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Antonio Ungar ist die originellste Stimme der zeitgenössischen kolumbianischen Literatur. Sein Roman ist so verschlungen wie die südamerikanische Politik: Als Lorenzo kurzerhand in die Rolle des ermordeten Oppositionsführers und Präsidentschaftskandidaten Pedro Akira schlüpft, erreichen die Verstrickungen der Korruption schwindelerregende Höhen. Sehr bald befinden wir uns inmitten des abenteuerlichen Versuchs, das totalitäre Regime zu Fall zu bringen – in diese wilde Schlitterpartie verstricken sich ein Drama um Liebe und Leidenschaft genauso wie eine unverwechselbare Vater-Sohn-Geschichte. Ganz und gar einzigartig, auf der Schwelle zwischen Parodie und Elegie, zwischen Realität und surrealer Verfremdung. Grotesk, ironisch, kritisch – ganz und gar schillernd und absolut brillant!
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Seitenzahl: 372
Antonio Ungar
Drei weiße Särge
Roman
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Fischer e-books
Für Zahiye und Karim
Eins gab das andere.
Um sieben Uhr morgens, ich wollte gerade Sonate Nummer 3 von Maestro Kepis üben (ein Glanzstück), riss eine Saite meiner Bassgeige mit einem Laut, wie ihn lebendige Katzen von sich geben, wenn man ihnen auf den Schwanz tritt, was seltsam war, denn die Saite bestand aus den Därmen toter Katzen.
Eine Stunde später weigerte sich Vater, Brot fürs Frühstück zu holen, obwohl er das seit vierzig Jahren getan hatte, aufrecht und pünktlich an jedem Morgen eines jeden Tages. Nicht dass Vater etwas gesagt hätte. Er weigerte sich nur, ohne jede Erklärung.
Um zwölf beendete ein junger Mann in orangefarbenem T-Shirt den Vormittag, indem er zum Tisch ging, an dem Pedro Akira gerade Cannelloni alla napoletana verspeiste, ihm drei deutliche Worte ins Ohr flüsterte (Nimm. Du. Hund.) und drei Kugeln in den Kopf schoss, welcher mit weit geöffneten Augen auf dem Cannelloni-Teller landete. Im Gegensatz zu den beiden ersten Ereignissen spielte sich das letzte zum Glück nicht bei mir zu Hause ab.
Eins gab das andere, und das war erst der Anfang. Ich meine den Kopf, der auf dem Cannelloni-Teller ruhte. Schwer, starr, stumm und durch einen kräftigen Hals mit Pedro Akiras stämmigem Leib verbunden. Schuldlos an all dem, was seine Starre jenseits des Ristorante auslöste, in anderen Köpfen, anderen Straßen, die sich zu Hauptstraßen weiteten. Folgen, die jetzt, aus der Distanz gesehen, wie wimmelnde Ameisen wirken, die voreinander davonlaufen, vor ihrem eigenen Schatten fliehen. Aber das geschah später, fünf Stunden nach dem ersten denkwürdigen Ereignis des Tages, der gerissenen Basssaite, das kaum erwähnenswert erscheint, doch sehr wohl ist, wie meine Hörerschaft noch merken wird.
Die Saite war gerissen, ich saß auf meinem Basshocker wie mitten auf einem ausgestorbenen Planeten, und um Viertel nach sieben musste ich zugeben, dass sich der Tag anders als gewöhnlich anließ. Ich ging zum Fenster, warf einen Blick auf den (blauen) Himmel, seufzte, wie nur ich es vermag, glitt so leise wie möglich den Flur entlang, trat auf die am wenigsten knarrenden Dielen und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter zu einem prächtigen Glasschrank, einem Erbstück von Mutter, in dessen Tiefen die Familie ihre Alkoholreserven versteckt. Das heißt meine Alkoholreserven, denn Vater ist seit 1974 Abstinenzler, und mehr Familie gibt es nicht in diesem geduckten, dunklen Haus im Viertel La Esmeralda, ein Schauplatz dieser Handlung, die noch von nichts handelt.
In Anbetracht der vorgerückten Stunde sah ich ein, dass ich das erlesene Seminar – das Wort »erlesen« mochte ich schon immer –, das erlesene Seminar über Barockarchitektur im nicht minder erlesenen Studium generale der nicht ganz so erlesenen Staatsuniversität der Republik Miranda würde ausfallen lassen müssen. Also keine Acht-Uhr-Vorlesung an diesem Tag, keine pädagogischen Dias, auf denen ich die (monumentalen) Fassaden der Piazza Navona in Rom und den (imposanten) Brunnen von Bernini hätte sehen können. All dieses (grundsolide) Mauerwerk des Barock, all diese Architektur mitsamt dem Gewicht der Kultur, die auf ihr lastet, und der Luft, die in ihr schwebt, all das stürzte urplötzlich in ein schwarzes Loch, als hätte es nie existiert, und zurück blieb nur ein trockenes Kratzen im Hals, ein übermächtiges Jucken, das Berge hätte versetzen können.
Es war an der Zeit, den ersten Cocktail des Tages zu mixen. Ich verrührte geräuschlos Eiswürfel, Wodka, Zucker und Minzblätter, denn ich dachte (arglos, wie ich war), dass Vater erst in vierzig Minuten aufstehen, seine aufrechte, dürre Erscheinung in den besten karierten Morgenrock hüllen, die blauen Pantoffeln überstreifen und in diesem Kampfanzug wie immer losziehen würde, um Brot zu holen. Mit sachten Schritten schlich ich den Flur im ersten Stock entlang, in Gesellschaft meines zweiten Minzwodkas (den ersten hatte ich mir beim feinsinnigen Betrachten der Pflanzen im Garten einverleibt), schlich also sachten Schritts, das Glas in der geräumigen Pyjamatasche geborgen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, mit eisgekühlter Hand und in tadelloser Haltung vor mich hin, als mir der rechte Augenwinkel meldete, dass Vater nicht mehr der Alte war.
Ich drehte meinen hellsichtigen Kopf und musterte ihn mit dem ganzen rechten Auge und mit dem ganzen linken ebenso, immer noch die gutgekühlte Hand in der Tasche. Vater war nicht mehr der Alte. War nicht mehr der, der er zu dieser Tageszeit immer gewesen war. Tag für Tag. Er stand nicht vor dem ovalen Spiegel, Erbstück meiner Mutter, rückte sich nicht den Pyjamakragen zurecht, drapierte nicht den Morgenrock wie ein Hollywoodmafioso, zog nicht die Ärmel gerade und räusperte sich nicht krächzend wie ein Kampfhahn, der schon so gut wie ausgestopft war, auch nicht wie ein Herr im Morgenrock. Nichts dergleichen. Vater lag immer noch im Bett. Rührte sich nicht. Weiß und ausgemergelt, wie eine Marmorstatue. Er sah mich nicht einmal an. Mich. Seinen Sohn. Sein eigen Fleisch und Blut. Beinahe hätte ich mein wertvolles Getränk über eine peinliche Stelle vergossen. Ich verschwand aus der Türöffnung, rettete das Glas in der Tasche, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten oder die Minzblättchen zu derangieren, und ging damit in mein Zimmer. Ich versteckte es im Kleiderschrank zwischen den Schuhen. Bestürzt über den Anblick der Marmorstatue, doch in vollem Besitz meiner Kräfte, will sagen mannhaft, kehrte ich zurück ins Unheilszimmer. Dort versuchte ich ohne erkennbaren Erfolg, Vater aus dem Bett zu bekommen, wobei ich nicht auf physische Gewalt setzte, sondern, sosehr Marmorstatue er auch sein mochte, allein auf die Willenskraft.
