Dschingis Khan - Reinhold Neumann-Hoditz - E-Book

Dschingis Khan E-Book

Reinhold Neumann-Hoditz

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Beschreibung

Dschingis Khan war der Begründer des mongolischen Weltreichs und hat es bis zu seinem Tod 1227 immer weiter ausgebaut, bis es sich vom Chinesischen Meer bis an die Grenzen Europas erstreckte. Die mongolischen Reiterheere waren die Grundlage von Dschingis Khans Aufstieg zum «Herrscher der Völker», haben aber auch sein Bild als unbarmherziger Eroberer und brutaler Despot geprägt, das bis heute die öffentliche Meinung bestimmt. Diese Monographie versucht, der widersprüchlichen Persönlichkeit Dschingis Khans gerecht zu werden, der noch von Marco Polo als «Mann von erprobter Rechtlichkeit und großer Weisheit» gepriesen wurde und den Jawaharlal Nehru als «das größte militärische Genie der Geschichte» bezeichnete. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 187

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Reinhold Neumann-Hoditz

Dschingis Khan

 

 

 

Über dieses Buch

Dschingis Khan war der Begründer des mongolischen Weltreichs und hat es bis zu seinem Tod 1227 immer weiter ausgebaut, bis es sich vom Chinesischen Meer bis an die Grenzen Europas erstreckte. Die mongolischen Reiterheere waren die Grundlage von Dschingis Khans Aufstieg zum «Herrscher der Völker», haben aber auch sein Bild als unbarmherziger Eroberer und brutaler Despot geprägt, das bis heute die öffentliche Meinung bestimmt. Diese Monographie versucht, der widersprüchlichen Persönlichkeit Dschingis Khans gerecht zu werden, der noch von Marco Polo als «Mann von erprobter Rechtlichkeit und großer Weisheit» gepriesen wurde und den Jawaharlal Nehru als «das größte militärische Genie der Geschichte» bezeichnete.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Reinhold Neumann-Hoditz, 1926–1999, studierte osteuropäische Sprachen und Slawistik in Heidelberg und Hamburg. Er arbeitete zwölf Jahre als außenpolitischer Redakteur, unternahm als Berichterstatter weltweite Reisen und war als Rundfunk-Korrespondent in Moskau tätig. Danach lebte er als freier Publizist in Hamburg

1966 erschien sein Asien-Bericht «Chinas heimliche Fronten». Für «rowohlts monographien» schrieb er auch die Bände über Ho Tschi Minh (1971), Alexander Solschenizyn (1974), Nikita Chruschtschow (1980), Peter den Großen (1983), Katharina die Große (1988) und Iwan den Schrecklichen (1990).

Inhaltsübersicht

Meinungsstreit

Die Geheime Geschichte

Göttliche Abstammung

Temudschins Jugend

Aufstieg zum Dschingis Khan

Kampf um die Alleinherrschaft

Ein Militärstaat entsteht

Die Welt jenseits der Grenzen

Über die Große Mauer

In den Ländern des Islam

Nach Osteuropa

Letzter Feldzug und Tod

Umfeld und Religion

Mensch und Werk

Hinweis

Zeittafel

Zeugnisse

Bibliographie

1. Frühe Berichte

2. Neuere wissenschaftliche Werke

3. Roman, Kolportage, Film

Namenregister

Meinungsstreit

Apotheose des Krieges» nannte Wassilij Wereschtschagin sein Bild, das den Besucher der Moskauer Tretjakow-Galerie fesselt. Es zeigt, verloren in mittelasiatischer Wüstenei, eine Pyramide, aufgehäuft aus gebleichten Totenschädeln. Der Schlachtenmaler, der die Schrecken des Krieges realistisch und anklagend beschrieb, widmete seine Darstellung «allen großen Eroberern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft». Beziehungsreiche Worte, makabere Prophetie! Der Künstler, ein russischer Patriot, dachte zunächst an jene Invasoren aus dem Osten, die einst die zivilisierte Welt bedrohten und nicht nur Russland unterjochten.[1]

