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Nach einer Enttäuschung hat Schwester Naomi sich geschworen, um Männer einen Bogen zu machen. Doch eine Notlage zwingt sie, bei ihrem attraktiven Boss Dr. Williams einzuziehen! Tag und Nacht mit diesem Traummann zusammen zu sein bringt ihr eigenes Versprechen in höchste Gefahr …
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Seitenzahl: 198
IMPRESSUM
Dr. Williams entdeckt die Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2016 by Louisa Heaton Originaltitel: „One Life-Changing Night“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 110 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Michaela Rabe
Umschlagsmotive: sivilla / Shutterstock
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751505253
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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An ihrem ersten Arbeitstag in den Armen eines überwältigend gut aussehenden Mannes zu landen – damit hatte Naomi bestimmt nicht gerechnet. Auch nicht damit, eine wacklige Leiter in der Notaufnahme des Welbeck Memorial Hospital zu erklimmen. Aber es war beinahe Ende Januar und der Weihnachtsbaum samt Schmuck immer noch nicht abgebaut.
Naomi hatte angeboten, es nach ihrem zwölfstündigen Dienst zu übernehmen, und ihr schwirrte immer noch der Kopf von den vielen Informationen, Formularen und Abläufen. Aber zu Hause wartete niemand auf sie, nicht einmal eine Katze. Da erschien es ihr als die bessere Option, nicht jetzt schon in ihre winzige Wohnung mit den abgewohnten Möbeln zurückkehren zu müssen. Ein neues Leben zu beginnen, war eine Sache, eine ganz andere war es hingegen, den Neustart in einer schäbigen, von Schimmel befallenen Miniwohnung zu wagen – in einem Haus, das eigentlich abgerissen gehörte.
Als sie sich angeboten hatte, den Baum wegzuräumen, hatte die Stationsschwester sie angelächelt. „Also, das müssen Sie nicht tun, Naomi! Wir können einen der Pfleger darum bitten. Es ist schließlich Ihr erster Tag hier.“
Aber Naomi hatte darauf bestanden. „Ehrlich, ich mache das gern. Außerdem bringt es Unglück, den Baum so lange stehen zu lassen. Das alte Jahr ins neue mitzunehmen.“
„Na schön. Aber seien Sie vorsichtig. In meinem Büro finden Sie eine Stehleiter, holen Sie sich jemanden, der sie festhält. Sonst bekomme ich Ärger, weil die Vorschriften zu Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz nicht eingehalten wurden.“
Bei dem Gedanken an die Belehrung über ebendiese Vorschriften heute Morgen lächelte Naomi in sich hinein. Sie war entschlossen, sie zu befolgen und vernünftig zu sein. So wie sie es immer hielt. Im Büro der Stationsschwester entdeckte sie auch die Kartons für den Christbaumschmuck und begann damit, die Weihnachtskugeln und das Lametta von den unteren Zweigen abzunehmen und sorgfältig zu verstauen.
An manchen Stellen war der künstliche Weihnachtsbaum beinahe kahl, er musste Jahrzehnte alt sein. Er wurde wohl jedes Jahr aufs Neue aufgestellt, um der Station weihnachtliche Stimmung zu verleihen. Als Naomi sich vorbeugte, wirbelte Staub auf, und ihr stieg der Duft vergangener Weihnachtstage in die Nase.
Sie verzog das Gesicht und richtete sich auf, als ihr ein weiterer, sehr viel unangenehmerer Geruch nach Alkohol und ungewaschenem Körper entgegenwehte. Ein ungepflegter Mann mit verschmutzter Kleidung taumelte auf sie zu.
Sie trat zur Seite, um ihn Richtung Wartezimmer vorbeizulassen, aber mit wütendem Gesicht fuhr er sie an: „Ich habe die Nase gestrichen voll! Sie sollten sich lieber um Ihre Patienten kümmern, als am Weihnachtsbaum herumzufummeln! Seit einer Ewigkeit warte ich hier schon, und Sie verplempern Ihre Zeit mit dem Ding!“
In der Notaufnahme hatte man öfter mit Betrunkenen zu tun, und Naomi wusste, dass sie in der Regel ungefährlich waren. Wichtig war, sich auf keinen Streit einzulassen und freundlich zu bleiben.
