Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie,
Das Buch
Little Tall Island ist eine kleine Insel vor der Küste des amerikanischen Bundesstaates Maine im Norden von Neuengland. Dort hat Dolores Claiborne ihr ganzes Leben verbracht. Sie ist fünfundsechzig, und das Leben hat es mit ihr nicht besonders gut gemeint: eine harte Jugend, dann die Ehe mit Joe St. George, einem skrupellosen Egomanen, der sie immer wieder misshandelte – eine Ehe, die für sie die Hölle auf Erden war. Nur Dolores weiß, wie Joe ums Leben kam. Eine Frau mit Geheimnissen. Erst als sie in einer langen Nacht auf dem Polizeirevier von Little Tall ihr ganzes Leben erzählt, schlägt für sie die Stunde der Wahrheit. »Ich verspreche euch«, gibt Dolores ungerührt zu Protokoll, »dass ihr alles verstehen werdet, bevor ihr die Tür aufmacht und das Zimmer verlasst.« Und dann erzählt sie, eine Nacht lang, ihr ganzes Leben: Dreißig Jahre war Dolores Haushälterin bei Vera Donovan. Sie hat erlebt, wie die reiche, arrogante und rücksichtslose Vera Witwe wurde, sie hat sie von Schlaganfall zu Schlaganfall gepflegt, ihre Grausamkeiten und ihren Wahnsinn ertragen. Jetzt spricht alles dafür, dass Dolores ihre Arbeitgeberin ermordet hat. Eine Frau erzählt auf einem Polizeirevier ihre Geschichte: eine Biografie im Schatten. Ihre Lebensbeichte wird zu einem grandiosen Monolog von bezwingender Dichte – einem Monolog, in dem sich erweist, dass die Wahrheit etwas ist, wozu es keine Alternative gibt.
Stephen King
Dolores
Aus dem Amerikanischen von Christel Wiemken
Wilhelm Heyne Verlag München
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Die Originalausgabe DOLORES CLAIBORNE erschien bei Viking, New York
Copyright © 1992 by Stephen King Copyright © 1993, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Neubearbeitung: Corinna Wieja Redaktion: Momo Evers Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-05388-8V004
www.heyne.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
Vorwort
Für meine Mutter, Ruth Pillsbury King
Was will eine Frau eigentlich?
SIGMUND FREUD
Vorwort
Im nordwestlichen Teil von Maine – in dem Gebiet, das als Lakes District bekannt ist – krümmt sich die kleine Stadt Sharbot wie eine Mondsichel um ein wunderschönes Gewässer namens Dark Score Lake. Dark Score ist einer der tiefsten Seen in Neuengland – an manchen Stellen ist er mehr als 300 Fuß tief. Manche der Einheimischen behaupten, er sei bodenlos … gewöhnlich aber nur nach ein paar Bier (in Sharbot bezeichnet man ein halbes Dutzend als ein paar).
Wollte man auf einer Landkarte des Staates eine gerade Linie vom Nordwesten bis zum Südosten ziehen – die an dem winzigen Kartenpunkt beginnt, der Sharbot darstellt, und sich weiter durch den größeren Punkt zieht, der die Stadt Bangor markiert -, würde man schließlich zum winzigsten Punkt von allen kommen – einem klitzekleinen grünen Korn, das etwa sechzehn Meilen von Bar Harbor entfernt aus dem Atlantik herausragt. Dieses kleine grüne Korn ist Little Tall Island. Die Einwohnerzahl: 204 Personen – laut Volkszählung von 1990, gesunken nach einem ehemaligen Höchststand von 527 Einwohnern bei der Volkszählung von 1960.
Diese beiden winzigen Gemeinden, die exakt 140 Meilen Luftlinie voneinander entfernt liegen, klammern die Insel und die Küstenregion von Neuenglands größtem Staat ein wie ein Paar unscheinbare Buchstützen. Sie haben überhaupt nichts gemeinsam. In der Tat hätte man sogar Schwierigkeiten, in jeder dieser beiden Städte einen Einwohner zu finden, der von der jeweils anderen Stadt weiß.
Doch im Sommer 1963, dem letzten Sommer bevor die USA – und die ganze Welt – sich durch die Kugel eines Attentäters für immer verändern würden, wurden Sharbot und Little Tall durch ein bemerkenswertes Himmelsphänomen verbunden: die letzte im Norden Neuenglands sichtbare totale Sonnenfinsternis bis zum Jahr 2016.
Sowohl Sharbot, im äußersten Westen von Maine, als auch Little Tall Island, am östlichsten Punkt des Staates, lagen in der Zugbahn der totalen Finsternis. Und obwohl der Hälfte aller Städte entlang des Pfades der Sonnenfinsternis der Blick auf dieses Phänomen durch tief hängende Wolken an diesem windstillen feuchten Tag versagt wurde, genoss man in Sharbot wie auch in Little Tall eine perfekte Sicht. Für die Einwohner von Sharbot begann die Sonnenfinsternis um 16:29 Uhr EDT, für die Einwohner von Little Tall um 16 Uhr 34. Die Dauer der totalen Finsternis, die über den Staat raste, dauerte fast exakt drei Minuten. In Sharbot dauerte die Zeit der totalen Finsternis von 17 Uhr 39 bis 17 Uhr 41, auf Little Tall war die Finsternis in der Zeit von 17 Uhr 42 bis fast 17 Uhr 43 Uhr total, genauer gesagt für eine Dauer von 59 Sekunden.
Während diese seltsame Finsternis wie eine Welle über den Staat wogte, kamen die Sterne hervor und füllten den Tageshimmel, die Vögel suchten ihre Schlafplätze auf, Fledermäuse kreisten ziellos über den Schornsteinen, Kühe legten sich auf den Weiden, wo sie gegrast hatten, nieder und schliefen ein. Die Sonne wurde zum lodernden Hexenring am Himmel, und während die Welt unter dieser Decke unnatürlicher Dunkelheit verharrte und schwieg und die Grillen zu zirpen begannen, nahmen sich zwei Menschen, die sich nie im Leben begegnen würden, gegenseitig wahr und wandten sich einander zu, wie Blumen sich drehen, um der Wärme der Sonne zu folgen.
Der eine Mensch war ein Mädchen namens Jessie Mahout – sie befand sich in Sharbot, am westlichen Ende des Staates. Der andere Mensch war eine Mutter von drei Kindern namens Dolores St. George – sie befand sich auf Little Tall Island am östlichen Ende des Staates.
Beide hörten am Tag Eulen rufen. Beide waren in tiefen Tälern panischer Angst gefangen, Albtraumgeografien, von denen beide glaubten, dass sie nie darüber sprechen würden. Beide fanden die Dunkelheit ganz und gar passend und dankten Gott dafür.
Jessie Mahout würde einen Mann namens Gerald Burlingame heiraten, und ihre Geschichte wird in dem Buch Das Spiel erzählt. Dolores St. George würde ihren Mädchennamen, Dolores Claiborne, wieder annehmen, und sie erzählt ihre Geschichte auf den folgenden Seiten. Beide Geschichten erzählen von Frauen, die sich im Pfad der Sonnenfinsternis befanden – und lassen sie aus der Dunkelheit hervortreten.
Was willst du wissen, Andy Bissette?
Ob ich meine Rechte verstanden habe, die du mir vorgelesen hast?
Herrgott noch mal! Warum sind manche Männer nur so blöd?
Nein, lass du es gut sein – halt die Klappe und hör mir eine Weile zu. Ich seh schon kommen, dass du mir so ziemlich die halbe Nacht zuhören musst, also kannst du dich gleich dran gewöhnen. Ja, ich habe verstanden, was du mir vorgelesen hast! Seh ich so aus, als hätte ich den Verstand verloren, seit ich dich im Supermarkt getroffen habe? Das war am Montagnachmittag, falls du den Überblick verloren haben solltest. Ich habe dir gesagt, dass deine Frau dir die Hölle heißmachen wird, weil du altbackenes Brot gekauft hast – im Kleinen sparen und im Großen verschwenden, so heißt das doch -, und ich wette, ich hatte recht, stimmt’s?
Ich verstehe meine Rechte durchaus, Andy. Meine Mutter hat schließlich keine Schwachköpfe großgezogen. Ich weiß auch, was ich zu verantworten habe. So wahr mir Gott helfe.