Als unbarmherziger Eroberer und Geißel Gottes ist der Mongole Dschingis Khan gemeinhin in die Geschichte eingegangen. Er wird als ein Despot beschrieben, der aus Lust an der Vernichtung anderer sein Reich begründete, dessen weltgeschichtliche Bedeutung sich darin erschöpfte, seinen Herrschaftsbereich immer weiter auszudehnen. Das historische, schwer überwindbare Trauma der Russen, die zweihundertjährige Unterjochung durch die Mongolen (Tatarenjoch), geht auf den Begründer dieses Reiches zurück, das sich später – unter Dschingis Khans Nachfolgern ins Unermessliche erweitert – vom Stillen Ozean bis an den Dnjepr und hinunter bis zum Persischen Golf erstreckte. Visionen des Schreckens, die sich mit dem Mongolensturm verbanden, erstanden vor allem auch aus den Berichten muslimischer und christlicher Chronisten.

Es waren die Chinesen, die, in einer Bilanz ihrer eigenen Erfahrungen mit den Invasoren, zu einer im Ganzen positiven Bewertung ihrer Berührung mit den Mongolen gelangten: Durch Tataren und Mongolen, die jahrhundertelang immer wieder in China einfielen – so heißt es in der republikanischen Geschichtsschreibung –, sei dem chinesischen Volkskörper frisches Blut zugeflossen. «Am Ende der mongolischen Herrschaft war – gestärkt durch kulturelle und rassische Merkmale der Eindringlinge aus dem Norden – eine neue chinesische Nation sichtbar geworden.»[2]

Was aber halten die Mongolen der Gegenwart von dem Helden ihrer denkwürdigen Vergangenheit? Eindeutig ist diese Frage nicht zu beantworten, denn Dschingis Khan hat nicht nur die Phantasie der Dichter beflügelt und die Historiker beschäftigt, das Wirken des «ozeangleichen» Herrschers hat auch die Ideologen auf den Plan gerufen; und im Meinungsstreit der Kommunisten, die das mongolische Volk regieren, verwischen sich die Konturen der Geschichte.

Die drei Millionen Mongolen, die es heute gibt, wohnen nämlich nicht unter einem Dach. Der kleinere Teil lebt in einem Nationalstaat, in der Mongolischen Volksrepublik Äußere Mongolei. Das ist ein Pufferstaat, zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China gelegen, der sich aus Tradition den Russen verbunden fühlt, und der die sowjetische Politik unterstützt. Der größere Teil lebt im chinesischen Herrschaftsbereich, im Autonomen Gebiet Innere Mongolei. Dort genießen die Mongolen eine kulturelle Sonderstellung. Dennoch hat die Minderheitenpolitik der Pekinger Zentralregierung, vor allem der Zustrom chinesischer Siedler, immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen geführt. In der Inneren Mongolei sind die Mongolen neben den Chinesen und anderen Nationalitäten nur eine Minderheit.

Es kam zu einer historisch-aktuellen Kontroverse, die mit dieser konträren politischen Einordnung zusammenhängt. Sie zeugt vom Kräftespiel, vom ideologischen Schisma der Russen und Chinesen, die auf unterschiedliche Weise um «ihre» Mongolen werben, und sie spiegelt das Dilemma wider, in dem sich nationalbewusste Erben Dschingis Khans befinden können.

