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Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Marleen Gerlinger hatte heute ihre dritte Nachtwache in Folge. Allein in dieser Nacht waren bereits zwei Babys mit ihrer Unterstützung auf die Welt gekommen, und gerade erst hatte sie einer erschöpften, aber überglücklichen Mutter ihr kleines Baby in die Arme legen können. Marleen Gerlinger war seit vielen Jahren Hebamme, aber dies war immer wieder der schönste Augenblick in ihrem Beruf. Ein Moment, der ihr auch heute noch die Tränen der Rührung in die Augen treiben konnte. Die letzte Geburt war leicht und problemlos verlaufen, und die frischgebackenen Eltern wollten jetzt mit sich und dem neuen Erdenbürger allein bleiben, so daß sich Marleen ins Hebammenzimmer zurückziehen konnte. Sie wollte gerade eine Tasse Tee trinken und ein wenig ausruhen, doch daraus schien vorerst nichts zu werden, denn an der Eingangstür zum Kreißsaal läutete unverkennbar die Nachtklingel. In Erwartung einer weiteren werdenden Mutter öffnete sie die Tür. Doch zu ihrem Erstaunen erblickte sie zwei uniformierte Polizeibeamte. »Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Beamten, nachdem er sich mit einem knappen Blick auf seine Armbanduhr über die Tageszeit Gewißheit verschafft hatte. Es war drei Uhr in der Nacht. »Sind Sie die Hebamme Marleen Gerlinger?« fuhr der Beamte fort. »Ja, das ist richtig. Wollen Sie zu mir?« Marleen Gerlinger glaubte an einen Irrtum. Was wollte die Polizei im Kreißsaal und dazu noch mitten in der Nacht? »Ja, Frau Gerlinger. Es handelt sich um Ihren Sohn.« Marleen mußte sich an der Tür festhalten, um nicht in sich zusammenzusacken. Sie hatte weiche Knie, und in ihrem Kopf rasten die Gedanken. »Ich… ich verstehe nicht«, brachte
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Seitenzahl: 124
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Marleen Gerlinger hatte heute ihre dritte Nachtwache in Folge. Allein in dieser Nacht waren bereits zwei Babys mit ihrer Unterstützung auf die Welt gekommen, und gerade erst hatte sie einer erschöpften, aber überglücklichen Mutter ihr kleines Baby in die Arme legen können.
Marleen Gerlinger war seit vielen Jahren Hebamme, aber dies war immer wieder der schönste Augenblick in ihrem Beruf. Ein Moment, der ihr auch heute noch die Tränen der Rührung in die Augen treiben konnte. Die letzte Geburt war leicht und problemlos verlaufen, und die frischgebackenen Eltern wollten jetzt mit sich und dem neuen Erdenbürger allein bleiben, so daß sich Marleen ins Hebammenzimmer zurückziehen konnte. Sie wollte gerade eine Tasse Tee trinken und ein wenig ausruhen, doch daraus schien vorerst nichts zu werden, denn an der Eingangstür zum Kreißsaal läutete unverkennbar die Nachtklingel. In Erwartung einer weiteren werdenden Mutter öffnete sie die Tür. Doch zu ihrem Erstaunen erblickte sie zwei uniformierte Polizeibeamte.
»Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Beamten, nachdem er sich mit einem knappen Blick auf seine Armbanduhr über die Tageszeit Gewißheit verschafft hatte. Es war drei Uhr in der Nacht.
»Sind Sie die Hebamme Marleen Gerlinger?« fuhr der Beamte fort.
»Ja, das ist richtig. Wollen Sie zu mir?«
Marleen Gerlinger glaubte an einen Irrtum. Was wollte die Polizei im Kreißsaal und dazu noch mitten in der Nacht?
»Ja, Frau Gerlinger. Es handelt sich um Ihren Sohn.«
Marleen mußte sich an der Tür festhalten, um nicht in sich zusammenzusacken. Sie hatte weiche Knie, und in ihrem Kopf rasten die Gedanken.
»Ich… ich verstehe nicht«, brachte sie mühsam hervor.
