. Dabei ließ er die Frau nicht aus den Augen.

Wachsam folgte er ihr, immer an der baufälligen Mauer entlang. Vorbei an langen Schluchten von Ziegelsteinen und Schmutz, dunklen Querstraßen, eine jede eine neue Klamm von Mauern und Elend, darin gärende Haufen aller Arten von Abfällen, faulende Kartoffelschalen, Lumpenbündel und sich zersetzende Tierkadaver, über denen bei Tag Schwaden von Schmeißfliegen summten. Der Rinnstein führte Anfang August kaum Wasser, er bestand fast nur aus stinkendem Schlamm. Es roch nach Verwesung und Kloake und feuchten Mauern.

Die Frau wandte sich nach links, steuerte eine Durchfahrt an, blieb stehen, rieb sich die Augen, schimpfte laut.

Er beschleunigte seine Schritte, überholte die Frau und warf ihr im Vorbeigehen einen Blick zu, den sie kokett erwiderte. Mit einem Kopfnicken wies er auf die Tordurchfahrt, ging selbst hindurch und trat in einen Hinterhof. Schwaches Licht fiel durch verrußte Fensterscheiben auf Mülleimer, eine Stange zum Ausklopfen der Teppiche und eine rostige Wasserpumpe ohne Pumpenschwengel, ein Relikt aus Kaisers Zeiten.

Rechts lagen Stalltüren, dahinter scharrten Pferde, er konnte ihr Schnauben hören. Neben einer Mauer stand ein Fuhrwerk, über den Seitenwänden hingen leere Kohlensäcke. Troschkes Kohlenhandlung. Irgendwo keuchte asthmatisch ein Akkordeon.

Zwei rote Rosen, ein zarter Kuss.

Der Kohlenstaub in der Luft würgte ihn. Von einer Leine hing lange Männerunterwäsche herab, die leeren Arme und Beine baumelten schlaff wie die Glieder der Gehenkten am Galgen. Es roch nach gekochten Innereien, Seifenlauge und dem Ammoniakgestank von Pferdeurin. In den Hinterhöfen von Berlin spielte sich das wahre Leben ab.

Endlich konnte er die Frau hören. Sie summte leise eine Melodie vor sich hin, unterbrach sich, fing an zu lachen, sang weiter.

Nun wankte sie durch den Torbogen in den Hinterhof.

Er trat ihr in den Weg, knöpfte seine abgetragene Jacke auf.

Sie blieb stehen und musterte ihn zweifelnd. Doch dann erschien das kokette Lächeln wieder auf ihrem Gesicht. Ungeniert entblößte sie ein lückenhaftes Gebiss, legte den Kopf schief, strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, und jetzt erkannte er, dass es nicht blond, sondern grau war.

»Na, Süßer«, sagte sie. »Warteste auf wen?«

Anscheinend war sie willens, in dieser Nacht noch ein letztes Geschäft zu machen. Ein allerletztes, dachte er.

»Wat is?«, fragte sie. »Kannste nich reden, biste pleite oder nur schüchtern, Süßer? Keene Angst, det jibt sich.«

Er schwieg, sah sie nur an. Sie reichte ihm bis zur Schulter. Ihr Kleid war zu leicht für Ende September. Der kurze Rock bedeckte kaum die knochigen Knie, die dicker waren als ihre dünnen Beine. Ihre bloßen Füße steckten in ausgetretenen Riemchenschuhen.

»Is dein erstet Mal hier, wa?« Sie machte ein paar unsichere Schritte, schwankte wie ein Segelboot auf hoher See. »Det seh ick jleich, du bist nich so eener.« Sie schlingerte auf ihn zu. »Haste mal wat zu trinken für ’ne junge Frau?«

Er fasste in die Brusttasche seiner Jacke, als hätte er dort einen Flachmann stecken. »Klar«, sagte er und griff das Messer.

»Haste denn überhaupt Penunse?« Sie kam noch näher.

»Klar«, sagte er wieder und ließ den Blick über die Umgebung huschen. Jetzt brannte nur noch hinter zwei Fenstern Licht. Das Akkordeon spielte laut und mit Tempo.

Das ist die Liebe der Matrosen.

»Ick zahle jut«, fügte er hinzu.

Die Frau blieb stehen, sie wirkte misstrauisch. »Janz dolle Perversitäten mach ick nich«, sagte sie. Auf einmal erschien ein verschlagener Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Weeste wat?«, fragte sie. »Ick kenne een warmet Plätzchen, wo wir janz unter uns sind. Und Zeit hab ick ooch für dir, jede Menge sogar.« Sie rückte erneut näher. »Kannste mir vertrauen, Süßer.«

Er erkannte die Falle sofort. »Wir jehn nirgendshin«, sagte er leise.

Sie blickte zu der Hofseite, wo die Pferde schnaubten, dahin, wo er auf sie gewartet hatte. »Mein Bett steht im Suttereng«, sagte sie und deutete ins Dunkel. »Is ooch jar nich weit.«

Er wusste, dass sich an der Stelle, auf die sie deutete, ein Abgang befand, der zu einer Holztür mit abblätternder Farbe führte. Er fragte sich, wer in diesem Kellerloch, in dem sie hauste, auf ihre leichtgläubigen Freier lauerte. Wenn er mit der Hure mitging, rannte er ihrem Zuhälter in die Arme. Oder ihrem Liebhaber. Oder ihrem Bruder. Oder allem zusammen in einer Person. Sah er etwa wie eines ihrer Opfer aus, die nackt und ohne einen Groschen in der Gosse landeten und aus Scham oder persönlichen Gründen die Obrigkeit mieden?

Der Alkohol hatte ihr Urteilsvermögen getrübt. Trotzdem wich seine Verachtung für diese Kreatur der Wut.

»Wat is?« Sie schenkte ihm ein einschmeichelndes Grinsen, drehte sich hin und her. »Willste nu oder nich?«

Seine letzten Zweifel waren beseitigt.

»Komm her«, sagte er und hörte selbst, wie rau seine Stimme klang.

Sie kicherte, dachte wohl, sie hätte gewonnen, trippelte auf ihn zu, legte eine Hand auf seine Schulter und näherte ihr Gesicht seiner Wange. Der Geruch nach billigem Parfüm stieg ihm in die Nase, vermischte sich mit dem Hinterhofgestank, legte sich klebrig auf seine Haut, reizte ihn zum Erbrechen. Die Frau säuselte Worte, lockend und geschmeidig und so seelenlos wie das Geplapper eines Papageis.

Er legte den linken Arm um ihre Taille, zog sie an sich. Sie war dünn und knochig, sie wirkte ausgezehrt. Er schaute durch das Halbdunkel bis zum Himmel hinauf. Über einer Wolkenwand schwamm wie mit Blattgold belegt ein voller Mond. Mit der rechten Hand zog er das Messer heraus und stieß es der Frau in den Bauch. Widerstandslos glitt es in das weiche Fleisch.

Sie riss die Augen auf, sah ihn überrascht an. Das Messer war scharf, sie hatte nur einen Schlag gespürt. Ihre Finger krochen über das Kleid.

Er hielt sie fest, stach wieder zu und wieder und wieder, schnell, leidenschaftslos und im Bewusstsein seiner Pflicht. Er stach so lange zu, bis seine Hand von warmem Blut ganz nass war, den Messergriff konnte er kaum noch halten. Seine Mütze fiel ihm vom Kopf, er achtete nicht darauf.

Die Frau keuchte, öffnete den Mund zu einem Schrei.

Er packte sie bei den Haaren, riss ihren Kopf nach hinten und drehte ihr Gesicht von sich weg. Mit einer schnellen Bewegung schnitt er ihr die Kehle durch, trat sofort zurück, um nicht von der Blutfontäne getroffen zu werden, die aus der zerfetzten Halsschlagader schoss.

Die Frau wand sich, gurgelte, sprechen konnte sie nicht mehr. Sie hing an seinem ausgestreckten Arm wie eine Marionette. Endlich sank sie bewusstlos zusammen.

Er öffnete die Finger und ließ ihren schlaffen Körper auf den Boden fallen, so wie man sich einer erschlagenen Ratte entledigte. Erhitzt und zufrieden zog er ein Taschentuch hervor, wickelte es um das blutige Messer und stopfte es zurück in das Lederholster über seinem Herzen. Er knöpfte die Jacke über dem besudelten Unterhemd zu und warf noch einen letzten Blick auf die Frau.

Sie lag auf dem Rücken, die Arme und Beine zu einem Kreuz gespreizt. Ihre im Mondlicht glänzenden Augen waren zum Himmel gerichtet, die klaffende Wunde in ihrem Hals lächelte wie ein zweiter Mund. Unter ihrem Kopf breitete sich langsam ein dunkler Heiligenschein aus.

Er staunte über die Verwandlung, die mit der Frau vor sich gegangen war. Eine stille Würde schien sie zu umgeben, der ihr unsittlicher Lebenswandel, Gewalt und Alkohol nun nichts mehr anhaben konnten. Jetzt, im Tode, erkannte er ihre wahre Schönheit. Den zarten Knochenbau des Gesichtes, die halb geöffneten blutigen Lippen, die ihn an eine aufblühende rote Blume erinnerten. Die Hure, die die Frau einmal gewesen war, gab es nicht mehr, er hatte sie ausgelöscht. An ihre Stelle war ein neues, unschuldiges Wesen getreten, erfüllt von dem inneren Frieden, den er ihm geschenkt hatte.

Das Wunder war erneut geschehen.

Er hob seine Mütze auf, klopfte den Staub ab und setzte sie auf, wobei er den Schirm tief ins Gesicht zog.

