Du bist ein Gott, der mich sieht -  - E-Book

Du bist ein Gott, der mich sieht E-Book

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Beschreibung

Das neue Buch zur Jahreslosung 2023 herausgegeben von Christoph Morgner mit über 40 Autoren aus Kirche und Gesellschaft verbindet vertiefende und persönliche Gedanken mit Impulsen zum Text der Jahreslosung 2023.

Gesehen werden, wahrgenommen werden – das ist ein menschliches Urbedürfnis, von dem nicht nur soziale Netzwerke leben. Auf der anderen Seite gibt es Situationen, da wollen wir lieber nicht gesehen werden. Und wenn es dann noch der allmächtige Gott ist, der uns in allen peinlichen und geheimen Momenten sieht – die Jahreslosung 2023 kann durchaus gemischte Gefühle wecken. Die Autoren dieses Bandes berichten von ganz unterschiedlichen Situationen: Den Unfall, den Gott verhindert hat, aber auch den Unfall, der geschehen ist. Situationen, in denen Menschen einem Unrecht tun, aber auch den ganz normalen Alltag. Bei all diesen unterschiedlichen Erfahrungen sind es die Augen der Liebe, durch die Gott uns sieht. Impulse, die Mut machen, bewusst in der Gegenwart Gottes zu leben! Mit Beiträgen von Thomas de Maizière, Hans-Joachim Eckstein, Matthias Clausen, Tobias Eißler, Klaus Göttler, Karsten Hüttmann, Steffen Kern, Thomas Meyerhöfer, Luitgardis Parasie, Annegret Puttkammer, Reinhard Schink, Manuel Schmid, Manfred Siebald, Silke Traub, Bärbel Wilde, Peter Zimmerling und vielen anderen.

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Seitenzahl: 192

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CHRISTOPH MORGNER (HRSG.)

Du bist ein Gott, der mich sieht

Das Lesebuch zur Jahreslosung 2023

Der Vers zur Jahreslosung wird abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB), Berlin.

© 2022 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagabbildung: Eberhard Münch, Jahreslosung 2023, Mischtechnik © 2022 bene! Verlag, Verlagsgruppe Droemer Knaur, München, www.bene-verlag.de

Umschlaggestaltung: bene!

Satz: Brunnen Verlag

ISBN Buch 978-3-7655-3685-4ISBN E-Book 978-3-7655-7655-3

www.brunnen-verlag.de

Dieses Buchwidme ich

S t e f f e nK e r n,Waldorfhäslach,

seit 2021PräsesdesEvangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes

Inhalt

Christoph Morgner (Hrsg.)

Vorwort

Burghard Affeld

Krebs – (k)ein Todesurteil

Ralf Albrecht

Angesehen

Matthias Clausen

Kamera an

Thomas de Maizière

„Jetzt ist die Zeit“

Heinrich Derksen

Leben vor Gottes Angesicht

Klaus-Jürgen Diehl

Durchschaut – aber wertgeachtet

Hans-Joachim Eckstein

„Sehen und gesehen werden …“

Tobias Eißler

„HERR, du hast es gesehen, schweige nicht!“

Klaus Göttler

„Namaste“ – „Du wirst gesehen“

Eva Hobrack

Er ließ mich nicht in Ruhe

Gottfried Holland

Gott führt zum Ziel

Karsten Hüttmann

Ein bunter Hund

Steffen Kern

Hoffnungsschritte auf Wüstenwegen

Ursula Koch

Wie gut, dass der liebe Gott alles sieht!

Gerhard Krömer

Er schickte mir zwei Engel

Martin Landmesser

Meliha aus der Südosttürkei

Cornelia Mack

Hinter der Fassade

Konstantin Mascher

Weil du mich siehst, bin ich!