Der jüngere der beiden Polizeibeamten nahm ihren Arm und stützte sie. »Sie brauchen sich keine unnötigen Sorgen zu machen, Frau Gerlinger. Ihrem Jungen geht es den Umständen entsprechend gut. Er liegt hier im St. Elisabeth Krankenhaus auf der Kinderstation.«
Seine Worte sollten Marleen beruhigen, doch sie erreichten das Gegenteil. »Was! Das kann doch nicht sein… er sollte doch im Bett liegen… zu Hause«, rief Marleen außer sich.
»Ja, wenn die lieben Kleinen immer das täten, was sie sollten«, sagte der ältere Polizeibeamte und fuhr in einem ernsthafteren Ton fort: »Lucas ist mit vermutlich zwei anderen Jugendlichen dabei erwischt worden, wie er in ein Kaufhaus einbrechen wollte. Der Nachtwächter hat die drei aufgeschreckt. Bei der Flucht ist Lucas von einer Mauer gestürzt, über die er entkommen wollte. Was die Diagnose betrifft, müssen Sie mit dem Arzt sprechen. Wir sind nur hier, um Sie über diesen Vorfall und über mögliche Konsequenzen zu unterrichten.«
»Konsequenzen«, wiederholte Marleen tonlos. Sie hatte sich mittlerweile auf einen Stuhl gesetzt und blickte starr vor sich hin. Sie konnte die Informationen der Polizisten nicht richtig aufnehmen. Aus ihrem schönen Gesicht war sämtliche Farbe gewichen. Die großen blauen Augen hatten einen unnatürlichen Glanz. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem blonden, zu einem langen Zopf geflochtenen Haar gelöst hatte. Der jüngere Beamte ergriff wieder das Wort. Ihm tat die junge Frau leid. Was für eine Nachricht! Anstatt daß ihr Sprößling, wie sie glaubte, friedlich schlafend im Bett lag, während sie arbeitete, trieb er sich draußen herum.
»Frau Gerlinger, Sie können doch auf der Kinderstation anrufen und sich nach Lucas’ Befinden erkundigen. Wie ich die Lage einschätze, können Sie jetzt sowieso hier nicht weg. Heute nachmittag kommen Sie dann bei uns im Präsidium vorbei, und wir sprechen über die Angelegenheit.«
»Was ist denn mit dem Vater von Lucas?« wollte der ältere Polizeibeamte wissen.
»Lucas hat natürlich einen Vater, aber ich erziehe Lucas allein. Wir sind schon seit Jahren getrennt.«
»Na, von Erziehung kann man ja kaum sprechen, wenn ein Elfjähriger nachts allein auf der Straße herumlaufen darf«, sagte der Beamte. Sein jüngerer Kollege warf ihm einen strafenden Blick zu.
Marleen blickte kurz zu den Beamten auf. Als alleinerziehende Mutter hatte sie schon häufiger Kritik zu hören bekommen, dabei tat sie ihr Bestes, um Lucas den Mangel eines richtigen Familienlebens zu ersetzen, aber es war sehr schwer. Den Beweis ihrer Unfähigkeit schien Lucas gerade erbracht zu haben. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Dann schien sie sich plötzlich wieder gefangen zu haben.
»Sie können mir im Augenblick nicht weiterhelfen, ich werde mich heute nachmittag mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie tonlos, stand auf und ging zum Telefon. Die Nummer der Kinderstation kannte sie auswendig.
»St. Elisabeth Krankenhaus, Schwester Ruth«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hallo, hier ist Schwester Marleen aus dem Kreißsaal. Ich habe gehört, daß mein Sohn bei euch liegt.«
»Ach, Sie sind es, Marleen. Ich habe gehört, daß es sich bei dem Jungen um das Kind einer Kollegin handeln soll. Aber an Sie habe ich nicht gedacht.«
Marleen hatte keine große Lust, mit der Kollegin von der Kinderstation zu plaudern. Deshalb fragte sie knapp. »Wie geht es Lucas?«
»Also, dem Lucas geht es einigermaßen. Er hat eine Radiusfraktur rechts, einige Hautabschürfungen, ein großes Hämatom auf der Stirn und leider eine leichte Gehirnerschütterung.«
Marleen stieß hörbar einen Seufzer aus, doch es war kein Seufzer der Erleichterung, sondern eher Ausdruck absoluter Ratlosigkeit.
