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Ein absolut faszinierendes Buch über den Einfluss von Hollywood!Dr. Paul Pauer, ein deutscher Schriftsteller, kann es kaum fassen, als er gemeinsam mit seiner Frau Claire in Amerika landet: Eine große Filmgesellschaft hat sich tatsächlich dazu entschieden, eins seiner Bücher zu verfilmen – und zwar mit seiner Frau in der Hauptrolle. Das Leben des Paares könnte nicht besser sein, bis der Autor feststellen muss, dass aus dem Menschen Claire immer mehr der Filmstar Claire wird...-
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Seitenzahl: 369
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Arnold Höllriegel
Saga
Du sollst dir kein Bildnis machen - Ein Roman aus HollywoodCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1929, 2020 Arnold Höllriegel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726416374
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
„Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen,
Seh;’n Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.”
(„Peter Schlemihl.”)
Der New-Yorker Broadway an einem schönen, nur ein bisschen dunstigen Abend im Oktober 1926. Von dem Dutzend Millionen Menschen, die Gross-New-York bewohnen, ist seit fünf Uhr, seit der Stunde des Arbeitsendes, vielleicht eine Million unterwegs, auf der Suche nach Lichtern und Freude.
Unter den Zahllosen, in ihnen verloren, sind drei, die zusammengehören. Ein deutscher Schriftsteller, erst vor wenigen Stunden in New-York angelangt. Dr. Paul Pauer heisst er. Die zierliche Frau mit den schönen, rotbraunen Haaren ist Claire Pauer. Matelian ist bei ihnen, Josef Baron Matelian, Pauers Freund. Er hat sie am Hafen erwartet.
Die Strasse, durch die sie langsam vorwärtsrücken, der Broadway, ist jetzt wie ein Strom einer anderen Welt; zwischen hohen, phantastischen Ufern wälzt er sich mit einem dumpfen Rollen und Brausen, ein Mississippi von Menschen. Es ist sonderbar, in so einer Menge zu sein, in der man niemanden kennt, keinen Menschen, kein Ding und keinen Gedanken. Es ist wie ein Abendspaziergang in einem Traum. In der Mitte der endlosen Strasse, auf der breiten Fahrbahn, verschieben sich ruckweise, langsam und fast ohne Lärm die Autos, unzählbare, zur dichtesten Kette zusammengefügt; die schönen lackierten Dächer werfen das blendende Licht von den Häusern zurück wie dunkle Spiegel. Langsam verschieben sie sich und willenlos; es ist, als ob nicht die Autos führen, von Menschen gelenkt, es ist, als führe unter ihnen die Strasse; eine zentrale Maschine, verborgen und unermesslich, scheint alles hier zu bewegen, ein übertechnisches Uhrwerk. Die Gehsteige wieder sind menschlich, organisch lebendig; die Fussgänger, eng beieinander, bilden zwei Strömungen, Strasse auf, Strasse ab, jede ein zähes Gemenge von einzelnen und von kleinen, zusammenhängenden Gruppen. Zwei sind immer beisammen, drei oder mehr, verbunden durch Wort und Geste, durch Blutsverwandtschaft und Ehe und Liebe, oder nur durch blosse gesellige Adhäsion, so wie aus Wasseratomen ein Tropfen sich bildet. Die Tropfen, öfters entzweigerissen im Wirbel der Strömung, finden sich wieder, vereinigen sich, bleiben schliesslich doch abgegrenzt. Nie verfliesst der Mensch mit dem Menschen, so sehr sie einander gleichen. Hier, auf dem breiten Weg der grössten Weltstadt, der tausendsprachigen, sind sie einander erstaunlich gleich, und bleiben doch einzelne. Neger sind unter ihnen, Chinesen, Malaien, was nicht? Ein Sioux, der mit seinen Adlerfedern auf dem Kopf spazierengeht, von irgendeiner Missionsgesellschaft zu irgendeinem Kongress