Rosentod - Michael Hamannt - E-Book
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Rosentod E-Book

Michael Hamannt

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Beschreibung

Lilys Leiche wurde am Rheinufer gefunden. Mit einer Rose auf der Brust. Ihr Freund Marcel kennt nur ein Ziel: den Schuldigen finden und Lily rächen ... »Nur Licht und süßer Schmerz erfüllt mein Herz, wenn ich in deine Augen blicke. Und dunkle Nacht bricht über mich, wenn wir uns wieder trennen.« Eine Geschichte über Liebe, Verlust und die verzweifelte Suche nach der Wahrheit.

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Seitenzahl: 150

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ROSENTOD

ABSCHIED VON LILY

MICHAEL HAMANNT

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehme ich für deren Inhalte keine Haftung, da ich mir diese nicht zu eigen mache, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweise.

* * *

Copyright © 2023 by Michael Hamannt,

Forstbachstr. 47, 40723 Hilden

E-Mail: [email protected]

Coverdesign: Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com

Verwendete Bilder & Grafiken für das Cover: Mix Pix Box – creativefabrica.com, Digital Curio – creativefabrica.com, Thomas Wolter – Pixabay.com, Thoa Ngo – Unsplash.com

Cover-Schriften: Laterlocks von Hendry Juanda, Cinzel Regular von Nathanael Gama

* * *

Rosentod - Abschied von Lily ist eine überarbeitete Ausgabe des Romans Rosentod, der 2009 im Thienemann Verlag erschienen ist.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist ausdrücklich nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig.

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagung

Über den Autor

PROLOG

Wind kam auf und strich durch die Krone der alten Weide. Blätter raschelten. Kaum lauter als ein Flüstern, das sich mit dem Plätschern des Flusses vermischte, der sich an seinen Ufern über Kies und Treibgut wälzte und auf dessen schwarzer Oberfläche sich die verzerrten Lichter der Promenade spiegelten.

Die Nacht roch nach trockenem Gras, nach der Erinnerung an fiebrige, vom Sonnenöl glänzende Körper und nach der Erschöpfung eines langen und heißen Tages, der alles Leben aus dieser Stadt gesaugt hatte.

Nur wenige Menschen waren zu dieser späten Stunde unterwegs. Auf einer Parkbank unter einer Straßenlampe küsste sich ein Liebespärchen, ein mürrisch dreinblickender Mann zerrte seinen Hund hinter sich her und dann war da noch das Mädchen, eher schon eine junge Frau, die schluchzend über die Promenade lief. Immer wieder wischte sie die Tränen fort, die über ihre Wangen liefen. Hingegen drückten ihre fest zusammengekniffenen Lippen eine beunruhigende Entschlossenheit aus.

Und während sie dem Mann mit dem Hund stolpernd auswich, der plötzlich wie ein Geist aus dem Dunkel vor ihr auftauchte, lag ihre Freundin wie schlafend am Fuß der alten Weide. Mit einem Gesicht so feingeschnitten und bleich wie eine Porzellanpuppe und Augen so blau wie ein strahlender Julimorgen, nur dass sie jetzt gebrochen und glanzlos ins Leere blickten.

Jemand beugte sich über das tote Mädchen, flüsterte liebkosende Worte und hauchte einen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen. Für einen Moment verharrte die Gestalt in Reglosigkeit, als wollte sie sich den Anblick der Toten ganz genau einprägen. Dann legte sie zum Abschied eine Rose auf ihre Brust, erhob sich und verschwand in der Nacht.

1

Marcel lag auf seinem Bett, das blonde Haar zerzaust und leicht feucht vom Duschen. Er trug nur eine Shorts, trotz heruntergelassener Jalousie war die Nachmittagshitze in sein Zimmer gekrochen und hatte es unangenehm aufgeheizt. Auch der Ventilator konnte daran nichts ändern. Aus den Lautsprechern seiner Anlage drang gedämpfte Musik, die zusammen mit der Hitze und dem Summen des Ventilators eine einlullende Atmosphäre erzeugte.

Träge rollte Marcel sich zur Seite und starrte unter schweren Lidern hervor auf das Display seines Handys, auf dem er durch die aktuellen Meldungen seines Lieblingseishockeyteams, den Kölner Blizzards, scrollte. Er spielte selbst in einer Mannschaft, die sich gar nicht mal so übel schlug. Nachdem Marcel alle Neuigkeiten überflogen hatte, wechselte er in den Gruppenchat von Ocean Ally, einer internationalen Umweltorganisation, die sich dem Schutz der Weltmeere verschrieben hatte. Seit er sich ihnen angeschlossen hatte, brachte er jedes Jahr zwei Wochen seiner Sommerferien damit zu, zusammen mit weiteren Aktivisten einen ausgewählten Strand von Plastikmüll und anderen Abfällen zu säubern. Dieses Jahr hatte Lily das erste Mal mitkommen wollen, aber dann hatte sie sich aus heiterem Himmel von ihm getrennt. Das war erst ein paar Tagen her, weshalb die Sache immer noch verdammt wehtat.