Alles, was ich sage, kann vor Gericht gegen mich verwendet werden, sagst du? Es gibt doch noch Zeichen und Wunder! Und du, Frank Proulx, du kannst dir dieses blöde Grinsen aus dem Gesicht wischen. Du magst zwar neuerdings eine Kanone von einem Cop sein, aber es ist noch gar nicht so lange her, da hab ich dich noch mit herunterhängenden Windeln herumlaufen sehen, mit demselben blöden Grinsen im Gesicht. Ich geb dir einen kleinen Rat – wenn du es mit einer alten Schachtel wie mir zu tun hast, dann solltest du dir dieses Grinsen sparen. Ich kann dich noch leichter durchschauen als die allzu blumige Beschreibung eines Unterwäscheangebots im Sears-Katalog.
Also gut, wir haben unseren Spaß gehabt; kommen wir zur Sache. Ich fange jetzt damit an, euch dreien eine ganze Menge zu erzählen, und’ne Menge davon könnte vermutlich vor Gericht gegen mich verwendet werden, wenn jemand das jetzt noch wollte. Der Witz dabei ist, dass die Leute auf der Insel das meiste davon längst wissen; aber das kümmert mich einen feuchten Dreck, wie der alte Neely Robichaud zu sagen pflegte, wenn er besoffen war; er war es fast immer, wie euch jeder sagen wird, der ihn gekannt hat.
Aber es gibt eine Sache, die mir wichtig ist, und deshalb bin ich auch aus freien Stücken hergekommen. Ich habe dieses Luder Vera Donovan nicht umgebracht. Ganz egal, was ihr jetzt denkt; ich werde euch dazu bringen, mir zu glauben. Ich habe sie diese verdammte Treppe nicht hinuntergestoßen. Wenn ihr mich wegen dieser anderen Sache einlochen wollt, gut; aber das Blut dieses Luders klebt nicht an meinen Händen. Und ich denke, dass du mir glauben wirst, Andy, wenn ich mit meiner Geschichte fertig bin. Du warst immer ein guter Junge, soweit Jungen überhaupt gut sein können – aufrichtig und gerecht, meine ich -, und du bist ein anständiger Mann geworden. Aber lass dir das nicht zu Kopf steigen; du bist groß geworden wie jeder andere Mann auch, mit einer Frau, die deine Sachen gewaschen und dir die Nase geputzt und dich umgedreht hat, wenn du dich in die falsche Richtung manövriert hattest.
Noch etwas, bevor wir anfangen – ich kenne dich, Andy, und Frank natürlich auch, aber wer ist das Mädchen hier mit dem Bandgerät?
Herrgott, Andy, ich weiß, dass sie eine Stenografin ist! Hab ich dir nicht gerade erklärt, dass meine Mama keine Schwachköpfe großgezogen hat? Ich werde zwar im kommenden November sechsundsechzig, aber ich hab trotzdem noch alle Tassen im Schrank. Ich weiß, dass eine Frau mit einem Bandgerät und einem Stenoblock eine Stenografin ist. Ich seh mir alle diese Serien an, die vor Gericht spielen, sogar L.A. Law, wo anscheinend niemand länger als eine Viertelstunde seine Klamotten anbehalten kann.
Wie heißt du, Herzchen?
Ah ja – und wo kommst du her?
Ach, halt den Rand, Andy! Oder hast du heute Abend noch etwas anderes vor? Wolltest du etwa zum Strand runter, um ein paar Leute zu erwischen, die ohne Lizenz Venusmuscheln ausgraben? Das wäre vermutlich mehr Aufregung, als dein Herz verkraften kann, stimmt’s? Ha!
So. Das ist besser. Du bist Nancy Bannister aus Kennebunk, und ich bin Dolores Claiborne und komme von genau hier, von Little Tall Island. Ich habe schon gesagt, dass ich reden werde, bis ich Fransen am Mund habe, und wenn wir damit fertig sind, wirst du feststellen, dass kein Wort gelogen war. Also, wenn du meinst, dass ich lauter sprechen soll oder langsamer, dann sag es einfach. Bei mir brauchst du nicht schüchtern zu sein. Ich möchte, dass du jedes einzelne verdammte Wort mitbekommst. Also fangen wir an: Vor neunundzwanzig Jahren, als Chief Bissette noch ein Jungspund und hier gerade in die Schule gekommen war, habe ich meinen Mann Joe St. George umgebracht.
Andy, hier zieht es. Vielleicht hört es auf, wenn du deine verdammte Klappe zumachst. Ich weiß wirklich nicht, warum du so überrascht schaust. Du weißt, dass ich Joe umgebracht habe. Jeder auf Little Tall weiß es, und die Hälfte der Leute drüben in Jonesport, auf der anderen Seite des Wassers, weiß es vermutlich auch. Der springende Punkt war nur, dass niemand es beweisen konnte. Und ich würde jetzt nicht hier sitzen und es vor Frank Proulx und Nancy Bannister aus Kennebunk zugeben, wenn da nicht das dämliche Luder Vera gewesen wäre, die mir wieder einen ihrer gemeinen Streiche gespielt hat.
Immerhin, noch einen Streich wird sie mir nicht spielen, nicht wahr? Das ist wenigstens ein kleiner Trost.
Schieb das Bandgerät ein bisschen näher zu mir heran, Nancy, Schätzchen – wenn ich das schon hinter mich bringen muss, will ich es mit Sicherheit auch ordentlich tun. Also, diese Japaner entwerfen wirklich unglaublich raffinierte Kleinigkeiten. – Ja, genau … aber ich glaube, wir wissen beide, dass das, was auf dem Band in diesem kleinen niedlichen Kasten aufgezeichnet wird, mich für den Rest meines Lebens hinter Gitter bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich schwöre bei Gott, ich habe immer gewusst, dass Vera Donovan eines Tages mein Tod sein würde. Ich habe es von dem Tag an gewusst, an dem ich sie zum ersten Mal sah. Und nun seht euch an, was sie getan hat – was dieses gottverdammte alte Luder mir angetan hat! Diesmal hat sie es wirklich geschafft, mir eins auszuwischen. Aber so sind die reichen Leute nun mal; wenn sie einen nicht tottrampeln können, dann versuchen sie, einen mit Freundlichkeit totzuküssen.
Was?
Herrgott, Andy! Ich komme ja zur Sache, wenn du endlich aufhörst, immer dazwischenzureden! Ich versuche gerade, mich zu entscheiden, ob ich von hinten nach vorn oder von vorn nach hinten erzählen soll. Zu trinken bekomme ich wohl nichts, oder?
Ach, zum Teufel mit deinem Kaffee! Nimm die Kanne und steck sie dir sonst wohin. Gib mir einfach ein Glas Wasser, wenn du zu geizig bist, dich von einem Schluck von dem Jim Beam zu trennen, der in deiner Schreibtischschublade steckt. Ich bin nicht …
Wie meinst du das, woher ich das weiß? Also, Andy Bissette – wer es nicht besser weiß, könnte meinen, du wärst erst gestern aus der Keksdose gefallen. Glaubst du etwa, dass ich meinen Mann umgebracht habe, sei das Einzige, worüber die Leute auf der Insel tratschen? Das ist doch Schnee von gestern. Du, dagegen – du bist noch immer in aller Munde.
Danke, Frank. Du bist auch immer ein netter Junge gewesen, obwohl es kein Vergnügen war, dich in der Kirche zu beobachten, bevor deine Mutter dir abgewöhnt hatte, ständig in der Nase zu popeln. Herrgott, es gab Momente, in denen dein Finger so tief in deiner Nase steckte, dass es ein Wunder war, dass du dir nicht das Gehirn angebohrt hast. Warum, zum Teufel, wirst du jetzt rot? Es hat nie ein Kind gegeben, das nicht hin und wieder ein bisschen grünes Gold aus seinem Riechkolben gefördert hat. Außerdem warst du schlau genug, mit deinen Händen nicht in der Hose und an den Nüssen rumzufummeln, jedenfalls nicht in der Kirche, und es gibt eine Menge Jungen, die nie …
Ja, Andy, ja – ich komme zur Sache. Herrgott, du hast wohl nie die Ameisen aus deiner Hose geschüttelt, oder?
Wisst ihr was? Ich leiste mir einen Kompromiss. Anstatt die Geschichte von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn zu erzählen, werde ich in der Mitte anfangen und mich sozusagen in beide Richtungen vorarbeiten. Und wenn dir das nicht passt, Andy Bissette, dann kannst du es auf deine Kummerliste schreiben und sie dem Pastor schicken.