 

Am 31. Mai 1962 versammelten sich in Deliün-boldaq am Fluss Onon Repräsentanten der Revolutionären Volkspartei, der Staatspartei in der Mongolischen Volksrepublik, und der Bevölkerung. Sie kamen zusammen, um Dschingis Khan, der 800 Jahre zuvor in diesem Gebiet geboren wurde, als «Begründer des mongolischen Nationalstaates» zu ehren. Es wurde ein Denkmal enthüllt. Zur gleichen Zeit feierten Mongolen und Chinesen der Inneren Mongolei den Geburtstag. Dreißigtausend Menschen strömten an der Weihestätte von Edschen Choro, wo Überreste des Nationalhelden bestattet sein sollen, zu einer Kundgebung zusammen.[3]

Doch auch die Russen übersahen das Jubiläum nicht. Historiker und Mongolei-Experten wie Iwan Maiskij, als Botschafter in London bekannt geworden, bekräftigten die sowjetische Kritik an Dschingis Khans Militärstaat. Sie bezeichneten den Heerführer als einen feudalen Reaktionär, der letztlich die Interessen auch des eigenen Volkes missachtet habe.[4] Das Stichwort war gegeben. Die mongolische Parteiführung beeilte sich, den Eindruck zu korrigieren, der durch die Geburtstagsfeier am Onon entstanden war.

Am 10. September 1962 verurteilte das Zentralkomitee der Revolutionären Volkspartei in Ulan-Bator, der Hauptstadt der Mongolischen Volksrepublik, die «unmarxistischen, nihilistischen, parteifeindlichen» Ansichten und Handlungen des führenden Funktionärs Daramyn Temür-Otschir. Das umfangreiche Sündenregister[5] enthielt auch den massiven Vorwurf der nationalistischen Abweichung von der Parteilinie. «Ünen» (Die Wahrheit), das Blatt der Partei, schrieb: «D. Temür-Otschir unterstützte die nationalistischen Bestrebungen, die darauf abzielten, die Rolle Dschingis Khans in der mongolischen Geschichte aufzuwerten und zu idealisieren, seine reaktionäre Rolle dagegen herunterzuspielen. Er setzte sich mit Eifer dafür ein, dass der 800. Geburtstag Dschingis Khans pomphaft gefeiert wurde. Bekanntlich hat Dschingis Khan in der Anfangsperiode, als es darum ging, einen einheitlichen mongolischen Staat zu schaffen, eine positive Rolle gespielt, indem er sich bemühte, die einzelnen voneinander getrennten mongolischen Stämme zusammenzuschließen. Sein gesamtes ferneres Wirken war jedoch äußerst reaktionär und darauf gerichtet, sich fremder Länder zu bemächtigen. Er betrieb die Massenvernichtung der Völker der versklavten Länder und zerstörte die materiellen und kulturellen Werte, die sie geschaffen hatten. Die räuberischen Kriege Dschingis Khans führten schließlich zum Verfall der produktiven Kräfte der Mongolei selbst und brachten dem mongolischen Volk ungeheuere Leiden. Wer das reaktionäre Wesen von Dschingis Khans Tätigkeit leugnet oder es gering einstuft, weicht tatsächlich von den grundsätzlichen Positionen der Partei ab und ermuntert den Nationalismus.»[6]

Temür-Otschir wurde aus dem Politbüro und aus dem Zentralkomitee der Partei ausgestoßen und verlor auch seinen Posten als Direktor des Instituts für Parteigeschichte.

Auf die chinesischen Ehrungen Dschingis Khans ging die mongolische Parteizeitung nicht ein. Im Konflikt zwischen Moskau und Peking hielten sich die Mongolen zunächst lieber zurück. In der sowjetischen Polemik gegen die Chinesen spielte der Meinungsstreit um Dschingis Khan dagegen immer wieder eine Rolle. Den Vorwurf des Nationalismus, ja sogar des Rassismus, richtete Leonid Iljitschow, Parteisekretär für Agitation und Propaganda, im Juni 1964 an die Adresse Pekings. Er sagte: «In China wird versucht, die wissenschaftliche Beurteilung und Charakterisierung einiger historischer Ereignisse zu revidieren. Zum Beispiel loben die chinesischen Historiker in der letzten Zeit die blutigen und verheerenden Feldzüge Dschingis Khans. Warum gibt man denn in China auf die Fragen der mongolischen und der mandschurischen Herrschaft eine neue Auskunft, warum wird gerade jetzt beharrlich die rassische und staatliche Einheit der mongolischen, mandschurischen und der Han-Nation hervorgehoben? Offensichtlich ist auch hier alles der Konjunktur, den Aufgaben der gegenwärtigen Innen- und Außenpolitik untergeordnet … Wir haben es hier mit nicht mehr und nicht weniger als weitgesteckten territorialen Ansprüchen zu tun.»[7]