Mit einem Stöhnen vergrub er das Gesicht in den Kissen.

Marcel konnte nicht sagen, wie lange er so dagelegen hatte, als die Türklingel durch das Haus schrillte. Er fuhr hoch. Weder einer seiner Freunde noch ein Nachbar hätte die Klingel mit einer solchen Ausdauer malträtiert. Beunruhigt sprang aus dem Bett und wankte die ersten Schritte, weil sein Kreislauf nur langsam in Gang kam.

»Bin auf dem Weg!«, rief er die Treppe hinunter, als die Klingel zum dritten Mal ertönte.

Vor der Tür standen eine Frau und ein Mann. Sie war schlank und hochgewachsen, hatte langes lockiges Haar und die ungewöhnlichsten Augen, die Marcel je bei einem Menschen untergekommen waren: Ein helles Türkis, das die Pupillen umso schwärzer wirken ließ. Er hatte das Gefühl, sie könnte mit diesen Augen direkt in seine Seele sehen. Marcel erschauerte. Der Mann an ihrer Seite wirkte ein wenig jünger, hatte einen forschen Blick und das dunkle Haar zu einem modischen Sommerschnitt gestutzt.

Marcel runzelte die Stirn. »Ja?«

»Hauptkommissarin Isabel Lerchinger«, stellte die Frau sich vor und zeigte ihm ihren Dienstausweis. »Mein Kollege, Kommissar Mats Nyborg. Ich nehme an, Sie sind Marcel Linden?«

Verdutzt nickte er. Die beiden sahen nicht aus, als wären sie von der Kripo. Die Hauptkommissarin trug Turnschuhe, Jeans und ein weißes Top, das ihr locker über die Hose fiel. Ihr Kollege war ähnlich gekleidet, bloß war es bei ihm ein Hemd anstatt eines Tops.

»Sind Ihre Eltern da?«, wollte sie wissen.

Marcel kniff die Augen zusammen. »Ma ist im Büro.«

»Heute ist Samstag«, sagte Kommissar Nyborg.

»Sie arbeiten doch auch«, erwiderte Marcel. »Was wollen Sie überhaupt?«

Die beiden ignorierten seine Frage.

»Was ist mit Ihrem Vater?«, fragte die Hauptkommissarin.

»Vor ein paar Jahren abgehauen.« Sein Blick sprang zwischen den beiden hin und her. »Verdammt, was ist hier los?«, platzte er heraus.

»Lassen Sie uns das Gespräch drinnen fortsetzen«, bat ihn Hauptkommissarin Lerchinger.

Marcel zögerte kurz. »Na schön.« Er trat beiseite und ließ sie eintreten. Nachdem er ihnen den Weg ins Wohnzimmer gezeigt hatte, lief er hinauf in sein Zimmer, wo er in ein T-Shirt schlüpfte. Auf Socken verzichtete er. Dafür war es viel zu warm. Mittlerweile fühlte er sich ein wenig wacher, weshalb er sich auf dem Rückweg nach unten fragte, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, die beiden ins Haus zu lassen. Vielleicht waren sie ja Betrüger. Woher sollte er wissen, wie ein echter Ausweis von der Kripo aussah?

Hauptkommissarin Lerchinger saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Einen halben Meter von ihr entfernt hockte dieser Nyborg.

Marcel ließ sich den beiden gegenüber in den Sessel fallen und zog die Beine an, sodass seine Knie auf den Armpolstern ruhten. »Wollen Sie mir jetzt endlich verraten, was los ist?«

»Es geht um Ihre Freundin Lily Dietz«, sagte Nyborg.

Marcel schnaubte. »Sie ist nicht meine Freundin. Nicht mehr jedenfalls. Sie hat vor Kurzem mit mir Schluss gemacht.«

»Ach ja?« Nyborg zog eine Braue hoch.

Sein Tonfall gefiel Marcel überhaupt nicht. »Was ist mit Lily?«

Der Kommissar öffnete den Mund, doch seine Kollegin war schneller. »Ich fürchte, wir haben schlechte Nachrichten für Sie.«

»Schlechte ... Nachrichten?« Plötzlich war Marcels Kehle wie ausgedörrt.