nach New-York gebracht; er fällt gar nicht auf, wird nicht angeblickt; zu gross ist um ihn die Menge der völlig normal Gekleideten, sie presst ihn ein, seine Federn verschwinden unter den tausend und tausend weissgrauen Hüten der Männer, den Glockenhüten der Frauen, all der Herbstmode, aus den nämlichen Warenhäusern stets von den nämlichen Menschen bezogen. Auch sieht man einander nicht an, zu überwältigend ist dieses Schauspiel der nächtlichen Strasse; das Menschenantlitz zählt nicht mehr mit, und nicht, was man denkt oder sagt; nur die Augen bleiben im grossen Wirbel erhalten, Augenpaare, die gierig schauen ― ―
Tief unten sind diese Menschen, die Hunderttausende. Dort, wo sie sich um sie presst, in der Höhe des Menschenleibes, ist die steinerne Strasse ganz deutlich und tut sich ihnen ganz auf; die Steine zerfliessen zu Glas, und Tore öffnen sich weit, und riesige Fenster lassen den Blick durch. Dann höher, über den Köpfen, ist auch noch Glas, doch es spiegelt, ist nur noch ein Glanz auf ungeheuren, steilen Wänden, die in das Unendliche ragen, auf beiden Seiten des Broadways. Ein Cañon aus Wolkenkratzern am Tage, eine Alpenschlucht aus Geschäftsgebäuden; jetzt in der Nacht schwindet vollends die Wirklichkeit, da der Himmel mit den unsichtbaren Dächern verschwimmt: das ist schon kein Cañon mehr, keine Alpenklamm; nichts, was die Natur selbst erbaut hat, kann hier mitverglichen werden; Kulissen aus Glas und Stahl und Stein und Nebel und Licht, aus dem Kosmos herabgehängt, von einem Schnürboden irgendwo, rechts und links von den vielen, kleinen Statisten des Schauspiels: so kann man es fassen.
Die beiden Menschen aus Deutschland, die ihr New-Yorker Freund durch diese Nachtmar steuert, stehen, japsend und fassungslos, an einer Strassenecke, in einem geschützten Winkel, den irgendein Baugerüst von den flutenden Massen abdämmt. Er, Paul Pauer, schlank, geschmeidig, nicht gross, in den Dreissigerjahren, eher zu mager; im Grunde noch knabenhaft, aber vom Leben ein wenig ausgedörrt und trocken geworden; Kriegsjahre, sibirische Jahre des Kriegsgefangenen, dann Bohème und mancherlei Künstlernot haben den Körper da hager gehämmert. Die blondbraunen Haare werden über der Stirn schon ein wenig dünn, das Gesicht aber ist noch ganz jung, und die feine Mundpartie sogar schön: die weichen Lippen des Träumers über einem entschieden männlichen, kraftvollen Kinn. Die graublauen Augen, mit grünen Reflexen manchmal, reden die gleiche Sprache wie dieser Mund; es sind Augen in Versen, doch nicht in schmachtenden Versen. — Jetzt legt der Mann der Frau, die neben ihm steht, eine leichte Hand auf die Schulter, eine Hand, die liebkost und doch auch Besitz ergreift, eine Ehehand. Claire Pauer, in einem armen, kleinen, grauen Reisekostüm, ein bisschen faltig, hat einen guten Hut auf, einen Hut von der Farbe des Perlhuhns, er steht gut zu dem wundervoll schönen Rotbraun der Haare, die sie halblang trägt; das Köpfchen ist fein und scharf gezeichnet. Josef Freiherr von Matelian, der frühere k. u. k. Husarenrittmeister, jetzt, nach New-Yorker Jahren, ein wenig plumper geworden, gealtert, in fertiggekauften Kleidern, doch angesichts einer schönen Frau schon wieder der Kavalier von einst, nimmt sich vor, ihr etwas Freundliches über den Hut zu sagen; er fängt an, sie aber hört nicht und weiss nicht, dass er vorhanden ist, sie weiss nicht einmal, dass sie einen Hut hat; so kindisch-fassungslos steht sie da und starrt auf die leuchtende Wunderstrasse, auf die Wasserfälle von buntem Licht, die überall stürzen und rieseln und tröpfeln und dann wieder aufwärts schäumen.