Sie lächelte und führte den Mann in den Warteraum zurück. „Sie kommen bestimmt gleich dran, Sir. Haben Sie bitte noch etwas Geduld.“
„Sie haben gut reden, Sie liegen hier auf der faulen Haut“, lallte er.
Sie sparte es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass sie bereits einen anstrengenden Dienst von zwölf Stunden hinter sich hatte und eigentlich schon zu Hause sein sollte. Das würde ihn nicht interessieren. „Es wird nicht mehr lange dauern, da bin ich sicher.“
Als er sich schwer in einen der Sessel fallen ließ, ging sie zurück zum Baum. Um auch oben den Baumschmuck zu entfernen, benötigte sie jetzt die Leiter. Und jemanden, der sie festhielt. Naomi kehrte auf die Station zurück, aber alle hatten gerade zu tun. Außerdem kannte sie niemanden gut genug, als dass sie sich getraut hätte, ihn von der Arbeit abzuhalten. Natürlich gingen die Patienten vor.
Naomi warf einen Blick auf die Leiter. Hoch war sie nicht. Nur drei Stufen. Was konnte schon passieren?
Ich werde vorsichtig sein. Diese Sicherheitsvorschriften sind meistens sowieso übertrieben.
Sie stellte die Leiter vor den Baum. Okay, sie stand nicht ganz sicher, aber das konnte sie bestimmt ausgleichen. Rasch sah Naomi sich um, ob sie auch niemand beobachtete, und stieg hinauf. Sie arbeitete zügig, und sobald die Leiter anfing zu wackeln, verlagerte sie ihr Gewicht. Die Tannenbaumspitze allerdings war ein wenig außer Reichweite.
Naomi reckte sich und streckte die Arme aus. In dem Moment kippte die Leiter zur Seite und sie mit ihr.
„Oh!“ Sie machte sich auf einen harten Aufprall gefasst.
Unerwartet wurde sie von starken Armen aufgefangen. Verblüfft sah sie ihren Retter an, um sich zu bedanken, aber ihr blieben die Worte im Hals stecken.
Der Mann hatte faszinierend himmelblaue Augen, ein willensstarkes Kinn, und er duftete … einfach himmlisch! Maskulin und frisch.
„Haben Sie den Verstand verloren?“
Diese Stimme. Kultiviert. Gebildet. Auch wenn ihr Besitzer sie gerade strafend anblickte.
Naomi errötete, während sie ihm atemlos in die Augen starrte. Es war ihr fürchterlich peinlich, dass sie mit der Leiter umgekippt war. Sie war nach London gekommen, um ein neues Leben zu beginnen als starke, unabhängige Frau – und wo fand sie sich an ihrem ersten Arbeitstag wieder? In den Armen eines Mannes!
Eines sehr attraktiven Mannes.
Ihr brannten die Wangen, als er sie auf die Füße stellte und sie erst freigab, als sie sicher stand. Sie war fast ein wenig enttäuscht, nicht länger von diesen kraftvollen Armen gehalten zu werden, aber … Oh!
Er war groß, fast einen Kopf größer als sie, bestimmt weit über einen Meter achtzig, und er hatte wirklich die aufregendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Er musterte sie prüfend von oben bis unten.
Sie schaffte es tatsächlich, ein paar Worte herauszubringen.
„Danke … ich … hätte nicht allein hinaufsteigen sollen.“ Wieder wurde sie rot und wischte sich die Hände an der Hose ab, als wären sie schmutzig. Was nicht der Fall war. Sie wusste nur nicht, wohin mit den Händen, und irgendetwas musste sie doch tun!
Noch nie hatte ein Mann sie so in den Armen gehalten. Sie hatte sich beschützt gefühlt. Geborgen. Vincent hatte sie nie so gehalten. Nicht dass es seine Schuld gewesen war …
Dieser Mann war es sicher gewohnt, dass Frauen in seiner Gegenwart rot wurden. Nach Luft schnappten, keinen vernünftigen Satz herausbrachten.
Der Anzug musste maßgeschneidert sein, so tadellos saß er an seinem perfekten Körper. Er wusste sich zu kleiden. Um den Hals hatte er einen roten Schal geschlungen, der das warme Kastanienbraun seiner Haare betonte.