Ich und Joe hatten drei Kinder, und als er im Sommer 1963 starb, war Selena fünfzehn, Joe junior war dreizehn und Little Pete erst neun. Nun, Joe hat mir nicht einmal einen Pisspott hinterlassen, und kaum ein Fenster, durch das ich ihn hätte rausschmeißen können …
Ich denke, du wirst das ein bisschen ändern müssen, Nancy, oder? Ich bin nur eine alte Schachtel mit einem üblen Temperament und einem noch übleren Mundwerk, aber das bleibt nur selten aus, wenn jemand ein übles Leben gehabt hat.
Also, wo war ich stehen geblieben? Ich habe doch nicht schon jetzt den Faden verloren, oder?
Ach, ja. Danke, Schätzchen.
Was Joe mir hinterließ, waren diese schäbige kleine Bude draußen am East Head und sechs Morgen Land, das meiste davon Brombeergestrüpp und die Sorte von wertlosem Holz, die nach einer Komplettrodung nachwächst. Was sonst noch? Da muss ich überlegen. Drei Laster, die nicht fuhren – zwei Pick-ups und einen Holzschlepper-, vier Klafter Holz, eine offene Rechnung beim Lebensmittelhändler, eine offene Rechnung im Eisenwarenladen, eine offene Rechnung bei der Ölfirma, eine offene Rechnung beim Bestattungsunternehmer – und wollt ihr auch noch den Zuckerguss auf dem verdammten Kuchen? Er war noch keine Woche unter der Erde, da kam Harry Doucette, dieser alte Säufer, mit einem vermaledeiten Schuldschein, auf dem stand, dass Joe ihm zwanzig Dollar für eine Baseballwette schuldete!
All das hat er mir hinterlassen – aber meint ihr etwa, es wäre verflucht noch mal irgendwas an Versicherungsgeld dabei gewesen? Keine Spur! Obwohl das vielleicht letzten Endes ein Segen war, so, wie sich die Dinge entwickelten. Darauf komme ich vermutlich noch. Alles, was ich jetzt sagen will, ist, dass Joe St. George eigentlich überhaupt kein Mann war; er war ein verdammter Mühlstein, der mir am Hals hing. Eigentlich sogar noch schlimmer, denn Mühlsteine besaufen sich nicht und kommen dann mit einer stinkenden Bierfahne nach Hause und wollen dich um ein Uhr nachts noch vögeln. Gut, das war nicht der Grund dafür, dass ich den Hurensohn umgebracht habe, aber ich nehme an, ich kann ebenso gut damit anfangen wie mit etwas anderem.
Eine Insel ist nicht gerade der passende Ort, um irgendjemanden umzubringen, das kann ich euch versichern. Es scheint, dass ständig jemand in der Nähe ist, den es juckt, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wenn es denen am allerwenigsten passt. Deshalb habe ich es zu dem Zeitpunkt getan, an dem ich es getan habe; und auch darauf komme ich noch. Für jetzt reicht es, wenn ich sage, dass ich es ungefähr drei Jahre nach dem Tag tat, an dem Vera Donovans Mann bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Baltimore ums Leben kam, wo sie wohnten, wenn sie nicht als Sommergäste auf Little Tall waren. Damals saßen bei Vera fast alle Schrauben noch ziemlich fest.
Da Joe von der Bildfläche verschwunden war und kein Geld mehr reinkam, steckte ich ganz hübsch in der Klemme, das kann ich euch versichern – ich hatte das Gefühl, dass niemand auf der ganzen Welt in einer so misslichen Lage ist wie eine alleinstehende Frau mit Kindern, für die sie sorgen muss. Ich war gerade zu dem Schluss gekommen, dass ich gut daran tun würde, übers Wasser zu fahren und zuzusehen, ob ich nicht einen Job in Jonesport bekommen konnte, als Kassiererin im Shop n Save oder als Kellnerin in einem Restaurant, als diese dämliche Kuh plötzlich beschloss, dass sie das ganze Jahr über auf der Insel leben wollte. Fast alle dachten, bei ihr wäre eine Sicherung durchgebrannt, aber mich hat das nicht im Geringsten überrascht – denn damals hatte sie ohnehin schon viel Zeit hier verbracht.
Der Kerl, der damals für sie arbeitete – ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber du weißt, wen ich meine, Andy, diesen bescheuerten Ungarn, der immer so enge Hosen trug, um aller Welt zu zeigen, dass er Eier von der Größe von Mason-Einweckgläsern hatte -, tauchte bei mir auf und sagte, die Missus (so hat er sie immer genannt, die Missus – mein Gott, war der blöd) wollte wissen, ob ich kommen und ganztags als Haushälterin für sie arbeiten wollte. Gut, ich hatte seit 1950 jedes Jahr den Sommer über für die Familie gearbeitet, und ich nehme an, es war selbstverständlich, dass sie mich zuerst fragte, bevor sie sich jemand anderen suchte, aber damals kam es mir vor wie die Antwort auf all meine Gebete. Ich sagte auf der Stelle zu, und ich habe für sie gearbeitet bis gestern Morgen, als sie die Vordertreppe runterstürzte und auf ihren blöden Hohlkopf fiel.
Was war es noch, was ihr Mann machte, Andy? Flugzeuge, nicht wahr?
Oh. Ah ja. Ich glaub, das habe ich gehört, aber du weißt ja, wie die Leute auf der Insel reden. Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass sie einen schönen Haufen Geld hatten, einen gewaltigen Haufen, und dass sie alles erbte, als er starb. Natürlich bis auf das, was die Regierung kassierte; aber ich glaube nicht, dass sie auch nur annähernd so viel bekam, wie ihr eigentlich zustand. Michael Donovan war mit allen Wassern gewaschen. Und gerissen. Und obwohl niemand es glauben würde bei der Verfassung, in der sie in den letzten zehn Jahren war – Vera war ebenso gerissen, wie er es gewesen war. Sie hatte bis zuletzt ihre gerissenen Tage. Ich frage mich, ob sie gewusst hat, in was für eine Bredouille sie mich bringen würde, wenn sie auf irgendeine andere Weise statt an einer hübschen leisen Herzattacke in ihrem Bett starb. Ich bin fast den ganzen Tag unten am East Head gewesen, hab da auf den morschen Stufen gesessen und darüber nachgedacht – darüber und über ein paar Hundert andere Dinge. Zuerst habe ich gedacht, nein, eine Schüssel voller Hafergrütze hat mehr Verstand, als Vera Donovan zum Schluss hatte, und dann fiel mir die Sache mit dem Staubsauger wieder ein, und ich dachte, vielleicht – ja, vielleicht …
Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Das Einzige, was jetzt noch eine Rolle spielt, ist, dass ich aus der Bratpfanne gesprungen und im Feuer gelandet bin, und ich würde mich liebend gern davonmachen, bevor ich mir den Hintern noch schlimmer verbrenne. Wenn das noch geht.
Es hat damit angefangen, dass ich Veras Haushälterin wurde, und damit geendet, dass ich so etwas war, was man eine »bezahlte Gesellschafterin« nennt. Ich habe nicht sonderlich lange gebraucht, um den Unterschied rauszufinden. Als Veras Haushälterin musste ich acht Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche, Scheiße fressen. Als ihre bezahlte Gesellschafterin musste ich es ständig und rund um die Uhr.
Sie hatte ihren ersten Schlaganfall im Sommer 1968, während sie sich im Fernsehen den Nationalkonvent der Demokraten in Chicago ansah. Es war nur ein ganz leichter Anfall, und sie machte Hubert Humphrey dafür verantwortlich. »Offenbar habe ich mir dieses Arschloch einmal zu oft angesehen«, sagte sie, »und dabei ist mir so ein verdammtes Blutgefäß geplatzt. Ich hätte wissen müssen, dass so etwas passieren wird, und es hätte ebenso gut Nixon sein können.«
1975 hatte sie einen schwereren, und diesmal gab es keinen Politiker, den sie dafür verantwortlich machen konnte. Dr. Freneau sagte ihr, sie sollte mit dem Rauchen und Trinken aufhören, aber er hätte sich die Worte sparen können – so ein hochnäsiges Weibsbild wie Vera Leck-mir-den-Allerwertesten Donovan dachte gar nicht daran, auf einen einfachen alten Landarzt wie Chip Freneau zu hören. »Ich werde ihn begraben«, pflegte sie zu sagen, »und dann sitze ich auf seinem Grabstein und trinke einen Scotch mit Soda.«
Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sie genau das tun – er machte ihr weiterhin Vorhaltungen, und sie rauschte weiter dahin wie die Queen Mary. Aber dann, 1981, hatte sie ihren ersten wirklich schweren Schlaganfall, und ein Jahr danach kam der Ungar bei einem Verkehrsunfall drüben auf dem Festland ums Leben. Und da bin ich zu ihr gezogen – im Oktober 1982.