»Ruth, ich habe zur Zeit selbst Nachtwache. Ich bin frühestens in drei Stunden bei Lucas. Können Sie ihm das irgendwie begreiflich machen?«
»Er schläft jetzt. Vielleicht sind Sie ja bereits da, wenn er aufwacht. Ansonsten werden wir es ihm schon erklären.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Marleen noch, bevor sie auflegte.
Glücklicherweise kam in dieser Nacht keine weitere Frau zur Entbindung. Marleen hatte trotzdem genug zu tun. Aber sie konnte nachdenken, während sie mechanisch ihre Arbeit erledigte. Die Instrumente mußten gereinigt und für die Sterilisation vorbereitet werden, Papier für den Wehenschreiber nachgelegt werden, Medikamente aufgefüllt, die Entbindungsräume vorbereitet werden.
Marleen arbeitete und dachte immer wieder: Warum? Was war in den Jungen gefahren? Was waren das für Freunde, mit denen er sich herumtrieb? Wie konnte das alles passieren? Sie bemerkte kaum, daß ihr die Tränen die Wangen herunterliefen. Sie fühlte sich allein, hilflos und überfordert. Als die Kolleginnen der Frühschicht kamen, war sie erleichtert. Jetzt mußte sie sich zusammennehmen, da sie zunächst einmal den Vorfall für sich behalten wollte. Soweit dies möglich sein würde, denn in der Klinik wurde viel geredet.
*
Marleen war nicht lange bei Lucas geblieben. Da er etwas gegen die Schmerzen bekommen hatte, war er noch sehr schläfrig, als Marleen an sein Bett trat. Sie hatte ruhig und leise mit ihm gesprochen, ihn getröstet und zunächst kein Wort des Vorwurfs an ihn gerichtet. Wozu auch? Bestraft war er genug. Wegen der Gehirnerschütterung mußte er ganz flach liegen. Sein rechter Arm war eingegipst, und die zahlreichen Hautabschürfungen taten gemein weh. Marleen tat es in der Seele weh, ihn so liegen zu sehen.
»Ich komme heute nachmittag wieder, Lucas. Mama muß erst selbst ein bißchen schlafen. Das verstehst du doch, nicht wahr?« hatte sie gesagt.
Lucas hatte nur wortlos genickt und die Augen wieder geschlossen. Sie gab ihm noch einen Kuß und machte sich auf den Heimweg.
Sie war todmüde, konnte aber zunächst nicht einschlafen. Erst nach einiger Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Das Telefon weckte sie gegen Mittag. Marleen war schlagartig wach und nahm ab.
»Gerlinger.«
»Guten Tag, Frau Gerlinger. Hier spricht Sabine Dorweiler, die Klassenlehrerin von Lucas.«
»Ja?«
»Ich wollte gern ein Gespräch mit Ihnen vereinbaren. Es geht, wie Sie sich denken können, um Lucas.«
»Können Sie mir nicht am Telefon sagen, um was es genau geht?«
»Doch, schon, aber ich wollte gern ein Gespräch gemeinsam mit Ihnen und Lucas vereinbaren. Wissen Sie, ich halte persönlich nichts davon, über den Kopf der Kinder hinweg Dinge zu besprechen.«
»Frau Dorweiler, ich bin Ihnen für Ihr Engagement sehr dankbar, aber bevor wie hier lange um den heißen Brei reden, möchte ich Ihnen sagen, daß Lucas gestern nacht mit zwei anderen Jugendlichen wohl versucht hat, in ein Kaufhaus einzubrechen. Bei der Flucht hat er sich verletzt. Er liegt im Krankenhaus.«
Marleens Stimme klang brüchig.
»O nein, wie schrecklich!« Frau Dorweiler, eine gestandene Lehrerin Ende Dreißig, war ehrlich entsetzt, zumal sie sich schon seit längerer Zeit Sorgen um Lucas machte. Hätte sie doch schon früher mit der Mutter gesprochen.
»Frau Gerlinger, das tut mir sehr leid. Weiß man, wer die beiden anderen Jungen waren?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe von der ganzen Angelegenheit während meines Nachtdienstes erfahren. Wie Sie wissen, bin ich Hebamme.« Marleen versuchte, ihrer Stimme wieder Festigkeit zu geben.