Zum Glück schaltete sich endlich ihr Verstand ein. Blendend aussehende Männer bedeuteten Gefahr. Ließ man sich auf sie ein, ging man ein hohes Risiko ein. Das war schon ihrer Mutter passiert.
Trotzdem hätte Naomi gern gewusst, wer er war. Suchend blickte sie zu seinem Revers. Das übliche Namensschild fehlte.
„Sie sind wohl neu hier?“ Ein kurzer Blick auf ihr Namensschild.
„Naomi.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Naomi Bloom. Schwester in der Notaufnahme. Heute ist mein erster Arbeitstag.“
Er sah flüchtig auf ihre Hand, als würde sie ihm ein schmutziges Taschentuch anbieten. „Tom Williams. Leiter der Notaufnahme und Arzt. Beinahe Ihr Arzt, wäre Ihre unverantwortliche Einlage gerade eben missglückt.“
Sie ließ die Hand sinken. Das war ihr Chef? „Tut mir leid, ich …“
„Hatten Sie heute Morgen keine Einweisung?“
In einer anderen Situation hätte sie dieser Stimme den ganzen Tag zuhören können. Sie war warm und voll, distinguiert.
Konzentrier dich.
„Das schon, aber …“
Sein Lächeln erreichte nicht die Augen. „Auch über die Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz?“
Naomi nickte und fühlte sich wie ein ungehorsames Kind vor dem Schulleiter. „Ja, aber ich wollte niemanden von seiner Arbeit abhalten. Alle waren sehr beschäftigt, und deshalb dachte ich, das schaffe ich schon allein.“
Schon vor längerer Zeit hatte sie gelernt, es zu schätzen, wenn man Dinge selbst erledigen konnte, ohne um Hilfe bitten zu müssen. Was viele Menschen für normal hielten, war anderen verwehrt. Eine Schranktür öffnen und eine Tasse herausholen zum Beispiel, oder eigenständig zur Toilette zu gehen.
„Sie können von Glück sagen, dass ich Sie vor einem verstauchten Knöchel bewahrt habe. Oder vor Schlimmerem.“ Er warf einen Blick auf den Baum. „Sie hätten sich die Halswirbelsäule stauchen können – und mir die unerfreuliche Aufgabe aufgebrummt, einen dreiseitigen Unfallbericht verfassen zu müssen. Und das, nachdem ich nonstop zwanzig Stunden Dienst hatte.“
„Es tut mir leid, Dr. Williams.“
Er runzelte die Stirn, sah sich prüfend um und fragte: „Wer hat Sie beauftragt, den Baumschmuck abzunehmen?“
„Niemand, ich habe mich freiwillig angeboten.“
„Tatsächlich?“ Er schnaubte ungeduldig. „Also gut, wenn Sie darauf bestehen, es zu Ende zu bringen, bleibe ich besser bei Ihnen, damit Ihnen nichts passiert.“
„Oh, das müssen Sie nicht …“
„Steigen Sie wieder auf die Leiter. Eigentlich habe ich Dienstschluss und wollte nur nach Hause.“ Er legte seinen ordentlich gefalteten Mantel auf seine Aktentasche, nahm seinen Schal ab, zog das Jackett aus und rollte die Hemdsärmel hoch.
Was für Arme … So stark.
Hätte er sie nicht gerade heruntergeputzt, wäre sie vielleicht in Versuchung geraten, den Anblick ein wenig länger zu genießen. „Na schön. Und … danke.“
Er musterte den Baum von oben bis unten. „Der hätte schon vor Jahren durch den Schredder gejagt werden sollen.“
„Mit Plastikbäumen macht man das nicht, glaube ich.“
„Nein. Wahrscheinlich nicht.“
Er begann, Weihnachtsschmuck in einer Höhe abzunehmen, die Naomi nicht erreichen konnte, und gab ihn ihr. Sie legte alles zu den anderen Sachen in die Schachteln. Ihr gefiel es nicht, wie ein kleines Kind gerügt zu werden, deshalb versuchte sie sich in Small Talk. „Sie arbeiten hier schon eine Weile?“
Er sah sie an. „Ja. Und was führt Sie ausgerechnet an das Welbeck Memorial?“
Sie wollte ihre Gründe für sich behalten. Außerdem interessierte es ihn wahrscheinlich gar nicht. Er war nur höflich.