Ob ich das musste? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Ich hatte meine Soziale Versicherung, wie die alte Hattie McLeod es zu nennen pflegte. Viel war es nicht, aber die Kinder waren inzwischen lange fort – Little Pete direkt vom Angesicht der Erde, das arme kleine verlorene Lämmchen -, und ich hatte es auch geschafft, ein paar Dollar auf die hohe Kante zu legen. Das Leben auf der Insel ist immer billig gewesen, und wenn es auch nicht mehr so ist, wie es einmal war, so ist es doch immer noch erheblich billiger als auf dem Festland. Also hätte ich wahrscheinlich nicht zu Vera ziehen müssen. Nein, das hätte ich nicht.
Aber wir hatten uns aneinander gewöhnt. Es ist schwierig, das einem Mann klarzumachen. Ich denke, Nancy hier mit ihrem Block und ihrem Stift und ihrem Bandgerät versteht es, aber sie muss vermutlich den Mund halten. Wir hatten uns aneinander gewöhnt, ungefähr so auf die Art, wie sich zwei alte Fledermäuse daran gewöhnen können, nebeneinander kopfunter in der gleichen Höhle zu hängen, auch wenn sie alles andere sind als das, was man Busenfreundinnen nennt. Und es machte eigentlich keinen großen Unterschied. Dass ich meine Sonntagssachen zu meinen Hauskleidern in den Schrank hängte, war so ziemlich das Einzige, das anders war; ab Herbst 1982 war ich täglich von morgens bis abends bei ihr und außerdem in den meisten Nächten. Die Bezahlung war ein bisschen besser, aber nicht so gut, dass ich meinen ersten Cadillac hätte anzahlen können, wenn ihr wisst, was ich meine. Ha!
Ich glaube, ich habe es vor allem deshalb getan, weil sonst niemand da war. Sie hatte einen Finanzberater in New York, einen Mann namens Greenbush, aber Greenbush würde nicht nach Little Tall kommen, damit sie aus ihrem Schlafzimmerfenster zu ihm herunterkeifen konnte, dass er die Laken mit sechs Wäscheklammern aufhängen sollte, nicht mit vier; er würde auch nicht ins Gästezimmer einziehen und ihre Windeln wechseln und die Kacke von ihrem fetten, alten Hintern wischen, während sie ihn beschuldigte, Geld aus ihrem verdammten Porzellanschwein gestohlen zu haben, und ihm klarmachte, dass sie ihn dafür in den Knast bringen würde. Greenbush stellte die Schecks aus; ich putzte ihre Kacke weg und hörte mir an, wie sie wütete und fantasierte – über die Laken und die Staubmäuse und ihr gottverdammtes Porzellanschwein.
Na und? Ich erwarte dafür keine Medaille, nicht einmal ein Purple Heart. Ich habe in meinem Leben eine Menge Scheiße weggeputzt und mir noch mehr davon angehört (schließlich war ich sechzehn Jahre lang mit Joe St. George verheiratet), und gestorben bin ich nicht daran. Ich nehme an, letzten Endes bin ich bei ihr geblieben, weil sie sonst niemanden hatte; es war entweder ich oder das Pflegeheim. Ihre Kinder haben sie nie besucht, und deshalb tat sie mir leid. Ich habe nie damit gerechnet, dass sie bei ihr einziehen würden, davon kann nicht die Rede sein, aber ich konnte nicht verstehen, weshalb sie ihren alten Streit nicht begraben konnten, einerlei, worum es ging, und nicht hin und wieder kamen, um einen Tag oder vielleicht auch das Wochenende mit ihr zu verbringen. Sie war ein widerwärtiges Luder, das steht fest, aber sie war ihre Ma. Und inzwischen war sie alt. Jetzt weiß ich natürlich Bescheid, aber damals …
Was?
Ja, es ist wahr. Wenn ich lüge, will ich auf der Stelle tot umfallen, wie meine Enkelsöhne sagen würden. Wenn du mir nicht glaubst, ruf doch diesen Greenbush an. Ich nehme an, wenn das herauskommt – und es kommt heraus, so etwas kommt immer heraus -, dann wird in der Bangor Daily News einer dieser rührseligen Artikel erscheinen, in denen es heißt, wie wundervoll das alles ist. Also, ich werde euch was sagen, es ist nicht wundervoll. Es ist ein verfluchter Albtraum, genau das ist es. Einerlei, was hier drin passiert, die Leute werden sagen, ich hätte ihr eine Gehirnwäsche verpasst, damit sie täte, was sie getan hat, und sie dann umgebracht. Das weiß ich, Andy, und du weißt es auch. Es gibt keine Macht im Himmel und auf Erden, die die Leute davon abbringen kann, das Schlechteste zu denken, wenn ihnen der Sinn danach steht.
Aber daran ist kein gottverdammtes Wort wahr. Ich habe sie zu nichts gezwungen, und sie hat das, was sie getan hat, bestimmt nicht getan, weil sie mich liebte oder auch nur gernhatte. Ich nehme an, sie hätte es tun können, weil sie glaubte, mir etwas schuldig zu sein – auf ihre verschrobene Art hätte sie der Meinung sein können, dass sie mir eine Menge schuldig war, und es wäre nicht ihre Art gewesen, irgendwas zu sagen. Es könnte sogar sein, dass das, was sie getan hat, ihre Art war, mir zu danken … nicht dafür, dass ich ihre vollgekackten Windeln wechselte, sondern dafür, dass ich in all den Nächten bei ihr war, in denen die Drähte aus den Ecken kamen oder die Staubmäuse unter dem Bett hervorkrochen.
Ich weiß, ihr versteht das nicht, aber ihr werdet es noch verstehen. Ich verspreche euch, dass ihr alles verstehen werdet, bevor ihr die Tür da aufmacht und das Zimmer verlasst.
Sie war auf dreierlei Art ein Luder. Ich habe Frauen gekannt, die mehr Arten hatten, aber drei reichen völlig aus für eine senile alte Lady, die den größten Teil ihrer Zeit im Rollstuhl oder im Bett verbringt. Für so eine Frau sind drei schon eine verdammt beachtliche Leistung.
Auf die erste Art war sie ein Luder, weil sie nicht anders konnte. Ihr habt gehört, was ich über die Wäscheklammern gesagt habe, dass man die Laken immer mit sechs Klammern aufhängen musste, anstatt mit vier? Nun, das war nur ein Beispiel.
Wenn man für Mrs. Vera Leck-mir-den-Allerwertesten Donovan arbeitete, dann musste alles auf eine bestimmte Art und Weise getan werden, und es empfahl sich, nicht die geringste Kleinigkeit zu vergessen. Sie sagte einem von Anfang an, wie etwas zu geschehen hatte, und ich kann euch versichern, dass es dann auch so geschah. Wenn man etwas einmal vergaß, bekam man die raue Seite ihrer Zunge zu spüren. Wenn man es zweimal vergaß, wurde einem am Zahltag der Lohn gekürzt. Wenn man es dreimal vergaß, dann war der Ofen aus – man stand auf der Straße; Entschuldigungen wurden nicht angehört. Das war Veras feste Regel, und ich habe mich daran gehalten. Ich fand es zwar hart, aber auch gerecht. Wenn einem zweimal gesagt worden war, auf welchem Teller sie den Kuchen haben wollte, wenn er aus dem Herd kam, und dass er zum Auskühlen nie auf die Fensterbank in der Küche gestellt werden durfte, wie es die armen Iren machen – also, wenn man das zweimal gesagt bekam und dann immer noch nicht daran dachte, dann war damit zu rechnen, dass man nie daran denken würde.
Drei Patzer und man war draußen, das war die Regel, von der es keine Ausnahmen gab, und aus diesem Grund habe ich im Laufe der Jahre in diesem Haus mit vielen verschiedenen Menschen zusammengearbeitet. Früher habe ich mehr als einmal gehört, dass das Arbeiten für die Donovans ungefähr so war, als träte man in eine dieser Drehtüren. Man konnte einmal rumkommen oder vielleicht auch zweimal, und manche Leute schafften es zehn- oder sogar ein Dutzend Mal, aber letzten Endes landete man immer auf dem Gehsteig. Deshalb hatte ich, als ich anfing, für sie zu arbeiten – das war 1949 -, das Gefühl, als ginge ich in eine Drachenhöhle. Aber sie war gar nicht so schlecht, wie die Leute sie machten. Wenn man die Ohren offen hielt, konnte man bleiben. Ich bin geblieben, und der Ungar auch. Aber man musste die ganze Zeit auf Trab sein, weil ihr nichts entging, weil sie immer besser über das Bescheid wusste, was mit den Leuten auf der Insel los war, als all die anderen Sommergäste – und weil sie ausgesprochen niederträchtig sein konnte. Schon damals, bevor sie all diese anderen Leiden befielen, konnte sie niederträchtig sein. Es war so eine Art Hobby für sie.