Ich redete ihm schmeichelnd zu. Wie einem Kind. Nach drei, vier Honigworten von mir bohrte Vater seine grauen Augen in mich und schnitt mein Gesäusel mit der Bemerkung ab, ich könne quatschen, so viel ich wolle, mich auf den Kopf stellen, mir die Kleider vom Leib reißen, wenn ich nichts Besseres zu tun hätte, aber er rühre sich nicht vom Fleck. Ich solle ihm aus den Augen gehen. Jetzt. Hinaus.
Bestürzung, Trübsal, Jammer sind die Begriffe, die mir dazu in den Sinn kommen (und weiterziehen, ohne ihren Dienst geleistet zu haben). Nach ein paar Sekunden der Schockstarre ging ich zum Fußende des Betts, das die Füße der Statue trug. Er sollte mich klar und deutlich sehen. Dort stemmte ich meine kräftigen Arme in die Seite und schaute ihn an, wie nur ich es vermag. Rief ihm in Erinnerung, dass er es war, der mich in die Welt gesetzt hatte, dass meine hundert Kilo Realgewicht real waren und auch ich notfalls winseln konnte wie ein junger Hund.
Verzieh dich, sagte er. Ich denke nach.
Das Stückchen Vormittag zwischen der Entdeckung meines versteinerten Vaters und dem Moment, der zum Wohl meiner Familie, ja der ganzen Gesellschaft mein Schicksal verändern sollte, enthielt nichts weiter Erwähnenswertes. Bloß eine juckende Neugier, die mir die Eingeweide zerfraß. Die Neugier, zu erfahren, woran Vater dachte, weshalb er mich aus dem Zimmer geworfen hatte, was in ihn gefahren war (eine unerträgliche Neugier, die wie ein Feuerball in seinem Zimmer schwebte: eine frappierende Erscheinung, die knisternd das Haus, das Viertel, ja die ganze Stadt in Brand zu stecken drohte, wenn sie nicht befriedigt werden würde).
So verlief der Vormittag. Mein Kopf sagte nach den ersten beiden Minzcocktails: Woran denkt er bloß, der Arme, wie er da im Bett liegt? Was könnte wichtiger sein als ich (sein eigener Sohn)? Beim fünften Cocktail: Ist unsere Familie dem Untergang geweiht? Und mit Blick auf den Standmixer in der Küche: Wurden wir in eine Wüste verschlagen, aus der uns nichts mehr retten kann (Vater auf einer Düne, ich weit weg auf einer anderen, außer Rufweite, bis in alle Ewigkeit)? Zwischen dem sechsten und dem achten Cocktail kroch mir das leere, kalte, feuchte Haus in den Kopf. Mit seinen kleinen Geräuschen, all seinen Schräubchen. Die Berge der Stadt starrten mich an, und durch die Wand starrte ich beharrlich zurück. Mutters Erbstücke versuchten zu sprechen und vermochten es nicht. Dazu die Gewissheit, dass Vater in seinem Zimmer loderte, im Bett ausgestreckt, doch gefeit gegen das Feuer, weil er eine weiße Marmorstatue war. Und am Ende dann dieses erlesene Gefühl, mich in den tauben Beethoven verwandelt zu haben.
Der taube Beethoven trat mit elf Cocktails intus in den Garten und schaute sich die Kartoffelstauden an, die Vater im Kreis um einen Papayotebaum gepflanzt hatte. Ich stellte mir vor, wie die Kartoffelwurzeln tief in die Erde eindrangen, sich ihren Weg unter meinen Füßen bahnten und jeden Moment wieder an die Oberfläche kommen und sich um meine Knöchel wickeln konnten. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder auf einen Himmel, dessen Wolken mit bewundernswerter Disziplin von links nach rechts zogen. Der Anblick beflügelte mich, und ich fasste den Entschluss, meine überreichliche Freizeit dem Sport zu widmen. Sport ist Gesundheit. Also widmete ich munter los. Kniebeugen. Arme hoch, Arme zur Seite. Maßvolle Hüpfer. Ordentlich durchatmen, durch die Nase, durch den Mund. Und so weiter und so fort.
Nach solch erschöpfendem und vorbildlichem Training, mit dem ich ohne übermäßige Anstrengung vier, fünf Minuten verbracht hatte, ging ich mich waschen. Als ich die Treppe hinaufstieg, wusste ich, dass der taube Beethoven nun Vergangenheit war und mir die Molekularstruktur von Mutters geducktem, dunklem Haus im Viertel La Esmeralda auf ewig ein Rätsel bleiben würde, denn nun konnte ich meine eigenen Schritte wieder hören. Als das Waschbeckenwasser meine rosigen Wangen berührte, dachte ich, dass in den schlimmsten Hollywooddramen so mancher auf diese Weise einen klaren Kopf bekam. Und dass es in der realen Realität ebenso funktionierte, denn mir war, als hätte ich statt der elf Minzwodkas nur acht oder neun getrunken. Glücklich über diese Entdeckung und stolz auf die erschöpfenden Leibesübungen, mein rundes Haupt nun blitzend sauber und geziert von einem feinfühligen Lächeln, nicht ohne einen Anflug bissiger Intelligenz, ging ich in die Küche zurück. Ich stibitzte ein paar Münzen aus dem Kupferbecher mit dem Wappen der Republik Miranda, um Brot kaufen zu gehen. Über den roten Pyjama, der meine elegante Gestalt zur Geltung brachte, zog ich den schicksalsschwangeren Morgenrock, Vaters Ersatzrock, der noch feucht auf der Leine in der Waschküche hing.
So trat ich hinaus. Erhobenen Hauptes, stolz und entschlossen wie nie, ganz allein den größten Gefahren meiner Lieblingsstadt zu trotzen.
Nach den ersten drei Passagen dieses Prologs mit Papa nähert sich die Geschichte endlich ihrem Spannungsmoment, ihrem Knack- oder Fluchtpunkt. Dem großen Ereignis. Dem noch ungeklärten. Und all den Folgen, die die handelnden Personen (ob schon eingeführt oder noch unbekannt) ereilen werden, eine nach der anderen, unausweichlich, wie ein Kugelregen nach feucht-fröhlichem Geballere.
Fassen wir zusammen. Meine Hörerschaft weiß bereits, dass am frühen Morgen ein nicht leicht zu spielendes Musikinstrument Schaden litt und ich mit stoischer Geduld und bösen Ahnungen die Stunden verstreichen ließ, nachdem ich gesehen hatte, dass mein Vater nicht zum Laden ging, sondern sich partout als rätselhafte Marmorstatue gebärden wollte. Nun zurück zum Set. Zoomen wir, als wäre dies ein High-Budget-Film, aus der Helikopterperspektive die Großstadt heran, das Viertel La Esmeralda, und schauen auf die stattliche Gestalt des Helden, des Erzählers und Protagonisten, der eben vor die Tür getreten ist, allein und im Morgenrock, um sich in die von Kindern und Fahrrädern heimgesuchten Straßen zu stürzen.