Luzifer.

Die Römer hatten in ihm den Lichtträger und den Morgenstern Venus gesehen, das männliche und das weibliche Prinzip in einer Person. Den Christen war er der Engel, der sich Gott gleichmachen wollte und zur Strafe aus dem Himmel verbannt wurde. Doch als Luzifer sein eigenes Reich gründete, schuf er damit die Welt und – ihre Gesetze.

Er war ein Niemand, ein Nichts.

Es gab ihn nicht, es durfte ihn nicht geben.

An diesem Abend jedoch war er Richter gewesen, hatte sein Urteil gefällt und es vollzogen. Er hatte Gutes getan.

Er war Luzifer.

Dann stürzte er sich noch einmal auf die Tote.

EINS

»So, Finchen, das ist also nun unser letzter Abend.«

Josefine, die zur Feier des Tages ihr fabelhaftes rotes Kleid mit den weißen Punkten angezogen und ihr Glockenhütchen aufgesetzt hatte, sah von ihrem vornehmen Salat mit Havelkrebsen auf und begriff erst mal rein gar nichts. Georg und sie saßen im Restaurant Zur Linde, und zwar im feinen Jagdzimmer, weshalb die Wände mit dunklem Holz getäfelt waren und daran Jagdbilder und Geweihe hingen. Sogar der Kronleuchter bestand aus putzigen Lampenschirmchen auf Hirschgeweihen. Georg war auch Jäger, aber das sah man nicht.

»Was meinste, Georgchen?«, fragte Josefine.

»Sieh mal, Finchen, du hast es doch immer gewusst.«

Jetzt schwante Josefine eine schlechte Ahnung. Georg hatte sie an diesem Abend ganz vornehm zum Essen ausgeführt, und irgendwie war er so feierlich gestimmt gewesen, und da hatte sie an etwas Zukünftiges gedacht und auf seinen Antrag gewartet und ihm auch immer wieder so sinnliche Blicke voller Zustimmung zugeworfen. Josefine von Scherer, das klang fabelhaft. Besser als Josefine Hoffmann. Sie war achtzehn Jahre alt und blond und hübsch, sodass man sie schon mit Lilian Harvey verglichen hatte. Sie war eine Frau mit Ehrgeiz und Stil und entschlossen, demnächst zur Filmgöttin zu werden und im Glanz zu stehen. Josefine von Scherer, das klang wirklich fabelhaft. Dafür war sie auch bereit, einen Kurs für vornehmes Kochen und Benimm zu machen.

»Was soll ich gewusst haben, Georgchen?«, fragte sie.

»Dass unsere Liebe nicht für die Ewigkeit bestimmt ist.«

»Ick kenn dir gar nicht mehr, Georgchen.« Josefine legte die Gabel hin, so ganz mit Zierlichkeit. »Wat machste denn auf einmal für Fisimatenten?« Sie hatte tatsächlich eine Verwunderung.

Georg lachte. »Siehst du, Finchen, das meine ich«, sagte er. »Natürlich liebe ich dich genau so, so wie du bist, und es fällt mir sehr schwer – aber ich kann dir das Leben nicht bieten, das du verdienst. Du bist doch noch so jung und, na ja, deswegen muss dies eben unser letzter Abend sein.«

»Ick versteh immer nur letzter Abend – wieso denn?«

Georg machte dem Kellner ein Zeichen, und der schenkte gleich noch mal Champagner in die Kristallkelche, und Josefine hatte eine Erleichterung, weil Georg nur gescherzt hatte.

»Schau mal, Finchen«, sagte Georg. »Ein Mann wie ich hat es auch nicht immer leicht. Das verstehst du doch?«

Josefine warf ihm einen Lilian-Harvey-Blick zu, dann dachten die Männer immer, man hätte ein Verständnis, und in dem Glauben ließ man sie ja auch. »Natürlich, Georgchen«, hauchte sie.

»Du bist eine vernünftige Frau, Finchen«, sagte Georg und schob ihr ihr Champagnerglas hin. »Ein Mann in meiner Position kann nicht immer so, wie sein Herz es ihm befehlen möchte.«

Der kalte Champagner kitzelte in Josefines Nase, und gleich musste sie niesen und hatte wie immer kein Taschentuch parat.

»Ich werde bald dreißig.« Georg seufzte und reichte ihr sein eigenes Taschentuch, und das war blütenweiß und mit seinen Anfangsbuchstaben bestickt und so vornehm wie er selbst. »Es wird Zeit für eine Frau an meiner Seite.«

Josefine putzte sich ordentlich die Nase, und wenn die feinen Pinkel an den Nachbartischen deshalb dumm aus der Wäsche guckten, dann war jetzt nicht der Moment, um sich darüber zu erregen. Hier ging es um ihre Zukunft. »Ja«, sagte sie mit Feierlichkeit. »Ja, Georgchen, ick will – ick liebe dir!« Und sie wollte ihm auch gleich das Taschentuch zurückgeben, aber Georg machte eine krause Nase und wedelte mit der Hand.

»Behalt es, Kindchen, behalt es«, sagte er. »Du hast mich falsch verstanden – ich habe mich letzten Sonntag verlobt.«

»Du … hast … was?« Josefine war voll Fassungslosigkeit.

»Sie heißt Sophie-Charlotte«, sagte Georg. »Die van Halens sind zufällig auch die Nachbarn meiner Eltern in Dahlem.« Er hielt sich die Faust vor den Mund und hustete, als wenn ihm eine Gräte im Hals steckte, dabei hatten Krebse ja nun gar keine Gräten. »Ihrem Vater gehört die Bank, in der ich nächsten Monat als Justiziar anfange. Sophie ist ein ganz zauberhaftes Wesen, sie würde dir gefallen.« Er nahm Josefines freie Hand.

Josefine hatte es die Sprache verschlagen.

Georg tätschelte ihre Finger und machte so einen dämlichen verschleierten Blick. »Ich danke dir, Finchen«, flüsterte er.

»Wo… wofür?«, konnte sie nur stammeln.

»Für deine Großzügigkeit und die schönen Erinnerungen, die du mir – uns – geschenkt hast«, hatte Georg die Unverschämtheit zu sagen. »Ich darf dich nicht um deine Hand bitten. Irgendwo da draußen gibt es einen braven, fleißigen Mann für ein liebes Mädel wie dich. Aber ein Mann mit meinen Karriereaussichten muss ein, sagen wir … ein anständiges Mädchen heiraten.« Er küsste Josefines Hand und plinkerte sie so ganz romantisch an. »Wollen wir nicht noch woanders hingehen, Kleines? Nur so zum Abschied?«

Weiter ließ Josefine ihn mit seinem Gesülze nicht kommen, denn eine Welle heißer Wut überschwemmte sie. »Det kannste unter Ulk verbuchen!«, brüllte sie durch das ganze Lokal. »Du Schuft!«

Josefine sprang auf, und ihr Stuhl krachte auf das Parkett, und all die Besseren an den Nachbartischen ließen das Besteck sinken und guckten mit offenen Mündern zu ihr rüber. Sie schleuderte das feuchte Taschentuch auf die Krebse, entriss dem feinen Georg von Scherer ihre andere Hand und langte ihm richtig eine, dass es nur so knallte. Dann nahm sie ihre Handtasche und legte auf ihren hohen Absätzen einen stilvollen Abgang hin. An der Garderobe ließ sie sich noch ihren Feh geben, von dem hatte sie nämlich schon die dritte Rate bezahlt.

Anschließend ging Josefine zum Kurfürstendamm hinunter.

Sie musste ein ganzes Stück laufen, aber das war gut so, denn sie war noch immer voller Wut und Empörung. Vor allem, weil sie nicht wusste, wo sie nun die Nacht verbringen oder was jetzt überhaupt werden sollte. Das wenige Geld in ihrer Börse würde nicht allzu lange reichen.

Josefine hatte nämlich ihre Stellung verloren.

Bis vor Kurzem hatte Josefine im Notariat Stern gearbeitet. Tippmamsell nannte ihr Vater das. Achtzig Mark hatte sie verdient und sechzig davon zu Hause abgegeben.

Dann war Herr Stern plötzlich von einem Tag auf den anderen verschwunden, womit man ja hätte rechnen können, wenn man bedachte, dass die Zeitungen doch sehr viel Schlechtes über die Juden zu berichten wussten. Nur dass das alles auf Dr. Stern nicht zutraf, denn der war immer sehr korrekt gewesen. Trotzdem war seine Abreise überraschend gekommen. Nicht einmal Paula, die erste Sekretärin, war vorgewarnt gewesen. Das Büro hatte gewartet, dann hatte Paula bei Herrn Stern zu Hause antelefoniert, und als sich niemand gemeldet hatte, war Rudi, der Bürobote, zu der Villa im Grunewald geschickt worden. Aber er war unverrichteter Dinge ins Notariat zurückgekehrt. Die ganze Familie, so hatte er nur von der Spreewald-Amme der Nachbarn erfahren können, war mitten in der Nacht mit viel Gepäck in ihren Wagen gestiegen und abgereist. Wohin, wusste niemand. Wie erwartet tauchte Herr Stern auch nicht wieder auf, das Notariat wurde geschlossen, und Josefine war arbeitslos.

Natürlich wollte ihr Vater weiter die sechzig Mark im Monat, und ihre Mutter brauchte etwas für das Ernakind, das es ja auch auf der Lunge hatte. Josefine war die Stütze der Familie, wie ihre Eltern ständig sagten. Carl, der Älteste, war nämlich beim Löschen einer Schiffsladung unter eine Kiste mit Metallteilen gekommen, was ihm erst das Rückgrat gebrochen und dann den Tod beschert hatte. Paul, der Zweitälteste, hatte das Temperament vom Vater geerbt und saß deswegen für die nächsten Jahre im Zuchthaus.