»Wieso sind Sie hier?«, sagte sie zu mir an jenem ersten Tag. »Sollten Sie nicht zu Hause sein und sich um Ihr Baby kümmern und Ihrem Herzallerliebsten seine Leibgerichte kochen?«
»Mrs. Cullum passt gern vier Stunden am Tag auf Selena auf«, sagte ich. »Deshalb kann ich nur halbtags arbeiten, Madam.«
»Eine Halbtagskraft ist alles, was ich brauche. Das jedenfalls stand, wenn ich mich recht erinnere, in meiner Anzeige in diesem armseligen Käseblatt, das sich hier Zeitung nennt«, erwiderte sie sofort – wobei sie mir nur die scharfe Kante ihrer Zunge zeigte und mich nicht tatsächlich mit ihr verletzte, wie sie es später so oft getan hat. Sie strickte an jenem Tag, das weiß ich noch. Diese Frau konnte so schnell stricken, dass man die Nadeln nicht sah – ein paar Socken an einem einzigen Tag war überhaupt kein Problem für sie, selbst wenn sie erst um zehn Uhr angefangen hatte. Aber sie sagte, sie müsste in der rechten Stimmung sein.
»Ja, Ma’m«, sagte ich. »Das stand drin.«
»Ich heiße nicht ›ja, Ma’m‹«, sagte sie und ließ ihr Strickzeug sinken. »Ich heiße Vera Donovan. Wenn ich Sie einstelle, dann nennen Sie mich Missus Donovan – zumindest so lange, bis wir einander gut genug kennen, um daran etwas zu ändern. Und ich nenne Sie Dolores. Ist das klar?«
»Ja, Missus Donovan«, sagte ich.
»Also gut, das ist schon mal ein guter Anfang. Und nun beantworten Sie meine Frage. Was wollen Sie hier, Dolores, wo Sie doch einen eigenen Haushalt zu versorgen haben?«
»Ich möchte ein bisschen Extrageld für Weihnachten verdienen«, sagte ich. Auf meinem Weg zu ihr hatte ich bereits beschlossen, das zu sagen, falls sie mich fragen sollte. »Und wenn Sie bis dahin mit mir zufrieden sind – und wenn es mir gefällt, für Sie zu arbeiten, natürlich -, dann bleibe ich vielleicht auch noch länger.«
»Wenn es Ihnen gefällt, für mich zu arbeiten«, wiederholte sie, dann verdrehte sie die Augen, als wäre es das Dämlichste, das sie je gehört hatte – wie konnte es jemandem nicht gefallen, für die großartige Vera Donovan zu arbeiten? Und dann wiederholte sie: »Weihnachtsgeld.« Sie machte eine Pause, musterte mich von oben bis unten, und dann sagte sie es noch einmal, sogar noch sarkastischer. »Weih-nachts-geld!«
Es war, als argwöhnte sie schon, dass ich in Wirklichkeit nur gekommen war, weil ich kaum den Reis aus meinem Haar geschüttelt und schon jetzt Eheprobleme hatte, und wollte jetzt nur sehen, ob ich rot wurde und die Augen niederschlug, um ihrer Sache sicher zu sein. Also wurde ich nicht rot und schlug die Augen nicht nieder, obwohl ich erst zweiundzwanzig war und nicht viel daran gefehlt hätte. Auch hätte ich keiner Menschenseele gegenüber zugegeben, dass ich tatsächlich Eheprobleme hatte – keine zehn Pferde hätten das aus mir rausgebracht. Weihnachtsgeld war gut genug für Vera, einerlei, wie sarkastisch sie es auch sagen mochte, und alles, was ich mir selbst eingestand, war die Tatsache, dass das Haushaltsgeld ein bisschen knapp war in diesem Sommer. Erst Jahre später konnte ich mir selbst gegenüber den wahren Grund eingestehen, weshalb ich damals losging und den Drachen in seiner Höhle aufsuchte: Ich musste eine Möglichkeit finden, einen Teil des Geldes zu ersetzen, das Joe im Lauf der Woche versoff und an den Freitagabenden beim Pokern im Hinterzimmer von Fudgy’s Tavern drüben auf dem Festland verlor. Damals glaubte ich noch, dass die Liebe eines Mannes zu einer Frau und die einer Frau zu einem Mann stärker sei als die Liebe zum Saufen und Stänkern – dass die Liebe letzten Endes an die Oberfläche kommen würde wie die Sahne in einer Flasche Milch. Im Laufe der nächsten zehn Jahre wurde ich eines Besseren belehrt. Manchmal ist die Welt ein unerfreuliches Schulzimmer, habe ich recht?
»Na schön«, sagte Vera, »versuchen wir es miteinander, Dolores St. George – obwohl ich annehme, dass Sie, selbst wenn Sie Ihre Sache gut machen, in ungefähr einem Jahr wieder schwanger sein werden, und dann haben wir uns zum letzten Mal gesehen.«
Tatsache war, dass ich schon damals im zweiten Monat schwanger war; aber auch das hätten keine zehn Pferde aus mir rausgebracht. Ich wollte die zehn Dollar die Woche haben, die der Job einbrachte, und ich bekam sie auch, und ihr könnt mir glauben, wenn ich sage, dass ich jeden Heller und Pfennig davon verdient habe. Ich habe geschuftet wie eine Besessene in diesem Sommer, und als der Labor Day näher kam, fragte mich Vera, ob ich weitermachen wollte, wenn sie nach Baltimore zurückgekehrt waren – ihr wisst ja, dass jemand da sein muss, der ein so großes Haus das ganze Jahr hindurch in Ordnung hält, und ich sagte, gern.
Ich machte meine Arbeit bis vier Wochen, bevor Joe junior zur Welt kam, und fing wieder an, noch bevor ich ihn entwöhnt hatte. Im Sommer ließ ich ihn bei Arlene Cullum – Vera wollte kein brüllendes Baby im Haus. Aber nachdem sie und ihr Mann wieder abgereist waren, brachte ich sowohl ihn als auch Selena mit. Selena konnte ich meistens sich selbst überlassen – schon mit zwei, knapp drei Jahren konnte man ihr die meiste Zeit vertrauen. Joe junior schleppte ich auf meiner täglichen Runde mit mir herum. Er tat seine ersten Schritte im Schlafzimmer der Donovans; das hat Vera natürlich nie erfahren, das könnt ihr mir glauben.
Sie rief mich eine Woche nach der Entbindung an (fast hätte ich ihr keine Geburtsanzeige geschickt, doch dann kam ich zu dem Schluss, wenn sie glauben sollte, ich wäre auf ein hübsches Geschenk aus, dann wäre das ihr Problem), gratulierte mir zur Geburt eines Sohnes und kam dann auf den Punkt, wegen dem sie in Wirklichkeit angerufen hatte – dass sie meine Stelle für mich offenhielt. Ich glaube, sie wollte, dass ich mich geschmeichelt fühlte, und das tat ich. Es war so ziemlich das größte Kompliment, das eine Frau wie Vera machen kann, und es bedeutete mir wesentlich mehr als die Gratifikation von fünfundzwanzig Dollar, die in Form eines Schecks im Dezember dieses Jahres mit der Post kam.
Sie war hart, aber gerecht, und in ihrem Haus war immer sie der Boss. Ihr Mann war ohnehin von zehn Tagen nur einen anwesend, selbst in den Sommern, in denen sie ständig dort wohnten; aber auch wenn er da war, wusste man immer noch, wer das Sagen hatte. Kann sein, dass er zwei- oder dreihundert leitende Angestellte hatte, die die Hosen fallen ließen, wenn er Scheiße sagte, aber auf Little Tall Island war Vera der Boss beim Preisschießen, und wenn sie ihm sagte, er sollte die Schuhe ausziehen und aufhören, auf ihrem hübschen, sauberen Teppich Dreck zu hinterlassen, dann tat er es.