Naomi hatte entschieden, mit niemandem über ihre Vergangenheit zu sprechen. Sie wollte weder Mitleid noch Mitgefühl, sondern einfach ihr Leben leben. Jedes Mal, wenn sie erzählt hatte, dass sie in ihrer Ehe mehr Pflegerin als Ehefrau gewesen war, hatten alle sie nur mitleidig angesehen.
„Ich habe in den East Midlands gelebt und wollte einen Tapetenwechsel. Also habe ich mir eine günstige Wohnung gesucht und freue mich auf mein neues Leben hier.“
„Ich meine, da einen Dialekt herauszuhören …“
Sie lächelte. Nie hätte sie gedacht, dass man ihr ihre Herkunft anhören könnte. „Wirklich?“
„Ja. Es klingt ein wenig nasal, wie oft im Norden. Und nun steige ich auf die Leiter und hole den Rest herunter.“
„Bitte sehr.“ Sie hielt die Leiter fest, als er hinaufstieg, und rasch war der restliche Christbaumschmuck entfernt. Danach bauten sie gemeinsam den Baum ab und verstauten die Teile fürs nächste Jahr im Karton.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Das war wirklich nett von Ihnen.“
„War mir ein Vergnügen.“ Er sah sie länger an, als ihr lieb war, schüttelte kurz den Kopf und griff nach Mantel, Schal und Aktentasche. „Und passen Sie auf, dass Sie sich morgen nicht irgendwo verletzen, Schwester Bloom.“
„Bestimmt nicht.“ Sie blickte ihm nach und atmete einmal tief durch.
Wow. Was für ein Mann!
Und er war ihr Chef! Peinlich, peinlich. Ihr erster Tag, und schon wurde sie dabei ertappt, dass sie eine Regel brach – glücklicherweise nichts anderes.
Sie nahm sich vor, Dr. Williams so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Das Wetter gab sein Bestes, die Bewohner Londons wissen zu lassen, dass Winter herrschte. Vor ein paar Tagen hatte es geschneit, und bei Temperaturen unter null Grad lag der Schnee noch immer. Alle Häuser sahen grau, feucht und kalt aus, als Naomi das Krankenhaus verließ, um nach Hause zu gehen – wohin sie eigentlich gar nicht wollte, denn dort war es ebenso trostlos wie draußen. Aber sie zog sich den grünen Wollschal enger um den Hals und streifte sich ihre Handschuhe über.
Vor dem Eingang zur Notaufnahme standen Raucher, die gierig an ihren Zigaretten zogen. Einer von ihnen war der Betrunkene, der sie vorhin belästigt hatte. Sobald er sie entdeckte, torkelte er auf sie zu. Er roch fürchterlich nach ungewaschenem Körper und Alkohol. Mit seinem schmuddeligen Zeigefinger tippte er ihr gegen die Brust.
„Ihr lasst mich einfach warten!“
Naomi war beunruhigt, sie hatte sogar ein bisschen Angst. Im Dienst konnte sie mit solchen Aggressionen umgehen. Dort trug sie ihre Schwesternkleidung und wusste, im Notfall würde ihr jemand zu Hilfe kommen. Aber hier draußen fühlte sie sich ungeschützt.
„Hören Sie, Sir …“
„Ihr lasst mich hier einfach warten!“
Unvermittelt versetzte er ihr einen Stoß, und Naomi taumelte zurück. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Was für ein erster Arbeitstag. Zuerst verärgerte sie ihren Chef, und nun wurde sie noch von einem Trunkenbold belästigt. Sie hob beide Hände, um den Mann zu beruhigen, und wich gleichzeitig zwei Schritte zurück.
Da stellte sich eine hochgewachsene Gestalt zwischen sie und den Betrunkenen.
Es war Tom Williams. Er fixierte den Mann mit drohender Miene.
„Treten Sie zurück!“ Ohne den aggressiven Mann aus den Augen zu lassen, stellte er seine Aktentasche ab. Dann machte er einen Schritt auf ihn zu.
