Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
»Ich bin schwul, aber du kannst mich Daniel nennen.« Mit diesen Worten stellt sich Daniel dem Macho Nico vor, mit dem er sich auf dem Internat ein Zimmer teilen muss. Aber Nico kann Schwuchteln nicht ausstehen! So machen sich die Jungs das Leben erst mal zur Hölle. Zum Glück gibt es da aber noch Sofie mit dem ketchuproten Haar, die immer wieder dazwischenfunkt und die beiden zur Räson bringt. Doch obwohl Sofie das Herz auf der Zunge trägt, hat sie schreckliche Angst vor ihren Gefühlen. Und auch Daniel und Nico haben ihre Geheimnisse … Humorvoll, frech & berührend.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 282
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
1. Nico
2. Daniel
3. Nico
4. Daniel
5. Nico
6. Daniel
7. Nico
8. Daniel
9. Nico
10. Daniel
11. Nico
12. Daniel
13. Nico
14. Daniel
15. Nico
16. Daniel
17. Nico
18. Daniel
19. Nico
20. Daniel
21. Nico
22. Daniel
23. Nico
24. Daniel
25. Nico
26. Daniel
27. Nico
28. Daniel
29. Nico
30. Daniel
31. Nico
32. Daniel
33. Nico
34. Daniel
35. Nico
36. Daniel
37. Nico
38. Daniel
39. Nico
40. Daniel
41. Nico
42. Daniel
43. Nico
44. Daniel
45. Nico
46. Daniel
47. Nico
48. Daniel
49. Nico
50. Daniel
51. Nico
52. Daniel
53. Nico
54. Daniel
55. Nico
56. Daniel
57. Nico
58. Daniel
59. Nico
60. Daniel
61. Nico
62. Daniel
63. Nico
64. Daniel
65. Nico
66. Daniel
67. Nico
Danksagung
Über den Autor
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehme ich für deren Inhalte keine Haftung, da ich mir diese nicht zu eigen mache, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweise.
* * *
Copyright © 2024 by Michael Hamannt,
Forstbachstr. 47, 40723 Hilden
E-Mail: [email protected]
Coverdesign: Michael Hamannt
Verwendetes Bild für das Cover: William Moss/Shutterstock.com
Cover-Schriften: Halyard Display Regular, Halyard Display Book und Halyard Display Medium von Eben Sorkin, Joshua Darden und Lucas Sharp von Darden Studio (Adobe Fonts). Indie Shade von Maximiliano Sproviero von Sproviero Type (Adobe Fonts).
* * *
Du & Ich und all der Scheiß dazwischen ist eine überarbeitete Ausgabe des Romans Ihr mich auch, der 2010 im Thienemann Verlag erschienen ist.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist ausdrücklich nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig.
Fuck! Ich knall den Koffer auf den Boden. Was für ein Loch! Weiße Wände wie in einer Gummizelle. Der braune Teppich sieht wie aus ein rasierter Hundearsch und riecht auch so. Nicht, dass ich schon mal meine Nase in einen gesteckt hätte. So stell ich mir das eben vor. Aber der absolute Hammer: zwei Betten. Zwei! Das heißt doch, dass ich mir das Loch mit jemandem teilen muss. Bei meinem Glück kriege ich einen Streber oder Loser ans Bein genagelt. Noch mal fuck! Ich werfe mich aufs Bett. Scheiße, das ist nicht fair!
Ich hab nichts gemacht. Na ja, bis auf die Partys, über die sich die Nachbarn beschwert haben. Klar habe ich hin und wieder auch mal einen über den Durst gekippt. Ja, und? Bei Eltern wie Ralph und Theresa ist das kein Wunder. Ich hätte es wie Sharon Stone im ersten Basic Instinct machen sollen – Mann, war die mit Mitte dreißig scharf! – und die beiden mit ihrer Jacht in die Luft sprengen. Mit einem Schlag keine Probleme mehr.
Wie, ihr habt noch nie was von Basic Instinct gehört? Ist ein Klassiker aus den 90er Jahren. Zumindest behauptet Dad das. In Wahrheit ist er jedoch bloß scharf auf Sharon Stone. Und falls ihr mich jetzt für einen Psycho haltet, irrt ihr euch. Ein Psycho würde sich keinen Kopf darum machen, was ihr über ihn denkt. Der hat nicht mal ein Gewissen. Dafür hat er aber auch keine Familie oder Freunde. Die hat er alle schon gegessen oder so.
»Letztlich zählt nur das, was du tust«, sagt Ralph immer. Aber bei ihm heißt das nichts. Ralph ist ein Drecksack. Ein knallharter Geschäftsmann. Er kann dir die Eier rasieren, ohne dass du was merkst. So bin ich nicht. So will ich nicht sein. Wenn ich mein Wort gebe, dann halte ich mich auch dran. Ich sage, was ich denke. Und ich mache nur das, was ich will. Gut, dafür bin ich jetzt hier. Doch Freiheit hat ihren Preis.