Und wie ich schon sagte, sie hatte gewisse Gewohnheiten bei der Erledigung von Dingen. Und wie sie die hatte! Ich weiß nicht, wo sie ihre Ideen herbekam. Aber was ich weiß, ist, dass sie eine Gefangene dieser Ideen war. Wenn die Dinge nicht auf eine bestimmte Art erledigt wurden, bekam sie Kopfschmerzen oder Magenschmerzen. Sie verbrachte einen so großen Teil ihres Tages damit, alles Mögliche zu überprüfen, dass ich oft gedacht habe, es wäre um ihren Seelenfrieden wesentlich besser bestellt gewesen, wenn sie einfach aufgegeben und das Haus selbst in Ordnung gehalten hätte.
Alle Badewannen mussten mit SpicnSpan sauber gemacht werden; das war eine Sache. Nicht mit Lestoil, nicht mit Top Job, nicht mit Mr. Clean. Nur mit SpicnSpan. Wenn sie einen dabei erwischte, dass man eine Wanne mit etwas anderem sauber machte, dann gnade dir Gott.
Wenn es ums Bügeln ging, musste man eine spezielle Sprühdose mit Stärke für die Kragen der Hemden und Blusen verwenden, und es gab ein Stück Gaze, das man über den Kragen zu legen hatte, bevor man ihn einsprühte. Soweit ich das beurteilen kann, hat die dämliche Gaze nicht das Geringste bewirkt, und ich muss in diesem Haus mindestens zehntausend Hemden und Blusen gebügelt haben; aber wenn sie ins Wäschezimmer kam und sah, dass man Hemden bügelte ohne dieses Stückchen Gaze auf einem Kragen, oder dass es nicht wenigstens am Ende des Bügelbrettes hing, dann gnade dir Gott.
Wenn man vergessen hatte, den Abzugsventilator in der Küche anzustellen, wenn man irgendwas briet, dann gnade dir Gott.
Die Mülltonnen in der Garage, das war auch so eine Sache. Es gab sechs davon. Sonny Quist kam einmal in der Woche, um den Müll abzuholen, und entweder die Haushälterin oder eines der Mädchen – je nachdem, wer gerade zur Stelle war – musste die Tonnen in der Minute, in der Sekunde, in der er wieder abfuhr, in die Garage zurückschaffen. Und man konnte sie nicht einfach in die Ecke zerren und stehen lassen; sie mussten paarweise an der Ostwand der Garage aufgestellt und sämtliche Deckel ordentlich verkehrt herum aufgelegt werden. Wenn man vergaß, es genau auf diese Weise zu tun, dann gnade dir Gott.
Und dann waren da die Fußmatten. Es gab drei davon – eine für die Vordertür, eine für die Terrassentür und eine für die Hintertür, an der so ein arrogantes Schild mit der Aufschrift LIEFERANTENEINGANG hing – bis voriges Jahr, wo ich es satthatte, es anzusehen, und es abnahm. Einmal in der Woche musste ich diese Fußmatten aufnehmen und sie auf einen großen Felsbrocken am Ende des Hinterhofs legen, oh, ich würde sagen, ungefähr vierzig Schritte vom Swimmingpool entfernt, und mit einem Besen den Dreck aus ihnen rausklopfen. Der Dreck musste richtig fliegen. Und wenn er das nicht tat, musste man damit rechnen, dass sie einen erwischte. Sie beobachtete nicht immer, wie man die Fußmatten ausklopfte, aber ziemlich oft. Sie tat es von der Veranda aus, mit einem Fernglas ihres Mannes. Und das Entscheidende war, wenn man die Matten dann wieder zum Haus zurückbrachte, dann musste man aufpassen, dass die Inschrift WILLKOMMEN in die richtige Richtung zeigte. Die richtige Richtung war die, dass jemand, der sich der jeweiligen Tür näherte, die Aufschrift lesen konnte. Wenn man eine Fußmatte falsch herum vor die Schwelle legte, dann gnade dir Gott.
Es muss an die vier Dutzend Dinge dieser Art gegeben haben. Damals, als ich als Halbtagsmädchen anfing, wurde unten im Gemischtwarenladen viel gelästert über Vera Donovan. Die ganzen Fünfzigerjahre hindurch hatten die Donovans häufig Gäste und entsprechend viele Aushilfskräfte, und gewöhnlich war diejenige, die am lautesten lästerte, irgendein junges Ding, das vorübergehend eingestellt und dann entlassen worden war, weil es dreimal hintereinander gegen eine der Regeln verstoßen hatte. Es erzählte dann jedem, der zuhören wollte, dass Vera Donovan eine gemeine, scharfzüngige alte Schrulle war und obendrein total verrückt. Nun, vielleicht war sie verrückt, vielleicht auch nicht, aber eines kann ich euch versichern – wenn man nichts vergaß, machte sie einem auch nicht die Hölle heiß. Und im Grunde denke ich: Jeder, der sich merken kann, wer in all diesen Seifenopern, die nachmittags im Fernsehen laufen, mit wem schläft, der sollte auch imstande sein, sich zu merken, dass er für die Wannen Spic n Span verwenden und die Fußmatten so hinlegen muss, dass sie in die richtige Richtung zeigen.
Aber jetzt zu den Laken. Das war eine Sache, die man niemals falsch machen durfte. Sie mussten völlig gleichmäßig auf den Leinen hängen, so, dass die Kanten eine Linie bildeten, und für jedes musste man sechs Wäscheklammern benutzen. Niemals vier; immer sechs. Und wenn man eines im Dreck schleifen ließ, dann brauchte man gar nicht zu warten, bis man etwas dreimal falsch gemacht hatte. Die Leinen waren immer in dem Hof ausgespannt, der neben dem Haus und direkt unter ihrem Schlafzimmerfenster liegt. Sie pflegte an dieses Fenster zu treten, jahraus, jahrein, und mir zuzuschreien: »Sechs Klammern, Dolores! Haben Sie gehört? Sechs, nicht vier! Ich zähle sie, und meine Augen sind immer noch so gut, wie sie früher einmal waren!« Sie …
Wie bitte, Herzchen?
Ach, Blödsinn, Andy. Nun lass sie doch. Das ist schließlich eine vernünftige Frage, und obendrein eine, die zu stellen ein Mann nicht genug Verstand hat.
Ich werde es dir sagen, Nancy Bannister aus Kennebunk, Maine – ja, sie hatte tatsächlich einen Trockner, einen hübschen, großen, aber es war uns verboten, die Laken hineinzustecken, solange der Wetterbericht nicht fünf Tage Regen vorhergesagt hatte. »Die einzigen Laken, die es wert sind, auf dem Bett einer anständigen Person zu liegen, sind die, die im Freien getrocknet wurden«, pflegte Vera zu sagen, »weil sie so gut riechen. Sie fangen ein bisschen von dem Wind ein, der sie flattern lässt, und dieser Duft beschert einem angenehme Träume.«
In vielen Dingen war sie ziemlich bescheuert, aber nicht, was den frischen Duft der Laken anging; was das betraf, hatte sie meiner Meinung nach absolut recht. Jeder kann den Unterschied riechen zwischen einem Laken, das in einem Maytag getrocknet worden ist, und einem, das in einem guten Südwind flatterte. Aber es hat viele Wintermorgen gegeben, an denen die Temperatur bei minus zehn Grad lag und der Wind kräftig und feucht war und direkt von Osten, vom Atlantik kam. An solchen Morgen hätte ich liebend gern auf den angenehmen Duft verzichtet. Das Aufhängen von Laken bei Eiseskälte ist eine Art Folter. Niemand weiß, wie das ist, wenn er es nicht selbst getan hat, und wer es einmal getan hat, vergisst es sein Lebtag nicht mehr.