Verblüfft stand Naomi da. Er rettete sie schon wieder!
Was mag er bloß von mir denken …
„He, was soll das! Ich kenne meine Rechte!“
„Wenn Sie jemals wieder eine meiner Mitarbeiterinnen anfassen, landen Sie schneller in einer Arrestzelle, als Sie denken!“
Der Mann stolperte rückwärts. „Okay, okay! Ich verschwinde!“ Mürrisch fügte er hinzu: „Ihr seid doch alle gleich …“ Dann schlurfte er davon, eingehüllt in den blauen Dunst seiner Zigarette.
Tom blickte ihm nach, bis er sicher sein konnte, dass der Mann nicht kehrtmachte. Dann sah er Naomi prüfend an. „Alles in Ordnung?“
Naomi nickte. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie schnell die Situation eskaliert war.
„Mick ist ein ständiger Besucher hier. Oft betrunken. Ich glaube, er ist einsam.“ Dabei bekam Toms Stimme einen merkwürdigen Unterton, aber sein Gesicht verriet nichts.
„Und doch greift er die Leute an, die ihm helfen wollen.“
Tom lächelte entwaffnend. „Es kommt vor.“
„Das kann man wohl sagen.“ Flüchtig schaute sie Mick hinterher, froh, dass ihr Chef eingegriffen hatte. Allerdings hätte sie sich im Notfall gewehrt. Vor Jahren war sie zum körperlichen Ausgleich zu dem Stress zu Hause zum Kickboxen gegangen. Zu Hause hatte sie auf alles achten müssen, was sie tat. Sie ging stets wie auf Eierschalen und durfte keine hektischen Bewegungen machen, um Verletzungen zu vermeiden. Besonders vorsichtig sein zu müssen, hatte ihre angeborene Ungeschicklichkeit noch verstärkt. Zum Ende hin war ihre Ehe ein einengendes Gefängnis gewesen.
„Danke nochmals. Jetzt haben Sie mich heute schon zwei Mal gerettet.“ Sie versuchte, einen Scherz zu machen, um die Anspannung zu lösen. „Sie sollten wirklich in schimmernder Rüstung durch die Gegend reiten. Auf einem weißen Pferd.“
Ausdruckslos sah er sie an.
Für Späße hat er wohl nichts übrig. Okay.
„Wie auch immer. Danke jedenfalls.“
„Kommen Sie allein nach Hause?“
Sie nickte und schlug ihren Mantelkragen hoch. „Es ist nicht weit, gleich um die Ecke. St. Bartholomew’s Road.“
„Dann begleite ich Sie. Mick könnte Sie vielleicht wieder belästigen. Ich kenne ihn, oft genug handelt er ziemlich unvernünftig.“
Naomi wollte sein Angebot nicht annehmen. Heute hatte Tom Williams schon genug für sie getan, und außerdem musste er ja nicht unbedingt das Loch sehen, in dem sie hauste. Es wäre ihr peinlich. Er wohnte wahrscheinlich in einem Penthouse-Apartment. Was würde er nach einem Blick auf ihre Wohnung von ihr denken? Inkompetenz hatte sie ihm schon bewiesen, und sie wollte nicht, dass er sie für eine Art Aschenputtel hielt.
„Das müssen Sie nicht tun.“
„Ich tue es aber.“ Er lächelte. „Es wäre fatal, wenn Sie auf dem Glatteis stürzen und sich etwas brechen würden. Mein gesamter Einsatz für Sie wäre völlig umsonst gewesen.“
Eisig blies ihr der Wind ins Gesicht, aber Naomi erwiderte tapfer Toms Lächeln.
Na schön. Ich werde ihn einfach nicht hereinbitten.
„Okay“, sagte sie.
In der Nähe des Krankenhauses lag ein großer Park, wo zu dieser späten Stunde Hundebesitzer ihre Lieblinge spazieren führten und Pärchen Hand in Hand verliebt dahinschlenderten. Naomi hatte solche Menschen immer beneidet, denn Vincent und sie hatten all dies nicht haben können. Sie hatte immer nur seinen Rollstuhl geschoben.
Aber heute ertappte sie sich mehrmals, dass sie Tom einen schnellen Seitenblick zuwarf, obwohl sie es nicht tun sollte, denn bestimmt würde er es bemerken.