Plötzlich sind da Schritte auf dem Flur. Etwas kracht gegen die Tür. Ein Koffer oder so. Nicht mal lausige fünf Minuten kann ich für mich haben. Ich bringe mich in Position. Die Tür geht auf und so ein braunhaariger Typ spaziert herein, als gehört die Welt ihm allein. Er stellt seine Sachen ab und mustert mich mit hochgezogener Braue. Was für ein affiges Verhalten. Der absolute Witz: Er trägt einen Hut. So einen Trilby. David Beckham ist auch schon mit so einem rumgelaufen. Wenigstens sieht er wie ein Sportler aus. Bestimmt ist er Fußballer. Echte Jungs spielen immer Fußball. Aber das Wichtigste ist im Moment, dass ich ihm erst mal klarmache, wer hier das Sagen hat.
»Ich heiße Nico und ich hab mir das linke Bett gekrallt, nur damit du schon mal weißt, was Sache ist.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und grinse. Mit diesem Grinsen kriege ich alle rum. »Wenn du Spaß haben willst, musst du dich nur an mich halten. Die Mädchen stehen auf mich! Hier, fühl mal!« Ich spanne meinen Bizeps an. »He, so wie wir beide aussehen, werden die bei uns Schlange stehen. Dieses Jahr wird eine einzige große Party. Was sagst du?«
Er lächelt, so von oben herab, und bringt mich damit sofort auf hundertachtzig. Und dann sagt er: »Ich bin schwul, aber du kannst mich Daniel nennen.«
»Was?« Ich mache einen Satz zurück und knalle gegen mein Bett.
»Ich sagte: Du kannst mich Daniel nennen.« Er neigt den Kopf zur Seite. »Lass mich raten! Du bist einer dieser kleinen Machos, die nicht mal vor einem Astloch haltmachen. Hauptsache, das Ding ist weiblich, richtig?«
»Eine Schwuchtel?«
»Bravo!« Er klatscht. »Ein Schnelldenker.«
»Ich soll mir das Zimmer mit einer Schwuchtel teilen? Die haben sie doch nicht mehr alle!« Ich trete gegen meinen Koffer. Eins von diesen Hartschalendingern. Fuck, das tut weh. »Fass mich ja nie wieder an!«
Er verdreht die Augen. »War ja klar, dass ich an den einzigen homophoben Idioten in dem ganzen Laden geraten musste.«
»Du nennst mich einen Idioten?« Ich packe ihn am Shirt. Die Schwuchtel ist einen halben Kopf kleiner als ich. Wenn ich ihm gleich zeige, mit wem er es hier zu tun hat, wird er bestimmt ganz schnell kuschen. »Sieh dich vor, wie du mit mir redest, sonst hau ich dir eine rein.«
»Tatsächlich, kleiner Macho?!« Dann küsst er mich.
»Hm, gar nicht so übel. Labello.«
»Schwule Sau!« Er kriegt meine Faust zu spüren. Direkt in den Magen. Die Schwuchtel geht in die Knie. Er lässt mich trotzdem keine Sekunde aus den Augen. »Erste Überlebensregel«, presst er hervor. »Wende deinem Gegner niemals den Rücken zu.«
Ich wische mir über den Mund. »Das wirst du noch bereuen!«, schreie ich.
Die Zimmertür fliegt auf und Dr. Lydia Harrenberg schiebt ihren Schrumpfkopf ins Zimmer. Die ist bestimmt schon hundert. Außerdem die stellvertretende Direktorin am Hohenheimer Internat. Sie hat mit mir und Theresa das Aufnahmegespräch geführt.
»Was ist hier los?« Ihre Stimme ist total schrill und sie näselt.
Shit, gleich am ersten Tag voll in die Scheiße gegriffen. »Das ist deine letzte Chance, Nico! Versau sie dir nicht!«, fallen mir Ralphs Worte ein. Damit hat er mich am Berliner Hauptbahnhof abgesetzt, bevor er mit Theresa Richtung Dominikanische Republik abgerauscht ist. Ein Ton von der Schwuchtel und der Schrumpfkopf verfrachtet mich in den nächsten Zug nach Hause. Ich starre ihn an. Er starrt zurück. Dann lächelt er. Irgendwie hat er gecheckt, dass ich einer dieser Problemfälle auf Bewährung bin.
Er rafft sich auf, klopft sich die Klamotten ab. Die Schwuchtel genießt es auch noch. Ich bin geliefert.
Doch dann sagt er: »Mir war bloß schlecht. Ich werde leicht seekrank.«
Die Harrenberg runzelt die Stirn. Mann, hat die Falten. »Wovon redest du, Junge? Das ist kein Schiff.«
»Na, dann ist ja alles in bester Ordnung.«
Sie schüttelt den Kopf und verschwindet.
Er hätte mich in die Pfanne hauen können, hat er aber nicht getan. Egal, der Typ steht auf Jungs und ihre Schwänze. Wenn ich mir das bloß vorstelle, wird mir kotzübel. Jetzt schmeißt er seinen Koffer aufs Bett und packt seinen Kram aus. Keinen Ton sagt er. Der führt doch was im Schilde. Klar, der wartet darauf, dass ich mich umdrehe, und macht sich dann über mich her. Hey, immerhin hat er mich geküsst.