Thomas Meyerhöfer

Das Bett unter dem Fenster

Jörg Michel

Geflohen – gesehen – gestaunt: mit Gott zu Gott umgekehrt

Christoph Morgner

„Der schönste Liebesbrief des Universums“

Luitgardis Parasie

Gott sieht dreifach

Annegret Puttkammer

Ich schlafe ganz in Frieden

Ralf Richter

Gott interessiert sich für die Kleinsten

Maike Sachs

Tu, was dir vor die Hände kommt

Martin Scheuermann

Unsere Berufung zum Schönblick

Reinhardt Schink

Im Ernstfall gefunden werden

Manuel Schmid

„In meinem Auto ist Jesus Steuermann …“

Theo Schneider

Von Gott überrascht

Manfred Siebald

Corona-Lektionen

Rolf Sons

Die Liebe Gottes im Leben wahrnehmen

Gerdi Stoll

Gott sieht klar

Martin Theile

Sieht denn keiner, was ich alles tue?

Silke Traub

Mit Hagar durch die letzten Jahrzehnte

Gerold Vorländer

Gesehen werden und sehen

Ernst Günter Wenzler

Der Gott, der mich sieht, ist der Gott, der mich liebt

Elke Werner

„Elke, bist du das?“

Rudolf Westerheide

Der liebe Gott sieht aber auch wirklich alles!

Bärbel Wilde

Gott sieht uns mit einem liebenden Herzen an

Birgit Winterhoff

Vergeben ist vergeben, weil Gott dich ansieht

Luise Wolfram

„Ich brauche eine Wohnung!“

Christoph Zehendner

Gott hört

Peter Zimmerling

Der segnende Blick

Vorwort

Kennen Sie Ariadne? Sie stammt aus der griechischen Sagenwelt. Ariadne war so freundlich, ihrem Freund Thereus einen Garnknäuel in die Hand zu drücken. Der wurde von bösen Mächten in ein unübersichtliches und gefährliches Labyrinth geschickt. Dort kämpfte er siegreich um sein Leben. Wie findet er aus dem Labyrinth heraus? Mit dem Faden des Garnknäuels. Endlich geschafft! Dann flüchtet er mit Ariadne. Aber Undank war schon damals der Welt Lohn: Ariadne wird von Thereus auf der Insel Naxos schnöde zurückgelassen. Aber auf sie wartet neues Glück: Sie wird von Dionysos gefunden. Zwischen den beiden entbrennt heftige Liebe. Sie heiraten. Und wenn sie nicht gestorben sind …

Frage nur: Was hat das alles mit der diesjährigen Jahreslosung zu tun? Nun, aus dem Ariadnefaden ist der sprichwörtliche „rote Faden“ geworden, der sich durch etwas zieht. Hält man den roten Faden in der Hand, kommt man zum Ziel. Er bewahrt davor, sich zu verirren.

Genau diesen Dienst tut uns die Jahreslosung. Sie will der rote Faden sein, der sich durchs gesamte Jahr zieht und der hilft, das Ziel im Auge zu behalten. Denn kirchliche Arbeit gleicht einem Gang durchs Labyrinth. Da kann man schnell den Kurs verlieren und sich irgendwohin verlaufen. Leicht gleiten unser Glaube und unser Verkündigen auf Nebenschauplätze ab: Ob es der Klimawandel ist, die ungerechte Verteilung der Güter, die Coronakrise, der Niedergang des Christlichen in unserer Gesellschaft und … Mit diesen zweifellos gewichtigen Themen kann man sich endlos beschäftigen. Der Stoff dafür wird uns täglich und reichlich geliefert. Aber dabei geraten wir in die Gefahr, uns dort aufzuhalten und im Labyrinth zu verlaufen.

Deshalb erweist sich der rote Faden einer Jahreslosung als goldwert. Er erinnert uns: Verzettelt euch nicht, sondern bleibt auf dem Kurs, den die Reformatoren abgesteckt haben: allein Jesus Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein durch den Glauben. Diese zentrale Botschaft ist uns aufgetragen. Dann erst sind wir in unserem Element. Die diesjährige Jahreslosung erinnert uns daran: „Du bist der Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13).