Chinesen, seien sie Kommunisten oder nicht, lassen sich durch solche Attacken schwerlich beirren. Jahre später präzisierte der Pekinger Historiker Qiu Shusen den offiziellen Standpunkt und revidierte damit zugleich die Abweichung der kulturrevolutionären Roten Garden. Der Wissenschaftler begrüßte den politischen Einfluss Dschingis Khans auf die Geschichte Chinas. Mit der Einigung der rivalisierenden Mongolenstämme habe Dschingis Khan indirekt dazu beigetragen, das zersplitterte chinesische Reich zusammenzuschließen. Die Eroberung Chinas durch die Mongolen könne – im Gegensatz zu den Aggressions- und Expansionskriegen Dschingis Khans gegen das Ausland – in die Tradition der Kriege unter «chinesischen Nationalitäten» eingereiht werden. China betrachte die Mongolen als eines der Völker, die die chinesische Nation bildeten, und folglich sei Dschingis Khan das Oberhaupt einer «chinesischen Minderheit» gewesen.[8]

 

Bei so viel Gerangel im Osten vermittelt uns die neuere Dschingis-Khan-Forschung im Westen ein wohltuend sachliches Bild.

Mit unseren Maßstäben der Gegenwart, betonen westliche Mongolisten, darf der Eroberer keinesfalls gemessen werden: Er gehorchte dem Urgesetz der Steppe, dem Gesetz des ewigen Kampfes zwischen Nomaden und sesshaften Kulturvölkern. Dschingis Khan suchte zwar Anlässe zum Krieg, aber er wurde auch provoziert und schlug grausam zurück. Widerstand brach er mit allen Mitteln, doch schonte er jene, die sich freiwillig unterwarfen. Dschingis Khans Wirken ging über den militärischen Bereich hinaus; der Feldherr war zugleich ein guter Organisator. Der Herrscher war zeitlebens Analphabet, dem Nomaden blieben die Kulturen der unterjochten Völker fremd; doch respektierte er Wissen und Gelehrsamkeit, suchte von gebildeten Menschen zu lernen und setzte sie für seine Zwecke ein. Vernichtet wurde das, was nicht von Nutzen schien. Die mongolischen Stämme hatten keine eigene Schrift; Befehle, Botschaften, Anordnungen wurden mündlich erteilt und mündlich weitergegeben. Doch Dschingis Khan begriff die Bedeutung der Schrift für einen Staat; er ordnete an, dass die Schrift der türkischen Uiguren benutzt werden sollte.

Terror und Zerstörung auf der einen Seite, Weltoffenheit und Toleranz in Glaubensfragen auf der anderen: Im Zuge der blutigen Invasionen Dschingis Khans und seiner Nachfolger wurden tatsächlich Barrieren niedergerissen, die der Begegnung vieler verschiedenartiger Völker und ihrem Austausch auf materiellem und kulturellem Gebiet entgegenstanden. In dem «Jahrhundert der Mongolen», das auf Dschingis Khan folgte, blühte der transkontinentale Handel, waren die Karawanenwege sicherer und häufiger begangen als zuvor. Es kam zu persönlichen Kontakten zwischen Ost und West – Marco Polo war nicht allein –, die der geistigen Verständigung dienten. Danach erstarrte der ferne asiatische Osten von Neuem. China, das Reich der (kulturellen) Mitte, war sich selbst genug und kapselte sich ab. Die Einheit Eurasiens, die Dschingis Khan initiierte, zerbrach; gängige Landverbindungen gerieten in Vergessenheit. Es waren dann die Europäer, die, nun über die Meere hinweg, die Welt und ihre Märkte eroberten.