Die Gesichter wurden immer vorwurfsvoller, obwohl Josefine fast nichts mehr aß, sondern von Einladungen lebte und sogar die Perlenkette, das Geschenk eines großzügigen älteren Herrn, ins Pfandleihhaus gebracht hatte, wofür sie aber kaum was bekommen hatte, was ein Wucher war. Sie erzählte zu Hause nie, woher das Geld stammte. Ihr Vater hätte sie vor moralischer Empörung glatt hinausgeschmissen, aber wenn sie nichts sagte, dann fragte er auch nicht nach und verschwendete keinen Gedanken daran, weil er ja Geld kriegte und so seine moralische Beruhigung hatte.

Bis in die Nacht hinein spazierte Josefine in ihrem Feh unter den Platanen über den Tauentzien und den Kurfürstendamm und dachte nach. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Zeit für eleganten Müßiggang, und es war so ein schöner Herbstabend. Die Straßencafés waren noch immer rappelvoll, und das sicher schon seit dem so vornehmen Fünfuhrtee, der in letzter Zeit in die Mode gekommen war. Vor den Lichtspielhäusern standen die Leute Schlange, als gäbe es ausnahmsweise mal was umsonst.

Ganz Berlin schien auf den Beinen und feierte das Leben.

Josefine hörte die Musik der Großstadt ganz deutlich mit all den Autos, Straßenbahnen und Omnibussen, die über den Kurfürstendamm durch die Nacht rauschten, mit den Männern mit dem Bauchladen, die an den Litfaßsäulen lehnten und »Zigaretten« flüsterten, womit Kokain gemeint war, und dagegen verwahrte sich Josefine ganz entschieden. Denn sie spürte inzwischen von ganz allein so viel Lebensfreude und Abenteuerlust, als hätte sie einen Schwips von Champagner. Die feuchte Kellerwohnung der Eltern im Krögel – was ja nun keine so feine Wohngegend war, aber eben ihre vertraute –, aus der sie an diesem Morgen für immer weggelaufen war, war ganz weit weg und ihr glanzvolles Leben ganz nah. Nun, wo Georg, der Schuft, sie nicht zur Gemahlin wollte, war ihr Weg frei zu einer glanzvollen Zukunft als Filmgöttin.

Die Stadt leuchtete mit Lichtreklamen, als wären die Sterne vom Himmel gefallen und funkelten nun mit der ganzen Eleganz um die Wette. Um sie herum flanierten Frauen ganz in der neuesten Herbstmode von 1927, mit Bubiköpfen und in kurzen Mänteln, mit hochmütigen Gesichtern und seidenen Beinen. Sehr schick, das alles. Die Männer hatten Hüte auf und trugen Anzüge mit wattierten Schultern. Auch sehr elegant.

Hin und wieder blieb Josefine vor einem Geschäft stehen und besah sich die Auslage. Sie achtete nämlich sehr auf ihre äußere Erscheinung und ließ sich durchaus von netten und großzügigen Männern unterstützen. In ihrer Garderobe erregte Josefine nicht nur Aufsehen, so ein eleganter Auftritt hatte auch andere Vorteile. In einem vornehmen Laden zum Beispiel.

Womit können wir dienen, gnädige Frau?

Lassen Sie mir mal das Seidennachthemd da sehen.

Der Herr Gemahl wird begeistert sein, gnädige Frau.

So was hab ich nicht, und das da ist mir auch zu teuer.

Oft machte der Inhaber dann einen Vorschlag für den Abend, dann sagte man zu, und dann waren auch mehrere Hemden oder Strümpfe aus Bembergseide drin. Manchmal, wenn der Mann ihr gefiel, nahm sie auch nur eine Pralinéschachtel an, manchmal mehr, aber immer hatten die Herren den Eindruck, sie hätten einen verführt oder Schlimmeres getan – und bei dem Glauben ließ man einen Mann ja dann auch.

Josefine hatte nämlich Grundsätze.

Niemals schlief sie mit einem Fremden einfach so, ganz umsonst. So ein Lotterleben schadete dem Ruf einer Frau, das hatte ihr Georg ja gerade in aller Deutlichkeit klargemacht. Man musste wissen, wofür man es tat.

Bei Georg war es aus Liebe geschehen.

Sie dachte noch einmal voller Verärgerung an den Schuft.

Eine Frau musste ihr Schicksal eben selbst in die Hand nehmen und durfte ihr Lebensglück nicht von einem Mann abhängig machen. Und außerdem war Josefine eine sogenannte »neue Frau«. Von denen war in den Illustrierten immer die Rede – vor allem in Das elegante Blatt und Die Dame –, und von den schönen Frauen gab es fabelhafte Bilder in ganz fabelhafter Garderobe.

Irgendwann taten Josefine doch die Füße weh, aber sie konnte nun nie mehr nach Hause zurück. Denn gestern hatte sie einen schrecklichen Fehler gemacht.

Ein älterer Mann, der, wie er ihr gleich zu Beginn auf die Nase band, bei der Polizei was Höheres war, hatte für sie beide Zigaretten bestellt, nicht für vier Mark, nicht für acht – was die Absichten eines Mannes ja bereits klarmachte –, sondern gleich für zehn. Damit hätte Josefine gewarnt sein müssen. Aber sie brauchte nun mal dringend das Geld. Der Mann war tatsächlich ein Sadist gewesen, und was er von ihr verlangt hatte – wo sie doch so eine zarte Haut hatte und überhaupt keinen Schmerz vertrug –, versuchte sie anschließend so schnell wie möglich zu vergessen, auch wenn ihr ganz übel war. Am Morgen blickte sie in sein knochenbleiches Schlafgesicht, und das machte sie wieder voll Ekel und äußerst böse, sodass sie fand, dass ihr für diese Nacht ein Extralohn zustand. Ohne schlechtes Gewissen nahm sie seine Brieftasche und machte sich damit aus dem Staub. Leider stellte sie zu Hause fest, dass nur dreißig Mark drinnen waren und ein Polizeiausweis. Der Sadist hatte jedenfalls nicht gelogen, was seinen Beruf betraf, und bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei sie ausforschte und ins Zuchthaus brachte.

Josefine erkannte das Zeichen des Schicksals, auch wenn es wie ein Wink mit dem Zaunpfahl aussah. Sie wartete, bis alle die Wohnung verlassen hatten, zog dann schnell ihre neue Garderobe an, packte den Rest in ihre große, flache Tasche, und im letzten Augenblick lief sie noch zum Nähkorb. Dort hatte die Mutter ein großes Goldkreuz an einer Kette versteckt. Josefine war ganz erschrocken gewesen, als sie es vor Jahren entdeckt hatte, weil die Familie gar nicht katholisch oder überhaupt kirchlich veranlagt war. Klar war nur gewesen, dass der Vater von dem Goldschatz nichts wissen durfte, denn dann wäre er in Pauls Destille gelandet.

Josefine fischte die Goldkette mit dem Kreuz aus dem Nähkorb und hängte sie sich um. Dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil es doch Diebstahl war, aber die Mutter hatte die Kette vielleicht nicht nur aus Pietät, sondern für ihre Kinder aufgehoben, um ihnen etwas zu vererben. Deshalb schrieb sie ihr einen Zettel, dass sie nun bald eine Filmgöttin sein und im Glanz stehen und sich dann gleich melden würde.

Nun glaubte sie zwar nicht, dass der Sadist direkt nach ihr fahnden ließ, der hatte bestimmt gerade bei seinem Vorgesetzten Erklärungsnotstand, was den Ausweis betraf. Aber sie wollte doch nichts riskieren und schnell weg. Deswegen stieg Josefine in eine Droschke, die zufällig am Straßenrand stand, was im Krögel so gut wie nie vorkam, aber eben auch ein Wink des Schicksals war. So reiste sie auf Kosten des Sadisten schon mal standesgemäß in ihr neues Leben – in den fabelhaften Teil von Berlin, wo eine schöne Frau mit Ehrgeiz ihren Weg machen konnte.

Josefine war dann gleich zu Georg von Scherer in seine Junggesellenwohnung in Wilmersdorf gefahren, weil sie ganz sicher gewesen war, dass sie bleiben konnte, obwohl man sich streng genommen schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, denn Georg musste studieren, und das hatte natürlich Priorisierung.

Finchen, wir können uns eine Zeit lang nicht mehr treffen.

Warum denn nicht, Georgchen?

Du weißt doch, Kleines, die Abschlussprüfungen …

Georg hatte sich nicht nur erfreut, sondern auch sehr sinnlich gezeigt und Josefine gleich danach in die Linde eingeladen, und sie hatte ihr fabelhaftes rotes Kleid angezogen.

Der Rest war ja nun Geschichte.

Gerade als Josefine sich allmählich ernsthaft Gedanken darüber machte, wo sie die Nacht verbringen sollte, hielt ein Auto neben ihr.

Es war so ein großer weißer Wagen mit aufgeklapptem Verdeck, und hinter dem Steuer saß ein Mann in einem edlen Mantel, der ganz elegant ein wenig offen stand. Darunter sah man einen Abendanzug. Um seinen Hals lag ein weißer Seidenschal, und am Aufschlag seiner Jacke steckte eine rote Blume. Der Mann sah genau wie Willy Fritsch aus, den sie auf Einladung von Georg im Ufa-Palast am Zoo gesehen hatte, sogar mit Lilian Harvey. »Die keusche Susanne« hatte der Film geheißen und war für die Jugend verboten, und sie war leider erst siebzehn gewesen. Aber Georg hatte sie so bestimmt am Arm geführt, dass alle geglaubt hatten, sie wäre seine Frau. Warum ein junges Mädchen mit jedem Mann, der nicht ihr Mann war, ins Bett gehen durfte, aber als Person für sich allein nicht ins Filmtheater, das sollte ihr mal einer erklären.