»Lily Dietz ist tot.« Lerchinger machte eine Pause, als wollte sie Marcel Gelegenheit geben, sich der Bedeutung ihrer Worte bewusst zu werden. »Ihre Leiche wurde heute Nacht im Rheinpark gefunden, nachdem wir von einen anonymen Anrufer alarmiert wurden.«

Marcels Finger krallten sich in den Stoff seiner Shorts. Ein Zittern lief durch seinen Körper und in seinen Ohren rauschte das Blut. Er sah, wie sich die Lippen der Hauptkommissarin bewegten, aber er hörte kein Wort von dem, was sie sagte. Es war, als befände er sich in einem Stummfilm. Erst nach einer Weile ebbte das Rauschen wieder ab.

»… mich verstanden?«, fragte Hauptkommissarin Lerchinger. »Wollen Sie etwas trinken? Mein Kollege kann Ihnen ein Glas Wasser holen.«

»Nein, nein, schon gut«, krächzte Marcel und fuhr sich mit den Händen durch Gesicht und Haare. Er schluckte. »Was ist ... passiert?«

Nyborg räusperte sich. »Es war mit großer Wahrscheinlichkeit Mord.«

Marcel starrte ihn an.

»Wir gehen davon aus, dass sie durch einen Schlag auf den Hinterkopf getötet wurde«, fügte die Hauptkommissarin hinzu, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Genaueres können wir jedoch erst nach der Obduktion sagen.«

Marcel senkte den Blick, starrte auf seine Hände. Noch vor kurzem hatte er Lily mit ihnen gehalten, hatte ihr duftendes Haar berührt und ihren erhitzten Körper gestreichelt. Und jetzt war sie fort. Für immer. »Wissen ihre Eltern schon Bescheid?« Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

»Wir haben sie als Erste informiert«, sagte Lerchinger.

»Wie haben sie reagiert?« Marcel sah auf.

»Ihr Vater ...«

»Stiefvater«, korrigierte er den Kommissar automatisch. Lily hatte immer Wert darauf gelegt, dass alle wussten, dass es sich bei ihm nicht um ihren richtigen Vater handelte. Daniel Becker war gerade einmal zwölf Jahre älter als Lily und bekam nichts auf die Reihe. Nicht mal sein Studium hatte er bisher abgeschlossen. »Er nutzt meine Mutter nur aus«, hatte sie immer gesagt. »Aber sie ist zu dumm, dass zu erkennen.«

»Ihr Stiefvater nahm es recht gefasst auf«, sagte Nyborg. »Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch. Der Arzt musste ihr etwas zur Beruhigung geben.«

Marcel nickte gedankenverloren, er hatte nichts anderes erwartet. Frau Dietz war eine zarte, zerbrechliche Person. Das hatte Lily von ihr gehabt.

»Wie geht es Ihnen, Herr Linden?«, fragte die Hauptkommissarin.

»Mir?« Marcel begegnete dem Blick ihrer türkisen Augen und blinzelte. »Ich ... weiß nicht genau. Als sie mit mir Schluss gemacht hat, war ich furchtbar traurig, natürlich auch wütend. Jetzt … jetzt ist da gar nichts.«

Lerchinger schürzte die Lippen. »Lilys Tod macht Ihnen nichts aus?«

»So habe ich das nicht gemeint.« Er wandte den Blick der Terrassentür zu, hinter der ein sonnenbeschienener Garten lag. Vor drei Jahren hatten Lily und er sich dort draußen zum ersten Mal geküsst. Es war sein fünfzehnter Geburtstag gewesen. Sie hatten Flaschendrehen gespielt. Alle hatten gelacht, als er sich mit knallrotem Kopf zu ihr vorgebeugt hatte. Es war ein simpler Kuss gewesen, der alles zwischen ihnen verändert hatte. Marcel ballte die Fäuste. Könnte er doch bloß zu diesem Tag zurückkehren!

»Sie wurden also von Lily Dietz abserviert, ja, Herr Linden?«, drang Nyborgs Stimme an sein Ohr. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie das sehr verletzt haben muss. Vielleicht wollten Sie es ihr ja heimzahlen?«

Darum waren sie hier. Sie hielten ihn für den Mörder. Langsam wandte er Nyborg das Gesicht zu. »Ja, ich war wütend auf Lily, aber ich hätte sie niemals hassen können.«

»Manchmal ist Liebe gefährlicher als Hass«, entgegnete dieser.

Marcel starrte ihn stumm an.