»Ja, das weiß ich. Frau Gerlinger, ich habe einen Verdacht, wer die beiden anderen sind. Dies ist auch etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte. Aber vielleicht verrät uns Lucas ja, wer die Mittäter waren.«
»Halten Sie das für wichtig?«
»Ja, sehr sogar. Sehen Sie, Lucas hat Probleme in der Klassengemeinschaft. In letzter Zeit hat er sich einigen Jugendlichen angeschlossen, die als Raufbolde und Unruhestifter an unserer Schule bekannt sind. Sie sind älter als Lucas. Spontan würde ich sogar glauben, daß sie Lucas angestiftet haben, wenn nicht sogar gedrängt haben, bei dem Einbruch mitzumachen.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Nun, ich kenne Ihren Sohn nicht so gut wie Sie selbst, aber ich bin seit über zehn Jahren Lehrerin, ich kenn’ meine Schüler. Der Lucas ist kein schlechter Junge, im Gegenteil.«
Die Worte der Lehrerin waren Marleen ein kleiner Trost. Sie erschien ihr wie ein schwaches Licht am Ende des Tunnels, obwohl ihr bewußt war, daß ihre Probleme gerade erst ihren Anfang genommen hatten.
»Ich danke Ihnen«, sagte Marleen und kämpfte dabei wieder gegen ihre aufsteigenden Tränen an. »Ich werde mich bei Ihnen melden. Jetzt habe ich leider nicht mehr Zeit.«
»Bitte tun Sie das auch. Ich bin immer für ein Gespräch bereit«, sagte Frau Dorweiler und beendete das Telefonat. Marleen hielt das drahtlose Telefon noch eine Weile nachdenklich in der Hand. Diese Frau Dorweiler schien wirklich eine anständige Person zu sein. Sie sollte ihr Angebot annehmen und ein Gespräch vereinbaren. Dann beschloß sie, zunächst einmal zu duschen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, daß die vergangene Nacht nicht spurlos an ihr vorüber gegangen war. Sie hatte Ränder unter den Augen, ihr Gesicht wirkte schmal und die Augen darin übergroß. Sie würde heute etwas großzügiger beim Make-up sein müssen, um etwas Farbe in ihr Gesicht zu zaubern. Sie wollte auf keinen Fall so aussehen, wie sie sich fühlte, nämlich wie eine überarbeitete und überforderte alleinerziehende Mutter.
*
»Gab es in der Nacht irgendwelche Neuzugänge, Schwester Angelika?« fragte Doktor Frank Behrend die Stationsschwester.
»Ja, Herr Oberarzt. Ein elfjähriger Junge namens Lucas Gerlinger ist von einer Mauer gestürzt und hat sich dabei eine Radiusfraktur rechts und eine Commotio cerebri zugezogen. Er liegt in Zimmer 134.«
Mit der Krankenakte unter dem Arm ging Dr. Behrend von Angelika begleitet den Flur entlang Richtung Zimmer 134. Beiläufig fragte er die Schwester: »Wieso kam er erst in der Nacht?«
»Weil es nachts passiert ist«, antwortete die Schwester.
»Wissen Sie Näheres darüber? Wieso turnt ein Elfjähriger des nachts auf einer Mauer herum?«
»Genaueres weiß ich nicht. Nur soviel, daß sich der Unfall auf der Flucht vor dem Nachwächter eines Kaufhauses ereignet hat. Die Mutter des Kindes ist Hebamme hier im Haus. Sie hatte Nachtwache, als es passiert ist.«
Dr. Behrend blieb abrupt stehen.
»Schöne Geschichte. Kenn’ ich die Mutter des Kindes?«
»Ich glaube schon, Herr Doktor. Es ist Marleen.«
Dr. Behrend überlegte kurz. Er kannte fast alle Hebammen im Haus persönlich, und der Name Marleen kam ihm bekannt vor. Im Augenblick hatte er jedoch kein Gesicht vor Augen. Aber er würde sie ja jetzt bald kennenlernen.