Nach oben verlieren sich diese traumhaft schimmernden Mauern in ein unbestimmtes Verdämmern, nur dass dort oder hier phantastische Kuppeln und Zinnen und Türme schneeweiss beleuchtet sind oder blauviolett, aus magisch durchfunkten Röhren und kriechenden gläsernen Schlangen. Darüber ist eine fahle Helle, im durchleuchteten Nebel erlöschen die Sterne der Gottesnacht; dann reisst ein Scheinwerferlicht, in den Weltraum bombardiert, auf einmal den Himmel weit auf, brutal dringt das Licht in ihn ein, dann verfliegt es wieder. Und Licht ist auf Licht gestickt, läuft über das Licht, tanzt über das Licht, buntes Licht über weisses Licht, geometrisch liniiertes Licht über Flächen von Licht, bewegtes Licht über das stille. Da drehen sich blutrote Kreise; dort schreiben unsichtbare Gigantenhände die Worte der Flammenschrift; es entstehen Bilder: der feurige Wagen Elias fährt über den Himmel, schnell, schnell; zwei Cherubim, ganz aus edelsteinfarbigen Flammen, beginnen miteinander zu kämpfen, wie Satan und Gabriel; Autoreklame, Reklame für den morgigen Boxkampf; sogar ein lohendes Kreuz ganz hoch oben im Atelier ist eine Reklame, für eine bekannte Evangelistin, die predigen wird und Sünder bekehren ― ―
Neben Claire, die noch haltlos ins Licht hinein träumt, wie ein Kind an der Tür des Christbaumzimmers, der eben und plötzlich geöffneten, beginnt Paul Pauer bewusst zu denken. Sein Blick geht empor zu dem riesigen Haus gegenüber, das einen hohen Dom, von Quecksilberlichtern magisch umrandet, in den siebenten Himmel reckt: Pantheon, Gralsburg! Und dort wieder sind, am Horizont, die Türme und Zacken und Zinnen des Paramount-Kinos in das nächtliche Weltall gezeichnet; und da und dort, wohin er blickt, auf dem Ozean dieser Lichter, schwimmen die Lichterinseln, die wieder noch heller sind und bedeuten: Theater, Kino, Zirkus, Varieté, Revue und Kino. Immer wieder ein Kino. Ein sprühendes Feuerwerk aus Reklametexten meisselt aus Licht und graviert in Licht Namen, die Spiele mit Licht bedeuten; die Flammenschwerter unsichtbarer Erzengel schreiben mit ihren Spitzen auf einmal ein mystisches Menetekel in die magische Feuersbrunst dieser Nacht:
JANNINGS IN „VARIETE“ ― GRETA GARBO ALS DIE „VERSUCHERIN“.
Matelian, der das alles schon kennt und gewohnt ist, möchte weitergehen, ins Restaurant an der Ecke der Vierundvierzigsten Strasse; doch er kriegt seine Freunde noch nicht vom Fleck. Wie betrunken blickt Claire vor sich, ohne einen Gedanken im wirbelnden Kopf; Paul aber sieht schon mit schätzenden und bedenkenden Augen. Von den phantasmagorischen Lichtreklamen der oberen Luft blickt er abwärts in die nahen Regionen. Hier fassbar und zugänglich, sind die grossen Portale von tausend Vergnügungsstätten, die hellen Fenster der zahllosen Speisehäuser. Torhüter, Riesen in Uniform, mit goldenen Schnüren und klappernden Ordensreihen am Rock, stehen stramm vor eintretenden Gästen oder schieben Drehtüren auf; vor dem Kino, in dem „Beau Geste“ gegeben wird, zum fünfundvierzigsten Male, halten zwei Männer die Wache, die als französische Fremdenlegionäre verkleidet sind, mit Gewehr, Bajonett und knallroten Hosen; sie sagen fortwährend laut vor sich hin: „Alle Sitze ausverkauft!“ Durch die Glasscheiben der Kakaostube „Merry Old Holland“ sieht man Kellnerinnen in Spitzenhäubchen; ein Speisewirt hat einen weissgekleideten Koch ins Schaufenster gestellt, der an einem riesigen Spiess über einem lohenden Herd einen ungeheuren und dampfenden Braten wendet und wendet; sieht man näher zu, dann bemerkt man, dass der Herd kein Herd ist, die Kohlen nur rotes Glas sind, elektrisch beleuchtet, mit flackernden Stoffflammen dazwischen, die ein elektrischer Wind bewegt, und dass der appetitliche Dampf gar nicht von dem Braten kommt, sondern aus einer Röhre.