Er sah einfach toll aus, groß und breitschultrig, dazu schlank. Trotzdem war Naomi auf der Hut. Nicht nur, weil er ihr Chef war, der sie wahrscheinlich für einen inkompetenten Tollpatsch hielt, sondern weil er der attraktivste Mann war, dem sie je begegnet war. Solche Männer bedeuteten meistens Ärger, das wusste sie. Ihre Mutter konnte ein Lied davon singen. Immer wieder hatten ihr solche Männer das leicht verführbare Herz gebrochen. Und es waren nicht wenige gewesen …
Deswegen hatte Naomi sich in Vincent verliebt. Und ihn geheiratet. Er fuhr keinen teuren Sportwagen, war nicht exquisit gekleidet und wollte sich kein Geld leihen, das nie zurückgezahlt würde. Er war ein durchschnittlich aussehender Mann mit einer körperlichen Behinderung. Immer hatte sie gewusst, woran sie bei ihm war. Es war einfach gewesen. Und niemals bestand die Gefahr, dass er ihr davonlief, eine Affäre begann und ihr das Herz in Stücke riss.
„Wie hat Ihnen Ihr erster Tag am Welbeck gefallen? Abgesehen von den Informationen über die Arbeitsschutzregeln?“
Naomi blickte wieder auf die Straße. „Gut. Anstrengend, aber gut. Ich freue mich schon auf mein Bett. Und Sie? Hatten Sie auch einen hektischen Tag?“
Siehst du? Hört sich doch ganz normal an, oder? Schließlich bringt mich nur ein Kollege nach Hause, damit ich sicher heimkomme. Alles ganz harmlos.
„Ja.“
„Warum haben Sie sich für die Notaufnahme entschieden?“
„Da ist viel zu tun.“
Sie erwartete mehr, doch als er schwieg, drängte sie ihn nicht. Schließlich kannten sie sich so gut wie gar nicht. Vielleicht gab es persönliche Gründe für seine Berufswahl, und er wollte sie nicht gleich jemandem anvertrauen, den er nicht kannte. Sie hielt sich ja auch sehr bedeckt. Gleiches Recht für alle, dachte sie und zupfte an ihrem Schal. „Jetzt ist es nicht mehr weit“, begann sie, um sich zu verabschieden. „Ich glaube nicht, dass ich auf den restlichen fünfzig Metern überfallen werde.“
Er betrachtete sie. „Sie lassen sich nicht gern von anderen helfen, stimmt’s?“
„Ich habe gelernt, mich auf mich selbst zu verlassen, und bin gut damit gefahren. Es gefällt mir, frei und unabhängig zu sein.“ Wie sehr, konnte sie ihm gar nicht sagen. Für sich allein Entscheidungen zu treffen, ohne an jemand anderen denken zu müssen, bedeutete ihr unglaublich viel, nachdem es so lange Zeit nicht möglich gewesen war.
Tom dachte anscheinend nicht daran, seine Mission vorzeitig abzubrechen. Sie erreichten ihre Straße, und je näher sie dem Haus kamen, desto nervöser wurde Naomi.
Sie wusste, was er von ihr denken würde. Er würde den kleinen Vorgarten sehen, zugemüllt mit einem alten Sofa und einem ausrangierten Kühlschrank. Und dann erst ihre Wohnung! Sie gab sich große Mühe, sie so gemütlich wie möglich zu gestalten, aber sie konnte sich keine bessere leisten. Deshalb musste sie hierbleiben, bis sie genügend Geld für die Kaution einer anständigen Wohnung zusammengespart hatte.
Bestimmt würde es noch ein halbes Jahr dauern, bis es so weit war. „Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich“, sagte sie.
Er lachte leise auf. „Damit werde ich fertig.“
„Ich wollte es wirklich nicht sein.“ An ihrem Vorgarten blieb sie stehen. Sie wandte dem Haus den Rücken zu und atmete einmal tief durch. „Also, hier wohne ich. Leider.“
Tom lächelte und sah an ihr vorbei. Dann verblasste sein Lächeln. „Haben Sie Ihre Tür offen gelassen?“
„Nein … Wieso fragen Sie?“ Sie drehte sich um und sah sofort die Einbruchsspuren an der halb offenen Haustür. Sie keuchte auf und wollte ins Haus stürzen, aber Tom hielt sie am Arm zurück.
