Du bist mein Papa! - Anna Sonngarten - E-Book

Du bist mein Papa! E-Book

Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Geraldine Liebknecht lief im Eiltempo zum Kindergarten. Sie war etwas zu spät dran. Die Kinderkrankenschwester kam direkt vom Frühdienst und wie so oft war noch etwas dazwischen gekommen. Dann hatte sie zunächst mit ihrem kleinen Auto keinen Parkplatz gefunden und rannte jetzt, um vielleicht noch eine Minute aufzuholen. Dass ihr das nicht gelungen war, sah sie gleich am Blick der Erzieherin, die die Augen verdrehte, als sie die junge Mutter mit fliegendem Pferdeschwanz um die Ecke kommen sah. »Entschuldigung, ich weiß, ich bin zu spät. Aber es gab einen Zwischenfall …«, erklärte sie atemlos. »Na ja, es ist immer etwas bei Ihnen. Das kennen wir ja schon«, reagierte die Erzieherin genervt und musterte die hübsche Frau geringschätzig. Geraldine stutzte. So unfreundlich war sie noch nie behandelt worden. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie deshalb irritiert. »Charlotte hatte heute Streit mit einem Mädchen aus ihrer Gruppe. Sie hat Paula an den Haaren gezogen und sie beschimpft.« »Warum denn? Charlotte ist doch normalerweise eher ruhig.« »Tja, Paula hat gesagt, dass Charlotte keinen Papa hätte.«

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Sophienlust - Die nächste Generation – 122 –

Du bist mein Papa!

Die kleine Charlotte trifft eine große Entscheidung

Anna Sonngarten

Geraldine Liebknecht lief im Eiltempo zum Kindergarten. Sie war etwas zu spät dran. Die Kinderkrankenschwester kam direkt vom Frühdienst und wie so oft war noch etwas dazwischen gekommen. Dann hatte sie zunächst mit ihrem kleinen Auto keinen Parkplatz gefunden und rannte jetzt, um vielleicht noch eine Minute aufzuholen. Dass ihr das nicht gelungen war, sah sie gleich am Blick der Erzieherin, die die Augen verdrehte, als sie die junge Mutter mit fliegendem Pferdeschwanz um die Ecke kommen sah.

»Entschuldigung, ich weiß, ich bin zu spät. Aber es gab einen Zwischenfall …«, erklärte sie atemlos.

»Na ja, es ist immer etwas bei Ihnen. Das kennen wir ja schon«, reagierte die Erzieherin genervt und musterte die hübsche Frau geringschätzig.

Geraldine stutzte. So unfreundlich war sie noch nie behandelt worden.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie deshalb irritiert.

»Charlotte hatte heute Streit mit einem Mädchen aus ihrer Gruppe. Sie hat Paula an den Haaren gezogen und sie beschimpft.«

»Warum denn? Charlotte ist doch normalerweise eher ruhig.«

»Tja, Paula hat gesagt, dass Charlotte keinen Papa hätte.«

»Oh, wie genau hat Paula das gesagt. Hat sie Charlotte vielleicht gehänselt oder damit aufgezogen, dass sie keinen Vater hat?«

»Ja, davon gehe ich aus. Kinder sind halt so. Und es stimmt ja. Paula hat nichts Falsches gesagt.«

»Nein, falsch ist es nicht, aber doch irgendwie … nicht nett, oder wie denken Sie darüber?«

»Ein Kind an den Haaren zu ziehen ist aber auch nicht nett. Das können wir nicht dulden. Charlotte durfte heute nicht zum Spielen nach draußen. Sie sollte sich bei Paula entschuldigen. Aber das wollte sie nicht. Wir müssen da schon konsequent sein.«

»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte Geraldine, ließ die Erzieherin stehen und stürmte in die Einrichtung. Sie fand ihre Tochter einsam und allein im Gruppenraum. Sie saß auf ihrem Stühlchen und starrte vor sich hin. Man sah, dass sie bitterlich geweint hatte.

»Lotta, mein Schatz. Mami ist da. Es tut mir sehr leid, dass ich nicht pünktlich war«. Sie kniete sich vor das blondgelockte fünfjährige Mädchen, dass sie mit braunen Kulleraugen ansah. Dann nahm sie ihre kleine Tochter in die Arme und trug sie grußlos an der Erzieherin vorbei zum Auto. Sie kochte vor Wut, aber Lotta sollte davon nichts merken. Was konnte ihre kleine Tochter dafür, eine berufstätige alleinerziehende Mutter zu haben? Geraldine hatte sich so ein Leben nicht ausgesucht. Wenn die Umstände damals anders gewesen wären, dann wäre ihr ganzes Leben anders verlaufen. Wie oft hatte sie schon darüber nachgedacht. Aber die Frage, was gewesen wäre, wenn … führte am Ende zu nichts.