Paul Pauer blickt auf den Broadway und sieht kein Ende und keinen Wechsel. Haus an Haus, jedes magisch beschienen von den lockenden Lichtern; jedes Tor ist offen und saugt an der Menschenmenge, die doch nicht versiegt; ein Kino und ein Restaurant ist in jedem Haus, oder ein Restaurant und ein Theater; man ahnt Kilometer und Kilometer von illuminierten Fronten und superlativen Reklameschriften und romantisch klingenden Titeln von Filmen und völlig gleichen Menüs aus der gleichen Konservenbüchse. Da drinnen, hinter den beiden leuchtenden Fronten der Riesenstrasse muss lauter Musik sein, stets die gleiche Musik, doch nur selten sickert das Seufzen des Saxophons bis heraus auf die Strasse, kein einzelner Klang kommt hier auf gegen das allgemeine und majestätische Stromgetöse des Broadways.
Paul Pauer steht nur und starrt. Er ist in Amerika, weil er von dieser neuen Kunst einer neuen Zeit träumt, dem Film. Er ist, mit Claire, nach Hollywood unterwegs, in der Absicht, dort grosse und schöne Filme zu dichten. Zu dichten, so wie ein Dichter. Deswegen hat er eine Gelegenheit rasch benutzt; Matelian war es, der sie gefunden hat. Auf dem Weg ins ferne Traumland im Westen, nach Hollywood. Und hier nun ― ―
Der Mann, der wie ein Dichter Filmbilder dichten möchte, begreift sehr gut, was er hier jetzt sieht, gleich auf der Schwelle Amerikas. Das da gehört schon zu Hollywood. Diese Strasse ist doch das grosse Schaufenster Hollywoods; magisch beleuchtet und herrlich betitelt. Kilometer und Kilometer von Namen der Hollywood-Filme, in Leuchtbuchstaben nebeneinander geschrieben, von der Dreissigsten Strasse bis zur Sechzigsten, ohne Unterbrechung fast:
„ENTFESSELTE ELEMENTE MIT VILMA BANKY DIE GROSSE PARADE WAS KOSTET DER RUHM BARDELYS DER GROSSARTIGE MIT JOHN BARRYMORE MARY PICKFORD SPERLINGE IN PARIS GESTRANDET LUBITSCH - SUPERFILM DAS IST PARIS TOM MIX DIE PFERDERÄUBER VOM KAKTUS-CAÑON STROHEIM DIE LUSTIGE WITWE“ ― ― ―
Die leuchtende Schlange kriecht rastlos weiter, Buchstaben ringelnd; von hier aus umschlingt sie den Globus, das weiss Paul Pauer.
Auf dieser unfassbaren Strasse des Massenvergnügens erfasst ihn ein Grauen. Was tut er, um Gottes willen, denn hier, ein europäischer Künstler, der das Einzelne, Seltene lieb hat? Eine Million gleichförmiger Menschen kommt täglich her auf den Broadway, zwischen fünf und elf, um eine Pflicht zu erfüllen, eine Funktion, die Vergnügen heisst. Vorher, nachher und zwischendurch dieses Abendessen, aus allen Konservenbüchsen Chicagos in Amerikas Mägen geschüttet. Bohnen und Speck für alle, für alle. Oder, wenn die Seelen noch festlicher schwingen, Konservenhuhn. Eis-Cream nachher, mit Soda, ekelhaft süss. Da sitzen sie, mit ihren Frauen, und lieben alle die gleiche Liebe, aus der blechernen Büchse, und essen alle den Maschinenfrass; dann wollen sie (denkt sich Paul Pauer) am Ende die gleiche Konservenkunst, eine ekelhaft süsse. Den Film, in dem ein verwegener Held, ganz voll von Edelmut, ein edles Mädchen errettet; da krümmt sich der sterbende Bösewicht, am glücklichen Ende der Story ― ―
Was will ich hier, um Gottes willen, denkt sich Paul Pauer, mit meinen revolutionären Absichten? Diesen Konservenkonsumenten, diesen Massenhaften, etwas Einzelnes und Einziges geben, ein Kunstwerk? Wollen sie’s? Werden sie es ertragen? Bin ich ein Herakles, dass ich diese brennende Schlange entzweireissen könnte?