Die Geheime Geschichte

Dschingis Khan war tot; Ogodai (Ügedai vgl. den Hinweis auf S. 126), der dritte Sohn des Reichsgründers, hatte als Großkhan die Nachfolge angetreten. Das war ein intelligenter Herrscher, dem nicht nur die Erweiterung, sondern auch die Festigung des Übernommenen, die Kontinuität, am Herzen lagen. Er machte Karakorum, das Zentrum des Reiches inmitten der grenzenlosen Steppe, zu einer befestigten Hauptstadt, indem er den alten Umladeplatz der Karawanen mit einer Mauer umgab, einen prächtigen Palast und andere Gebäude errichtete. Ogodai vervollkommnete, nach chinesischem Muster, die Verwaltung des Militärstaates. Er richtete, mit chinesischen, uigurischen und persischen Schreibern, eine zentralisierte Kanzlei ein. Er gab, als er sein Ende nahen fühlte, den Auftrag, die Geschichte der Mongolen, die Stammesgeschichte der Ahnen Dschingis Khans, die Regierungszeit des Vaters und seiner selbst darzustellen. Diese Niederschrift «Ursprung der Herrscher» entstand 1240. Sie ist trotz ihres epischen Charakters (war nicht auch Herodot ein geschichteerzählender Künstler?) die wertvollste Quelle für die Familiengeschichte und die frühen Jahre des Dschingis Khan, auf die sich jede Biographie des Mongolen stützt. Das gesamte, in den folgenden Jahren ergänzte Werk war für das Herrscherhaus, für die Regierenden bestimmt und nicht allgemein zugänglich. Daher ist es als «Die Geheime Geschichte der Mongolen»[9] in die Geschichtsliteratur des Ostens eingegangen. Die Geheimnisse dieser Geheimen Geschichte und die verschlungenen Wege ihrer Entdeckung sollen hier nachgezeichnet werden.

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts arbeitete Raschid ad-Din, der jüdische Wesir und Geschichtsschreiber am Hof der Mongolen-Khane, die über Persien herrschten (Ilkhane), an einer Chronik der Mongolen. Die Khane persönlich favorisierten das Projekt. Dennoch durfte der Gelehrte, ein berühmter Universalhistoriker seiner Zeit (geb. um 1247, gest. 1318), die Geheime Geschichte nicht einsehen, worüber er sich beklagte. Wichtige Informationen über Dschingis Khan und seinen Weg zur Macht wurden Raschid ad-Din nur mündlich übermittelt. Sie waren zudem gefiltert, und als Historiker des Hofes hatte sich Raschid ad-Din wohl oder übel an die ihm auferlegten Tabus zu halten.[10]

Vergleicht man Raschids offizielle Geschichtsbetrachtung mit der – unzensierten – Geheimen Geschichte, so wird deutlich, warum letztere der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollte. Der Hofhistoriker verschweigt Episoden, die dem Ansehen Dschingis Khans schaden, oder er stellt sie, wenig glaubwürdig, in einem für den Herrscher positiven Sinne dar; Niederlagen Dschingis Khans werden gelegentlich in Siege umgemünzt. Auch in der Geheimen Geschichte werden die militärischen Erfolge Dschingis Khans, seiner Gefolgschaft und des mongolischen Heeres gebührend gewürdigt; gewissen unrühmlichen Tatbeständen im Leben des Eroberers weicht der Autor jedoch nicht aus. So ist die Geheime Geschichte die einzige Quelle, die über den Mord berichtet, den Temudschin (der spätere Dschingis Khan) in früher Jugend zusammen mit seinem Bruder Chasar an ihrem Stiefbruder Bekter beging (vgl. Kapitel «Temudschins Jugend»). Folgenschwere Entscheidungen werden nicht nur der Entschlusskraft des Herrschers, sondern auch dem Einfluss seiner Umgebung zugeschrieben.[11]