»Ich will zu Opa, Mama«, hörte sie plötzlich ein dünnes Stimmchen aus dem Fond.

»Oh, Schatz. Heute geht es leider nicht. Opa bekommt Besuch. Aber morgen besuchen wir Opa, ganz bestimmt. Wir fahren jetzt in die Stadt und kaufen uns ein Eis. Was meinst du?«

»Das ist auch gut«, antwortete die Kleine. Aber es klang nicht ganz so begeistert, wie Geraldine gehofft hatte. Ihr Vater Anton Liebknecht, der Opa von Lotta, war ihr Fels in der Brandung. Ohne ihn wäre alles noch schwieriger gewesen. Er hatte Geraldine immer unterstützt und Charlotte liebte ihren Opa. Das Einzige, was Geraldine Sorgen bereitete, war das seltsame Hobby ihres Vaters. Er kopierte berühmte Gemälde und verkaufte sie im Freundeskreis. Das gefiel Geraldine nicht. Warum malte er nicht eigene Bilder? Geraldine befürchtete, dass es Ärger mit dem Urheberrecht geben könnte oder jemand auf komische Ideen kam, wie man mit den gefälschten Bildern zu Geld kommen könnte. Aber Anton lachte immer nur, wenn sie davon anfing.

»Paula ist doof«, sagte Charlotte unvermittelt.

Geraldine wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Sie hatte das »Papa-Thema« bisher immer umschifft, wie einen gefährlichen Eisberg, von dem man nur die Spitze sah. Sie wusste, dass unter der Oberfläche etwas war, das sie irgendwann einmal ansprechen musste. Natürlich hatte Lotta einen Papa. Aber er war nicht da. Und dieser Mann wusste auch nicht, dass er eine Tochter hatte. Das würde sie nicht auf immer verschweigen können. Hatte sie den richtigen Zeitpunkt verpasst? Hätte sie nicht schon längst erklären sollen, wie die Dinge damals lagen. Wie erzählt man eine solche Geschichte? Geraldine wusste es nicht. Vielleicht war es auch zu schmerzhaft für sie. Außerdem war Charlottes Opa der Mann in ihrem Leben, auf den sie sich verlassen konnte. Mit diesen Gedanken im Kopf fuhr sie weiter. Sie verscheuchte alle sentimentalen Erinnerungen, an eine Zeit, wo sie glücklich war, und ein Leben möglich schien, das aber so nie stattgefunden hatte.

*

Das alte Forsthaus war am späten Abend behaglich erleuchtet. Dennoch sah man es erst, nachdem man auf dem holprigen Feldweg kurz hinter der Brücke um die Ecke bog. Es stand etwas erhöht auf einem Hügel, wurde aber von gigantischen Rhododendren umschlossen, die es einhüllten wie ein Dornröschenschloss. Niemand kam hier zufällig vorbei. Dazu lag das Fachwerkhaus zu abgelegen. Die Männer, die Anton Liebknecht heute Abend zu Besuch hatte, waren alte Weggefährten. Kollegen aus dem Gymnasium in Maibach, wo Anton Liebknecht als Kunst- und Deutschlehrer gearbeitet hatte. Anton war der einzige Pensionär von den dreien. Er war kaum älter als seine Freunde, aber ein Hüftleiden, das er von einem Unfall zurückbehalten hatte, hatte ihn vor drei Jahren gezwungen, seinen Dienst früher zu quittieren. Ulrich und Hartmut zogen den Freund gerne damit auf, sich schon früh aufs Altenteil zurückgezogen zu haben. Doch davon ließ sich Anton nicht aus der Ruhe bringen. Gerade kam er mit einer Runde Kräuterschnaps auf einem Tablett zurück zum Kamin, wo sich heute außer Ulrich und Hartmut auch ein junger Mann eingefunden hatte. Andreas Güls war erst Anfang dreißig und der gut aussehende dunkelhaarige Mann wirkte etwas verloren zwischen den älteren Herren, die sich schon lange kannten und gern Anekdoten austauschten. Wenn man genau hinschaute, vernahm man ein leichtes Hinken bei Anton und er wählte seinen Sitzplatz mit Bedacht, nachdem er jedem sein Glas gereicht hatte. Ein ließ sich auf einem hohen Hocker nieder, den er auch gerne zum Malen benutzte.