Folgen wir dem Helden bis zum Laden, eine Großaufnahme seines breiten Rückens, montiert mit Nahaufnahmen seines energischen Munds und seiner sonnenglänzenden Stirn. Nun lassen Sie uns tief bewegt wieder zur Vergangenheitsform zurückkehren, die dem Helden nichts vom Heldischen nimmt, sich jedoch einfacher benutzen lässt als das Präsens. Sagen wir also, dass die Straßen voller Verpackungsmüll und Tierkot waren. Leichte ein- oder zweifarbige Tüten schwebten von allein über die Gehwege. Keine Gewitterwolken am Himmel. Über die Parkwiese längs des Gehwegs schritt aufrecht, geistreich und mit ruhigem Blick unser Held und einzig befugter Erzähler.
Zurück zu mir und meinen Gedanken, die sich darum drehten, dass sich dieses dreckige, nach dem Smaragd benannte Viertel bald einen anderen Namen würde suchen müssen. Dann dachte ich nichts mehr. Vor zwei Häusern, die erfolglos dem väterlichen gleichen wollten (sie waren nicht geduckt genug), wuschen zwei Nachbarn ihre winzigen Autos, wozu sie sich in einen Sportdress geworfen hatten, den sie für äußerst modisch hielten, was er vielleicht auch gewesen war – beim Turnier der Griechisch-Römisch-Ringer Ende der Siebziger. Sie schienen mich nicht zu sehen, meine aus der Mode gekommenen Nachbarn, vielleicht schüchterte sie auch das Aufflattern meines Morgenrocks ein, das den Blick auf meine Korpulenz freigab, denn sie übersahen mich geflissentlich und konzentrierten sich auf ihre Gartenschläuche. Ich hob das Kinn, drückte die Schultern durch und betrat wenige Minuten später in dieser edlen Haltung endlich den gastlichen Brotladen.
Hinter der Theke sah mich Herr Jaramillo mit offenem Mund an, glaubte wohl, Vater habe sich über Nacht in mich verwandelt, und wollte gerade nach dem Original fragen, als der Fernseher an der Decke in voller Lautstärke eine Art grelle Marschmusik ausspuckte, die zugleich nach Disco und Science-Fiction-Film klang, die Ouvertüre einer Sondermeldung. Herr Jaramillo griff nach der Fernbedienung auf dem Sims und stellte lauter. Extra. Extra. Extra, sagte Mirandas berühmtester Ansager mit seiner bezaubernden Stimme, als hätte er Pferdefutter und scharfe Munition gefrühstückt. Extra. Mit verkrampfter Miene konzentrierte sich Herr Jaramillo auf den Fernseher, und ich musste wohl oder übel mein Anliegen (Brot) für unbestimmte Zeit zurückstellen und eine halbe Drehung vollziehen, nicht ohne Mühe angesichts der schmierigen Beschaffenheit des Bodens. Dabei fiel mir auf, dass an zwei der vier quadratischen Tischchen ein paar Subjekte saßen, die sich vor Flaschen lauwarmen Biers auf ihre Ellbogen stützten. Ich tat, was sie taten: regungslos Richtung Fernseher starren. Wir wurden mit noch mehr unerträglicher Musik überschüttet, dazu computeranimierte Bilder, die einem Roboterhirn zu entstammen schienen, bis endlich die Nachricht kam. Extra.
Die nämlich, die meine geduldige Hörerschaft schon kennt. Pedro Akira war, sehr zu seinem Leidwesen, niedergeschossen worden, während er gerade mit Salsa Napoletana bedeckte Cannelloni verspeiste, und zwar im Ristorante Forza Garibaldi (gegründet 1967). Das dritte wichtige Ereignis des Tages. Der Funke, der die Lunte alles Folgenden zünden sollte. Der ehrenwerte Senatspräsident der Republik, Pedro Akira. Niedergeschossen bei der Nahrungsaufnahme. Der charismatische Führer der Oppositionsparteien. Jüngst aufgestellt als Präsidentschaftskandidat. Fürsprecher der Hungrigen, einzige Hoffnung der Armen. All das und noch viel mehr. Die Bilder zeigten nur die Fassade von Forza Garibaldi mit dem kleinen Giebeldach aus Plastikziegeln im Kolonialstil und der schwarz angemalten Eisentür. Unter der Fensterfront im zweiten Stock hing über dem falschen Kolonialdach ein Blechschild mit weiß-rot-grünen Lettern: Ristorante Forza Garibaldi, für Sie da seit 1967. Ich hatte einen Kloß im Hals und bedauerte, dass ich so weit weg von zu Hause war und Herr Jaramillo sich nicht aufs Cocktailmixen verstand.
Die Kamera zeigte all das, ein Zoom-out folgte (Einführung in den Film, Fakultät für Studium generale, Staatsuniversität der Republik Miranda), das heißt, sie entfernte sich mit Hilfe eines Objektivs vom Schauplatz und ließ sich nach zwei akrobatischen Manövern wie eine Fliege auf dem Gesicht einer jungen Journalistin nieder, die schon bereitstand, Mikro vorm Mund, sehr steif, sehr hübsch. Mit langem, glattem Haar, tadellos gebügelter weißer Bluse, pastellfarbenem Halstuch, eng anliegendem grauem Rock. Nicht die Journalistin beschleunigte meinen Puls. Keineswegs. Erschütterung. Tragödie. Unheil kam in schwarzen (und kalten) Brechern über mich. Pedro Akira. Der in einem Krankenhaus mit russischem Namen um sein Leben kämpfte, wie das Fräulein Journalistin verkündete. Pedro Akira. Einziger Fürsprecher der Schwachen in unserer Republik. Pedro Akira. Der Name AKIRA schwirrte wie ein Flughund in meinen Schädelwänden umher. Pedro Akira, Stimme der Entrechteten, einzig Standhafter, einzige Pfeilspitze gegen all dies (und diesen): den Allmächtigen, den Ewigen, den fast Unnennbaren, den Herrn Präsidenten der Republik Miranda (Don Tomás del Pito, unser Pimmelchen).
Mitgeschrieben, geduldige Hörerschaft, mitgeschrieben. Präsident del Pito, Schöpfer des Himmels und der Erde. Samt Umgebung. Würdenträger mit unbeschränkter Vollmacht. Oberster Führer, dessen Namen man nur flüsternd oder im Geiste ausspricht oder besser gar nicht. Sofort mitgeschrieben, lieber Leser, notfalls am Seitenrand. Mitgeschrieben, bevor Ihr verlässlicher Bauchredner sich kurzerhand wieder in den reißenden Fluss der Ereignisse stürzt, der Sie wer weiß wohin tragen wird. Notieren Sie: Würdenträger mit unbeschränkter Vollmacht, Herr des Himmels und der Erde. Notieren Sie es wenn möglich im internationalen Morsealphabet, um unliebsame Folgen zu vermeiden. Herr Präsident Don Tomás del Pito. Denn es hilft nichts, Herrscher und Hauptfigur in dem gewaltigen Erzählmarathon, der hier beginnt, ist und wird nur dieser, nur dieses sein: der Unaussprechliche.