»Glaub ja nicht, dass ich dir jetzt dankbar bin«, platze ich heraus. »Du hattest es verdient!«
Er dreht sich zu mir um. »Klar, immer auf die Schwuchtel drauf, was?«
»Warum stehst du auch auf Schwänze?«
»Warum stehst du auf Pussis?«
»Mann, weil’s einfach so ist.«
Die Schwuchtel schnaubt. »Eben.«
Ich funkle ihn an. »Wenn der Scheiß bloß nicht ansteckend ist.« Ich wische mir demonstrativ die Hand, mit der ich ihm eine verpasst habe, an der Jeans ab.
Das macht ihn erst so richtig wütend. »Ach, wusstest du etwa nicht, dass es sich durchs Küssen überträgt?«
Das ist bloß ein Witz, oder? »Was soll der Mist?«
»Wenn man dann auch noch dieselbe Luft wie ein Homo atmet ...«
»Du verarschst mich doch!«, brülle ich.
Nun grinst die Schwuchtel. »Tja, willkommen im Club, Nico.«
»Du bist echt das Letzte.«
»Du mich auch.«
Regentropfen, die sanft ans Fenster trommeln. Ein Sonnenstrahl, der mich an der Nase kitzelt. So möchte ich geweckt werden. Das ist ein guter Start in den Tag. Stattdessen beginnt mein Morgen damit, dass ich kurz davor bin, den ersten Mord meines Lebens zu begehen.
Nicht an Nico. Zumindest noch nicht. Es geht um seinen Wecker, der mich gerade aus meinem Lieblingstraum gerissen hat. Um sechs Uhr morgens. Dabei gibt es erst um sieben Frühstück. Eine halbe Stunde Schlaf hat er mir gestohlen, wobei das nicht mal das Schlimmste ist. Der kleine Macho hat einen Wecker, der aussieht wie ein Feuerwehrauto. Und auch das ist immer noch nicht das Schlimmste. Das Ding kann reden. Es klingelt nicht, sondern verkündet mit einer quäkenden Stimme: »Aufstehen – oder ich spritz dich wach!« Das ist ganz eindeutig nicht, was ich von einem Wecker hören will.
»Cooles Teil, was?«
Nico grinst mich quer durch das Zimmer an. Doch schon eine Sekunde später verdüstert sich sein Gesicht. Offensichtlich haben die homophoben Synapsen in seinem Gehirn zueinandergefunden und ihn daran erinnert, dass er eine Schwuchtel anlächelt. Grummelnd zieht er sich die Bettdecke bis zum Kinn und das, obwohl er ein T-Shirt trägt. Nico ist sechzehn und führt sich wie eine pubertierende Dreizehnjährige auf. Aber mir ist ja gleich klar gewesen, dass es mit ihm Ärger geben würde. Er sieht einfach zu gut aus. Das tun die meisten Machos. Sein hellbraunes Haar fällt ihm weit ins Gesicht, was ihm etwas Verwegenes verleiht. Die langen Wimpern funkeln golden im Licht der Morgensonne. Seine Augen haben es mir besonders angetan. Sie sind dunkel wie Schokolade und brennen mit einer beunruhigenden Intensität. Aber selbst wenn ich etwas von ihm wollte, was ich nicht tue, würde er mich eher vor den ICE stoßen, als sich auch nur noch ein einziges Mal von mir küssen zu lassen.
Ich lasse mich zurück in mein Kissen sinken und denke wehmütig an meinen Traum zurück. Jannik Schümann, der in der Verfilmung von Die Mitte der Welt den superheißen Nicholas gespielt hat, wollte mir gerade seine Handynummer zu geben. Und wieder einmal wachte ich auf, bevor ich ihn zurückrufen konnte. Seufz. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, bin ich allerdings überrascht, wie gut ich geschlafen habe. Normalerweise liege ich die halbe Nacht wach und wälze mich ständig hin und her, wenn ich in einem fremden Bett liege. Ich bin jedoch nur ein einziges Mal aufgewacht. Keine Ahnung, wovon. Nico war noch auf, hatte sich jedoch mit einer Taschenlampe unter die Bettdecke verzogen. Ob der kleine Macho Heimweh hatte und sich heimlich Bildchen von Mami und Papi angesehen hat?
Als Nico wie ein müdes Tier aus dem Bett kriecht, mache ich mir einen Spaß daraus, ihm wie ein Schatten zu den Gemeinschaftsduschen zu folgen. Auf dem Korridor wirft er mir einen grimmigen Blick zu. Egal, er trägt nur ein Handtuch um die Hüften, was echt scharf ist. Mann, was für ein Hintern!
Im Bad sind noch fünf Duschzellen frei. Nico flieht in die, die von meiner am weitesten entfernt ist. Schade, aber die übrigen Aussichten sind auch nicht zu verachten. Eine Weile mustere ich die anderen Jungs verstohlen, bevor ich mich mit dem Gesicht zur Wand stelle, weil meine »Neugier« so groß zu werden droht, dass man sie nicht mehr übersehen kann. Nicht, dass ich mich dafür schäme, schwul zu sein. Aber sich unter der Dusche zusammen mit einem Haufen nackter Hetero-Jungs zu outen, kommt doch einem Selbstmord gleich.
Natürlich dauert es nicht lange, bis einer dieser Witze fällt, die schon seit einer Million Jahren nicht mehr komisch sind, weil das Kino sie bis zum Erbrechen durchgekaut hat.