»Auf die Freundschaft«, sagte Anton mit tiefer Stimme und hob sein Glas. Als alle den Kräuterschnaps gekippt hatten, wandte sich der ehemalige Kunstlehrer dem jungen Mann zu.

»Sie sind also ein sogenannter Quereinsteiger und unterrichten jetzt Kunst und Sport?«, wiederholte er das, was ihm seine Freunde schon zugetragen hatten.

»Ja, genau. Ich habe Kunst in Düsseldorf studiert, aber ich bin kein Lehrer. Und Sport ist eigentlich nur ein Hobby … Na ja, der Lehrermangel macht es möglich.« Andreas lachte verlegen.

»Und Ihre eigene Kunst? Haben Sie dann dafür noch Zeit?«

»Nun, um ehrlich zu sein, lief es gerade nicht so toll in Berlin. Ich hatte mich von meinem Galeristen getrennt und wusste nicht, wie es weiter gehen soll. Der Job in der Schule kam da gerade recht. Ein festes Gehalt ist nicht das Schlechteste, was einem Künstler passieren kann.«

Anton sah den jungen Mann aufmerksam an, bis dieser sich unbehaglich zu fühlen schien.

»Zeig Andreas doch mal dein neuestes Werk, Anton«, munterte ihn Ulrich auf und zwinkerte seinem ehemaligen Kollegen zu.

»Das ist nämlich der eigentliche Grund, warum der junge Mann mit uns alten Säcken hier abhängen will. Stimmt das, Andreas? Der Kräuterschnaps ist es bestimmt nicht«, scherzte Ulrich jovial.

Andreas lächelte wieder verlegen. Er konnte das schlecht bestätigen, aber genauso war es.

»Ja, genau Anton. Zeig schon deinen Vermeer«, fiel nun auch Hartmut ein.

Anton ließ sich normalerweise nicht lange bitten, wenn es um seine Bilder ging, aber er kannte den jungen Mann nicht und zögerte. Er wollte erst etwas klarstellen, damit keine Missverständnisse aufkamen.

»Ich bin ein Kopist. Ich male berühmte Bilder von noch berühmteren Künstlern. Es ist ein Hobby. Ich bin kein Fälscher. Ich fälsche keine Signaturen und ich behaupte auch nicht, dass es ein Original ist, oder ein verschollenes Bild, das plötzlich wieder aufgetaucht ist. Deshalb verändere ich die Bilder auch manchmal gegenüber dem Original.« Anton hatte ruhig gesprochen und den jungen Mann dabei nicht aus den Augen gelassen. Anton war kein Betrüger. Wenn jemand trotzdem etwas für seinen falschen Vermeer bezahlen wollte, dann berechnete er die Materialkosten und einen Stundenlohn. So hatte er sich in den letzten Jahren seine Pension ein bisschen aufgebessert, um seine Tochter und seine Enkeltochter zu unterstützen. Dagegen konnte man eigentlich nichts sagen.

»Ich habe schon verstanden. Sie sind kein Wolfgang Beltracchi und wollen auch keiner sein«, fasste Andreas Güls zusammen, indem er auf den berühmt berüchtigten deutschen Kunstfälscher anspielte, der in den Zehner-Jahren die Kunstwelt zum Narren gehalten hatte.

»Nein, auf gar keinen Fall. Ich will auch nicht für sechs Jahre im Gefängnis verschwinden und wenn ich wieder rauskomme, ist meine Enkeltochter erwachsen«, sagte er entschieden.

»Charlotte ist doch erst fünf«, berichtigte Hartmut, der schnell ausgerechnet hatte, dass die kleine Lotta, wie sie meistens genannt wurde, dann ja erst elf wäre.

Anton bedachte den Freund mit einem langen Blick.

»Hat Beltracchi sechs Jahre bekommen?«, wollte Andreas wissen.

»Ja, aber er wurde vorzeitig entlassen und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Heute lebt er als Künstler von seinen eigenen Werken«, wusste Ulrich.

»Na ja, er ist durch diese Geschichte berühmt geworden. Das war ja auch eher so ein Gentleman-Verbrechen. Viele fanden den Mann und seine schöne Frau irgendwie gut«, meinte Hartmut.

»Original und Fälschung. Das hat die Leute schon immer fasziniert«, behauptete Andreas. Der junge Mann war lebhafter geworden. Seine dunklen Augen funkelten im Kaminfeuerschein. Anton sagte nichts, aber er stand auf und bedeutete den Männern, ihm in sein Atelier unterm Dach zu folgen.