Im Fernseher sonderte das Fräulein Journalistin noch immer Worte ab. Pedro Akira hatte immer noch drei Kugeln im Kopf. Immer noch schwebte er zwischen einem Leben gegen del Pito und der ewigen Ruhe. Ein gelbes Flatterband, das die Staatspolizei gespannt hatte, hielt die Starinformantin auf Distanz zu den Delikatessen der italienischen Küche. Zwischen Band und Delikatessen befanden sich in wildem Durcheinander Polizeiautos, Soldaten, Krankenwagen, Männer mit Sonnenbrillen, Sträucher und Blumentöpfe. Außerhalb des Fernsehers, in Herrn Jaramillos hellem Brotladen mitten im Viertel La Esmeralda, waren wir Zuschauer sprachlos. Gelähmt. Ich drehte mich nicht um, konnte sie mir jedoch vorstellen, die netten Gäste an den quadratischen Tischchen: aufgerissene Augen, ihr Kopf nach oben gerichtet. Wie Hirten, die den Erlöser erwarten. Dann ein schwarzer Bildschirm. Ich bereitete mich wieder auf kybernetische Verdauungsmusik vor und klammerte mich an die Theke, in der zwei, drei Croissants vor sich hin gammelten, doch es wurde zurück ins Studio geschaltet.
Ein Studiomoderator, bleich vor Erschütterung, wusste sich nicht zu helfen, schlug die Augen nieder, und eine andere Kamera brachte ein anderes Fräulein Journalistin ins Bild, deren enger Rock von der Nachrichtenzeile verdeckt wurde. Diese Moderatorin wusste sich sehr wohl zu helfen. Ihr rechtes Ohr beugte sich über den Zeigefinger der entsprechenden Hand, als empfinge sie Befehle (aus dem Jenseits, von einem Alienschiff?), und sie verkündete äußerst ernst, dass wir nun wieder zu R. schalten würden, dem besten aller Reporter, vor der Ignatjew-Klinik. Mein Schwindelgefühl verstärkte sich. Meine gespannte, weiße Haut sonderte kalten Schweiß ab. R. war der erfahrenste aller Reporter, vor lauter Erfahrung stets gelangweilt, so dass er redete, als gäbe er überholte Sportresultate durch. Lustlos erwähnte er den Zeitpunkt der Einlieferung des Verwundeten, die spärlichen Informationen der Ärzte, das Schweigen der Familie. Dann ging er, als hätte er Kaugummi im Mund, die Liste von Prominenten durch, die Akira hatten besuchen wollen, aber kehrtmachen mussten, weil man sie nicht hineingelassen hatte.
Er zählte die Minister, Staatssekretäre und Senatoren vor der Klinik auf, allesamt von den Parteien rechts der Linken und rechts der Rechten: die des Herrn Präsidenten der Republik. Mir wurde immer schwindliger, ja die Knie zitterten mir, ein grandioser choreographischer Effekt, den Vaters Morgenrock zu verbergen half, wenn auch nicht ganz. Dann sagte der Reporter R., dass man nur Senator Akiras Mutter und eine Handvoll getreuer Parteifreunde durchgelassen hatte. In dem Moment schaltete die Senderegie ohne Vorwarnung zur Werbung um. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als auf dem Bildschirm zu Pornofilmmusik die hochmoderne Industrieanlage unserer neuen Fleischwarenfabrik erschien, auf deren Laufbändern sich obszön eine ganze Palette von Schinken, Salamis, Pressköpfen, Blutwürsten und Speck präsentierte.
Sekunden vorher wusste ich bereits, was passieren würde. Ich spürte ein Schneiden im Bauch. Die Lider, alle beide, wurden mir schwer. Bevor mich Herrn Jaramillos Mündchen nach dem Wohlergehen meines ehrwürdigen Vaters fragen konnte, wurden die Individuen an den Tischen (bisher ein harmloses Hirtenvölkchen) zu einer greifbaren Präsenz. Meine rechte Pupille nahm sie aus dem entsprechenden Augenwinkel wahr. Professionelle Nichtstuer aus dem Viertel, junge Männer über zwanzig. Gefährlich wie hungrige Köter. Im Geist sah ich, wie mir ein Schweißtropfen über die Kopfhaut rann. Einer von ihnen bemerkte meinen offenkundigen Zustand körperlichen und seelischen Unwohlseins und lachte mit einem Hecheln, wie es hungrigen Kötern eigen ist. Die Schnauze gen Boden gewandt, blickte er weg, sagte jedoch laut und deutlich:
Tot? Akira, der beschissene Sack? Von weeeegen.
Ungeziefer vergeht nicht.
Schaut nur, da ist das Weichei:
im karierten Morgenrock und kauft um eins noch Frühstück.
Er meinte mich. Es war nicht der Zorn, war nicht der stechende Schmerz, nicht das Schwindelgefühl oder die Scham, nicht das Ziehen im Unterleib oder der Alkohol, die elf Minzwodkas, nicht das Übermaß an Sport, nicht die Wurstreklame oder die Beschaffenheit des Bodens, nicht das Gammeln der Croissants oder der Klangeffekt der Lachsalven, die wie Backpfeifen auf meine wohlgenährten Wangen prasselten. Nichts dergleichen, und nun muss endlich erzählt werden, was mich niederstreckte, sonst räumt selbst meine geduldige Hörerschaft das Feld und lässt mich vollends einsam hier zurück. Die Welt wurde mir nämlich finster. Groß und fremd. Jawohl, ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Die Croissanttheke entglitt meinen virtuosen Solistenhänden, und mitsamt einem Körbchen Teigtaschen und den Gläsern voll Papayasaft ging ich nicht ohne eine gewisse Grazie zu Boden, treu begleitet von jedem einzelnen meiner Eingeweide.
Ein parfümiertes Lüftchen streifte meine bleichen Wangen, bevor ich die Augen aufschlug. Ich wollte sie schon geschlossen halten und liegen bleiben, bis eine barmherzige Seele weiblichen Geschlechts in blendend weißer, tadellos gebügelter Tracht durch den Park auf einem Bagger daherkäme, die große Schaufel (blitzsauber und neu) in Herrn Jaramillos Laden tauchte, dabei Tische und Theken zertrümmerte, um mich wie ein Baby aufzuheben und in der Höhe thronend durch die Straßen des Viertels zu kutschieren, während ich schwach, doch triumphierend, langsam die Augen öffnete und gnädig von oben herab den gerührten, Tücher schwenkenden Nachbarn zuwinkte, bis ich schließlich durchs offene Fenster auf meinem weichen Bett mit der zinnoberroten Samtüberdecke abgesetzt würde.
Nichts davon geschah, versteht sich. Das Lüftchen, das über meiner Ohnmacht wehte, roch immer übler, und ich war ohnehin bereits hellwach. Wenn ich den Gestank nicht bis in alle Ewigkeit ertragen wollte, würde ich meine hellsichtigen schwarzen Augen bald auf das Licht der Welt (und Mirandas) öffnen müssen, dort, auf dem Boden von Herrn Jaramillos vor Schmutz starrendem Laden. Das tat ich. Ich öffnete sie. Sofort begriff ich, weshalb die Welt nicht nach Rosen roch. Herr Jaramillo schaute mich bestürzt an, in der Hand schwang er einen riesigen Deckel, der zu einem Topf mit Tamales gehörte, dessen feuriges Blubbern als Hintergrundmusik diente. Mein Versuch aufzustehen blieb ohne Erfolg. Ich musste wohl am teigigen Fußboden festkleben und konnte nur freikommen, indem ich Vaters Morgenrock dort zurückließ, der schließlich eins mit dem Linoleum werden, erst mit einem karierten Läufer verwechselt, dann mit dem Boden verschmelzen und schließlich dem Vergessen anheimfallen würde.