»He, Neuer, mir ist die Seife runtergefallen, heb sie mir mal auf!«
Allgemeines Gelächter.
Na schön, auch ich grinse, schließlich bin ich nicht gemeint.
»Wenn du sie nicht dort wiederfinden willst, wo die Sonne niemals hin scheint, heb sie selber auf«, lautet Nicos Antwort.
Erneut Gelächter.
»Test bestanden. Ich heiße Oliver.«
»Nico.«
Ob ich als Nächster dran bin? Doch keiner spricht mich an. Bin ich etwa Mr. Unsichtbar? Oder hab ich ekligen Ausschlag, von dem ich nichts weiß? Vielleicht liegt es ja auch an meinem Karma. Ich meine, ich glaube nicht an diesen Esoterik-Kram, aber Zufall kann es doch auch nicht sein. Plötzlich habe ich schlechte Laune.
Zurück auf unserem Zimmer verziehe ich mich zwischen die Türen meines Kleiderschranks. Nico pfeift ausgelassen auf seiner Seite des Raums. Kein Wunder, er hat ja bereits Anschluss gefunden. Typisch Macho. Ach, was rege ich mich überhaupt auf. So ist die Welt eben. Sie kriegt mich trotzdem nicht unter.
Ich schnappe mir meine Lieblingsjeans, die mit den Löchern an beiden Knien, was zusammen mit meinen moosgrünen Chucks superstylisch wirkt. Gerade als ich mit anziehen fertig bin, klopft es an der Tür. Nico zuckt bloß die Schultern.
»Was ist?«, rufe ich missmutig.
Die Tür fliegt auf und die Klinke hinterlässt eine hässliche Delle in der Wand. Das fängt ja schon mal gut an. Gleich darauf betritt ein für diese frühe Stunde viel zu gut gelaunter Junge mit blondem Haar und einem »Schön-ist-es-auf-der-Welt-zu-sein«-Lächeln das Zimmer. Jetzt fehlt nur noch schmalzige Hintergrundmusik und ich bin in einem Werbespot für Mamis liebsten Sohnemann gelandet. Gott, ich hasse es, wenn ich so drauf bin.
»Hi, Leute, ich bin Chris«, verkündet unser Sonnenschein und schaut von mir zu Nico. »Mensch, was herrscht denn bei euch für eine Stimmung?«
»Frag das die Schwuchtel!«
»Welche Schw... Oh, verstehe.« Er sieht mich an. »Du bist also ...« Er lässt den Satz unbeendet und mustert mich mit einer Mischung aus Neugier und Faszination.
Ich kenne diesen Blick. »Okay, die Besuchszeit ist vorbei. Du kannst mich Daniel nennen. Füttern ist jedoch strengstens verboten! Und da mein Mitbewohner die Höflichkeit nicht gerade mit Löffeln gefressen hat: Er heißt Nico. Spitzname: kleiner Macho. Aber so darf nur ich ihn nennen.«
Nico wirft mir einen finsteren Blick zu und wendet sich dann wieder an Chris. »Lass dich von dem bloß nicht blöde anquatschen.« Sie schütteln einander die Hände. »Was kann ich für dich tun, Chris?«
»Ich wohne gleich nebenan. Die Harrenberg hat mich gebeten, euch vor Unterrichtsbeginn noch ein bisschen rumzuführen. Ihr wisst schon, wo alles ist und so. Aber jetzt geht es erst mal in die Aula. Direktor Schneider will uns alle sehen.«
»Was ist los?«, will Nico wissen.
»Keine Ahnung, kann jedoch nichts Gutes sein. Schneider gibt sich nur mit uns ab, wenn er uns eins reinwürgen kann. Der Kerl macht zwar auf verständnisvoll, ist aber total hintenrum.«
»Mann, warum werden die größten Arschlöcher immer Lehrer?«, schimpft Nico.
»Tja, dann weißt du ja, wo du in zehn Jahren stehst«, werfe ich ein.
»Schwachkopf!« Nico baut sich drohend vor mir auf.
»Was denn?« Ich kusche bestimmt nicht vor ihm. Das tue ich vor niemandem. Nicht mehr jedenfalls.
»Lasst den Quatsch, Leute«, sagt Chris. »Wir kommen noch zu spät.«
Fünf Minuten später sitzen wir in der Aula. Ein riesiger Raum, der mit seinen Säulen, den hohen Bogenfenstern und der holzvertäfelten Decke wie ein mittelalterlicher Festsaal aussieht. Tatsächlich ist Hohenheim eine ehemalige Burg, die vor einer halben Ewigkeit mal einem Raubritter gehört haben soll. Zumindest steht es so in der langweiligen Begrüßungsbroschüre.
Meine neuen Mitschüler sind da wesentlich interessanter. Dreihundert fremde Gesichter, die mit ohrenbetäubender Lautstärke aufeinander einreden. Der erste Schultag nach den Ferien. Es wird gekreischt, geküsst, umarmt, gelacht, getuschelt und gestritten. Meistens geht es um Urlaubserlebnisse und heiße Strandflirts. Ich habe die Ferien damit verbracht, Hundescheiße, halb leere Bierdosen und verwesende Döner im Stadtpark einzusammeln. Der grandiose Versuch, meinem Leben wieder einen Sinn zu geben, nachdem ich sechs Monate lang Pascal nachgeheult habe.