*
Und dann, auf einmal, befällt diesen zweifelnden Dichter das Selbstvertrauen wie ein narkotischer Rausch. Es ist doch auf dieser unendlichen Strasse des Lichts eine Menge von Freude, sogar von Schönheit ― ― Er blickt zu den magisch schimmernden Zinnen und Türmen der Gralsburg empor, des Paramount-Kinos. Warum nicht? fragt in seiner Seele die Stimme der Zuversicht. Ja! Einmal hier siegen, einmal nur; diese Lichtburg bezwingen, einen einzigen guten und menschlichen Film nur hier spielen lassen, und eine Schlacht ist gewonnen. Ein einziges Kunstwerk, denkt Paul, möchte ich hier mit Feuer auf diese feurigen Zinnen schreiben ― ―
Hollywood! denkt er, mit einer Sehnsucht. Er wird von Hollywood aus diese breite Strasse erobern, und dann die übrige Welt!
Da wird er froh in Gedanken, und er wendet sich zu Claire um, die hinter ihm ist, ihr zu zeigen, wie froh er ist. Sie steht, so wie er, schon seit zehn Minuten und redet kein einziges Wort. Matelian, drei Schritte weiter, hat sich ein wenig gelangweilt, er versteht die Verzückung dieser Berliner Kleinstädter nicht, die auf dem Broadway so tun, als wüssten sie gar nichts von Lichtreklame.
Er hat an der Strassenecke ein Abendblatt käuflich erworben und hält es halb entfaltet; er sucht was Bestimmtes darin, jetzt hat er’s und liest und lächelt befriedigt ― ―
Claire Pauer blickt nur auf einen Punkt:
„GRETA GARBO“, liest sie, „ALS DIE VERSUCHERIN“. Paul, neben ihr, errät ganz plötzlich, was sie eigentlich sieht, mit diesen weit geöffneten Augen. Sie sieht einen anderen Namen, einen, den sie einst getragen hat, ihren alten Bühnennamen.
„CLARA DARA.“
In Flammenlettern träumt sie den alten Namen, den sie verloren hat. Hier sollte der Name jetzt brennen! Paul liest ihn förmlich in ihren Augen und runzelt heftig die Stirne. Er hat diesen Namen immer gehasst.
Matelian hat das Abendblatt eingesteckt und wendet sich wieder den beiden zu, er möchte mit ihnen zum Abendessen. Er weiss ein Heimwehlokal in der Vierundvierzigsten Strasse, sehr deutsch, mit Eisbein und Würsten auf weissgescheuerten Tischen. Da sieht er Paul Pauer und seine Frau, wie sie in die Höhe blicken; und merkt, wie die Blicke der beiden einander am Himmel begegnen. Er weiss von den beiden nicht allzuviel; nicht, dass Paul Pauer den Namen verabscheut, den seine Frau in den hellsten Zeichen an diesem nächtlichen Himmel geträumt hat. Er denkt sich, Matelian: Jetzt lesen die beiden schon den Namen des Films, den Pauer verfassthat. ― ― In flammenden Lettern:
„ERPRESSUNG.“
Und Matelian freut sich. Den Varietésketch Pauers „Erpressung“ hat Matelian glücklich hier in Amerika zum Verfilmen verkauft. Das ist ihm gelungen. Und der Gute sucht im Gesicht des Kameraden den freudigen Stolz. Auf dem Weg nach Hollywood, um dabei zu sein, wie man die „Erpressung“ verfilmt! — Matelians Lächeln erlischt, da er Pauers Gesicht sieht und daneben das Antlitz dieser schönen Frau. Die Augen der beiden sind in die leuchtende Nacht projiziert, die über New-York liegt, und ihre Blicke fechten, ja, fechten am fernen Himmel.