Man trägt den Korb hinaus zu den Leinen; von den oberen steigt der Dampf auf, und das erste Laken ist warm, und vielleicht denkt man dann bei sich – das heißt, wenn man es vorher noch nie getan hat -, ach, so schlimm ist das ja gar nicht. Aber bis man dann dieses erste Laken aufgehängt, die Kanten ausgerichtet und die sechs Klammern angebracht hat, dampft es nicht mehr. Es ist immer noch nass, aber jetzt ist es außerdem kalt. Und deine Finger sind nass, und sie sind auch kalt. Aber du machst weiter, nimmst dir das nächste und dann noch eins und noch eins, und deine Finger werden rot, sie werden langsamer, und deine Schultern tun weh, und dein Mund ist verkrampft vom Halten von Klammern, damit du die Hände freihast und das verdammte Laken die ganze Zeit schön gerade halten kannst. Aber das Schlimmste sind deine Finger. Wenn sie nur taub würden, dann wäre das eine Sache. Du wünschst dir beinahe, dass sie das täten. Aber sie werden nur rot, und wenn es genügend Laken sind, dann nehmen sie mit der Zeit eine blass purpurne Farbe an, wie die Ränder mancher Lilien. Und wenn du dann endlich fertig bist, sind deine Hände im Grunde nur noch Klauen. Aber das Schlimmste ist, dass du weißt, was passieren wird, wenn du endlich mit dem leeren Wäschekorb wieder reingehst und die Wärme deine Hände überfällt. Sie fangen an zu kribbeln, und dann fangen sie an, in den Gelenken zu pochen – es ist ein Gefühl, das so tief drinnen sitzt, dass es eigentlich mehr ein Heulen ist als ein Pochen. Ich wollte, ich könnte es dir so beschreiben, dass du es nachfühlen kannst, Andy, aber ich kann es nicht. Nancy Bannister hier sieht so aus, als könnte sie es nachfühlen, wenigstens ein bisschen; aber es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Aufhängen von Wäsche im Winter auf dem Festland und hier auf der Insel. Wenn deine Finger wieder warm werden, dann fühlt sich das an, als wimmelte es in ihnen von Ameisen. Also reibst du sie mit irgendeiner Handlotion ein und wartest darauf, dass das Kribbeln verschwindet. Aber du weißt, dass es völlig egal ist, wie viel Lotion aus dem Laden oder wie viel von dem gewöhnlichen Desinfektionsmittel für Schafe du in deine Hände einreibst; Ende Februar ist die Haut immer noch so spröde, dass sie aufreißt und blutet, wenn du die Hand nur zur Faust ballst. Und manchmal, wenn du erst wieder warm geworden und vielleicht sogar zu Bett gegangen bist, wecken deine Hände dich mitten in der Nacht auf und heulen in Erinnerung an diese Schmerzen. Ihr glaubt, ich mache Witze? Ihr könnt lachen, wenn ihr wollt, aber mir ist nicht nach Lachen zumute, nicht im Geringsten. Du kannst sie fast hören, wie kleine Kinder, die ihre Mama nicht finden können. Es kommt von ganz tief drinnen, und du liegst da und hörst zu, und dabei weißt du die ganze Zeit, dass du trotzdem wieder nach draußen gehen wirst, nichts kann es verhindern, und das alles ist ein Teil der Arbeit einer Frau, von der kein Mann eine Ahnung hat und auch nicht haben will.
Und während du bei der Arbeit gewesen bist, mit tauben Händen, purpurnen Fingern, schmerzenden Schultern und Tropfen, die dir aus der Nase rinnen und auf deiner Oberlippe zu Eisklümpchen gefrieren, pflegte sie fast immer da oben an ihrem Schlafzimmerfenster zu stehen oder zu sitzen und zu dir runterzuschauen. Ihre Stirn war gerunzelt und ihr Mund verzerrt, und ihre Hände bearbeiten sich gegenseitig – sie war so angespannt, als müsste sie eine schwierige Operation in einem Krankenhaus überwachen, und nicht nur das Aufhängen von Laken, damit sie im Winterwind trocknen können. Man konnte direkt sehen, wie sie versuchte, sich zurückzuhalten, diesmal ihre große Klappe zu halten, aber nach einer Weile war sie dazu nicht mehr imstande, und dann riss sie das Fenster auf und beugte sich vor, sodass der kalte Ostwind an ihrem Haar riss, und keifte runter: »Sechs Klammern! Denken Sie daran, sechs Klammern zu nehmen! Und sorgen Sie dafür, dass der Wind meine guten Laken nicht in die Hofecke weht! Haben Sie gehört? Das hoffe ich für Sie, ich passe nämlich auf, und ich zähle mit!«
Wenn dann der März kam, träumte ich davon, zu dem Beil zu greifen, das ich und der Ungar dazu benutzten, Anmachholz für den Küchenherd zu zerkleinern (bis er starb, natürlich, danach hatte ich den Job für mich allein, ich Glückskind), und diesem keifenden Luder damit einen anständigen Hieb zwischen die Augen zu versetzen. Manchmal konnte ich mich regelrecht sehen, wie ich das tat, so wütend hat sie mich gemacht, aber vermutlich habe ich immer gewusst, dass ein Teil von ihr das Gekeife ebenso hasste, wie ich es hasste, es anhören zu müssen.
Das war die erste Art, auf die sie ein Luder war – sie konnte nichts dagegen tun. Im Grunde war es für sie schlimmer als für mich, besonders, nachdem sie ihre Schlaganfälle gehabt hatte. Danach gab es wesentlich weniger Wäsche zum Aufhängen, aber sie stellte sich dabei immer noch so an wie in der Zeit, bevor die meisten Zimmer im Haus abgeschlossen und die meisten Gästebetten abgezogen worden waren und die Laken in Plastikfolie eingeschlagen im Wäscheschrank beiseitegelegt wurden.
Was es für sie besonders hart machte, war die Tatsache, dass so um 1985 herum die Tage vorbei waren, an denen sie Leute überraschen konnte – sie war auf mich angewiesen, wenn sie irgendwohin wollte. Wenn ich nicht da war, um sie aus dem Bett zu heben und in den Rollstuhl zu setzen, musste sie im Bett bleiben. Sie hatte erheblich zugenommen – von ungefähr hundertdreißig Pfund in den Sechzigern auf hundertneunzig, und der größte Teil der Zunahme war dieses gelbliche, schwammige Fett, das man bei manchen alten Leuten sieht. Es hing von ihren Armen und Beinen und ihrem Hintern herunter wie Brotteig von einem Stock. Manche Leute werden im Herbst des Lebens klapperdürr wie Dörrfleisch, aber nicht Vera Donovan. Dr. Freneau sagte, es läge daran, dass ihre Nieren nicht mehr richtig arbeiteten. Vermutlich hatte er recht, aber es gab eine Menge Tage, an denen ich überzeugt war, dass sie sich dieses Gewicht nur zugelegt hatte, um mich zu ärgern.
Und es war nicht allein das Gewicht; sie war außerdem halb blind. Auch das kam von den Schlaganfällen. Das bisschen Sehvermögen, das sie noch hatte, kam und ging. An manchen Tagen konnte sie mit dem linken Auge ein kleines bisschen sehen und verdammt gut mit dem rechten, aber meistens sagte sie, es wäre so, als sähe sie durch einen dicken grauen Vorhang. Ich nehme an, ihr könnt verstehen, warum sie das wahnsinnig machte, sie, die immer so versessen darauf gewesen war, auf alles ein Auge zu haben. Ein paarmal hat sie deshalb sogar geweint, und ihr könnt mir glauben, dass schon sehr viel dazugehörte, um eine so harte Person zum Weinen zu bringen – und sogar nachdem die Jahre sie in die Knie gezwungen hatten, war sie noch eine harte Person.
Was, Frank?
Senil?
Ich bin mir nicht sicher, und das ist die Wahrheit. Ich glaube nicht. Und wenn sie es war, dann bestimmt nicht auf die gewöhnliche Art, auf die alte Leute senil werden. Und das sage ich nicht nur, weil, wenn sich herausstellt, dass sie wirklich senil war, der für die Bestätigung zuständige Richter wohl versucht sein wird, sich mit dem Testament die Nase zu putzen. Von mir aus kann er sich den Hintern damit abwischen; mir geht es nur darum, aus dieser verdammten Bredouille rauszukommen, in die sie mich gebracht hat. Aber trotzdem muss ich sagen, dass in ihrem Obergeschoss keine völlige Leere herrschte, nicht einmal am Ende. Vielleicht waren ein paar Zimmer zu vermieten, aber völlig leer war es nicht.
Das sage ich vor allem deshalb, weil sie Tage hatte, an denen sie fast so klar war wie früher. Es waren in der Regel zugleich die Tage, an denen sie ein wenig sehen konnte und mithalf, wenn ich sie im Bett aufsetzte, oder sogar imstande war, die zwei Schritte von ihrem Bett zum Rollstuhl selbst zu tun, während ich sie sonst hinüberhieven musste wie einen Sack Korn. Ich setzte sie in den Rollstuhl, damit ich ihr Bett frisch beziehen konnte, und sie wollte darin sitzen, um ans Fenster zu gelangen – das Fenster, von dem aus man auf den Hof runterschauen konnte und einen Blick auf den Hafen dahinter hatte. Sie hat mir einmal gesagt, dass sie endgültig den Verstand verlieren würde, wenn sie Tag und Nacht im Bett liegen müsste und nichts anderes anschauen könnte als die Decke und die Wände; und ich hab’s ihr geglaubt.