Josefine schenkte dem Fahrer ein Lächeln. Willy Fritsch legte den Arm über die Rückenlehne des Beifahrersitzes und beugte sich zu ihr hinüber. Er hatte auch dunkle Haare, so glänzend nach hinten geglättet mit Haarwachs.

»Na, heute Abend schon was vor, mein schönes Kind?«

»Sie verwechseln mir, mein Herr, aber ganz gehörig.«

Ein Auto an sich beeindruckte Josefine nämlich nicht. Was hieß heute schon ein Auto? War das überhaupt bezahlt, oder fuhr der Mann auf Pump? Ein anständiger Mensch fuhr Elektrische, der Fahrschein für zwanzig Pfennig, Schülerfahrschein für zehn Pfennig, aber da hat sie meistens ohne fahren müssen.

Keen Fahrschein? Nee, nich weinen, kleenet Frollein, ick drück ooch noch mal een Auge zu, wa?

Wahrscheinlich war auch der edle Mantel aus der Leihanstalt. Der Mann hatte sie wohl beim Flanieren beobachtet, und jetzt bildete er sich was Billiges ein. Den Krögel konnte man ihr ja mit dem teuren Feh nicht ansehen. Ihre restliche piekfeine Garderobe war leider noch in der Junggesellenwohnung in Wilmersdorf. Die würde sie holen müssen, wenn nur die Putzfrau von Georg, dem Schuft, zu Hause war. Immerhin war Josefine eine neue Frau mit einer fabelhaften Zukunft. Ihr stand ganz Berlin offen.

»Ich suche eine charmante Begleitung zum Abendessen.«

Josefine hatte am Morgen nichts gegessen, und zu den Havelkrebsen war sie ja auch nicht richtig gekommen. Außerdem musste das Geld des Sadisten möglichst lange reichen. Sie ärgerte sich schon, dass sie sich die Droschke geleistet hatte. Und sie hatte auch noch keine Unterkunft für die Nacht.

»Ich speise nicht mit fremde Herren zu Abend«, sagte sie. Hoffentlich hörte er nicht ihren Magen knurren.

Willy Fritsch schmunzelte. »Ja, wenn Sie keinen Hunger haben«, sagte er. »Wie wär’s dann damit: Miss Baker tanzt heute Abend für ein paar Freunde – ganz im privaten Rahmen. Es werden natürlich Champagner und Erfrischungen gereicht.« Das klang, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sie schon wieder mit dem Gedanken an Essen inkommodierte.

Josephine Baker, die schwarze Tänzerin aus New York, die Plakate hingen an jeder Litfaßsäule – sehr freizügig und ziemlich skandalös – und noch dazu ganz privat. Und wenn der Mann mit der Erwähnung von diesen Erfrischungen andeuten wollte, dass man ihr den Hunger ansah, dann war Josefine inzwischen schnurzegal, wie sie wirkte. Es wurde allerhöchste Zeit, sich von seiner männlichen Durchsetzungskraft überrascht und überwältigt zu zeigen.

»Na, wenn das mal nicht Schicksal ist«, sagte sie und warf ihm so einen herausfordernden Blick zu, »ich heiße nämlich zufällig auch Josefine.« Sie machte eine verlegene Miene. Jetzt hielt er sich bestimmt für den Sieger – und den Glauben musste man den Männern dann ja auch lassen. »Also gut, wenn Sie mir so nett bitten …«

Willy Fritsch hatte nicht nur ein großes Auto, sondern auch eine gute Erziehung, denn er stieg sofort aus, kam um den Wagen herum und öffnete galant den Schlag für sie. Die Autositze waren ganz mit hellrotem Leder bezogen. Wo doch Rot ihre Lieblingsfarbe war. Auf der Rückbank lagen ein Zylinder und ein Strauß weißer Lilien mit einer goldfarbenen Seidenschleife, bestimmt für die Baker.

»Bitte Platz zu nehmen, mein schönes Fräulein.«

Josefine kletterte auf den breiten Ledersitz.

Willy Fritsch setzte sich hinter das Lenkrad, und der offene Wagen rollte den Kurfürstendamm hinunter und an den spitzen Türmen der Gedächtniskirche und den eleganten Schaufenstern vorbei. Alles war Glitzer und Glanz. Sie bogen in die Budapester Straße ab und fuhren an den Glaspalästen vorbei, hinter deren Scheiben die modernsten Automobile funkelten und ihre Kühler bleckten.

»Hat man Ihnen schon gesagt, dass Sie wie Lilian Harvey aussehen?«, fragte Willy Fritsch. »Sind Sie es am Ende gar?«

»Vielleicht? Heute Abend is alles möglich …«

Und Lilian Harvey lachte silberhell und riss sich den Glockenhut vom Kopf und spürte, wie der Fahrtwind ihre blonden Kinderlocken zauste und der Fellkragen ihren Nacken kitzelte.

Berlin war fabelhaft.

Ach was, das ganze Leben war fabelhaft.

ZWEI

»Sagt nicht, dass wir wieder keinen Aufmacher haben!« Die Männerstimme klang aufgebracht und resigniert zugleich.

Anaïs Maar, die neue Kulturredakteurin beim Berliner Brennpunkt, lehnte mit dem Rücken am Fenster und ließ die winzigen Perlen eines Korallenarmbands eine nach der anderen durch ihre Finger gleiten. Es sah aus, als betete sie einen Rosenkranz. Immer wenn sie an eines der kleinen Goldplättchen oder einen der bunten Glastropfen, die zwischen den Perlen aufgefädelt waren, kam, hielt sie kurz inne, um dann im gleichen Rhythmus mit dem Zählen fortzufahren.

Doch Anaïs sprach kein Gebet, sie war gereizt.

Wilhelm Kaiser, der Chefredakteur, stand in Hemdsärmeln und Hosenträgern neben einem mit Papieren überladenen Schreibtisch und starrte auf den jungen Lokalredakteur Emil Borowski hinab. Borowski war noch keine dreißig, litt jedoch bereits unter erheblichem Übergewicht und einer beginnenden Glatze. Wenn er aufgeregt war, glänzte sein Gesicht wie eine Schweineschwarte.

Gerade telefonierte er hektisch und tippte dabei mit einem Bleistift auf einen Block. »Mieze? Hier Emil … Das Polizeifest? Ja, war nett, fand ich auch … Ja, unbedingt.« Er lachte künstlich. »Du, Mieze, hör mal …«

Anaïs unterdrückte einen Seufzer.

Sie war dreiundzwanzig, hatte ihr Praktikum beim Leipziger Tagblatt mit einem hervorragenden Arbeitszeugnis abgeschlossen und war danach in ihre Geburtsstadt Berlin zurückgekehrt. Berlin war die Stadt der Zeitungen und Verlage, hier gehörte eine ehrgeizige Journalistin wie sie hin. Gleich nach ihrer Ankunft war Anaïs in die südliche Friedrichstadt gegangen, eine Mappe mit ihren Artikeln unter dem Arm. Hier standen sie, die prächtigen Häuser von Ullstein, Mosse und Scherl, mit Säulen, Steinbalustraden und großen Fensterflächen. In diesen Schlössern, durch deren Gänge Redakteure, Sekretärinnen und Nachrichten eilten, residierten sie, die Zeitungskönige.

Ein freundlicher Pförtner hatte Anaïs durch die Tore des so auflagenstarken wie meinungsbildenden Berliner Standard Eintritt gewährt, ein Lift hatte sie rasend schnell in die oberen Etagen zu den Anmelderäumen gefahren. Anaïs hatte auf einen Zettel schreiben müssen, wen sie zu sprechen wünschte und weshalb, dann war ein Botenjunge damit im Inneren des Zeitungsschlosses verschwunden, und Anaïs hatte sich auf einer langen Wandbank wiedergefunden. Wartende Männer in Tweedjacketts hatten ihr verstohlene Blicke zugeworfen, elegant, aber billig angezogene Frauen hatten hochmütige Gesichter gezogen, die Damen von den Klatschkolumnen.

Während Anaïs zugesehen hatte, wie in das Fangnetz neben der Tür aus einer langen Röhre wichtige Telegramme fielen, war die Zeit dahingekrochen. Irgendwann hatte ein Bote sie abgeholt und zu einem mächtigen Mann geführt, der freundlicherweise ein Telefongespräch kurz für sie unterbrach und ihr mit seiner brennenden Zigarre bedeutete, ihre Mappe auf einer Ecke seines Schreibtischs abzulegen. Gerne hätte sie ein paar Minuten seiner wichtigen Zeit gehabt, um über eine Serie zu sprechen, die sie im Sinn hatte, ein Gespräch mit einem aufstrebenden Literaten und eine Reise zu Fontanes Schauplätzen. Doch der mächtige Mann hatte keinen Blick mehr für sie gehabt. Zu viele Anfänger trugen täglich ihre Hoffnungen vor seinen Schreibtisch. Seine Sekretärin hatte noch ihre Adresse vermerkt und zugesagt, man werde sich umgehend melden.

Nach drei Monaten und etlichen ergebnislosen Nachfragen hatte sie auf eine Annonce des Berliner Brennpunkt geantwortet und eine feste Stelle bekommen. Nun schrieb sie für den Boulevard.