»Die Briefleserin« stand auf der Staffelei. Das Motiv hatte Jan Vermeer mehrfach gemalt. Anton hatte sich für das Gemälde von 1657 aus der Frühphase des Künstlers entschieden. »Die Briefleserin« zeigte eine junge Frau, die in Seitenansicht vor dem geöffneten Fenster auf einen Brief in ihrer Hand schaut, sodass ihr Gesicht für den Betrachter nur aufgrund der Spiegelung im Fenster zu erkennen ist. Die hintere Wand des Raums, wäre leer, wenn Anton sich nicht den Spaß erlaubt hätte, ein Graffiti von Banksy dort zu platzieren, nämlich das Mädchen mit dem Luftballonherz.

»Das glaub ich jetzt nicht, Anton. Was hast du dir dabei gedacht?« Ulrich wusste nicht, wie er es finden sollte, dass in ein Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert die Zeichnung eines Straßenkünstlers des einundzwanzigsten Jahrhunderts Einzug gehalten hatte.

»Ich finde es total cool. Eine großartige Idee. Wirklich tiefgründig«, sagte Andreas begeistert.

»Die Wand war nicht immer leer. Vermeer hatte dort einen Cupido gemalt, also einen Liebesgott. Er wurde später übermalt«, erklärte Ulrich.

»Also, zumindest kann Ihnen keiner vorwerfen, dass Sie ein Fälscher sind. Jeder erkennt die Ironie und dass es kein Original ist«, erklärte Andreas.

»Das ist genau meine Absicht. Das Mädchen mit dem Luftballonherz, dürfte wirklich fast jeder kennen. Selbst der dümmste Kunst-Experte müsste das Bild als Kopie erkennen.«

»Also, entschuldigt, aber ich bin Physiklehrer. Ich verstehe die Ironie nicht. Das ist mir zu hoch«, legte Hartmut Einspruch ein.

»Jan Vermeer wollte mit dem Cupido an der Wand einen Hinweis darauf geben, dass das Mädchen einen Liebesbrief liest. Im siebzehnten Jahrhundert war das keine Belanglosigkeit. Man konnte eine junge Frau mit einem Liebesbrief kompromittieren. Banksys Motiv des Mädchens, dem ein roter Herzballon wegfliegt, könnte man so deuten, dass Liebe vergänglich ist und einem schnell entgleitet, wenn man sie nicht festhält.«

»Und wo ist da die Ironie? So ist es doch. Oder etwa nicht?« Hartmut war geschieden. Ihm war die Liebe tatsächlich abhandengekommen und davongeflogen, wie dem Mädchen der rote Luftballon.

»Die Ironie liegt in der Unvereinbarkeit zweier Motive, die hunderte Jahre voneinander entfernt gemalt wurden, und sich jetzt auf einem Gemälde wiederfinden«, versuchte Andreas eine Erklärung, aber dem nüchternen Physiklehrer war das zu hoch. Unterdessen studierte Ulrich die Ausführung der Kopie, indem er ganz nah an das Gemälde herantrat.

»Also alle Achtung, Anton. Gemalt ist es großartig. Die Kostbarkeit des Kleides der jungen Frau, ihre goldenen Locken, der Faltenwurf des Teppichs. Perfekt. Hast du schon einen Käufer dafür?«

»Nein, vielleicht behalte ich es auch. Es gefällt mir selbst auch ganz gut«, antwortete er.

»Und von dieser Art Bilder haben sie mehrere?«, wollte Andreas wissen.

»Er hat ja genug Zeit als Pensionär«, antwortete Ulrich. Es war ein kleiner Seitenhieb, den sich Anton regelmäßig gefallen lassen musste. Er nahm es gelassen auf.

»Nun ja, ich brauche eine sinnvolle Beschäftigung«, parierte er ruhig.

»Du könntest dich auch ehrenamtlich engagieren. Wir haben ab nächster Woche Projekttage in der Schule. Da könnten wir Unterstützung gebrauchen«, schlug Hartmut vor.