„Bleiben Sie hier, und rufen Sie die Polizei.“
„Sie wollen doch wohl nicht reingehen?“ Der Einbrecher konnte immer noch drinnen sein. Vielleicht war er bewaffnet. Es war gefährlich und …
Er ist nicht Vincent. Tom wird mit solchen Situationen fertig.
Das hatte er schon beim Zwischenfall mit dem betrunkenen Mick bewiesen, als er ohne zu zögern eingegriffen hatte.
„Bleiben Sie hier draußen.“ Er legte ihr kurz beruhigend die Hand auf den Arm und marschierte ins Haus.
Naomi holte ihr Handy heraus und tippte die Notrufnummer ein. Sobald sie den Einbruch gemeldet hatte, eilte sie mit weichen Knien zur offenen Haustür.
Von drinnen drang kein Ton nach draußen. Keine Kampfgeräusche oder laute Stimmen.
Wer auch immer bei ihr eingebrochen war, musste längst über alle Berge sein.
„Dr. Williams?“
„Alles in Ordnung. Sie können hereinkommen, hier ist niemand mehr!“
Sie betrat das Haus und ging durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer mit der offenen Küche.
Darin sah es aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Ihre Sofakissen lagen auf dem Boden, der Couchtisch war umgeworfen und zerbrochen, ihre Bücher waren im ganzen Raum verteilt. Ihre wenigen Bilder, die sie auf Flohmärkten gefunden hatte, nichts Teures, nur Drucke, lagen mit zerschmetterten Rahmen am Boden.
Mit all ihren kostbaren Dingen war umgegangen worden, als wäre es Müll. Erschüttert schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
Tom stand verlegen vor ihr und blickte sie nur an.
Naomi wusste nicht, wie lange sie zitternd und schluchzend dagestanden hatte. Sie besaß nichts mehr. Ihre Sachen mochten von Garagenflohmärkten oder aus Secondhand-Läden stammen, aber es waren ihre Sachen, die sie geliebt hatte. Sie hatte damit ihre erste richtige Wohnung so gemütlich wie möglich eingerichtet. Und nun …
Schließlich fasste sie sich und sah, dass Tom dabei war, die Bücher aufzusammeln und sie wieder ins Regal zu stellen.
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Hatte es heute nicht schon genug beschämende Momente gegeben? Sie war mit der Leiter umgekippt. Von einem Betrunkenen belästigt worden. Hatte geheult wie ein kleines Kind. Das war am allerschlimmsten. Demütigend. Wenn jemand weinte, war es für andere Menschen immer unangenehm, und sie brauchte Tom nicht anzusehen, um zu wissen, dass er nur blieb, weil er sich verpflichtet fühlte.
„Es ist okay, Sie können ruhig gehen. Ich warte hier auf die Polizei. Das schaffe ich auch allein. Sie haben sicher Wichtigeres zu tun.“
„Ich bleibe.“
„Wirklich, das müssen Sie nicht …“
„Ich warte, bis die Polizei alles aufgenommen hat. Und dann müssen Sie irgendwo unterkommen. Hier können Sie heute Nacht nicht bleiben, das ist zu unsicher.“
„Die Polizei wird die Tür sichern.“
„Ja, mit einem Stück Sperrholz. Das hält niemanden ab. Unter diesen Umständen können Sie hier auf keinen Fall übernachten, das lasse ich nicht zu.“
Naomi brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Danke.“
„Sehen Sie einmal nach, ob etwas fehlt und was.“
Sie nickte. Er hatte recht. Es gab ein paar Dinge, die ihr wichtig waren. Ihre Fotos von Vincent. Ihr Ehering, der immer in der Nachttischschublade lag, weil sie ihn bei der Arbeit nicht tragen durfte.
Zu ihrer Bestürzung war der Ring verschwunden. Zusammen mit ein paar weniger teuren Schmuckstücken und einer alten Uhr.
Sie fühlte sich seltsam leer, als sie den Polizeibeamten berichtete, was alles verschwunden war.