Damit wird uns der rote Faden für 2023 in die Hand gedrückt. Er führt uns zu unserem aufmerksamen Gott, der brennend an uns interessiert ist. Keiner muss ohne ihn durchs Leben gehen. Die Jahreslosung erinnert uns an unseren Gott und Heiland. Dazu wollen die Beiträge aus diesem Buch helfen. Sie regen uns an, auf den „roten Faden“ zu achten und sich an dieser Orientierung zu freuen.

Die Jahreslosung wurde auch diesmal wieder von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) ausgewählt. Ihr gehören 23 Institutionen an, darunter die Bibelgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz, das Katholische Bibelwerk, die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) und die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD).

Die Tradition der Jahreslosungen reicht bis in die 1930er-Jahre zurück. Initiator war der württembergische Pfarrer Otto Riethmüller (1889–1938). Er wollte den nationalsozialistischen Parolen seiner Zeit ein Bibelwort entgegenstellen.

Ich danke nicht nur den Verfasserinnen und Verfassern der Beiträge, sondern auch Uwe Bertelmann aus dem Brunnen Verlag, der die Texte sorgfältig lektoriert hat. Ebenso danke ich meiner Frau Elfriede, die in aller Geduld Korrektur gelesen hat.

Dr. Christoph Morgner, Garbsen im Juni 2022

BURGHARD AFFELD

Krebs – (k)ein Todesurteil

Gott sieht und rettet!

Der Warteflur beim Arzt ist eng. Vor mir ein Plakat: „Krebs muss kein Todesurteil sein.“ Bei einer kleinen OP hatte man mir Gewebeproben entnommen. Ob ich Krebs habe? Bald werde ich es wissen. Eine böse Ahnung überfällt mich. Ich schicke sie weg. Warte, sage ich mir. Du bist nicht Opfer eines bösen Schicksals. Du bist in Gottes Hand, nicht in der Abhängigkeit von Ärzten. Dann die erschütternde Information: Krebs. Ein Schwall medizinischer Fachwörter prasselt auf mich ein. Erstarrt sitze ich da. Mir schwirrt der Kopf. Krebs! Ein Todesurteil? „Halb so schlimm“, betont noch einmal der Arzt. Kann das stimmen?

Der Arzt erklärt mir die Krankheit, die Therapien und mögliche operative Eingriffe. Immer wieder frage ich nach. Die medizinischen Begriffe will ich erklärt haben wie Vokabeln einer fremden Sprache. Der Arzt ist freundlich und versucht mich durch sein Lächeln ein wenig aufzumuntern. Ich bleibe skeptisch. Ich frage und frage. Bis mein Kopf leer ist. Gegen alle bösen Gedanken und die mich würgende Angst bete ich: „Gott, mein lieber Vater, du siehst mich. Leite mich mit deinen Augen und halte mich über den Abgründen der Verzweiflung.“

Die Zeit schien für mich stehen geblieben zu sein, als der Arzt mir diese niederschmetternde Diagnose mitteilte. Wie oft hat er das schon gemacht? Wie oft ist dieses Wort „Krebs!“ als Diagnose für einen Patienten schon über seine Lippen gegangen? Wie routiniert ist er dabei, frage ich mich. Egal, für eine kurze Zeit stehe ich neben mir und außerhalb des normalen Geschehens. Krebs! Ist das mein Ende?

„Jetzt ist es Zeit, den nächsten OP-Termin zu machen“, holt der Arzt mich aus meinen Gedanken. „Jetzt nicht! Später!“, höre ich mich sagen. Nicht jetzt, erst einmal raus hier! Weg hier! Ich muss eintauchen in das normale Leben, möchte Auto fahren, zu meiner Frau, unter Menschen sein und entdecken, dass das Leben weitergeht und die Welt immer noch dieselbe ist wie vorher.