»Macht dich das an?« Nico zeigt auf zwei Jungs, die einander umarmen, sich dabei aber übertrieben kameradschaftlich auf die Schultern klopfen.
»Oh, ich werde schon scharf, wenn ich bloß die Gemüseabteilung im Supermarkt betrete. Besonders zur Gurkenzeit.«
Nico starrt mich verunsichert an. Mit Sarkasmus scheint er nichts anfangen zu können.
»Du hast deinen Kopf auch nur, damit es dir nicht in den Hals regnet, was?«, murmle ich.
»Das habe ich gehört«, schnappt er.
»Erstaunlich, wo du doch direkt neben mir sitzt.«
Chris, der auf der anderen Seite von Nico hockt, grinst sich einen ab. Wie schön, dass wenigstens einer seinen Spaß hat. Nicos Augen dagegen sprühen vor Zorn. Dunkle Augen, in denen man sich leicht verlieren kann. Doch nicht dieses Mal. Nicht noch einmal.
»Na, mach schon«, fordere ich ihn auf. »Nur raus damit!«
Nico winkt ab. »Ach was, du bist es nicht wert.«
Was für ein Spinner! Der glaubt auch noch, er verdient einen Orden dafür, dass er eine Schwuchtel ist. Eins muss ich ihm dennoch lassen: Für einen Arschficker hat er Mumm. Ich hab ihm eine reingehauen und er hat sich nicht mit eingekniffenem Schwanz davongemacht. Im Gegenteil. Er provoziert mich, wo er kann. Warum hat er die Harrenberg nicht nach einem anderen Zimmer gefragt? Das hätte so vieles leichter gemacht. Falls er glaubt, ich werde das Feld für ihn räumen, ist er jedenfalls auf dem Holzweg. Das Zimmer ist ein Loch, aber es gehört mir. Ich war als Erster dort, also werde ich auch bleiben. Scheiße, ich trete doch nicht wegen einer Schwuchtel den Rückzug an!
Was ist überhaupt los mit ihm? Zur Abwechslung hält er mal die Klappe. Ist er etwa sauer? Mensch, das ist es. Muss etwas sein, das ich gesagt habe. Ich hab es gleich gewusst. Der ist nicht halb so locker drauf, wie er tut. Sein Pech. Komisch ist es schon. Bevor ich wusste, in welchen Gewässern er fischt, habe ich echt gedacht, wir könnten Freunde werden.
»Ihr zwei seid heute wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?« Chris beugt sich noch dichter an mein Ohr heran. »Hat er irgendwas bei dir versucht? Oder was ist los?«
Sofort fällt mir wieder der Kuss ein, aber damit wollte die Schwuchtel mir nur eins reinwürgen. »Was soll die Fragerei?«
Chris hebt abwehrend die Hände. »Sorry, Mann, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
Shit, wenn ich so weitermache, werde ich noch wie die Schwuchtel enden. Niemand will mit einem Arschficker befreundet sein. »Vergiss es!« Ich grinse ihn an. Chris grinst zurück. Ich bin gut darin, Leute um den Finger zu wickeln. »Wie gefällt’s dir bisher?«, bohrt er weiter.
Ätzende Frage. Eine fremde Schule, keine Freunde. Klar, dass man sich erst mal beschissen fühlt. »Die Dinge sind, wie sie sind.«
»Warum hast du überhaupt auf das Hohenheim gewechselt? Arbeiten deine Eltern im Ausland?«
Ich könnte Ja sagen. Das würde es leichter machen. »Nein.«
Chris zieht eine Braue hoch. »Du willst wohl nicht drüber reden, was?«
»Wenn du es unbedingt wissen musst: Ich hab ein bisschen Party gemacht und meine Alten sind deswegen ausgerastet. Darum bin ich jetzt hier.«
»Na ja, du hättest es schlimmer treffen können.« Chris zuckt die Achseln. »Aber was verstehst du unter ein bisschen Party?«
»Die Küche ist abgefackelt und einer meiner Freunde hat sich in der Motorhaube vom neuen Porsche verewigt.«
»Oh, Mann, mein Vater hätte mich umgebracht!«
»Vergiss es, dann hätte Ralph sich ja Zeit für mich nehmen müssen. Da war das Internat die einfachere Lösung. Was hat dich hierher verschlagen?«
»Das Hohenheim hat einen erstklassigen Ruf. Zum Glück habe ich ein Stipendium bekommen. Ansonsten könnte sich mein Vater eine solche Schule nicht leisten.«
»Ein kleiner Streber also.«
Er grinst verlegen. Chris ist ganz in Ordnung. Nur nicht gerade meine Wellenlänge. »Wie sieht es mit Sport aus?«
»Wir haben ein Schwimmteam, eine Handballmannschaft – die Mädchen sind echt gut, die haben es bis in die Kreisliga geschafft – und dann gibt es noch den Hohenheimer 09. Die beste Fußballmannschaft im Umkreis von 100 Metern.« Er lacht. »Nein, ganz im Ernst, wir sind gar nicht sooo schlecht.«
»Du spielst auch?«
Er nickt.