»Ich überlege es mir«, sagte Anton unbestimmt. Dann gingen sie zurück zum Kamin. Andreas hätte gerne noch mehr Bilder gesehen, aber er wollte nicht drängeln. Anton schien ein eigenwilliger Charakter zu sein, wie er hier in diesem alten Fachwerkhaus einsam vor sich hin malte. Er sah aus wie ein Künstler mit dem Bart und den längeren grauen Haaren, die er zu einem dünnen Zopf gebunden trug. Und er war vorsichtig. Andreas hatte genau gemerkt, wie er von Anton Liebknecht taxiert worden war. Während die drei Freunde plauderten, überlegte Andreas, was er täte, wenn er das Talent von Anton hätte. Andreas war Objektkünstler. Sein großes Vorbild war Jean Tinguely, dessen Skulpturen fantasievolle Apparate und Maschinen waren, die keine Funktion hatten, aber dafür spannende Geräusche machten. Für die Projektwoche wollte er mit den Kindern und Jugendlichen auf Tinguelys Spuren wandeln. Dazu hatte er mit Bernd Severin vom Schrottplatz »Karambolage« bereits Kontakt aufgenommen. Mit Schrotti, wie Bernd von vielen genannt wurde, hatte Andreas früher Fußball beim TSV Maibach gespielt. Hartmut würde ihn als Physiklehrer dabei unterstützen, denn er konnte schweißen. Andreas war etwas nervös. Er war kein richtiger Lehrer und Rektor Feldhege beobachtete ihn scharf. Wenn die Projektwoche ein Erfolg würde, hätte er vielleicht endlich Ruhe vor seinem strengen Blick. Aber auf Dauer wollte er ohnehin nicht in dieser Schule bleiben. Das sollte nur eine Zwischenstation werden.

*

»Schon wieder Projektwoche? Lernt ihr auch noch mal etwas Richtiges in der Schule?«, brummte Magda. Es klang irgendwie schlecht gelaunt und alle Kinder schauten erstaunt von ihrem Mittagessen auf und sahen sie an. Das waren sie von der herzensguten Köchin nicht gewohnt. Sie war eine Seele von Mensch und glücklich, wenn es allen schmeckte und sie alle satt bekam.

»Was ist passiert, Magda?«, fragte die rotblonde Angelina Dommin, die wegen ihrer Sommersprossen von allen Pünktchen genannt wurde.

»Ich habe meine Ergebnisse von der letzten Blutuntersuchung bekommen. Da gibt es so einen Wert. Ich weiß nicht, wie der heißt. Aber der Arzt hat gesagt, dass ich besser auf meine Ernährung achten soll und nicht so viel Zucker essen darf«, gab Magda zu.

»Der Wert heißt HbA1C, oder Langzeitzuckerwert«, wusste die Kinderschwester Regine Nielsen.

»Wie auch immer, aber ich bin Köchin! Was glaubt der Doktor?«, rief Magda.

»Ist Zucker nicht gut?«, fragte Heidi und tauchte ihren Löffel tief in die Quarkspeise mit Heidelbeeren.

»Wir haben das gerade in Bio durchgenommen«, sagte Martin. »Also das mit dem Insulin und dem Zucker. Man soll vor allem keine Cola oder Limonade trinken.«

»Genau, so habe ich das auch verstanden. Quark mit Beeren ist okay. Gummibärchen sind schlecht.« Das hatte sich Simon gemerkt. Er war genauso alt wie Martin, nämlich dreizehn, und ging in eine Parallelklasse.

»Vielleicht kannst du mal einen Kurs bei einer Ernährungsberaterin machen, Magda«, schlug Else Rennert vor.

»Ernährungsberaterin, hm. Ich weiß nicht.« Magda war nicht überzeugt, aber darüber zu reden half ihr über die schlechte Laune hinweg.

»Ich würde auch mitkommen, Magda«, versprach Angelika, worauf Vicky, ihre jüngere Schwester, erstaunt aufblickte. Die fünfzehnjährige Angelika Langenbach interessierte sich aus einem ganz bestimmten Grund für ihre Ernährung. Der neue Lehrer, der gar kein Lehrer war, gefiel ihr sehr gut. Und wie viele Fünfzehnjährige dachte Angelika plötzlich, dass sie noch schlanker sein wollte, als sie es ohnehin war.

»Willst du etwa abnehmen? Dann gib mir deinen Nachtisch«, nutzte Fabian die Gunst der Stunde. Angelika schob ihre Schale Quark tatsächlich rüber zu Fabian, der sie verschmitzt angrinste.

»Ich habe in der Küche noch mehr Quark«, sagte Magda, wie nebenbei, denn sie war in Gedanken bei der Ernährungsberatung. Vielleicht war das doch keine so schlechte Idee.

»Was ist denn das Thema der Projektwoche?«, wollte Dominik von Wellentin-Schoenecker wissen. Der junge Mann, der bisher nur zugehört hatte, meldete sich zu Wort. Er war der Besitzer von Sophienlust und nachdem sich seine Mutter Denise weitgehend zurückgezogen hatte, der Verantwortliche für die Geschicke des Kinderheims.

»Kunst«, sagte Vicky wichtig.