Die Hauptkommissarin beugte sich vor. »Wenn Sie etwas über den Mord wissen, sollten Sie es uns sagen.«

Marcel verstand die beiden nur zu gut. Sie wollten ihm die Schuld an Lilys Tod in die Schuhe zu schieben. »Ich habe Lily geliebt«, erklärte er angespannt. »Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet?« Er funkelte die Kommissare an, während eine Träne seine Wange hinablief und einen salzigen Nachgeschmack auf seiner Lippe hinterließ.

Nyborg nickte. »Niemand bezweifelt, dass Sie sie geliebt ...«

»Reden Sie doch keinen Scheiß!«, platzte Marcel heraus und sprang auf. Sein Atem ging hektisch und hinter seinen Schläfen pochte und stach es, als versuchte etwas, aus seinem Schädel hervorzubrechen. »Ich ... ich muss ihn finden!«

Ein Muskel zuckte in Lerchingers Gesicht. Mit einem Mal wirkte ihre Miene, ihre ganze Haltung angespannt. »Von wem reden Sie, Herr Linden?«

»Von wem wohl?«, knurrte Marcel. »Der Kerl, für den Lily mich verlassen hat!«

»Setzen Sie sich wieder«, forderte ihn Nyborg auf.

»Ich muss ...«

»Setzen!«, sagte die Hauptkommissarin.

Widerwillig gehorchte Marcel.

»Sie hatte einen neuen Freund?«, hakte Lerchinger nach.

Er nickte knapp.

»Wie lautet sein Name?« Nyborg holte sein Handy hervor, um sich Marcels Antwort zu notieren.

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Marcel. »Lily wollte mir nichts über ihn verraten. Verdammt!« Er trat gegen den kleinen Wohnzimmertisch und die Fernbedienung vom TV landete auf dem Boden. »Ich hätte hartnäckiger sein müssen. Vielleicht würde Sie dann noch leben!«

»Wie kommen Sie darauf?« Lerchinger musterte ihn durchdringend.

»Hätte Lily mir seinen Namen verraten, hätte ich mir den Mistkerl vorgeknöpft.« In diesem Moment war es Marcel egal, was die Kommissarin von ihm dachte. Sollte sie ihn ruhig für einen Schläger halten. »Ich hätte ihm klar gemacht, dass sie mein Mädchen ist und ... und vielleicht wäre es dann nie ...« Er sah zur Seite und ballte die Fäuste. »Es ist nicht fair!«

»Das ist es nie«, stimmte ihm die Hauptkommissarin zu. »Aber warum glauben Sie, dass er es war?«

Marcel blickte sie an. »Sie sagten vorhin, dass Lilys Leiche im Rheinpark gefunden wurde. Es war unter der alten Weide, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Nyborg scharf.

»Es ist ... war Lilys Lieblingsplatz. Abends hat sie oft stundenlang dort gesessen und auf die Lichter geblickt, die sich auf dem Rhein spiegeln. Ich weiß nicht, was sie so toll daran fand.« Nein, das war nicht richtig. »Einmal sagte sie, dass die Lichter wie gefallene Sterne aussehen würden und man bloß die Hand auszustrecken bräuchte, um sie zu berühren. In diesen Worten hatte so viel Sehnsucht mitgeschwungen.« Er verstummte, als die Kehle ihm eng wurde. Erneut wanderte sein Blick zur Terrassentür. Im Garten wogte der Wind durch ein Beet aus blauen, gelben und violetten Blüten. Lily war tot, doch die Welt drehte sich weiter. »Wenige wissen von der alten Weide«, fuhr er nach einer Weile fort. »Lily hat nur Menschen dorthin mitgenommen, die ihr wirklich am Herzen lagen.«

»Menschen wie Sie?«, hakte Lerchinger nach.

Marcel seufzte. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Dass ich sage: Ja, ich war’s, ich bin ausgeflippt, weil sie mich verlassen hat?«

»War das ein Geständnis?«, fragte Nyborg.

»Wenn es Sie glücklich macht.« Marcel streckte ihm seine Hände entgegen. »Worauf warten Sie? Verhaften Sie mich!«

»Wenn es das ist, was Sie wollen«, erwiderte dieser.

»Was ich will?« Marcel funkelte den Kommissar an. »Ich will, dass dieses Schwein dafür bezahlt, was er Lily angetan hat. Wenn jemand tot sein sollte, dann ja wohl er.«

»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal wieder«, forderte ihn die Hauptkommissarin auf.

Marcel schnaubte. Wie sollte er sich beruhigen, wenn er wusste, dass der andere noch irgendwo dort draußen war?

»Besser?«, fragte Lerchinger einige Augenblicke später.