Eine Mutter mit zwei lachenden und hüpfenden Kindern kommt mir auf meinem fluchtartigen Verlassen der Klinik entgegen. Wie schön das Leben sein kann und wie unbeschwert leicht erscheint mir das Leben dieser Kinder.

Es ist Januar. Ein kalter, etwas düsterer Tag. Ich eile dem Klinikausgang zu. Nur weg von hier! Hier rieche ich nicht nur die Düfte von Sagrotan und anderen Desinfektionsmitteln. Hier rieche ich förmlich den Tod.

Endlich bin ich draußen. Kahle nackte Bäume empfangen mich. Die Welt erscheint mir schmerzhaft schwarz-weiß zu sein, scheint die Farbe und die Fröhlichkeit verloren zu haben. Wie selten in meinem Leben wird mir nun die Vergänglichkeit unseres Lebens und dieser Welt bewusst.

Diese Erfahrung sollte ich noch tiefer, schmerzhafter und lebensbedrohlicher machen. Auf der Insel Sylt versuche ich, mich von der ersten Operation zu erholen. Die Sorgen um den Krebs nehme ich mit. Wie dunkle Vögel begleiten sie mich.

Zeitgleich überfällt mich unmerklich ein gefährlicher Virus zusammen mit einer bakteriellen Infektion. An der Schutzhülle meines Immunsystems zerrt und rüttelt es wie ein Wirbelsturm an dem Gestänge und den Seilen eines kleinen Zeltes. Nun hat es mich getroffen. Bei mir ist es der Norovirus. Ich spüre die Wucht des Schüttelfrostes und das Feuer des Fiebers.

Mein Zustand wird so unerträglich, dass mir nur noch der Rettungswagen ins Krankenhaus bleibt. Dort lande ich auf der Isolierstation und werde ärztlich versorgt. Langsam tropfen die Medikamente aus der Flasche über mir in die Venen. Ich schlafe ein und verliere das Bewusstsein. Die Ärzte kämpfen um mein Leben.

Da sehe ich mich plötzlich vor einer grauen Betonwand. In ihr finden sich kleine quadratische Fenster. In diesen erkenne ich Bilder aus meiner Kindheit. Ich schreite die Betonwand ab. Fenster für Fenster zeigen mir Bilder aus verschiedenen Situationen meines Lebens. Bei jedem Bild tauchen wie von Geisterhand geschrieben Bildunterschriften auf. Laut lese ich sie mir vor. „Genau! Stimmt! So war es! Treffend formuliert!“

Neben den schönen Lebensbildern kommen auch Bilder unerträglicher Szenen. Szenen persönlicher Schuld stehen mir vor Augen. Während mich die Erinnerung noch quält, verschwimmt das Bild. Das Fenster ist auf einmal leer. Darunter steht deutlich: „Vergeben. Belanglos. Ausgelöscht!“

So wechseln sich unregelmäßig gute und schlimme Bilder meines Lebens ab. Immer das Gleiche: Die guten Lebensbilder bleiben, die schrecklichen Bilder persönlicher Schuld verschwinden in kurzer Zeit. Unter den leeren Fenstern bleiben die Worte: „Vergeben. Belanglos. Ausgelöscht!“

Dann kommen in der Betonwand keine Fenster mehr und kein Bild. Ich bin in die Gegenwart zurückgekehrt. „Er kommt wieder!“, höre ich die Ärzte sagen. Ich wache auf. Schweißgebadet, fiebrig, erschöpft, aber erleichtert! Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchflutet mich.

So drastisch habe ich die Tatsachen von Karfreitag und Ostern noch nie erlebt. Mir ist alle Schuld vergeben. Sie ist ausgelöscht! Christus hat Sünde und Tod besiegt. Er lebt und handelt auch heute. Er hat mich aus der Todeszone errettet.