»Wofür steht die ›09‹?«
»1909 wurde das Internat gegründet«, erklärt Chris. »Du spielst also. Was ist mit Daniel?«
»Schwuchteln spielen kein Fußball.«
Plötzlich wird es still in der Aula. So ein Kerl, der mich an eine altersschwache Bulldogge erinnert, schlurft an uns vorüber.
»Direktor Schneider«, murmelt Chris.
Ist mir auch so klar gewesen.
Schneider ist groß. Früher muss er mal eine echte Kante gewesen sein. Heute ist er nur noch ein Haufen alter Knochen, trotzdem halten bei seinem Anblick alle die Klappe. Das hat jedoch nichts mit Respekt zu tun. Wenn man ihn ansieht, ist es so, als starrt man einer üblen Krankheit ins Gesicht. Man schließt automatisch den Mund, um sich nicht anzustecken.
Schneider räuspert sich ins Mikrofon. »Ich habe euch etwas mitzuteilen«, legt er los. Zuerst kapiere ich nicht, was er von uns will. Er quatscht von den Abgründen des Lebens, in die wir alle zu stürzen drohen. Nach und nach kommt jedoch raus, dass man gestern Abend einen Markus Hagen mit harten Drogen erwischt hat. So, wie alle ihn anstarren, muss es der Typ in der ersten Reihe sein. Der, der ausschaut, als würde er gerade an einer Fischgräte ersticken. Mann, echt heftig, wenn man vor versammelter Mannschaft runtergeputzt wird. Ist das hier die übliche Masche?
Was mich allerdings vielmehr interessiert: Wie komme ich in die Fußballmannschaft? Ich muss da rein!
Ich bin gut. Daran soll es nicht liegen. Aufnahmerituale, wie mit dem hässlichsten Mädchen der Schule zu vögeln, gibt es hier sicher nicht. Das passt nicht zu Hohenheim. Wenn es überhaupt ein Ritual gibt, dann geht es ums Fechten oder so. In dem Verein, in dem ich früher spielte, haben wir einen Neuen mal gezwungen, gebratene Ziegenhoden zu essen. War natürlich meine Idee. Sobald Lutz den letzten runtergewürgt hatte, ging die Kotzerei los. Er hat überhaupt nicht mehr aufgehört. Irgendwann hab ich gedacht, gleich kommen die Innereien mit raus. Also hab ich ihm gesagt, dass es bloß Königsberger Klopse waren. Er hat vor Erleichterung geflennt. Echt. Später wurde Lutz dann mein bester Freund. Mann, ich vermisse ihn schon jetzt. Ich sollte ihn ... Was ist nun schon wieder los?
»Das darf nicht wahr sein«, raunt mir Chris zu. »Schneider hat gerade Marcus Hagen rausgeworfen.«
»Ja, und?«
»Findest du das nicht übertrieben?«
»Hey, der hat mit Drogen rumgemacht. Selber schuld, sage ich da. An meiner alten Schule ist jemand daran krepiert. Muss ziemlich übel gewesen sein. Von mir darfst du kein Mitleid erwarten.«
Wieso glauben einige Menschen eigentlich, entscheiden zu können, wer etwas wert ist und wer nicht? Früher habe ich mir nicht einen einzigen Gedanken darüber gemacht, aber dann hätte mir Joshua fast den Schädel eingeschlagen. Damals, auf Steffens Geburtstagsparty. Zwei Jahre ist das jetzt her. Er hat sich von hinten auf mich gestürzt und mein Gesicht wieder und wieder auf die Fliesen des Partykellers geknallt.
Watsch, watsch, watsch.
Anfangs spürte ich nicht einmal Schmerzen. Vermutlich wegen des Alkohols, stattdessen kam ein Gefühl von Ekel über mich. Dieses Watsch klang genauso wie beim Metzger, wenn er unseren noch rohen Sonntagsbraten aufs Schneidebrett klatschte. Ein widerlich schmatzendes Geräusch. Irgendwann – nach einer halben Ewigkeit – erbarmten sich ein paar der anderen und zerrten Joshua mit den Worten »Der ist es nicht wert!« von mir runter. Die gebrochene Nase. Das viele Blut. Das alles war mir in diesem Moment egal. Nichts davon hatte Bedeutung, denn mein bester Freund war kurz davor gewesen, mich umzubringen. Niemals im Leben war mir elender zumute. Niemals im Leben kälter. Ich wünschte, ich hätte in diesem Moment heulen können, aber etwas war gestorben, ganz tief in mir drin, obwohl ich überlebt habe.
Später, in der Notaufnahme des Krankenhauses, fragte mich der Arzt, was passiert wäre. »Ich bin es nicht wert, zu sterben«, antwortete ich ihm, woraufhin er so wütend wurde, dass er die Schwester rausschickte. Er zog sich das Hemd aus und zuerst dachte ich schon, er wollte sich an mich ranmachen. Aber dann drehte er sich um und sein Rücken war voller Narben. »Die habe ich meinem Vater zu verdanken«, sagte er mit schneidender Stimme. »Willst du also behaupten, dass ich weniger wert bin als er, nur, weil er es für richtig hielt, mir das anzutun?«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf, begriff jedoch erst sehr viel später, was er mir damit sagen wollte: Wenn ich wertlos bin, dann nur deshalb, weil ich mich selber dafür halte.