Herr Jaramillo, der bei seinem Rettungseinsatz ins Schwitzen geraten war, legte den Deckel auf die Theke und wollte mir gerade aufhelfen, als ich sah, dass mich von der Tür aus zwei Frauen um die vierzig, beide in rosafarbenen Sweatshirts und mit Tüten in der Hand, angeekelt musterten. Mein Stolz war größer als das Schwindelgefühl, und nachdem ich mich in eine prekäre Dreipunkthaltung gehievt und zweimal die Hilfe von Herrn Jaramillo zurückgewiesen hatte, stützte ich die Stirn gegen die Theke, kam auf alle viere, dann auf die Knie und gelangte wieder in die Senkrechte. Aufrecht, standfest. Die Individuen an den Tischen warteten nur darauf, erneut loszubellen. Als wäre nichts passiert und innerlich betend, dass nichts weiter passierte, erstand ich aus dem Sumpf auf. Mit erhobenem Kinn und gerecktem Hals, wie ein Phönix aus der Asche.
Herr Jaramillo begann einen Satz mit Aber … und kam nicht weiter, denn ich ging schon Richtung Tür, musterte die lächerlichen Frauen in Rosa von Kopf bis Fuß, wandte ihnen den Rücken zu und trotzte mit finsterem Blick ganz allein dem Asphaltdschungel, der zu schlafen schien. Auf dem Rückweg an den väterlichen Herd gab es keine erwähnenswerten Zwischenfälle. Der Dschungel schlief weiter oder tat zumindest so. Als ich die letzte Straße überquerte, betrachtete ich aus der Ferne unseren adretten Vorgarten: die makellos gestutzte Hecke, die mit verbissener Millimeterarbeit gepflegten Rosen, das unnütze Bänkchen, den weißen Zaun, der mir zuzuzwinkern schien. Kinderschreie aus dem Park hinter mir zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich drehte mich um und besah sie mir aus der Distanz. Zähnefletschend waren sie mit dem Spiel beschäftigt, sich gegenseitig Holzprügel über den Kopf zu ziehen (Warum waren sie nicht in der Schule?, warum nicht in ihrer Phantasiewelt?, was taten sie dort?). Sie schrien Schimpfwörter. Quietschten. Hin und wieder sprangen sie hoch, um auf Ohrenhöhe Fußtritte zu verteilen.
Ihr Anblick brachte meine Knie erneut zum Zittern. Ich musste den Schritt verlangsamen, bis ich gänzlich stehen blieb und spürte, wie mir ein kalter Schweißtropfen (einer nach dem anderen, ein ganzer Bach) den Rücken hinunterlief und unten abtauchte. Mein hellsichtiger Kopf hatte dieses Bild wilder, animalischer Unschuld mit einem anderen Kopf in Verbindung gebracht, mit Pedro Akiras, der offenen Auges in einem Berg Cannelloni versunken war (ich hatte entschieden, dass es Cannelloni waren, ein ganzer Berg, und nichts und niemand würde mich davon abbringen). Sein pechschwarzes Haar verklebt vom Blut, das langsam in die Ohrkurve floss, bevor es auf die Pasta tropfte und der Soße mehr Substanz und Farbe verlieh, ob mehr Geschmack, das sei dahingestellt. Diese Blitzvision mitten auf der Straße beschleunigte meinen Puls und machte mir die Knie weich, die abermals drohten, gemeinsam nachzugeben, mich aufs harte Pflaster zu befördern und dem todsicheren Tod zu überantworten, unter den schweren Knüppeln der Kinder.
Aber ich riss mich am Riemen. Dank meiner hervorragenden Konstitution. Meines athletischen Drills und meiner Reflexe. Einatmen. Ausatmen. Das a in der Mitte hielt ich so lange wie möglich. Ich blieb stark. Beinahe wäre ich zusammengebrochen, und mein stattlicher Leib hätte sich über den Boden ergossen, doch ich hastete schräg über die Straße, als schwebte über mir der dunkle Schatten des Todes oder eines Vogels von beträchtlicher Größe. Auf der Flucht vor diesem Schatten wie der Glöckner von Notre-Dame, bloß ohne Kathedrale und am helllichten Tag, rettete ich mich endlich unters Vordach von Mutters geducktem Haus und fand Halt an der Tür. Zitternd zog ich den Schlüssel aus der Tasche, das Schloss gab nach und ich ebenfalls. Meine Leibespracht sank auf den Teppich wie eine in Ohnmacht fallende Prinzessin. Beim Stürzen riss ich Kupfernippes, Deckchen und einen Krug von einem Tisch. Ich war überzeugt, dass Vater mich hören und herunterkommen würde, um seinem verlassenen Sohn beizustehen. Überzeugt, dass wir uns an den runden Küchentisch setzen, den Vormittag wieder ins gewohnte Gleis bringen und die neu errichteten Fundamente der Familieneintracht stärken würden. Dass wir für die Nachwelt eine Szene voll männlich-unbeugsamer Moral aufführen würden, der es nicht an Zärtlichkeit fehlte, dramatisch verbrämt von Sonnenstrahlen, die durch die dreckigen Oberlichter der Küche fielen. Aber auch davon geschah nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Teppich lag. Lange genug, um die Tür mit dem Fuß zu schließen und die ersterbende Miene zu üben, mit der ich Vater empfangen wollte, wenn er die Treppe herunterkäme. Friedlich lächelnd malte ich mir aus, dass meine überzeugende Grimasse noch vor der denkwürdigen Szene mit dem Titel Zwei Männer in der Küche eine weitere von beispielloser Dramatik einleiten würde, die mir schließlich die verlorene Liebe meines Vaters zurückbrächte (die ich so sehr brauchte, wie ich da auf dem Teppich lag und Staub schluckte). In der fehlenden Szene, die man Gerechtigkeit überschreiben könnte, würde mein Vater die Treppe hinunterstürzen, mit jagendem Herzen neben mir niederknien, meinen Kopf auf seine Knie betten, die linke Hand auf meine bleiche Stirn legen, mich einen Moment lang mit unermesslicher Liebe anschauen und eine Träne unterdrücken, bevor er die rechte Faust heben und mit herzzerreißendem Schrei dem Himmel die Schuld für alles geben würde, was er mir angetan hatte. Für alles. Gerechtigkeit fordernd.
Auch zur zweiten Szene kam es nicht. Nichts als Schweigen und winzige Teppichpartikel, die vor meinen geöffneten Augen schwebten, als würden sie mich mustern, bevor sie neugierig in die Stollen meiner Nase vordrangen. Kein Zweifel, Vater würde nicht kommen, und wenn ich noch so lange auf dem Boden lag. Als mir nichts weiter übrigblieb, kam ich mühelos in einer Sekunde auf die Beine, als wäre im kalten Dämmer meines Heims alles leichter. Vor der spiegelnden Glasscheibe eines Pastellbilds mit Odalisken in Freudentrance (Erbstück von Mutter) strich ich mir den karierten Morgenrock glatt, kämmte meine wallende Seitenmähne von rechts nach links und bedeckte so meinen glänzenden Rundkopf. Ich war bereit. Räuspernd machte ich mich an den Aufstieg, damit Vater merkte, dass ich zurück war, mich mit offenen Armen empfing und ich ihm erzählen konnte, welche gesundheitlichen Gründe mich daran gehindert hatten, das morgendliche Brot zu kaufen. Damit ich ihm von den entsetzlichen Ereignissen berichten konnte, die der Fernseher in Herrn Jaramillos Laden gemeldet hatte.