Noch bin ich unterwegs zu dem großen Ziel ewiger Heimat bei Gott. Noch manche Nacht wird kommen. Noch manche Todeszone wird zu durchleiden sein. Aber ich bin auf ewig kein Todeskandidat mehr. Denn Gott wird mich mit seinen Augen leiten. Und ich werde bekennen dürfen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Burghard Affeld lebt als Pastor im Ruhestand in Osnabrück.

RALF ALBRECHT

Angesehen

Gesehen werden

Jeden Morgen mache ich vor dem Spiegel ein Selfie. Ich habe mir das in den letzten Jahren angewöhnt. Und überlege wieder einmal, wieso eigentlich. Oder allgemeiner gefragt: Warum gibt es inzwischen Fotos vom Eiffelturm in Paris praktisch nur noch mit mir und Ihnen im Vordergrund? Was treibt uns an, uns selber nicht nur immer wieder anzusehen, sondern auch in diesem Sinn zu zeigen?

Ich finde, das alles hat auch etwas. Gott hat mich geschaffen, wie ich bin. Und so kann ich mich sehen lassen. Die Perversion dieser Sichtweise aber ist: Ich bin herausgefordert, mich immer wieder selbst zu inszenieren. Ich muss mich sehen lassen – und dazu ständig selbst optimieren. Im Blick auf Fotos ist das alles längst gang und gäbe: Die unterschiedlichsten Apps geben mir die Möglichkeiten, Falten zu glätten, Hautirritationen wegzuretuschieren, die Figur zu verschlanken und vieles mehr. So gesehen bin ich dann aber nicht mehr ich selbst, sondern eher ein Kunstprodukt mit scheinbar weniger Mängeln, die aber nur ausgeblendet sind.

Jetzt denken Sie vielleicht: ich nicht. So was mach ich nicht. Gut, dann gehören Sie nicht zur Generation „Instagram“ und „Snapchat“ etc., aber die Sicht auf sich selbst ist Ihnen wahrscheinlich trotzdem wichtig. Wir alle schauen uns immer wieder selbst an, beurteilen uns selbst – unser Äußeres und Inneres. Für das Äußere gibt es folgende kleine Testfrage: Gibt es ein Foto von mir, am besten ein aktuelles, bei dem ich finde, dass ich darauf gut getroffen bin? Damit kommt in mir ganz viel hoch im Blick auf meine Sicht auf mich selbst: Wie sehe ich aus? Wie komme ich mit mir selbst klar? Was kann ich im Blick auf meine eigene Person, meine Haltung, meinen Charakter, meinen Lebenslauf gut sehen – und was möchte ich am liebsten verbergen?

Angesehen sein

Damals sah sie niemand. Sara, die Konkurrentin, mobbte sie weg. Abraham, der Vater ihres Kindes, stand ihr nicht bei. Und jetzt sitzt Hagar da in der Wüste, allein, mit ihrem Kind. Wer sieht sie? Plötzlich öffnet sich ihr Blick: ein Brunnen. Wasser in der Dürre. Sie ist doch nicht übersehen. Und dann das kurze, große Wort – Jahreslosung: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Gott schaut nicht weg, Gott schaut nicht zu, Gott sieht mich an: Seit Hagar ist jede und jeder angesehen bei Gott. Und das gerade in den schwierigsten Situationen. Ich brauche, muss und kann nicht mich selbst erst schön herrichten, damit ER mich sieht. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Gott sieht mich, wie ich bin. Und ER sieht mich gern und er gibt mir das tiefe Wissen: Ich bin von ihm angesehen. Ich bin bei IHM angesehen. Das kann mir niemand nehmen, gar niemand. Kein Urteil eines anderen. Kein Scheitern in meinem Leben. Es bleibt wahr: Du bist angesehen, sagt mir mein Gott zu.

Ansehen haben

Und deshalb kann auch ich mich selbst und meine Situation ganz neu ansehen. Hagar findet einen Weg aus der Wüste und einen Segen und ein neues Leben für ihren Sohn und sich. Und mein Blick auf mich kann genauso gnädig und hoffnungsvoll ausfallen.