Später in dieser Nacht. Claire ist schlafengegangen, und die beiden Männer sitzen beisammen, zum erstenmal seit den vielen Jahren. Sie haben eine gutgepolsterte Ecke des Rauchsalons für sich allein; sie sitzen in Schaukelstühlen, die Paul so sonderbar scheinen. Matelian hat Mineralwasser kommen lassen und dann, da der Kellner gegangen war, eine Aluminiumflasche mit Gin aus der Hintertasche gezogen. Paul Pauer traut seinen Augen nicht: ist das der aristokratische Josef Matelian, der eine Flasche voll Schnaps, in die Formen des menschlichen Hinterteils listig gebogen, an sich herumträgt? — Während Matelian Gin ins Mineralwasser giesst, sieht sich Paul seinen alten Freund erst mal schärfer an und findet ihn jetzt doch gealtert und recht verändert. Die Züge sind etwas vergröbert und, ja, man ahnt etwas von Alkohol in dem Gesicht. Der Kavalier von einst hat er nur geschienen, solang eine schöne Frau mit zugegen war. Jetzt wirkt er doch recht reduziert — —
Auf einmal kommt es Paul ins Empfinden, wie wenig sie jetzt voneinander wissen, sie, die die Jahre der Kriegsgefangenschaft in einer so engen Gemeinschaft verbrachten.
Sie haben zusammen Sibirien überstanden. Der preussische Vizefeldwebel Dr. Pauer, durch eine zufällige Schrulle der russischen Militärbureaukratie in das sonst fast nur von k. u. k. Offizieren bewohnte Kriegsgefangenenlager von Pjestschanka verschlagen, war, als ein in Berlin eingebürgerter Sachse stark norddeutsch orientiert, den österreichischen Offizieren von vornherein nicht gar zu sympathisch gewesen, oder doch fremd; bis dem in der Baracke Elf melancholisch Vereinsamten der k. u. k. Husarenrittmeister Baron von Matelian kräftig geholfen hat. Matelian, im slowenischen Küstenlande geboren, doch in der Armee vollkommen germanisiert, ein aristokratisches Menschenwesen, mit dem Horizont des Berufshusaren, hatte in dem viel jüngeren Kameraden, in diesem richtigen Doktor der Philosophie und schon mehrfach gedruckten lyrischen Dichter, einerseits einen fast göttergleichen Geistesgiganten zaghaft verehrt, und andererseits einen unbeholfenen, schüchternen, unsoldatischen Jungen ein bisschen von oben herab protegiert; die beiden haben vier Jahre gemeinsam ein kleines Zimmer bewohnt, allein mit den Wanzen. Jetzt, nach acht Friedensjahren, sitzt Pauer, der Jüngere, viel herber und härter und männlicher, zum erstenmal wieder neben dem Kameraden der Stacheldrahtjahre. Sie haben einander kaum mehr gesehen, seitdem sie im Frühjahr Achtzehn zusammen quer durch das brennende Russland westwärts geflohen sind. An der Grenze hat man sie gleich getrennt; Paul Pauer ist krank, wie er war, ins Spital gekommen, Matelian gleich wieder an die Front am Piave. Dann der Zusammenbruch. Matelian, dem sein Beruf abhanden gekommen ist, geht kurz entschlossen nach Amerika, mit seinem neuen jugoslawischen Pass, der ihm das gleich nach dem Kriegsende möglich macht. — Paul Pauer geht nach Berlin, in die wildeste Literaturbohème. Von der Zeit an, wie es so kommt, schreiben sie einander immer nur den äusseren Umriss ihrer Erlebnisse: „Es geht mir gut: ich habe den ersten amerikanischen Job gefunden, als Verkäufer im Warenhaus Macy. Ich verkaufe, denke Dir, Bürsten.“ — „Es geht mir gut, ich schreibe so kleine Sachen, und manchmal erscheint was in Sonntagsbeilagen.