Sie hatte ihre verwirrten Tage, ja – Tage, an denen sie nicht wusste, wer ich war, und sogar kaum, wer sie war. An solchen Tagen war sie wie ein Boot, das sich von seinem Anker losgerissen hat, nur dass der Ozean, auf dem sie trieb, die Zeit war – es konnte passieren, dass sie am Morgen glaubte, es wäre 1947, und 1974 am Nachmittag. Aber sie hatte auch ihre guten Tage. Sie wurden weniger, als die Zeit verging und immer wieder kleine Schlaganfälle kamen – Schocks, so nennen die alten Leute sie -, aber sie hatte sie. Allerdings waren ihre guten Tage oft meine schlimmen, denn an ihnen kehrte sie zu all ihrer alten Schikaniererei zurück, wenn ich es zuließ.
Sie wurde niederträchtig. Das war die zweite Art, auf die sie ein Luder war. Diese Frau konnte hundsgemein sein, wenn sie es wollte. Obwohl die meiste Zeit ans Bett gefesselt, mit Windeln und einer Gummihose, konnte sie ein wahres Miststück sein. Die Schweinerei, die sie an den Putztagen machte, ist dafür ein gutes Beispiel. Sie machte sie nicht jede Woche, aber ich kann euch versichern, dass sie sie entschieden zu oft an einem Donnerstag machte, als dass es Zufall gewesen sein könnte.
Donnerstag war Putztag bei den Donovans. Das Haus ist riesig – ihr könnt es euch nicht vorstellen, solange ihr nicht tatsächlich darin herumgewandert seid -, aber der größte Teil davon war abgeschlossen. Die Tage, an denen ein halbes Dutzend Mädchen mit Tüchern um den Kopf hier polierten und dort Fenster putzten und irgendwo anders Spinnweben aus den Ecken fegten, liegen zwanzig Jahre oder mehr in der Vergangenheit. Ich bin manchmal durch diese düsteren Zimmer gegangen, habe die mit Tüchern abgedeckten Möbel betrachtet und daran gedacht, wie es damals in den Fünfzigern ausgesehen hat, wenn sie ihre Sommerpartys hatten – über dem Rasen hingen immer bunte Lampions, wie gut ich das noch weiß! -, und dann wurde mir ganz komisch zumute. Am Ende verschwinden immer die leuchtenden Farben aus dem Leben, ist euch das auch schon aufgefallen? Am Ende sieht alles grau aus, wie ein Kleid, das zu oft gewaschen wurde.
In den letzten vier Jahren bestand der offene Teil des Hauses aus der Küche, dem großen Wohnzimmer, dem Esszimmer, dem Sonnenzimmer, das auf die Veranda und den Pool hinausgeht, und vier Schlafzimmern oben – ihrem, meinem und den beiden Gästezimmern. Die Gästezimmer wurden im Winter nur schwach geheizt, aber immer sauber gehalten – für den Fall, dass ihre Kinder doch irgendwann für eine Weile kommen würden.
Selbst in diesen letzten paar Jahren hatte ich immer zwei Mädchen aus der Stadt, die mir an den Putztagen halfen. Sie haben ziemlich oft gewechselt, aber seit 1990 oder so waren es Shawna Wyndham und Franks Schwester Susy. Ohne sie hätte ich es nicht schaffen können, aber ich tat immer noch eine ganze Menge selber, und wenn die Mädchen um vier Uhr nachmittags Feierabend machten, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Und dann war immer noch reichlich zu tun – die restliche Wäsche musste gebügelt, der Einkaufszettel für Freitag zusammengestellt und natürlich Ihrer Hoheit das Essen zurechtgemacht werden. Keine Ruhe für die Bösen, wie man so sagt.
Nur – bevor ich irgendwas davon tun konnte, musste ich oft genug ihren Schweinkram aus der Welt schaffen.
Die meiste Zeit folgte sie dem Ruf der Natur ziemlich regelmäßig. Alle drei Stunden schob ich ihr die Bettpfanne unter, und sie pinkelte etwas für mich hinein. Und an den meisten Tagen war nach meinem Mittagsbesuch auch ein Häufchen in der Pfanne.
Das heißt, außer donnerstags.
Nicht jeden Donnerstag, aber an den Donnerstagen, an denen sie klar war, konnte ich fast immer damit rechnen, dass ich Scherereien bekommen würde – und Rückenschmerzen, die mich bis Mitternacht wach hielten. Zum Schluss half nicht einmal mehr Anacin-3. Ich bin fast mein ganzes Leben lang gesund gewesen wie ein Pferd, und ich bin es noch heute, aber fünfundsechzig ist nun einmal fünfundsechzig. Dann kann man die Dinge nicht mehr so abschütteln, wie man es früher konnte.
Donnerstags bekam ich anstelle einer halb vollen Pfanne um sechs Uhr morgens nur ein paar Tropfen. Dasselbe um neun. Und um zwölf kam anstelle von etwas Pisse und einem Haufen gewöhnlich überhaupt nichts. Dann wusste ich, dass mir möglicherweise einiges bevorstand. Völlig sicher, dass es passieren würde, war ich mir nur, wenn auch am Mittwochmittag kein Häufchen in der Pfanne gewesen war.
Ich sehe, dass du versuchst, nicht zu lachen, Andy, aber lach ruhig – lass es raus, wenn dir danach zumute ist. Damals war es ganz und gar nicht zum Lachen, aber jetzt ist es vorbei, und was du denkst, ist nichts als die Wahrheit. Die gemeine alte Schachtel hatte ein Sparkonto für Kacke, und es war ungefähr so, als sammelte sie sie in manchen Wochen an, um die Zinsen zu kassieren – nur war ich diejenige, die sämtliche Abhebungen bekam. Ich bekam sie, ob ich sie wollte oder nicht.
Ich verbrachte den größten Teil der Donnerstagnachmittage damit, hinaufzulaufen und zu versuchen, sie noch rechtzeitig zu erwischen, und manchmal ist es mir sogar gelungen. Aber wie immer es um ihre Augen bestellt sein mochte, mit ihren Ohren war alles in Ordnung, und sie wusste ganz genau, dass ich nie eines der Stadtmädchen den Aubusson-Teppich im Wohnzimmer saugen ließ. Und wenn sie hörte, wie ich den Staubsauger da drinnen einschaltete, dann kurbelte sie ihre lahme alte Häufchen-Maschine an, und ihr Kackekonto fing an, seinen Gewinn abzuwerfen.
Dann dachte ich mir eine Methode aus, sie zu erwischen. Ich schrie einem der Mädchen zu, dass ich als Nächstes das Wohnzimmer saugen würde. Ich schrie, auch wenn sie beide nebenan im Esszimmer waren. Dann schaltete ich den Staubsauger ein, aber anstatt ihn zu benutzen, schlich ich mich an den Fuß der Treppe und stand da, mit einem Fuß auf der untersten Stufe und einer Hand auf dem Geländerpfosten wie einer dieser Läufer, die in die Hocke gehen und darauf warten, dass der Starter seine Pistole abfeuert und sie losrennen lässt.
Ein- oder zweimal bin ich zu früh hinaufgegangen. Das war nicht gut. Es war so, als würde ein Läufer wegen eines Frühstarts disqualifiziert. Man musste auf der Bildfläche erscheinen, wenn sie ihren Motor zum Laufen gebracht hatte und er schon zu schnell lief, als dass sie ihn noch hätte stoppen können, aber bevor sie tatsächlich die Kupplung losgelassen und eine Ladung in diese große alte Gummihose abgesetzt hatte, die sie trug. Mit der Zeit wurde ich recht gut darin. Das wärt ihr auch geworden, wenn ihr gewusst hättet, dass ihr eine hundertundneunzig Pfund schwere alte Lady hättet herumschleppen müssen, falls ihr nicht rechtzeitig gekommen wärt. Es war ungefähr so, als versuchte man mit einer Handgranate zu hantieren, die Kacke enthielt anstelle von Sprengstoff.
Ich kam herein, und dann lag sie da in ihrem Krankenhausbett, mit knallrotem Gesicht und verzerrtem Mund, hatte die Ellenbogen in die Matratze gebohrt und die Hände zu Fäusten geballt und stöhnte: »Unnh! Unnnnnhhhh! UNNNNNNNNNHHHH!« Eines kann ich euch sagen – das Einzige, was noch fehlte, damit sie so aussah, als säße sie wirklich auf dem Topf, waren ein paar Fliegenfänger, die von der Decke herunterhingen, und ein Sears-Katalog auf ihrem Schoß.