Ein Aussteiger: Kaum einer wusste, wo er sich derzeit aufhielt. Kaum Kontakte, kaum Nachrichten von ihm. Jetzt sitzt er in Paris am Eiffelturm. Mitten in der Menge, und doch auch irgendwie mitten in der Wüste seines Lebens. Wer sieht ihn? Eins aber macht er. Er kramt sein Smartphone raus und schießt ein Foto. Vom Eiffelturm – und von sich. Ein Selfie. Und stellt es in seinen Status. Mit der Unterschrift „#Genesis 16,13“. Und seine Kumpels sehen es. Und die Reaktionen bleiben nicht aus. Chats, Sprachnachrichten, Kontakte. Und vor allem eines: Er selbst hat den Eindruck: Ich hab Ansehen. Ich kann mich anschauen. Es ist nicht zu Ende. Gott schenkt mir alles, was ich brauche. „Du bist ein Gott, der mich sieht“.

Ralf Albrecht ist Prälat der Ev. Landeskirche in Württemberg in Heilbronn.

MATTHIAS CLAUSEN

Kamera an

Sommer 2020, ein Vierteljahr Corona-Lockdown liegt hinter uns. Die Studierenden an unserer kleinen evangelischen Hochschule genießen eine kurze Verschnaufpause vom Virus, im Sommer sind einzelne Veranstaltungen möglich. In großen Räumen, mit viel Abstand, festem Sitzplatz und anderen Maßnahmen. Im Juli 2020 ist das alles noch neu, beim Erscheinen dieses Buchs hoffentlich nicht mehr ganz aktuell – wer weiß? So oder so wird es noch in lebhafter Erinnerung sein.

In diesem Sommer also trifft man sich zu einer Art Buntem Abend zum Ende des Semesters. Ein paar Studierende führen einen Sketch vor, Thema: Was während der Zoom-Vorlesungen (Vorlesungen per Videokonferenz) wirklich hinter den Rechnern und Tablets zu Hause passiert ist. Kamera aus, man wird nicht gesehen, also kann man nebenher auch bügeln. Oder Kaffeekränzchen halten. Oder Fitnesstraining betreiben, „100 days of sweat“, 100 Tage Schweiß, nennen das die Studis. Alles sehr amüsant. Mit der Schlusspointe: Ob es nun wirklich so war oder doch harmloser, sagt man uns Lehrenden nicht. Wie es wirklich war, würden wir eben niemals erfahren …

Worauf ich später im Spaß entgegnet habe: Beim Lesen mancher Seminararbeiten nach diesem ersten Corona-Semester dachte ich mir – so weit weg von der Realität war der Sketch wohl nicht. (Scherz, die Arbeiten waren natürlich sämtlich hervorragend.)

Die Versuchung ist ja da und ich kenne sie selbst: Wo man vorher zusammen in einem Raum saß, ist man nun räumlich getrennt und nur durch das kleine Kameraauge im Laptop miteinander verbunden. Schaltet man das Auge ab, wird man nicht mehr gesehen. Das kann entspannend sein, ständige Beobachtung kann auch ermüden. Wer stattdessen nur zuhört und nicht interagiert, nicht mitmacht, hat alle Freiheiten, nebenher anderes zu tun, Kaffee zu holen, kurz eine E-Mail zu beantworten oder auch nur die Füße hochzulegen. Im Einzelfall ist das verständlich und auch okay, ich habe es gelegentlich auch so gemacht.

Auf Dauer ist es allerdings unbefriedigend. Menschen sind dazu gedacht, nicht nur Gedanken und Töne auszutauschen, sondern sich auch leibhaftig zu begegnen. Wir müssen einander sehen. Schlimm genug, wenn das per Zoom & Co nur in Form vieler kleiner Kachelgesichter passiert, aber das ist besser als nichts.