Dies war schon ihr zweiter Monat in der Redaktion, und sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, aus ihrem ehemaligen Kinderzimmer in ihre Wohnung in Charlottenburg zu ziehen. Inzwischen fragte sie sich bei all den Hahnenkämpfen in der Redaktion bereits, ob sie nicht zu schnell zugegriffen hatte, eine Frage, die angesichts der Umstände rein rhetorisch war. Sie musste froh sein, dass sie überhaupt irgendwer eingestellt hatte, sie mit ihrem fremdartigen Aussehen.

»Was sagt denn nun Ihre Auskunftsperson?«, fragte Kaiser.

»Luna-Park?«, wiederholte Borowski die Worte seiner Gesprächspartnerin. Er schüttelte den Kopf, und Kaiser verdrehte die Augen. »Habt ihr da etwa eine Leiche für uns rumliegen?«

Kaiser verschränkte die Hände auf dem Rücken und marschierte in Feldherrenmanier vor Borowskis Schreibtisch auf und ab.

Anaïs wandte den Männern den Rücken und sah aus dem Fenster.

Die Redaktion des Brennpunkt lag zwischen namenlosen Geschäften auf der stillen Seite eines kleinen Platzes. Von den Räumen in der ersten Etage aus sah man immerhin auf die bekannten Schriftzüge der großen Geschäfte – Schuhwarenhaus Stiller, Tietz, Aschingers Destille. Erbsensuppe, Eisbein, Pökelkamm. Konditoreien, Koffer und Wollwaren. Das exklusive Maßatelier Paulette Mielke – Dépendancen im Sommer in Bad Reichenhall und im Winter in Meran – lieferte Abendkleider, saisonale Ansteckblumen und Ballschmuck ins Haus.

Noch waren die Auslagen der Schaufenster mit den neuesten Waren dekoriert, die Reklameschilder über den Ladentüren geputzt, noch warfen elegante Kunden an Wochentagen dem bettelnden Kriegszitterer neben Aschingers Eingang eine Münze in die Soldatenmütze. Oder sie belohnten die makabren Konzerte der abgerissenen Gestalten, die auf Querpfeifen und Trommeln Armeelieder spielten, oder kauften im Vorübergehen bei dem blinden Zeitungsverkäufer an der Ecke die neuesten Nachrichten, ehe sie vorbeifahrende Droschken heranwinkten, um sich eilig in ihre Büros bringen zu lassen und in der lauten, aufstrebenden Republik geschäftlich zu reüssieren. Doch hinter den glänzenden Fassaden begannen sich auch hier die Sorgen breitzumachen. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit ging um und holte sich täglich neue Opfer. Bald würden sie auch hier so wie in ärmeren Stadtteilen stehen, Männer und Frauen mit stumpfen und hoffnungslosen Gesichtern und Schildern um den Hals: Suche Arbeit jeder Art. Dazwischen magere Kinder, die von ihren Eltern zum Betteln auf die Straße geschickt wurden. Menschen, die der Zukunft der Gesellschaft und dem Zerfall des Staates fast gleichgültig gegenüberstanden.

Und an jeder Straßenecke bettelten Kriegsversehrte, in Lumpen gehüllt und auf Krücken gestützt, ums Überleben. Berlin war eine junge Stadt, ein Drittel seiner Bewohner war unter zwanzig. Wer während des Krieges ein kleines Kind gewesen war, kannte das Grauen nur aus den geflüsterten Erzählungen der Eltern und Großeltern. Die verkrüppelten Veteranen, die das moderne Straßenbild verunzierten, wirkten wie die feldgrauen Gespenster aus einer fernen Zeit.

Anaïs beobachtete diese Welt mit großem Interesse.

Sie erinnerte sich nicht an ihre Eltern, sie war bei der vermögenden Schwester ihrer verstorbenen Mutter aufgewachsen.

In der Schule hatten die Hänseleien begonnen.

Neger, Neger, Schornsteinfeger.

»Fräulein Maar? Sind Sie bei uns?«, blaffte Kaiser.

Anaïs drehte sich um. »Selbstverständlich, Herr Chefredakteur.« Sie nahm Haltung an. »Wir haben keinen Aufmacher.« Sie schnippte mit den Fingern gegen das Armband, unterließ es jedoch sofort, als sie sah, wie sich auf Kaisers Stirn Falten bildeten.

»Also, was ist?« Kaiser wurde ruhelos. »Borowski?«

Borowski winkte ab und bedeutete ihm zu schweigen. »Ja, du, Mieze, wegen dem Unfall heute Morgen«, sagte er. »Ku’damm, habe ich gehört?« Er runzelte die Stirn, nickte mehrmals.

Unter dem Fenster klapperten Pferdehufe im Schritttempo vorbei, ein Pumpenschwengel quietschte metallen, Wasser platschte auf das Kopfsteinpflaster und Blecheimer schepperten, jemand pfiff einen Schlager. Die Sonne schien noch warm an diesem ersten Oktober.

Anaïs’ Finger waren an einem dünnen Goldplättchen angekommen, in das ein heiliger Christophorus geprägt war. Sie streifte das Korallenarmband wieder übers Handgelenk.

»Ach so«, sagte Borowski am Telefon. »Wie viele Tote? … Keine.«

Kaiser schüttelte den Kopf. Ohne Tote keine Meldung.

»Wenigstens Schwerverletzte?« Borowski gab nicht auf. »Oh, gut, welches Krankenhaus?« Er machte eine Notiz. »Danke, Mieze, man sieht sich.« Borowski legte auf und sah zu Kaiser hoch. »Zusammenstoß Pferdedroschke mit Elektrischer, wie immer – Kurfürstendamm kurz vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ein Fahrgast in der Charité und ein totes Kutschpferd. Wird wirklich Zeit, dass da was geschieht.« Es gab Überlegungen zum Abriss der Kirche, die dem zunehmenden Straßenverkehr im Weg stand.

Kaiser verdrehte wortlos die Augen.

Neben ihm, klein und schmächtig und wie ein Strich neben einem Punkt, stand Heinrich Kiesewetter, der Metteur, in grauem Leinenkittel und mit von Druckerschwärze verfärbten Händen. Er beobachtete die Szene durch die dicken Gläser seiner runden Stahlbrille. Zusammen mit zwei grauen Haarsträhnen, die ihm immer in die Stirn fielen, verliehen sie ihm das Aussehen einer weisen Grille. Nach vierzig Jahren im Haus war sich Kiesewetter seiner Stellung bewusst. So wohnte er auch an diesem Tag gelassen dem Drama bei.

»Wir haben also keinen Aufmacher«, wiederholte Kaiser, sah auf seine Taschenuhr und klopfte mit dem Fuß auf die verschrammten Holzdielen. »Rein zum Verzweifeln.«

Es war früher Sonntagnachmittag.

Der Berliner Brennpunkt erschien jeden Montag. Die Konkurrenz dagegen kam zwölfmal in der Woche heraus, von Dienstag bis Samstag am Morgen und am Abend, sonntags mit einer Tages-, montags mit einer Abendausgabe. Umso wichtiger war die Qualität des Brennpunkt, die Recherche musste tiefgehender sein, die Geschichten gut aufbereitet, und vor allem mussten sie exklusiv sein und spektakulär. Böse Zungen sagten reißerisch.

»Da renne ich von Pontius zu Pilatus für eine Schlagzeile«, jammerte Kaiser. »Reichswirtschaftsrat, Berliner Magistrat, jeden Abend Sitzungen und gesellschaftliche Verpflichtungen – und meine Herren Redakteure liefern nichts. Nichts!« Er blickte sich um. »Hat Schramm wenigstens was, unser Salon-Bolschewist?«

Niemand lachte, alle kannten den Witz.

Jacques Schramm, freier Journalist, potenzieller Autor eines großen Gesellschaftsromans und Revolutionär im Geiste, war mit einer Industriellentochter verheiratet und dank der Familie in der Berliner Cliquenwirtschaft bestens vernetzt. Offiziers- oder Studentenkorps, nationale oder soziale Clique, man konnte stets für eine Indiskretion oder ein Skandälchen als Lückenfüller auf ihn zurückgreifen.

»Dr. Schramm sitzt im Tageszug nach Meran«, sagte Borowski. »Schlafwagen war wohl keiner mehr zu bekommen. Fährt wie jedes Jahr mit Frau und Schwiegermutter zur Kur.«

»Wie jedes Jahr?«, fragte Kaiser. »Vier Wochen?«

Der Bote der schlechten Nachricht nickte stumm.

»Und Sepp Kastner? Wo zum Teufel steckt Kastner?«

Sepp Kastner war der Leiter der Innenpolitik, immer am Puls der Zeit, und er verfügte oft über überraschende Interna.