“ — Dann Briefe von Pauer aus einem unwahrscheinlichen Nest irgendwo im Fränkischen, Neustadt an der Irgendetwas, wo die Kunst des Dichters nach journalistischem Brot geht: „Es geht mir gut, aber das ist ein grässliches Schilda. Ja, Du kannst lachen, dass Du in Amerika lebst, in der offenen Welt!“ — Doch der Amerikafahrer macht keine Miene, Millionen von Dollars zu sammeln und in eigenen Jachten zum Besuch nach Europa zu kommen: „Es geht mir soso, lala, ich habe die siebente Stellung in diesem Kalenderjahre, die aber ist relativ gut, dreissig Eiserne-Harte die Woche.“ Er übersetzt schon aus dem amerikanischen Slang, und englische Worte kriechen in sein Husarendeutsch. Der Feuilletonredakteur und Theaterkritiker des „Generalanzeigers für Neustadt an der Rosach und Umgebung“ meldet nach einiger Zeit, dass er es nicht mehr ist. Wieder nach Berlin gegangen, mit einem schönen Mädchen, das er geheiratet hat. Sie war früher Schauspielerin am Stadttheater von Neustadt, aber sie verlässt nun die Bühne. Photographie eingeschlossen. — Gratulationsbrief aus New-York, auch an Paul Pauers Frau gerichtet. Und ein klein bisschen elegisch. Entbehrt der hinreissende Husar etwas im Kreise der schönen amerikanischen Misses? Es klingt fast so. — Die Briefe Dr. Pauers während der nächsten Jahre beginnen kaum mehr: „Es geht mir gut.“ Er lebt mit seiner Frau in Steglitz, wo der Schwiegervater eine kleine Druckerei hat, und redigiert irgendwelche Fachzeitschriften, die dort verlegt werden. Eines Tages kommt ein Brief in New-York an, der ein getipptes Manuskript enthält. „Ich habe da so einen Mist zusammengeschrieben, eine Art Varietésketch, der in Amerika spielt, ,Die Erpressung‘. Kannst Du den nicht irgendwie in New-York anbringen? Du hast doch bestimmt Beziehungen“ — —
*
Dieser mässige Sketch, von einem an der höheren Literatur verzweifelnden Lyriker einmal verwegen hingeschrieben, nach einem Kaffeehausabend, an dem ihm irgendeine Art Einfall gekommen war, vielleicht sogar ein fremder, — „Die Erpressung“ ist der Grund dafür und hat es bewirkt, dass die beiden Freunde jetzt plötzlich in einem kleinen Hotel an der Neunundzwanzigsten Strasse New-Yorks beieinander sitzen, ja, dass in dem gleichen Hotel auch Pauers Gattin im Bett liegt und Flammeninschriften träumt, über Wolkenkratzern, die dem Stadttheater in Neustadt sonderbar ähnlich sind.
Jetzt, da sie allein beieinander sitzen, die beiden sibirischen Leidensgefährten, und die nicht miteinander verlebten Jahre so peinlich empfinden, und alles einander zu sagen hätten und doch nicht wissen, wovon sie denn sprechen sollen, — kommt es Paul Pauer gelegen, dass er dem Matelian gar nicht richtig für diese Hilfe gedankt hat. „Das hast du glänzend gemacht,“ beginnt er, in einem zu burschikos angelegten Ton, „das mit dem Film! Und so ein riesiges Honorar, wirklich! Woher hast du nur die Beziehungen?“
„Schau,“ sagt Matelian und wird ein wenig rot und trinkt einen umständlichen Schluck vorher, „schau, jetzt kann ich es dir ja gestehen, es ist mir hier manchmal schäbig genug gegangen. — Aber, wie ich das Manuskript von dir bekommen habe, hatte ich eben den besten Job, den ich je hier bekommen habe: Verkäufer in einer kleinen deutschen Buchhandlung, die nachher prompt eingegangen ist, ich hab’ schon so ein gottverfluchtes Pech!