So habe ich zu Beginn meiner Online-Seminare immer eindringlich darum gebeten: Kamera an, es sei denn, das Internet im Studi-Wohnheim ist zu wackelig, was tatsächlich oft der Fall war und ich als Entschuldigung akzeptiert habe. Aber wer genug Bandbreite für Online-Spiele hat, bei dem reicht sie auch für die Kamera. Daher: Bitte zeigt euch.

Und ich denke zurück an Vorträge, die ich vor anderen Gruppen an anderen Orten halten durfte, für die ich sonst per Zug angereist wäre, mit bangem Blick auf die App der Deutschen Bahn, ob die Zugverbindung heute ausnahmsweise mal klappt … schon auch praktisch, wenn auch das alles während der Corona-Monate wegfiel und man stattdessen abends den Rechner anschaltete. Trotzdem fehlte etwas und alle Kommunikatoren, reisenden Rednerinnen und Wanderprediger werden mir zustimmen: ohne leibhaftige Begegnung kein echter Austausch. Wir müssen einander sehen, nicht nur als pixelige Kachel, sondern in echt.

Das wird umso deutlicher, wenn auch noch fast alle abgeschaltet sind. Mit leisem Unbehagen denke ich zurück an einzelne Abende im Arbeitszimmer, vor dem Stehpult mit meinem Laptop, an denen ich leidenschaftliche Vorträge über die Glaubwürdigkeit und Schönheit des Glaubens gehalten habe – in eine Wand von schwarzen Kacheln hinein. Ist da jemand? Dann schon lieber den Bäumen im Wald predigen, so wie Billy Graham es während seiner Ausbildung zum Prediger zu Übungszwecken gemacht hat.

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ – mich hat dieser Satz immer beruhigt. Von Gott gesehen zu werden ist ja nicht ermüdend und nichts, dem ich auch mal ausweichen wollte, um „meine Ruhe zu haben“. Von Gott gesehen zu werden ist heilsam. Andere können mich übersehen, er nicht. Andere sehen vielleicht nur einen Ausschnitt, einen Teil von mir, und egal ob sie diesen gut oder schlecht finden: Der Teil ist nicht alles. Gott sieht mich ganz. Mit dem, was ich gerne zeige, vor der Kamera gut ausleuchte. Und mit dem, was ich nicht so gern zeige, sondern lieber verberge. Er sieht mich ganz – und er liebt mich. Er sieht mich, also bin ich. Vor ihm kann ich mich nicht verstecken, und ich will es auch gar nicht. Von ihm gesehen zu werden ist mein Lebenselixier.

Dr. Matthias Clausen ist Professor für Systematische Theologie und Praktische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor.

THOMAS DE MAIZIÈRE

„Jetzt ist die Zeit“

Im Alten Testament faszinieren mich immer wieder die wunderbaren Geschichten, auch von starken Frauen. Eine davon ist Hagar. Sie ist im einen Moment eine erniedrigte und verzweifelte Sklavin, die sich auf der Flucht befindet. Im nächsten Moment wird sie eine verheißene Ahnfrau eines Volkes. Sie ist die erste Person in der Bibel, der Gott begegnet und die ihm daraufhin einen Namen gibt. Während sie vor ihrer Begegnung mit Gott noch vor ihrer Herrin flieht, kehrt sie danach sogar zu dieser zurück. Äußerlich ist sie noch Sklavin, innerlich begreift sie sich von Gott wahrgenommen, befreit und gerettet.

„Du siehst mich.“ – Zu dieser Erkenntnis gehören zwei. Es reicht nicht nur die eine Seite, die sieht, sondern es braucht auch die andere, die sich gesehen weiß. Hagar hat begriffen und wurde ergriffen. In der Zürcher Übersetzung heißt es: „Wahrlich, hier habe ich dem nachgesehen, der auf mich sieht.“ Wenn ihr das genug war, sich zurück unter die noch kurz zuvor erlebte Unterdrückung ihrer Herrin zu begeben, dann muss ihr diese Erkenntnis wahrhaftig Kraft gegeben haben, Halt, Sicherheit. Auf diese Erkenntnis und den Befehl des Boten hin trifft Hagar eine Entscheidung und sie handelt.