Ich halte mich inzwischen ganz sicher nicht mehr für wertlos, aber manche Erinnerungen lassen sich nicht so leicht abschütteln. Manche Gefühle lauern dein Leben lang tief in dir drin wie ein wildes Raubtier, das nur auf den richtigen Augenblick wartet, um seine Klauen erneut in dein Fleisch zu schlagen. Ich habe gelernt, das zu akzeptieren, was nicht heißt, dass ich den Kampf gegen diese Erinnerungen dann und wann auch mal verliere.
»He, träumst du?« Chris rüttelt mich an der Schulter. Erst jetzt wird mir bewusst, dass Schneider die Aula längst verlassen hat und die Menge sich auflöst.
»Alles in Ordnung?«, hakt er nach, als ich nicht gleich reagiere.
»Ja, ja, alles bestens.« Ich stehe auf und begegne Nicos eigentümlichem Blick. »Was?«, frage ich.
»Du vermisst den Poolboy, was?« Er klingt spöttisch, aber da ist etwas in seinen Augen, das den Worten die Schärfe nimmt. Ich weiß nicht, was es ist, dann geht es auch schon weiter. »Lass mich raten. Mama und Papa haben euch beide beim Bockspringen erwischt, und darum bist du jetzt hier.«
»Welcher Poolboy?«, fragt Chris verwirrt und wird gleich darauf rot. »Schwachsinn, meine Eltern haben nicht das geringste Problem damit, dass ich schwul bin.«
»Ja, klar, darum hast du mich auch gerade angebrüllt.«
Tatsächlich habe ich so laut gesprochen, dass einige stehen geblieben sind und neugierig zu uns rübersehen. Freak lese ich in ihren Gesichtern. Tja, mit der Tür ins Haus zu fallen, ist eben ein Lebensmotto von mir.
»Äh, soll ich euch jetzt zu eurer Klasse bringen?« Chris tritt unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Wäre nicht gut, wenn ihr gleich an eurem ersten Tag zu spät kommt.«
»Jetzt halt mal die Luft an.« Nico starrt Chris entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst! Ich teile mir das Zimmer mit dem da und gehe auch noch in dieselbe Klasse mit ihm?«
Chris’ Schlagersong-Stimmung weicht endgültig nackter Verzweiflung. »Das ist nicht meine Schuld, Leute. Okay? Ich bin nur der Trottel, der das Pech hat, im Zimmer nebenan zu wohnen. Wenn euch was nicht passt, müsst ihr zur Harrenberg gehen. Können wir jetzt endlich los?« Er sieht von Nico zu mir. »Bitte!«
Plötzlich tut er mir leid. »Klar.«
Dieses Mal erhebt auch Nico keine Einwände.
Wir holen nur rasch unsere Sachen aus den Zimmern und folgen Chris in den Westflügel des Internats. Er hat die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und grummelt vor sich hin. Er scheint sauer. Plötzlich muss ich lächeln. Auch wenn er nicht gerade mein Typ ist, sieht der arme Kerl richtig süß aus, wenn er schmollt. Ich überlege schon, etwas Aufmunterndes zu ihm zu sagen, aber Nico würde dann bloß wieder einen dummen Kommentar ablassen und ich will Chris nicht noch mehr in Verlegenheit bringen.
Er steigt in den dritten Stock hinauf, wo es einen langen Korridor mit knallblauen Türen gibt. Sie stehen im krassen Gegensatz zu den hölzernen Bogenfenstern, durch die man auf die Sportanlage und einen entfernten Wald schaut. Die Bäume leuchten in einem satten Grün, während die Kronen das Sonnenlicht reflektieren, als wären die Blätter aus Glas. Mittlerweile ist Chris vor einer der Türen stehen geblieben.
»Der Name eures Klassenlehrers ist Benrath.« Chris sieht mich an. »Eigentlich ist er ganz in Ordnung. Allerdings mag er keine Leute, die aus der Reihe tanzen.«
»Du meinst Leute wie mich.«
Chris seufzt.
»Finden wir es heraus«, meint Nico und reißt die Tür auf. Im selben Augenblick geht eine Veränderung mit ihm vor. Plötzlich strahlt er von innen heraus und auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, das soviel sagt, wie: Ihr habt nur auf mich gewartet!
Zu meinem Neid muss ich gestehen, dass er einer dieser Menschen ist, auf die das tatsächlich zutrifft. Ein Glückspilz. Einer, dem alles in den Schoß fällt. Als ich mich noch einmal zu Chris umdrehe, will er gerade gehen. »Danke«, sage ich.
»Kein Problem. Also, wir sehen uns.«
»Ich fürchte, das wird dir nicht erspart bleiben.«
Er lächelt, nickt und trottet davon.
Mann, Benrath ist fett. Er hat kurzes Haar und sein Kopf klebt direkt auf seinen Schultern. In der Hand hält er ein Mathebuch. Er starrt mich an. So mit gerunzelter Stirn. Auch die Klasse starrt mich an. Allerdings neugierig. Ein paar Mädchen lächeln. Ich zwinkere ihnen zu. Sofort beginnen sie zu tuscheln. Na also.
»Nico van Vossen«, sage ich zu Benrath und schicke ein Grinsen durch die Klasse. Ich entdecke Oliver, den Typen aus der Dusche. Er hebt kurz die Hand.