Vater war sicher im Arbeitszimmer und bastelte an seinen Modellflugzeugen, ging die Briefmarkensammlung durch oder beschnitt seine Bonsais. Sicher hielt er eine winzige Pinzette und eine Lupe in Händen und wartete schon ungeduldig auf das Brot. Ach, mein armer, gebrechlicher, mein weiser Alter. Zärtlich würde ich ihn ansehen, wie man einen Sohn oder einen gebrechlichen Weisen ansieht oder einen nicht allzu großen Hund: mit der Zärtlichkeit, die man allein für den Vater empfindet. Als ich die letzte Stufe erreichte, räusperte ich mich erneut.
Das Arbeitszimmer war leer. Ohne darüber nachzudenken, ging ich auf dem Flur weiter, und (welch Verhängnis in feinsten Marmor gemeißelt) Vater lag noch immer im Bett. Meine Nerven wahrten eine gespannte Ruhe. Ich musterte ihn, als spielte Zeit keine Rolle mehr, als befänden wir uns in einer fernen Zukunft, schon jenseits von Zeit und Weltende, als existierte nur noch dies: er, im Bett, halb gegen das Kopfende gelehnt, ein Knie angewinkelt, den Marmorblick aufs Fenster gerichtet, und ich, ebenfalls aus Marmor, seitlich zum Bett im Flur stehend, gedankenleer, den Blick auf ihn gerichtet.
Beide schwiegen wir lange.
Sie haben Akira niedergeschossen, sagte er schließlich, ohne den Kopf zu wenden. Ich blieb stumm. Langsam setzte sich die Zeit wieder in Bewegung. Nach zwei, drei Sekunden wurden wir erneut zu menschlichen Wesen dank Pedro Akiras vergossenem Blut. Wir sogen die häusliche Kälte ein. Draußen lag der Fürsprecher der Armen im Krankenhaus, halb oder gänzlich verblutet, halb lebendig, halb tot oder mausetot, sein dunkles Profil auf einem weißen Krankenbett, umgeben von Frauen verschiedener Größe, die ihm zu Ehren gewiss untröstlich weinten, zu Ehren des großen Pedro Akira. Der niedergeschossene Akira, womöglich ein Märtyrer, machte uns noch trauriger, zwang uns dazu, einander anzusehen. Beim Anblick seiner wirren, fahlen Haare fiel mir ein, dass Vater, die Marmorstatue, das mit Akira und den Cannelloni gar nicht wissen konnte. Wie denn, da er doch sein weißes Bett nicht verlassen hatte und der Fernseher seit den furchtbaren Regengüssen von 1989 nicht mehr funktionierte? Telepathie? Ein direkter Draht zum Göttlichen? Intuition, die Zeit und Raum überwand?
Das Transistorradio. Das alte Transistorradio, das nur hervorgezogen wurde, wenn im Laden ein Ereignis erwähnt wurde, das nach Ansicht von Presse oder Fernsehen historisch bedeutend fürs Vaterland war. Das kleine Radio hatte ich, wenn ich mich recht erinnere, aus folgenden kapitalen Anlässen in Vaters Händen gesehen:
Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der Opposition, 1989
Unentschieden der Nationalelf, 1990
Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der Opposition, 1991
Etappensieg bei einem Radrennen, 1992
Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der Opposition, 1993
Silbermedaille im Speerwerfen bei den Panamerikanischen Spielen, 1994
Ermordung des monarchistischen Präsidentschaftskandidaten, 1995
Beste Nationaltracht beim Miss-Universe-Wettbewerb, 2002
Fälschlich verkündeter Papstbesuch, 2007
Die Nachbarn schlugen Alarm, und Vater zog sein deutsches Transistorradio hervor. So kam die Weltgeschichte in unser geducktes Haus. Doch diesmal war kein schwarzer Kasten zu sehen, keine Antenne, die bis zur Decke reichte. Vielleicht lag es unter dem Bett versteckt, oder die Verwandlung in eine sprechende Statue hatte tatsächlich telepathische Kräfte in ihm entfesselt, vielleicht benötigte er keine Radiowellen mehr, um alles zu wissen, vielleicht las sein kalter Marmorkopf nun all meine Gedanken. Ich betete, dass dem nicht so war. Er schien nicht zu lachen. Wie ich da im Flur stand und demonstrativ auf die Dielen starrte, wollte ich ihm schon einen eleganten Bericht meiner Missgeschicke geben. Rechtzeitig hielt ich inne, musterte eingehend die Statue. Sie schaute immer noch aus dem Fenster, todernst. Wollte nur schweigen. Das war auch das einzig Vernünftige in diesem kalten Dämmer, der uns beide umschloss. Das einzig Heilsame für uns. Das Schweigen. Nur das konnte uns vor dieser Welt retten, die so traurig und fremd geworden war.
Resigniert schlich ich zu meinem Bett, ohne ein weiteres Wort. Ich legte mich auf die zinnoberrote Überdecke. Das Haus wurde noch ein wenig kälter, und ich dachte, dass man im Liegen nicht zu Boden gehen kann. Ich lauschte, hörte aber kein Lachen.
Die Schatten meines Zimmers gaben mir Mut, und so rekapitulierte ich die Ereignisse des Morgens bis zur Fernsehmeldung. Ich ging die letzten Sekunden vor der Ohnmacht durch, die Gerüche und Geräusche, die Meldung, die aus dem Fernseher gedrungen war wie eine Hand, die mir das Herz aus der Brust reißen wollte. Schließlich gelangte ich zu dem Satz, den die Nichtstuer aus dem Viertel losgelassen hatten. So etwas wie: Akira ist nicht tot. Ungeziefer vergeht nicht. Hier ist er. Der da ist Akira: kauft im Morgenrock um eins noch Frühstück. Etwas in der Art, nur weniger stockend. Bei der Erinnerung packte mich Panik, diesmal in neuer, bequemer Aufmachung: ein Kribbeln in der Brust und Kälte in den unteren Extremitäten, die sich erneut zu verabschieden drohten.
Die Beleidigung, die unser stattlicher Held in Herrn Jaramillos Laden hatte einstecken müssen, als wäre er geohrfeigt oder angespuckt worden, dieser Überraschungswitz eines zu groß gewordenen Jungen, war der Schlüssel zu meinem Unglück und wies bereits auf das vierte bedeutsame Ereignis des Tages hin. Einer toten Krake gleich, die man mir ins Gesicht geschleudert hatte, umschloss der Affront recht deutlich die bis jetzt ungenannte Wahrheit, die bald schon die Handlung antreiben, bald schon offen genannt werden wird, auf Ersuchen des werten Publikums. Selbstverständlich war ich nicht Pedro Akira, wie dieses Subjekt in seiner Unverschämtheit behauptet hatte. Ich bin nicht Pedro Akira. Und doch (kleines Unheil, große Wirkung) zeigte mir die Szene, dass die erschreckende Ähnlichkeit zwischen dem Helden der Republik und Ihrem Erzählerhelden von La Esmeralda selbst für einen völlig Unbekannten auf der Hand lag. Die erstaunliche physische Übereinstimmung zwischen Akira und mir hatte den Erzähler dieser Geschichte bis zum Augenblick der Ohnmacht nur deshalb nicht beunruhigt, weil er davon ausgegangen war, dass die Ähnlichkeit bloß engsten Freunden (Vater) auffiel.