»In München«, sagte Borowski. »Da trifft sich eine neue Bewegung oder Partei. Anscheinend haben wir noch zu wenige.«

»Was?« Kaiser konnte es nicht fassen. »Was gehen uns in Berlin die politischen Spinner da unten in Bayern an? Diese braunen Schreihälse?« Er drehte sich um, blickte hinüber zu Bertold Möhring, dem Redakteur für Außenpolitik, dessen Schreibtisch in einer Ecke stand, als gehörte er nicht zum Rest der Redaktion. Möhring, schmal, blond und mit wie mit dem Lineal gezogenem Seitenscheitel, wirkte mit seinem schon etwas abgetragenen Tweedjackett und der runden Hornbrille eher wie ein angehender Professor an einer englischen Eliteuniversität als wie ein Berliner Reporter vom Boulevard. Tatsächlich hatte er nach seinem Studium in England mehrere Jahre bei einer Londoner Tageszeitung gearbeitet, ehe er in seine Geburtsstadt Berlin zurückgekehrt war und beim Brennpunkt das Außenpolitik-Ressort übernommen hatte. »Herr Möhring, was haben Sie denn für uns?«

Möhring schob seine Brille mit dem Zeigefinger den Nasenrücken hinauf, eine Angewohnheit, die ihm wohl nur Zeit zum Nachdenken geben sollte, seinen Worten aber stets mehr Gewicht verlieh. »Zur Stunde erschüttert eine Serie von Bombenanschlägen New York, immer noch wegen der Hinrichtung der Anarchisten Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco vor einem Monat«, sagte er. »Ganz klar ein politisch motivierter Justizmord an zwei Mitgliedern der Arbeiterbewegung und ein Zeichen der Feindseligkeit gegenüber Ausländern, die –«

»Möhring! Ihre politische Einstellung zum Staat ist ja höchst bedenklich! Es handelt sich bei dem Urteil gegen diese Raubmörder und Anarchisten schließlich um die Entscheidung eines ordentlichen Strafgerichts.«

Der Redakteur schob seine Brille hoch. »Und zwischen Buenos Aires und Berlin soll jetzt endlich die drahtlose Fernsprechverbindung eingerichtet werden.«

»Passiert das vor der Haustür unserer Leser?«

»Nun, nein, das nicht.«

»Dann interessiert es unsere Leser auch nicht.«

Möhring zuckte die schmalen Schultern, zögerte und räusperte sich schließlich. »Da wären noch die fiktiven Zahlungen an eine Filmgesellschaft hier in Berlin«, sagte er leise, griff zu der schwarz-grün gestreiften Füllfeder, die vor ihm lag, und schraubte die Kappe ein paarmal auf und zu. »Es soll sich dabei um die Tarnung eines geheimen Aufrüstungsprogramms der deutschen Wehrmacht handeln. Hat der Montagmorgen aufgedeckt, und ich habe gehört –«

»Kommunistenblatt«, schnappte Kaiser. »Blanke Verschwörungstheorien. Deutschland wird nie wieder einen Krieg erleben. Dem deutschen Volk reicht’s.« Er machte eine Pause. »Wenn Kastner zurück ist, besprechen Sie alles erst mit dem, klar? Der hat wenigstens politischen Hausverstand.«

Möhring hob die Brauen über den oberen Brillenrand, in seiner Miene spiegelte sich Widerspruch, aber er verkniff sich eine Antwort. Nur die Knöchel seiner Hand, die die Füllfeder umklammerte, leuchteten bis zu Anaïs weiß hinüber.

Sie schenkte Möhring ein freundliches Lächeln, aber er schien es nicht zu bemerken.

Zehn kleine Negerlein …

Kiesewetter, der Metteur, sagte gelassen: »Die Seite muss um halb fünf weg, jetzt isset gleich zwei. Ick hab den jroßen Artikel über dit Romanische Café vonnet Fräulein Maar im Satz, über dit Literatenfrühstück heute Morjen.« Er richtete den Fokus seiner Brille auf Anaïs. »Die Qualität is tipptopp.«

»Literatenfrühstück?«, fragte Kaiser.

»Ich war beim Treffen der Gruppe 1925«, sagte Anaïs eifrig. »Döblin, Piscator, Tucholsky …«

»Lesen unsere Leser etwa Tucholsky?«

»Immerhin ist er der meistgedruckte Autor der Schaubühne – aber leider nur noch selten in Deutschland. Ich habe sogar mit Egon Erwin Kisch gesprochen.« Anaïs blickte in die Männerrunde. »Die Gruppe verteidigt die Freiheit der Künste gegen reaktionäre Tendenzen und will durch ihre Kunst selbst politisch wirken. Großartig und sehr zeitgeistig, nicht?«

Niemand antwortete ihr, nur Möhring sah zu ihr herüber.

»Egon Erwin Kisch«, wiederholte Anaïs und rief sich in Erinnerung, dass sie nun leider nicht für die Kulturredaktion des Berliner Standard schrieb. »Der rasende Reporter? Sein neuer literarischer Reportagestil wird den deutschen Journalismus nachhaltig beeinflussen.« Kisch war ihr Vorbild, immer unterwegs und stets am Puls der Zeit. Ach, wenn sie doch auf der Suche nach sensationellen Geschichten auch nur so für eine große Zeitung um die Welt reisen könnte. »Und er ist nur ganz kurz in Berlin.«

Kaiser wischte das Romanische Café, das Literatentreffen und Egon Erwin Kisch mit einer Handbewegung beiseite. »Wer hat denn heute noch Zeit für Bücher, Fräulein Maar? Wir haben keinen guten Aufmacher!« In letzter Zeit hatten sie selten einen guten Aufmacher. »Wir brauchen was, das den Lesern unter die Haut geht.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Apropos Haut – da hab ich was«, sagte Borowski.

Kaiser stöhnte, ließ ihn aber reden.

»Diese schwarze Tänzerin aus Amerika gastiert gerade am Theater des Westens.« Borowski wühlte auf seinem Schreibtisch und zog einen Zettel hervor. »Hier – meine Quelle war gestern auf Einladung von Max Reinhardt auf einer privaten Sause.« Er überflog seine Notizen. »Ein halbes Dutzend nackter Mädchen und Miss Baker, ebenfalls bis auf einen rosa Mullschurz völlig nackt. Die Baker tanzte – ich zitiere – mit äußerster Groteskkunst und Stilreinheit, wie eine ägyptische Figur, die Akrobatik treibt … wie im Spiel, wie ein glückliches Kind, wie ein schönes Raubtier. Die nackten Mädchen tänzelten zwischen den vier oder fünf Herren im Smoking herum.« Er blickte auf. »Meine Quelle bekommt dafür übrigens noch drei Mark Spesen.«

Kaiser runzelte die Stirn. »Irgendwelche Bilder?«

»Von einer diskreten Soiree?« Borowski schüttelte den Kopf. »Wir nehmen ein freizügiges Bild von Miss Bakers Agentur, so eins mit Bananen, und schreiben einfach: wie man hört und so.« Er grinste. »Ich habe gelesen, dass ihr Popo wie ein schokoladener Grießflammerie –«

»Alles bekannt«, unterbrach ihn Kaiser. »Eine Affäre, ein Gerücht? Mit wem geht sie derzeit ins Bett?«

Möhring klappte den Block auf seinem Schreibtisch zu und steckte die Füllfeder in die Tasche seiner Tweedjacke.

Borowski zuckte die Schultern. »Also, an dem Abend hat die Baker anscheinend nur getanzt.«

»Ja, aber wo? Und vor allem – mit wem?«

Borowski warf Kiesewetter einen hilfesuchenden Blick zu, der Metteur schien jedoch zu geistesabwesend, um darauf zu reagieren. Vielleicht waren ihm Borowskis Nöte auch einfach gleichgültig. Während seiner Jahrzehnte beim Berliner Brennpunkt hatte er die Redakteure kommen und gehen sehen.

»Ich brauche eine Schlagzeile!«, brüllte Kaiser. Sein Gesicht hatte sich rot verfärbt. Jeder in der Redaktion kannte sein Gejammer über seinen hohen Blutdruck und die oft geäußerte Frage, weshalb er mit sechsundvierzig Jahren noch nicht im Grab lag, bei all der eigenen Arbeit und der Unfähigkeit seiner Mannschaft. »Na schön, Fräulein Maar.« Kaiser bezwang sich demonstrativ. »Dann klemmen Sie sich mal hinter die Baker.« Ein schicksalsergebener Seufzer. »Vielleicht wird ja für die nächste Ausgabe noch was draus.«

»Ich?« Anaïs Maar starrte ihn an. »Warum gerade ich?«

Möhring stand auf und verließ das Redaktionsbüro.

»Nun seien Sie mal nicht so zimperlich, junge Frau«, blaffte Kaiser. »Wir leben im 20.Jahrhundert – die bürgerliche Elitenkultur wandelt sich in Richtung Gebrauchs- und Populärkultur. Normalerweise hätte ich Ihren Posten sowieso mit einem Mann besetzt.«

Der Ton seiner letzten Worte lag irgendwo zwischen Ärger und Bedauern, und Anaïs wusste, was er dachte. Eine Frau an der Spitze der Kulturredaktion war ein Zugeständnis an den modernen Zeitgeist und ein deutliches Signal an die wachsende Zahl von Leserinnen und Abonnentinnen des Berliner Brennpunkt, ein Signal, das sich positiv auf die Auflage auswirkte. Von der Werbung für Mode, Haushaltsgeräte und Schönheitsmittel ganz zu schweigen. Alles in allem war die Situation auf dem Zeitungsmarkt prekär, die Holzpapierfabrikanten waren in Sorge über die Zollpolitik der Regierung, die Herausgeber über den Papiereinkauf, der Rückgang der Annoncen spiegelte den allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang – an den Frauen führte kein Weg mehr vorbei, da musste man sich arrangieren.

»Ein Mann hätte kein Problem mit der Baker«, sagte Kaiser.

Anaïs Maar hob das Kinn, blies sich eine kurze schwarze Locke aus der Stirn und fixierte den Chefredakteur. »Ich wollte nur ausschließen, dass es noch andere Gründe gibt«, sagte sie, »dafür, dass Sie ausgerechnet mich mit der Baker-Geschichte beauftragen.«

Borowskis Mundwinkel zuckten, aber Kaiser warf ihm einen scharfen Blick zu, der seine Miene erstarren ließ.

»Wüsste nicht, welche«, sagte Kaiser süffisant.