Benrath wiederholt meinen Namen und rückt die Brille auf seiner Nase zurecht. »Ich erinnere mich, dass Direktor Schneider dich erwähnt hat – und noch einen anderen Jungen.« Er neigt den Kopf zur Seite, damit er auch Daniel sehen kann. »Und du bist?«
»Ich bin schwul, aber Sie können mich Daniel nennen.«
Gelächter und Buhrufe schallen durch die Klasse. Benrath verzieht keine Miene. »Nachname.«
»Markward.«
»Schon besser.« Er legt das Buch zur Seite und blickt sich in der Klasse um. Es gibt drei freie Plätze. Fuck! Ich will auf keinen Fall neben dem Jungen sitzen, der wie eins dieser grauen Aliens aussieht: ganz bleich, große, dunkle Augen, die direkt durch einen hindurchstarren. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Mit dem Typen stimmt doch was nicht. Na, super, damit ist ja wohl klar, was mir blüht.
Doch Irrtum. Benrath ist einer von denen, die in Schubladen denken. Also lande ich nur einen Sitzplatz von Oliver entfernt, während Daniel zum Alien kommt. Freak zu Freak.
»He, Mann, cool, dich wiederzusehen«, sagt Oliver, ohne dass Benrath etwas mitbekommt. »Das ist übrigens Nils.« Er meint den Typen zwischen uns. Wir nicken uns zu.
»Sag bloß, du musst dir ein Zimmer mit dem teilen?« Oliver nickt in Daniels Richtung. »Mann, mein Beileid.«
Ich zucke die Achseln. »Es läuft nie, wie man’s gerne hätte.«
»Also ich würde nachts kein Auge zubekommen. Ich meine, bei so jemandem weiß man ja nie.« Oliver spricht laut genug, dass auch Daniel ihn hören muss, trotzdem tut er so, als ob er nichts merkt. »Die packen dir an die Eier und ...«
»Halt doch deine dumme Klappe«, zischt ein Mädchen aus der Reihe vor uns. »Als ob es bei dir etwas gäbe, wo es sich hinzupacken lohnt!«
Mann, gar nicht mal übel, die Kleine. Aber auch ziemlich abgedreht. Sie hat ketchuprotes Haar und stechend grüne Augen. Solche Augen hab ich noch nie gesehen. Ich wette, sie trägt Kontaktlinsen.
»Gib’s schon zu, Sofie«, sagt Oliver und macht auf lässig. »Du willst es doch schon die ganze Zeit und traust dich nur nicht. Was ist? In der Pause hinter den Lehrergaragen?«
»Wozu? Wenn ich Lust auf eine Lachnummer habe, schaue ich mir die Simpsons an.«
Oliver grinst. »Du weißt gar nicht, was du dir entgehen lässt, Zuckerschnecke.«
Oh, Mann, Sofies Miene lässt bei mir alle Alarmglocken schrillen. Keine Frage, Oliver wird die »Zuckerschnecke« noch leidtun. Es gibt Mädchen, mit denen legt man sich nicht an. Die haben so was wie den sechsten Sinn. Die wissen ganz genau, womit sie dich treffen können.
»Du meinst die Schrumpfnudel, die aussieht, als könntest du sie beim nächsten Nieser versehentlich einziehen?«
Ich hab’s doch gesagt: Volle Breitseite.
»Wovon redest du zum Teufel?«, faucht Oliver. Sein Kopf leuchtet wie ein Pavianarsch.
»Letztes Pfingsten, als du so besoffen warst, dass du nackt in den See gesprungen bist. Zuerst habe ich noch gedacht: Mensch, die Arme hat ja überhaupt kein Holz vor der Hütte, dann habe ich erst gemerkt, dass du das bist, Oliver. Wahrscheinlich hatte dir kurz vorher was in der Nase gekitzelt.«
Benrath räuspert sich. »Vielen Dank für diese humorvolle Anekdote, Sofie. Darf ich jetzt mit dem Unterricht fortfahren?«
»Selbstverständlich«, antwortet sie zuckersüß.
Mann, wer die mal abbekommt, ist echt zu bedauern. Ich dreh mich zu Oliver und mache den Mund wieder zu. Scheiße, er sieht aus, als würde er gleich anfangen zu heulen.
Über die Decke kriechen blassgraue Schatten, während der Rest des Zimmers im feurigen Orange der untergehenden Septembersonne lodert. Das Ende des ersten Schultags. Ich hab überlebt. Ein Haifisch in einem Becken voller Piranhas. Ausgang ungewiss. Die Vorstellung gefällt mir. Wenn sie mich beißen, schnappe ich zurück.
Eigentlich sind alle Menschen Raubtiere, die nichts Besseres zu tun haben, als sich gegenseitig ans Leder zu gehen. Manche nennen das Überlebenskampf. Und wenn man sich vor lauter Hunger um ein schimmliges Stück Brot prügelt, weil man kurz davor steht, sein eigenes Bein anzuknabbern, ja, dann trifft das auch zu. Aber wenn man jemanden ein Messer zwischen die Rippen rammt, weil das Schicksal per Würfel entschieden hat, dass er anders ist als man selber, dann ist das pervers.