Diese eitle Hoffnung war in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen und hatte meine fast hundert Kilo Leibespracht aufs Linoleum hinabgerissen. Selbst im Profil und im Schummerlicht eines Ladens sah ich dem großen Pedro Akira zum Verwechseln ähnlich. Das hatte die Beleidigung des Unbekannten bewiesen, und das Gelächter der anderen hatte bekräftigt, dass es nicht nur dem mit der spitzen Zunge aufgefallen war.
Ohne einen Muskel zu rühren, spürte ich auf meiner weichen Unterlage, dass die Welt sich langsamer drehte, die Zeit nicht verstreichen wollte. Ich schaute zur Decke, die mit Leuchtsternen übersät war. Schleierfetzen zogen im Wellentakt meines wohligen Weinens über sie hinweg. Zwischen Pedro Akira, dem verletzten Präsidentschaftskandidaten, und meiner Wenigkeit hatte sich immer ein Zerrspiegel befunden. Akira stand vor dem Spiegel, ich war das verzerrte Bild. Ein subalterner Gott hatte beschlossen, mich als unförmiges Spiegelbild in dieses Tal der Tränen zu schicken, im Glauben, mir dadurch eine unschätzbare Moral mitzugeben (die schwer zu deuten war). Akira hatte für mich ein höheres Wesen dargestellt, von dessen Existenz die meine abhing. Mit neunzehn hatte Akira im Stadtrat der Metropole, die Schauplatz unserer Erzählung ist, die Studenten vertreten, zu denen damals (ihm unbekannt) auch ich (sein Spiegelbild) zählte. Mit einundzwanzig war er Bürgermeister einer der neun Stadtbezirke geworden, ohne jede Parteibindung und mit dem besten Wahlergebnis in der Geschichte.
Dann war er zum Senator aufgestiegen, wofür er eine eigene Partei gegründet hatte, wurde als solcher mit den Stimmen dreier unabhängiger Parteien wiedergewählt, trotz der zu erwartenden bleigeladenen Wutanfälle des bereits dreimal wiedergewählten Präsidenten der Republik, Don Tomás del Pito. Bald schon war Akira Senatspräsident, ein Amt, das in dieser Republik gewöhnlich der Einschüchterung, in dem Fall jedoch dazu diente, den langersehnten Schulterschluss aller Oppositionsparteien (gegen den Präsidenten) zu erreichen. Vor wenigen Monaten hatte das unverzerrte Urbild Pedro Akiras beschlossen, mit nur dreiunddreißig Jahren als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Als einziger Herausforderer eines bereits viermal wiedergewählten Präsidenten, der nach fünf Amtszeiten seit zwanzig Jahren an der Macht war (vier davon via Strohmann, was zu gegebener Zeit noch erläutert werden wird).
Gewiss hatte diese Entscheidung, als Kandidat gegen den Gewinner anzutreten, einen kreativen Geist aus Regierungskreisen zu der Grußbotschaft der drei Schüsse animiert, abgefeuert aus nächster Nähe über besagtem Teller voller Salsa Napoletana. Zum Zeitpunkt des Attentats war Pedro Akira der Einzige gewesen, der sich gegen den Allmächtigen und seinen Machtapparat stellte. Gegen den capo di tutti i capi. Gegen den Größten aller Zwerge. Den klitzekleinen Präsidenten del Pito (humanoides Reptil, finsterer Herrscher und König: Winzpräsident meiner geliebten Republik Miranda, auf Lebenszeit). All dem und seinen unwägbaren Konsequenzen hatte mein nicht verwandter Zwilling die Stirn geboten, als im Ristorante Forza Garibaldi die drei Schüsse fielen, die er nicht mehr hören konnte. Ich stelle hier nur fest, dass mein Gesicht dem seinen vollkommen gleicht (oder glich). Bis seines in der Salsa landete. Es glich dem Gesicht, das sich samt Körper aufgemacht hatte, die Republik mit spektakulären Enthüllungen zu schockieren. Geheimdokumente, Verträge, Tonbänder, Videos, die die tatkräftige Beteiligung der Pito-Getreuen (Stadträte, Abgeordnete, Senatoren, Bürgermeister, Gouverneure, Minister, Botschafter und Vizepräsidenten) bei Aufbau und Finanzierung der gefürchteten rechtsextremen Todesschwadronen bewiesen: Privatarmeen, die die Aufgabe hatten, die Ländereien der Drogenhändler und Politiker zu schützen und zu mehren.
Zum Zeitpunkt des Attentats hatte Akira bereits seit Wochen Beweise dafür geliefert, dass seit del Pitos erster Amtszeit, ja früher schon, die führenden Mitglieder seiner Partei sowohl mit den führenden Drogenhändlern samt Strohmännern als auch mit den Todesschwadronen unter einer Decke steckten. Immer deutlicher erwies sich, dass die prominentesten Mitglieder der Pito-Partei ihre allzu vielen Regierungsjahre dazu benutzt hatten, Tod und Verwüstung gerecht verteilt bis in die letzten Winkel der gewundenen Geographie unseres Landes zu tragen. Akiras Enthüllungen, eine spektakulärer als die andere, rückten Woche für Woche dem geheiligten Leib des Führers näher. Während sich meine schluchzende Wenigkeit auf weichem, rotem Samt zu beruhigen versuchte, sah ich der Tatsache ins Auge, dass ich für die imaginären Volksmassen nichts weiter als das verzerrte Spiegelbild des großen Pedro Akira war, und sah zugleich (Rotz wischend) der gewaltigsten meiner Ängste ins Auge: dass mein Verbleiben in der komplexen Welt der Materie nur gewährleistet war, wenn wider alle Prognosen auch der unabhängige Präsidentschaftskandidat in ihr verblieb, der vor wenigen Stunden niedergeschossene Pedro Akira.
Mit einem Deckenzipfel putzte ich mir die Nase, schaute mir die kunstvolle Verteilung der Leuchtsterne an der Decke an. Zitternd flehte ich zu den wichtigsten Göttern, sie möchten den großen Pedro Akira retten. Keiner antwortete.
Unversehens verließ Vater seine Rolle als Michelangelos Christus der Pietà. Auf einmal stand er im Türrahmen vor meinem Bett, die zitternden Hände an den Nähten seiner Unterhose, und musterte mich streng. Ich wusste, dass er wusste, was in mir vorging. Und er sagte es mir auf den Kopf zu: Wenn du geglaubt hast, Pedro Akira würde ewig leben, nur damit du weiter faulenzen kannst, hast du dich schwer getäuscht, José Cantoná. Ohne eine Antwort abzuwarten oder auf meine geschwollenen Augen zu achten, setzte er nach: Er ist nicht tot, nein. Noch brauchst du nicht loszuheulen. Gestorben ist er nicht, aber keiner überlebt drei Schüsse in den Kopf, fang also endlich an, selbst jemand zu sein. Und zieh dir was über, es gibt kein Brot im Haus. Ich wollte schon antworten, dass ich bereits jemand war, ich selbst nämlich. Von jeher. Ein komplexes Wesen. Brillant, innen wie außen. Robust und feinsinnig zugleich, jemand, der immer gewusst hatte, wohin es ging.