Heinrich Kiesewetter, der inzwischen wieder aus seinem Tagtraum erwacht war, räusperte sich. »Warum schreibt eigentlich keener wat über den Mord gestern früh am Schlesischen Bahnhof?«

Anaïs wurde hellhörig, verkniff sich aber eine Nachfrage.

»Nicht schon wieder«, sagte Kaiser.

»Nee, diesmal isset besonders schlimm«, sagte Kiesewetter. »Ick wohne doch da, also: gestern Morjen – Riesenauflauf, Polente und wat weeß ick. Eene von den armen Mädels, soviel ick jehört habe.« Er blickte von einem zum anderen. »In ’nem Hinterhof. Hackepeter, heeßt et, hat der Mörder aus der jemacht.« Er schüttelte bekümmert den Kopf.

Kaiser fuhr zu Borowski herum. »Wo ist der Polizeibericht von heute Morgen?«

Hans Eschke, der Polizeireporter, hatte letzten Monat im Streit hingeschmissen, weil der Brennpunkt sich geweigert hatte, seine notorisch überhöhten Spesen zu übernehmen. Bis ein Nachfolger mit ähnlich guten Kontakten zu Unterwelt und Ordnungsmacht gefunden war, sollten die Polizeiberichte auf Anweisung des Chefredakteurs von Käthe Schmidt, der Redaktionssekretärin, an alle abwechselnd ausgegeben werden, sodass die Dreckarbeit jeden einmal traf. Auf diese salomonische Lösung war Kaiser stolz.

»Bei mir.« Borowski wühlte sichtlich nervös auf seinem Schreibtisch, Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. »Ich hatte bloß heute noch keine Zeit …« Er zog ein paar Blätter Papier hervor, hielt sie Kaiser hin und hob die Brauen. Was war schon eine tote Hure? In Berlin. Noch dazu in dem verrufenen Viertel um den Schlesischen Bahnhof. »Es sind Fotos dabei, aber das Ganze ist höchstens eine Meldung wert.«

»Das entscheide ich.« Kaiser überflog den Bericht, musterte die körnigen Aufnahmen des Polizeifotografen. Seine Miene hellte sich auf. »So ein Schlächter«, sagte er. »Neunundzwanzig Messerstiche laut Polizeiarzt. Und ausgeweidet hat er die Frau auch.«

»Bringen wir nicht, wa?«, fragte Kiesewetter.

»Natürlich bringen wir das«, sagte Kaiser. »Höchste Zeit, dass wir mal wieder einen spektakulären Kriminalfall haben. Borowski, Sie rufen umgehend Eschke an und –«

»Der arbeitet jetzt fürs Berliner Tageblatt«, sagte Borowski. »Die bezahlen ihm anscheinend, was er will.«

»Verdammt.« Kaiser runzelte die Stirn.

Kiesewetter sah zu Anaïs hinüber, Kaiser folgte seinem Blick. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Das Geplänkel von eben hatte er offensichtlich noch nicht vergessen.

»Na schön, Fräulein Maar«, sagte Kaiser. »Wenn Ihnen die Berichterstattung über Miss Baker nicht zusagt, muss man auf Ihre weiblichen Gefühle Rücksicht nehmen, was, Borowski?«

Borowski setzte ein bemühtes Grinsen auf.

Kaiser hielt Anaïs den Polizeibericht hin. »Dann übernehmen Sie bis auf Weiteres die Kriminalfälle, da gibt’s ja auch derzeit mehr zu berichten als über die Kultur.« Es klang, als täte er ihr einen Gefallen, und nicht, als wollte er an ihr ein Exempel statuieren. »Ihr erster echter Fronteinsatz!« Im großen Krieg hatte Kaiser bei Ypern gekämpft, was er nie vergaß zu erwähnen. Er war noch immer schlank, sein sandfarbenes Haar war an den Seiten geschoren und sein Schnurrbart soldatisch an beiden Enden gekürzt, als müsste er jederzeit wieder unter eine Gasmaske passen. Es sah aus, fand Anaïs, als trüge ihr Chefredakteur eine Zahnbürste unter der Nase. Kaiser ballte die freie Hand zur Faust und schüttelte sie. »Jetzt können Sie sich bewähren, junge Frau. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt.«

Anaïs schob die Hände in die großen aufgesetzten Taschen ihres gelben Strickkleides und rührte sich nicht. Das mit der Baker war schlimm genug gewesen. Schon am zweiten Tag in der Redaktion hatte sie ein Gespräch mitbekommen zwischen Kaiser und einem Fotografen, der Bildmaterial gebracht hatte, bei dem es um sie gegangen war.

Mein lieber Scholli, Kaiser, wer ist die Kaffeebohne?

Die Enkeltochter vom verstorbenen Textilfabrikanten Maar.

Ach nee! Die hole ich mir doch mal zu privaten Aufnahmen.

Täuschte sie sich, oder war der Ton, der ihr begegnete, in letzter Zeit unverschämter geworden, hemmungsloser, sogar aggressiver? Manchmal hatte sie ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass die Zeiten sich änderten und ihre Hautfarbe nicht mehr nur exotisch oder en vogue war, sondern zu einem echten Problem werden könnte.

Anaïs’ Gereiztheit wandelte sich in handfesten Ärger. Keinesfalls würde sie sich die Arbeit aufbürden, mit der sich die Herren der Redaktion nicht die Hände schmutzig machen wollten. Bis ein neuer Polizeireporter gefunden war, das konnte dauern. Und wenn ihre Artikel den Lesern womöglich gefielen, dann wurde sie noch die Nachfolgerin dieses Eschke.

»Ist nicht mein Ressort«, brummte sie.

»Fräulein Maar, das ist eine tolle Geschichte.«

»Was für eine Geschichte? Es ist ein Frauenmord.«

»Ja, ganz frisch – da ist das Blut noch nicht mal trocken«, sagte Kaiser. »Ach, kommen Sie, wir haben alle mal klein angefangen.« Ein süffisantes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ihr Frauen wollt doch heutzutage alles genauso gut machen wie wir Männer, nicht wahr? Eine Zeitung ist nun mal kein Häkelkränzchen.« Touché, sagte seine Miene.

»Ich denke gar nicht dran.« Touché.

»Sie sollen hier nicht denken, Kindchen, sondern schreiben, dafür werden Sie schließlich bezahlt.« Kaiser schleuderte den Polizeibericht zu ihr hinüber, sodass sie die Blätter gerade noch mit beiden Armen auffangen und an die Brust drücken konnte, ehe sie zu Boden fielen. Er zog seine Taschenuhr hervor, klappte sie auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt. »Die Zeit ist knapp, also fangen Sie an und schreiben Sie.« Der Deckel der Taschenuhr schnappte wie ein gieriges Maul zu, es klang endgültig.

»Ich habe aber nur den Polizeibericht«, sagte Anaïs.

Borowski gab ihr mit der flachen Hand Zeichen.

»Dann werden Sie eben kreativ«, sagte Kaiser. »Machen Sie eine saftige Geschichte draus, verdienen Sie sich Ihre Sporen. Vertrauen Sie mir, Sie können das.«

»Das Gemetzel ausschmücken? Auf keinen Fall.«

Borowski schüttelte warnend den Kopf.

»Dann war’s das hier für Sie«, sagte Kaiser kalt.

»Was?«

»Entweder ich lese morgen einen entsprechenden Artikel aus Ihrer Feder«, sagte Kaiser. »Oder Sie können gehen. Und wen ich rausschmeiße, den stellt keiner mehr ein.« Er ließ den Blick über sie wandern. »Aber eine Frau hat ja noch andere Möglichkeiten. Also, wenn Sie lieber –«

»Ich leite die Kultur«, sagte sie in dem Ton, in dem man mit begriffsstutzigen älteren Leuten spricht.

Borowski fing an, sich irgendwelche Notizen zu machen.

Kaiser fixierte sie. Auf einmal brüllte er los: »Drauf gepfiffen. Wer glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«

Eine Welle der Wut durchlief Anaïs. Ihr wurde heiß. Sie fasste das Papierbündel fester und zwang sich zur Ruhe. Auf ihrer Wange zuckte ein Muskel, aber sie schwieg.

Eine Frau hat ja noch andere Möglichkeiten.

Sie hatte es aus eigener Kraft bis in diese Redaktion geschafft, sie verdiente ihr eigenes Geld. Und, verdammt, sie brauchte es. Denn sie hatte hochfliegende Zukunftspläne, die bisher außer ihr allerdings erst ein anderer Mensch kannte.

»Wie viele Zeilen?«, fragte sie sachlich.

»Na also, geht doch«, sagte Kaiser, durch seinen Sieg besänftigt. »Sie laufen jetzt hurtig ins Archiv, Kindchen, und lassen sich von Freese die letzten Artikel von Eschke geben. Nehmen Sie einfach ein paar passende Sätze raus, ersetzen Sie die Fakten und stellen Sie ein paar finstere Fragen in den Raum und – spektakuläre Überschrift nicht vergessen!« An Kiesewetter gewandt setzte er hinzu: »Sie halten die Titelseite frei, ich komme später selbst in die Setzerei.«

»Mach ick.« Kiesewetter verließ die Redaktion.

Kaiser drehte sich zu Anaïs um. »Na, worauf warten Sie?«

Anaïs stieß sich wortlos vom Fensterbrett ab. Ohne die Männer eines einzigen Blickes zu würdigen, den Polizeibericht wie einen Schutzschild an die Brust gepresst, durchquerte sie hocherhobenen Hauptes die Redaktion, wobei sie die Absätze ihrer weißen Spangenschuhe auf den Boden hieb und schließlich noch mit der Ferse die Tür hinter sich zuknallte.