Die Niederschrift des Werkes, so heißt es am Schluss der Geheimen Geschichte, wurde im siebenten Monat des Rattenjahres (1240) beim Großen Reichstag am Fluss Kerulen beendet. Sein Verfasser, ein meisterhafter Erzähler, ist unbekannt geblieben. Er hat sich, das kann als gesichert gelten, auf Angaben gestützt, die seinen Informanten frisch im Gedächtnis geblieben waren. Denn auf solchen Reichstagen (Quriltai) kam das Volk, kamen die Veteranen zusammen. Da wurde Rühmliches und Betrübliches zusammengetragen und weitergegeben. Natürlich wusste der Autor, der seinen Bericht auf mongolisch niederschrieb, dass die Worte, die er seinen Helden in den Mund legte, wahrscheinlich so nicht gesprochen wurden, dass die bildhaft ausgeschmückten Ereignisse, die er spannend zu schildern versteht, ganz genau so nicht stattgefunden haben. Doch an der inneren Wahrhaftigkeit des auf epische Art Dargestellten, dramatisch Hervorgehobenen ist nicht zu zweifeln. Mehr noch: «Dieses Buch», sagte Elias Canetti, «ist viel echter und verlässlicher als irgendwelche Annalen.»

Bald darauf wurde die «Geheime Geschichte der Mongolen» wirklich geheim, denn der Text versank Jahrhunderte hindurch in den Archiven der Mongolen und der Chinesen, die 1368 die mongolische Yüan-Dynastie aus China vertrieben hatten. Im Westen wie im Osten verblasste die Erinnerung an die weltgeschichtliche Rolle, die Dschingis Khan und die Mongolen gespielt hatten. Man vergaß auch, dass die Geheime Geschichte im Wortlaut in die chinesische Enzyklopädie aufgenommen worden war, die der Ming-Kaiser Yung-lo Anfang des 15. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte. Die wenigen erhaltenen Fragmente enthielten den mongolischen Wortlaut allerdings nicht in der mongolischen Schrift, sondern in Umschreibung durch chinesische Zeichen. Diese gaben den reinen Wortlaut, nicht aber seine Bedeutung wieder und waren so für den Nichtmongolen unverständlich. Eine fortlaufende Erläuterung neben den einzelnen Wörtern vermittelte nur knappe Inhaltsangaben.

Erst 1847 kam ein anonym gebliebener Chinese auf die Idee, diese chinesischen Worterklärungen unter dem Titel «Die Geheime Geschichte der Yüan-Dynastie» als geschlossenen Text zu drucken. Damit begann die Neuentdeckung des seltenen Werkes, um die sich der Russe Palladij Kafarow (Palladius), ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche in Peking, der chinesische Gelehrte Ye Te-Hui und der französische Sinologe Paul Pelliot verdient gemacht haben. Aber erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der mongolische Urtext wiederhergestellt. Diese große Aufgabe bewältigte der deutsche Gelehrte Erich Haenisch, damals Ordinarius für Sinologie an der Universität Berlin. Haenisch ist es ebenfalls zu verdanken, dass seit 1941 die Geheime Geschichte in einer deutschen Übersetzung vorliegt.[12] Auch die mongolischen Wissenschaftler haben an der Erschließung der chinesischen Fassung ihres ältesten literarischen Denkmals mitgewirkt. In der Mongolischen Volksrepublik wurde zudem ein Geschichtswerk entdeckt, das Mitte des 17. Jahrhunderts entstand und mehr als zwei Drittel des Wortlauts der mongolischen Fassung der Geheimen Geschichte enthielt. Damals also waren der Originaltext oder eine Abschrift noch vorhanden. Heute jedoch sind sie verschollen.