Ich wollte ihm auch sagen (und wendete den Blick von seinen Rippen ab, damit ich nicht Gefahr lief, vor Lachen zu ersticken), dass mein Leben rein gar nichts mit dem des Mannes zu tun hatte, der mir aufs Haar glich. Dass ich nicht wusste, wovon er redete. Und dass es keinerlei Sinn hatte, um halb neun Uhr abends Brot kaufen zu gehen. Aber ich beschloss, gar nichts zu sagen. Ihn über den Flur zurück in sein Bett schlurfen zu lassen, wo er sich erneut seinem Dasein als weiße Statue widmen konnte. Mein Stolz trieb mich auf die Beine. Ich schlüpfte nackt in die Hose. Ging ins Bad, spritzte mir Wasser ins Gesicht. Betrachtete mein gewaschenes Abbild im Spiegel. Das gleiche wie Pedro Akiras, doch ohne die feurigen Augen, ohne die triumphierende Wut. Ich schloss sie lieber. Die Augen. Meine. Im Kopf fegten schwarze Wolken über einen ebenfalls schwarzen Himmel. Als wanderten da Ahnungen durch Ahnungen wie Tiere durch Tiere. Ich schlug die Augen auf, und die Wirklichkeit war immer noch da.
Waren es tatsächlich Cannelloni gewesen? Spaghetti? Fettuccine? Tagliatelle? Eine Lasagne mit Hackfleisch und Huhn alla napoletana mit reichlich Ricotta? Und was, wenn Akira in einem Anfall von Originalität für sein letztes Mahl ein Kotelett alla milanese, eine kleine Pizza oder einen Fisch alla napoletana vorgezogen hatte? Gibt es Fisch alla napoletana? Spielt das eine Rolle? Spielt es eine Rolle, zu wissen, ob der prominente Kopf mit den offenen Augen sanft und lautlos in einem Berg Pasta versank, ob es wie eine Ohrfeige klatschte, als er in die suppige Salsa der Cannelloni plumpste, oder ob seine Stirn vielmehr mit dumpfem Schlag auf einer knusprigen Pizza landete? Spielt es eine Rolle, zu wissen, ob Akira noch gar nicht beim Hauptgang gewesen war, sondern gar ein Carpaccio verzehrte, rohe Rindfleischscheiben, platt geklopft und mit Zitrone mariniert, wobei sich Akira neben den drei unerfreulichen Neun-Millimeter-Kugeln auch noch eine gebrochene Nase eingehandelt hätte, weil kein Carpaccio einen Kopf abfedern kann? Sind derlei Details überhaupt nötig?
Nein. Sind sie nicht. Ich suchte im ganzen Haus nach meinem Schlüssel, um hinauszukommen, suchte mir meine seriöseste Jacke. Vor dem Aufbruch malte ich mir die vorhersehbaren Schlagzeilen der Abendnachrichten im Fernsehen aus. Samt Robotermusik und dem präpotenten Bellen des Sprechers.
Um zwölf Uhr mittags hat ein Killer drei Schüsse auf den Präsidentschaftskandidaten Pedro Akira abgefeuert.
Sein Körper wurde umgehend in die Ignatjew-Klinik gebracht, wo Freunde und Angehörige geduldig der Diagnose harren.
In dieser Sendung werden wir einige Stationen von Akiras politischer Blitzkarriere zeigen.
Und die umstrittenen Taktiken seines Aufstiegs.
Nun weitere Nachrichten. Heute Nachmittag weihte der Präsident der Republik ein Aquädukt in Popomundí ein.
Der Vizepräsident hat sich beherzt zur Fettabsaugung entschlossen.
So würden die Abendnachrichten aussehen. Oder so ähnlich. Bestimmt würde der Besitzer des Ristorante zu Wort kommen, detailliert die Attentatsszene beschreiben und, mit einer gehörigen Portion Glück meinerseits, unser gastronomisch-gerichtsmedizinisches Rätsel lösen.
Auf dem Weg zur Tür nahm ich mir vor, quer durch den Park abzukürzen, meine federnden Schritte auf den gewellten Rasen zu setzen, den um diese Uhrzeit, wie ich zu den Göttern flehte, hoffentlich keine Jungen über zwanzig oder Kinder bevölkerten, die schwere Rächerknüppel schwangen. Bevor ich mich dem nicht immer zuträglichen Mondschein aussetzte, mixte ich mir vorsichtshalber einen kleinen Cocktail, der sich wie von Zauberhand in drei kleine Cocktails verwandelte. Orangenschale, Rum, Wodka, Rosmarin, eine Prise Pfeffer. Als ich heimelige Wärme im Kopf spürte, so als hielte ich mich selbst im Arm, trat ich gegen kurz vor neun hinaus in den Asphaltdschungel. Der Dschungel schien zu schlafen, auch wenn ihm nie zu trauen war. Der Asphalt hörte nach zehn, zwölf Schritten auf. Über dem Park schwebte niedriger Dunst, wie in einem amerikanischen Horrorfilm: als würde sich gleich ein Trupp Zombies aus der Erde buddeln und ein harmonisches Ensemble von Kleiderfetzen und Wunden zur Schau stellen.
Ich ging quer über die Bolzplätze. Als ich mich, schon etwas entspannter, an die Dunkelheit gewöhnte, musste ich daran denken, dass ich um ein Haar den echten Pedro Akira kennengelernt und ihm die Hand gedrückt hätte. Hatte ich aber nicht. Ich hatte meine Chance verstreichen lassen, obwohl ich nur einen Schulkameraden, an dessen Namen ich mich nicht erinnern wollte, hätte fragen müssen, und er hätte ihn mir vorgestellt. Im einsamen Park rief ich mir zu dieser späten Stunde die Szene aus früheren Zeiten in Erinnerung. Das zehnjährige Abiturjubiläum. Die Müllcontainer kredenzten mir ihr Duftgemisch, und diese Aromatherapie beschwor die Einzelzeiten der Feier herauf. Als wäre es gestern gewesen. Ich saß auf dem bequemsten Sofa im Zimmer und schaute bloß zu, wie ich es auf Festen immer tat. Als mein früherer Banknachbar auftauchte, musterten mich einige Damen bereits misstrauisch, und die Herren, die in Richtung Toilette wankten, traten mir unweigerlich auf die Füße. Ich war mehr als bereit, jedem zuzuhören, der mit mir sprechen wollte. Mein früherer Banknachbar, schon betrunken, hatte mich von weitem gesehen und beschlossen, mir auf dem Sofa Gesellschaft zu leisten. Er hatte sich gesetzt, wohl wissend, dass er nicht mehr würde aufstehen können, hatte mir mit einem breiten Lächeln auf die Schulter geklopft und mir ins Gedächtnis gerufen, wie sehr mein Gesicht jenem anderen ähnelte, dem Pedro Akiras. Mein Vorname war seinem Gedächtnis allerdings entfallen.
Er kannte ihn, Pedro Akira. Mein Banknachbar. Er hatte Jura bei ihm studiert, an einer privaten Hochschule. Mit whiskyseliger Offenheit erzählte mir der Betrunkene alles haarklein. Als Akira an seiner Universität anlässlich der Stadtratwahl eine Wahlkampfrede gehalten hatte, war er zu ihm gegangen und hatte ihm gesagt, wie sehr er ihn bewundere. Von da an folgte er all seinen Schritten, wechselte die Universität, um bei ihm studieren zu können. Bald stieg er zu seinem Assistenten auf. Der beste Lehrer, den ich je hatte, sagte er. Der beste, wiederholte er. Und noch einmal: Der beste. Auch wenn er kaum älter war als wir, seine Studenten