Das Archiv befand sich im Keller. Hans Freese, der junge Archivar, saß im Schein einer nackten Glühbirne an seinem Schreibtisch und las ein Buch. Seine Unterarme steckten in grünen Ärmelschonern, und eine dickwandige Teetasse stand vor ihm. Alle Wände waren mit Regalen bedeckt, in denen sich, nach Jahrgängen geordnet und mit Paketschnur zusammengebunden, Zeitungen stapelten. Es war stickig und roch nach Staub und Kamillentee. Als Anaïs eintrat, hob Freese den Kopf, blinzelte und stand dann, einen Finger als Lesezeichen auf dem aufgeschlagenen Buch, hastig auf.

»Fräulein Maar, was …?«

»Tag, Herr Freese«, sagte Anaïs und knallte den Polizeibericht auf seinen Schreibtisch. »Ich brauche ein paar Artikel Ihres untergetauchten Polizeireporters.«

»Eschke?« Freese zwinkerte. »Welche denn?«

»Egal, Hauptsache, Mord und Totschlag.«

Freese rührte sich nicht, er war sichtlich überfordert.

Anaïs zeigte auf das Buch. »Was lesen Sie denn gerade?«

»Thomas Manns ›Zauberberg‹.«

»Und? Gefällt Ihnen der Roman?«

»Ja, sehr.« Auf Freeses Gesicht erschien ein Lächeln. Anscheinend hatte er sich erinnert, dass Anaïs die neue Kulturredakteurin war. Er legte ein Stück Papier zwischen die Seiten und schlug das Buch zu. »Also, worum geht’s?«

Anaïs seufzte. »Ich soll über den neuesten Hurenmord in Friedrichshain schreiben«, sagte sie. »Und ich weiß nicht, wie.«

Zwischen Freeses Brauen erschien eine steile Falte. »Warum denn ausgerechnet Sie?«

»Den Letzten beißen die Hunde, nehme ich an.«

»Na, dann passen Sie mal lieber auf sich auf.« Freese ging zum nächsten Regal, hob einen Packen Zeitungen heraus und legte ihn ihr in die Arme. »Hier, das letzte Vierteljahr. Da finden Sie genügend Anregungen – bei der Berliner Kriminalstatistik.« Er zögerte. »Sie müssten die Artikel nur hier lesen, die dürfen das Archiv nicht verlassen.«

Anaïs blickte sich um, die Zeit wurde knapp. Sie musste sich konzentrieren, eine gute Arbeit abliefern. Wenn sie versagte, konnte sie sich nach einer neuen Stelle umsehen.

Wen ich rausschmeiße, den stellt keiner mehr ein.

Ja, völlig klar.

»Kann ich da drüben schreiben?« Sie deutete mit dem Kinn auf einen Tisch neben der Tür, auf dem neben einem Papierstapel eine Lampe und eine abgedeckte Schreibmaschine standen.

»Selbstverständlich, und wenn Sie eine Frage haben …«

»… melde ich mich«, sagte Anaïs.

In der nächsten halben Stunde tauchte sie in die Berliner Kriminalfälle der letzten Monate ein. Da war die Kindsmörderin, die man sterbend aus der Spree gefischt hatte, nur um sie der Höchststrafe zuzuführen. Oder der arbeitslos gewordene Familienvater, der seiner Frau und den vier Kindern die Kehle durchgeschnitten hatte, weil er ihnen Hunger und Elend hatte ersparen wollen. Vielleicht wäre eine staatliche Unterstützung für die Familie billiger gewesen als das Gerichtsverfahren und die Kosten für die Hinrichtung des verzweifelten Mannes, dachte Anaïs. Und es hatte, verteilt auf das ganze Stadtgebiet, mehrere gewaltsam zu Tode gekommene Prostituierte gegeben. Eine aus dem Ruder gelaufene Kneipenschlägerei, ein Streit mit einem Freier oder einem Zuhälter, erschlagen, erwürgt, erstochen – nach einem elenden Leben wartete auf diese armen Frauen oft ein grausames frühes Ende. Anaïs spürte, wie sie Niedergeschlagenheit ergriff.

Zwischen all den Unterlagen fand sie auch einen handschriftlichen Zettel.

Mord recherchiert, 10 Mark. Auto hin zur Leiche, 2 Mark. Autorückfahrt von der Leiche, 2 Mark. Schnaps zur Verarbeitung des Anblicks, 3 Mark, Schnaps für Polizeibeamten, 3 Mark, warmes Frühstück für weibliche Auskunftsperson, 8 Mark. Esch.

Eschkes Rechnung war nicht unterschrieben, Kaiser hatte sie also nicht genehmigt und auch nicht zur Kasse weitergeschickt.

Anaïs nahm den Polizeibericht wieder zur Hand.

Martha Teller, im zweiundvierzigsten Jahr stehend. Ohne geregelte Arbeit, unsteten Aufenthaltes.

Die etwas unscharfen Fotos zeigten ein Schlachtfeld aus Blut und Eingeweiden. Wer das getan hatte, war kein Mensch. Das war ein Ungeheuer.

Anaïs legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Was würde Kisch an ihrer Stelle schreiben, wie würde er Martha Teller – und all den anderen »Unglücklichen«, wie man sie schönfärberisch nannte – eine Stimme geben? Niemand hatte je Anteil an Martha Tellers Leben genommen. Erst ihr grausamer Tod hatte das kurze Schlaglicht öffentlicher Aufmerksamkeit auf sie geworfen. Martha hatte nie eine Chance gehabt. Nicht so wie sie, Anaïs, die von einer reichen Verwandten an Kindes statt aufgenommen worden war. Was, wenn Tante Valeries moralisches Korsett enger gewesen wäre? Wenn sie das Kind ihrer gefallenen Schwester wie allgemein üblich für geringes Kostgeld einer armen Frau oder gleich dem Waisenhaus und der staatlichen Fürsorge überlassen hätte?

Neger, Neger, Schornsteinfeger.

Ihre Mitschülerinnen hatten sich über ihre dunkle Hautfarbe lustig gemacht, über ihr wildes Haar, das mit keiner Schleife zu bändigen war, auch über ihren hoch aufgeschossenen, dünnen Körper mit langen Beinen, zu gerade, um schön zu sein.

Alle hatten natürlich »Onkel Toms Hütte« gelesen.

Irgendwann hatte Anaïs Prügeleien angezettelt und immer heftiger zugeschlagen als ihre Kontrahentinnen. Dabei wollte sie gerne glauben, dass ihre Wutausbrüche, die hauptsächlich ihr selbst schadeten und ihren Ruf als hemmungslose Wilde noch verfestigten, durch das ihr angetane Unrecht hervorgerufen und gerechtfertigt worden waren. Stets war die Versuchung groß gewesen, ihre Gegnerin für die Konsequenzen verantwortlich zu machen. Erst jetzt, als Erwachsene, akzeptierte Anaïs die unangenehme Einsicht, dass sie manchmal ihre körperliche Gewandtheit und ihren eisernen Siegeswillen als Mittel ihrer Rache genossen hatte. Weder gutes Zureden noch Essensentzug noch wohlmeinende Züchtigung hatten sie von ihrem Verhalten abbringen können. Alle waren erleichtert gewesen, als Anaïs’ Schulzeit beendet war und die Direktorin sie mit allen guten Wünschen für ihre Zukunft, ihrem Segen und einem Seufzer der Erlösung ins Leben entlassen konnte.

Zehn kleine Negerlein …

Anaïs schlug die Augen auf.

Neunundzwanzig Messerstiche.

Die Schreibmaschine war eine kleine Erika, handlich und für die Reise gedacht. Anaïs blickte kurz auf die elfenbeinfarbenen, von einem silbernen Metallring eingefassten Tasten, dann nahm sie zwei Blatt Papier von dem Stapel neben der Lampe, legte einen Durchschlag dazwischen und spannte das Bündel ein.

Anaïs überlegte und – fing an zu tippen.

Es war schon kurz nach vier, als sie, das fertige Manuskript in den Händen, in Heinrich Kiesewetters Reich stürmte, in dem bereits hektische Geschäftigkeit herrschte. Männer eilten durch die Säle, gebrüllte Wortfetzen mit technischen Abkürzungen schwirrten durch die Luft.

Auf großen Tischen lagen Satzstücke aus Blei. An einer Wand stand die Abziehmaschine, daneben waren Haken in den Putz geschlagen, an denen schon Artikel hingen, lange Fahnen. Pappschilder über den Haken verkündeten Innenpolitik, Außenpolitik, Feuilleton/Kultur, Sport und Lokales. Auf anderen Schildern stand Kaiser, Schramm, Kastner, Mayer/Pitterke, Möhring, Borowski, und ein ganz neues Schild war mit Maar beschriftet. Der Eschke-Haken war leer.

Gerade kam Jan Romeike, der Abzieher, herein und brachte die eisernen Kuchenbretterschiffe aus der Maschinensetzerei. Unter jedem Bleistück lag ein Stück eines zerschnittenen Manuskripts. In rasender Geschwindigkeit nahm Jan den Satz aus den Schiffen heraus, tauschte sie mit den Satzstücken auf dem Tisch aus und setzte sie mit ihnen in neue Schiffe zusammen.

Anaïs trat zu einer Arbeitsplatte, an der ein junger Mann Manuskripte mit rotem Stift beschriftete. Petit, 1/8, 65, 66, 67, schrieb er, bei jeder Zahl wurde das Papier zerschnitten, so kamen die Seiten in den Setzsaal.