Als Lucas den großgewachsenen dunkelhaarigen Mann mit dem weißen Kittel auf sich zukommen sah, wurde ihm ganz bang ums Herz. Unwillkürlich blickte er sich im Zimmer um, ob seine Mama nicht doch irgendwo in der Nähe war. Aber da war niemand. Er war auf sich allein gestellt. Dr. Behrend trat an sein Bett und sprach ihn an.
»Hallo, Lucas. Ich bin Dr. Behrend.« Seine tiefe volltönende Stimme, und das breite Lächeln, mit dem er seine Worte begleitete, flößten Lucas etwas Vertrauen ein. Er lächelte unsicher zurück.
»Dein nächtlicher Ausflug ist aber schwer danebengegangen. Wirst eine Weile bei uns bleiben müssen.«
Lucas sah den Arzt mit großen Augen erwartungsvoll an.
»In welche Klasse gehst du denn?« fragte Dr. Behrend.
»Noch in die fünfte, nach den Sommerferien komme ich in die sechste«, gab Lucas leise zur Antwort.
»Na, das dauert ja nicht mehr so lange. Paß auf, Lucas. Das mit dem Arm ist halb so wild. Aber wegen der Gehirnerschütterung müssen wir vorsichtig sein.«
Dr. Behrend nahm eine kleine Taschenlampe aus seinem Arztkittel und sah damit in Lucas’ Pupillen.
»Ist dir übel?«
»Ein bißchen.«
Zu Angelika gewandt fragte Dr. Behrend: »Hat er sich bisher übergeben müssen?«
»Ja, einmal in der Nacht, aber häufiger nicht«, antwortete die Schwester.
»Hast du Kopfschmerzen?« fragte der Arzt.
»Ja, aber sie sind nicht so schlimm.«
»Schön. Also, Lucas, es sieht so aus, als hättest du eine leichte Gehirnerschütterung. Das heißt aber, daß du trotzdem eine ganze Weile ruhig und flach liegen mußt.«
»Hm«, brachte Lucas hervor.
»Du darfst auch nicht zur Toilette aufstehen und mußt deine Mahlzeiten ebenfalls im Liegen einnehmen.«
Lucas nickte, obwohl er sich im Augenblick gar nicht vorstellen konnte, wie das gehen sollte. Angelika ahnte es und sagte: »Es ist nicht so schwierig, wie es sich anhört. Wenn du mal zur Toilette mußt, bringt dir eine Schwester die Urinflasche oder den Schieber. Beim Essen bekommst du ebenfalls Hilfe.«
»Ach so.«
Dr. Behrend mußte lächeln. Hier lag ein kleiner verschüchterter Junge im Bett, der sich offensichtlich nach seiner Mama sehnte. Kaum zu glauben, daß dieser kleine Kerl versucht hatte, in ein Kaufhaus einzubrechen.
Als er mit Schwester Angelika wieder draußen auf dem Flur stand, meinte diese: »Der Kleine erscheint mir so harmlos. Daß er in Wahrheit so ein Lausebengel ist, sieht man ihm wirklich nicht an.«
»Ob er ein Lausebengel ist, wie Sie sagen, steht im Augenblick noch gar nicht fest. Man müßte erst einmal Näheres in Erfahrung bringen.«
»Sie haben wieder einmal recht, Herr Doktor«, sagte Angelika und lachte. Sie war nicht nur sie Stationsschwester, sondern auch eine gute Seele der Station. Sie arbeitete mit Dr. Behrend, den sie bereits als ganz jungen Assistenzarzt kennengelernt hatte, schon seit fast zwanzig Jahren zusammen. Selten waren sie verschiedener Meinung, und beide hatten sie etwas gemeinsam: Sie waren mit der Klinik verheiratet. Schwester Angelika gehörte der vom Aussterben bedrohten Gattung von Krankenschwestern an, die ihre Arbeit und das Wohl ihrer kleinen Patienten über das private Glück stellten. Sie ging mit ihren beinahe sechzig Jahren dem Ende ihrer Berufstätigkeit entgegen. Oft seufzte sie und zählte die Monate bis zu ihrer Pensionierung, aber alle wußten, daß es ihr sehr schwer fallen würde, die Schwesternhaube abzulegen.
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