»Hm.«

»Gut.« Sie fixierte ihn. »Nach diesem Gefühlsausbruch dürfte Ihnen sicher klar sein, dass es uns inzwischen nicht mehr ganz so leicht fällt, Ihnen zu glauben, dass Sie Lily Dietz’ neuen Freund nicht kennen.«

»Es ist aber so.« Marcel verdrehte die Augen. »Ich kenne seinen Namen nicht und bin ihm auch nie begegnet. Ich schwöre!« Ein Beben lief durch seinen Körper. All die unterschiedlichen Gefühle, die an ihm zerrten und rissen, waren zu viel für ihn. Mit einem Mal sackte Marcel in sich zusammen, fühlte sich schwach und kraftlos – wie nach einem stundenlangen Workout im Fitnessraum seines Eishockey-Clubs. Bei einem solchen Workout trieben er und die anderen Jungs sich gegenseitig bis an ihre Grenzen. Danach war Marcel oft speiübel und selbst die kleinste Bewegung schien eine unüberwindbare Hürde zu sein. Dafür hielt er fast immer am längsten durch. Darum war er auch ein Gewinner.

Aber bei einem Mord gab es keinen Sieger. Bloß Verlierer. Und Schmerz und Wut und diese verdammte Traurigkeit. Er vergrub das Gesicht in den Händen.

»Geht es Ihnen nicht gut, Herr Linden?«, fragte Lerchinger.

Marcel reagierte nicht.

»Brauchen Sie etwas?«

»Sollen wir Ihre Mutter anrufen?«, fragte Nyborg.

Marcel ließ die Hände sinken. »Es ... es ist nichts.« Nur stimmte das nicht. Er fühlte sich so elend wie nie zuvor in seinem Leben.

»Wir sind fast durch mit unseren Fragen«, sagte die Hauptkommissarin. »Wir müssen noch von Ihnen wissen, wo Sie gestern zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr waren.«

Marcel schüttelte ungläubig den Kopf. Hatten diese Narren denn immer noch nicht begriffen, dass sie den Falschen aufs Korn nahmen?

»Er war hier bei mir.« Marcels Mutter stand in der Tür zum Wohnzimmer. Sie war groß und schlank und trug ein helles, elegantes Kostüm. Ihre Augen glänzten feucht.

»Ma?«

Sie lief zu ihm, fiel vor dem Sessel auf die Knie und schlang die Arme um ihn. »Gott, ich habe alles gehört! Die arme Lily!« Sie fing an zu schluchzen und er strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Soll ich mal einen Kaffee machen?«, schlug Nyborg vor.

Marcel sah zu ihm rüber und nickte. Der Kommissar verließ den Raum. An den Geräuschen, die bald darauf ins Wohnzimmer drangen, erkannte er, dass Nyborg die Küche gefunden hatte. Derweil saß Hauptkommissarin Lerchinger schweigend auf dem Sofa und beobachtete ihn und seine Mutter. Marcel hätte in diesem Augenblick alles dafür gegeben, um zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Bald darauf kehrte Nyborg mit einer Tasse Kaffee zurück, die Marcels Mutter dankbar entgegennahm. Nachdem sie mehrere kleine Schlucke davon getrunken hatte, kehrte ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurück. Mit zittriger Stimme erklärte sie gegenüber den Beamten: »Marcel war die ganze Zeit über bei mir. Ich habe in der Küche die Wäsche gebügelt, während er im Wohnzimmer ferngesehen hat. Später ist er rauf in sein Zimmer gegangen. Als ich gegen Mitternacht ins Bett gegangen bin, saß er vor dem Computer.«

Die Hauptkommissarin nickte. »Gut, dann wäre das geklärt.« Sie wandte sich wieder Marcel zu. »Gibt es sonst noch jemanden, dem Lily von ihrem neuen Freund erzählt haben könnte?«

Er zögerte.

»Wenn du etwas weißt, sag es ihnen, Junge«, drängte seine Mutter.

»Höchstens Lena. Lena Meyer«, sagte er widerwillig. »Sie war Lilys beste Freundin. Ich wette, sie kennt ihn, auch wenn sie es mir gegenüber nicht zugeben wollte. Ihre Adresse ...«

»... haben wir bereits. Lilys Stiefvater hat sie uns gegeben.« Lerchinger erhob sich. Sie schien es plötzlich eilig zu haben. »Hören Sie, Herr Linden. Es ist nie leicht, jemanden zu verlieren. Ich kann verstehen, wie Sie sich im Moment fühlen. Sie sind zornig und wünschen sich nichts sehnlicher, als diesen Mistkerl in die Finger zu bekommen. Doch damit verbauen Sie sich bloß Ihre Zukunft. Überlassen Sie die Sache uns, verstanden?«