Ich kann nicht behaupten, dass mir ein Bote Gottes je begegnet wäre, wie er es in der Geschichte Hagars tat. Das, wovon uns die Bibel hier und an anderen Stellen berichtet, scheinen mir besondere, heilige Begegnungen gewesen zu sein. Sie sind nicht alltäglich, aber sie können auch unseren Alltag verändern.

Und so kann ich auf gewisse Weise diesen Ruf verstehen.

1987 sagte ich in meiner Taufrede für unser erstgeborenes Kind, ich wünschte ihr, sie möge zu ihren Lebzeiten die deutsche Einheit erleben. Meine Familie hielt mich für ziemlich verrückt. Es war keine Vorhersage, nur ein Wunsch. Als mich dann 1989 mein Vetter Lothar de Maizière ansprach und mich bat, ihn auf dem Weg zur deutschen Einheit zu unterstützen, folgte ich diesem Ruf. Meine Familie und ich machten seit diesem großen Moment der Geschichte die deutsche Einheit in all ihren politischen, gesellschaftlichen und privaten Facetten zu unserem Projekt. Ob mich da jemand „gesehen“ hat? Ich fühlte mich jedenfalls gesehen und berufen.

Die Botschaft an Hagar oder auch das Erlebnis, das Saulus zum Paulus machte, waren überraschende Ereignisse von außen, ein Ruf Gottes. Gleichzeitig finden wir auch die anderen Geschichten in der Bibel, in denen Personen aktiv „suchen“ oder „Ausschau halten“:

Zachäus, so heißt es, will unbedingt sehen, wer dieser Jesus ist. Aufgrund seiner Körpergröße ist ihm das in der Volksmenge nicht ohne Weiteres möglich und so klettert er schließlich auf einen Baum, um dort nach Jesus Ausschau zu halten (vgl. Lukas 19). Und es gelingt. Auch der blinde Bartimäus ruft nach Jesus trotz Drohungen der Umstehenden, er solle schweigen, und sucht ihm zu begegnen. Jesus bleibt stehen, ruft ihn zu sich und die Geschichte endet mit der vollständigen Heilung des zuvor blinden Bartimäus (vgl. Markus 10).

Ob in der Wüste oder auf einem Baum, ob nun bewusst nach Gott gesucht oder nicht, mich beschäftigt, wie der weitere Weg dieser Menschen aussah, denen Gott so markant begegnete. Und mich beschäftigt, ob wir heute überhaupt suchen und wo.

Gott befiehlt Hagar, zurück zu ihrer Verächterin zu gehen. Zachäus gibt nach dem Besuch von Jesus die Hälfte seiner Güter den Armen und erstattet zu Unrecht Genommenes vierfach zurück. Bartimäus trennt sich von seinem alten Leben und folgt nach seiner Heilung Jesus nach. Das war ein Weg, der mit einer Menge Herausforderungen einherging.

Sich grundlegend neu und anders zu entscheiden, sich aufzumachen, gesehen oder gesucht haben, das kann einen harten Weg bedeuten. Ein Teil meines Weges für die Verbesserung der deutsch-deutschen Verhältnisse war herausfordernd und hat viel Kraft gekostet. Tüchtige Menschen zu entlassen, weil sie für die Stasi gearbeitet hatten, um die Anerkennung von Bildungsabschlüssen für Millionen Menschen zu ringen, bei Pegida-Demonstrationen Puppen der aufgehängten Angela Merkel und ihres Vizekanzlers Gabriel zu sehen – das waren schwere Momente. Aber es hat sich gelohnt. Der einfache Weg macht nicht ohne Weiteres frei und stark. Arbeiten, kämpfen, durch Täler gehen führt letztlich zu einer viel größeren Befriedigung als etwas einfach geschenkt zu bekommen.