Alsdann, das ist eine Geschichte für sich. Gut. Eines Tages, weisst du, kommt ein Gent zu uns ins Geschäft und schmökert in den neuen deutschen Büchern herum und weiss halt nicht recht, was er eigentlich haben möchte. Ich sehe, er kann nicht einmal ordentlich Deutsch, ein Deutschamerikaner, mit einem Wort. Alsdann, ich sage ihm, was in einigen von den Büchern steht, soweit ich nämlich — — Weisst, es wird einem manchmal fad, und man liest in dem Zeug. — Gut, es stellt sich nachher heraus, dass dieser Kerl so eine Art Lektor in einer Filmfabrik ist, in der Fantoma Film Corporation, die ihre Zentrale hier auf Long Island hat und das Atelier drüben in Hollywood. Da ist er halt Chief Editor, wie sie das sagen. Alsdann, er ist auf der Suche nach europäischen Büchern, in denen vielleicht ein guter Filmstoff für ihn stecken könnte. Wie ich das im Gespräch bemerken tu’, fallt mir der Varietésketch ein, den du mir da geschickt hast — —“
Matelian lächelt, brüderlich ungeniert, zum erstenmal wieder: „Alsdann, denk’ ich, einer Music Hall hab’ ich den Dreck nicht verkaufen können, vielleicht dass er idiotisch genug ist für einen Film! Ich sage also dem Mister Brakenbosh, das ist der Lektor, das trifft sich gut, ich bin doch der amerikanische Generalrepräsentant für den grössten Dichter in Deutschland, selbstredend, Paul Pauer persönlich, you know, und ich habe den grössten Filmstoff sämtlicher Zeiten zum Alleinvertrieb, Riesen-Box-Office garantiert, wetten Sie Ihr süsses Leben, Mister — —“
„Box Office ist die Kasse“, sagt Matelian mit einer anderen Stimme und fällt aus dem Schmunzeln in einen trockenen Hohn. „Alsdann, natürlich wichtiger wie alles andere. — Gut, den Rest weisst du. Zufällig finden sie, dass dein Sketch eine passende Rolle für Dan Silver enthält, den einzigen namhaften Star, den das Fantoma-Studio derzeit bezahlt; es ist nämlich eine schäbige kleine Quetsche von Firma, bild’ dir nur ja keine Schwächen ein! — Der Inhalt des Zeugs, mein Lieber, hat den Leuten eigentlich nicht sehr gefallen; sie werden deine Geschichte verändern, dass dir das Sehen und Hören vergeht — — Aber der Titel: ,Blackmail‘, ist gut; der hat sie überzeugt. Ich glaub’, sie haben eigentlich mehr den Titel erwerben wollen, nimm mir’s nicht übel! — — Das ist doch Wurst, sie haben das Geld doch richtig hinterlegt, zweitausendfünfhundert Dollars für das Verfilmungsrecht, — was ein unerhört schäbiger Preis ist, übrigens, und ich hab’ ja doch eine Riesenfreude, kannst du dir denken, und ich schicke dir gleich am nächsten Samstag ein Weekend-Kabel — —“
„Und ich“, sagt Paul Pauer, „habe noch eine viel grössere Freude gehabt, du kannst die Claire fragen! Du wirst das erraten haben, es ist uns nach unserer Verheiratung eher mies gegangen; ich muss es dir ja geschrieben haben — —. Kein Erfolg und kein Erfolg und kein Erfolg, immer nur die blödsinnige Brotarbeit, du, sogar eine Zeitschrift für praktische Kaninchenzucht habe ich redigiert, den „Rammler“, den mein Schwiegervater Daberkow in Steglitz druckt, stell’ dir das vor, — und wenn einmal eine Zeitung eine Buchkritik von mir veröffentlicht hat, oder ein illustriertes Blatt ein Gedicht, das war schon ein Ereignis und eine Hoffnung, wirklich, und wir sind an so einem Abend feierlicher beieinander gesessen, in unserer Wohnung im Gartenhaus, drei Treppen, Claire und ich, und haben beraten, was wir mit den dreissig Mark anfangen sollen, ob ich die Hosen schon unbedingt brauche, oder unser kleiner Junge die Schuhe! Scheusslich, kann ich dir sagen. Man will doch — —“.
Paul Pauer hat eine lange, dünne, holländische Zigarre im Mund und beisst mit trockenen Zähnen hinein, wie immer, wenn ihm etwas nicht recht ist. Die Geschichte von seiner jungen Ehe mit Claire, die er dem Freund jetzt anvertrauen müsste, kommt ihm nicht über die Lippen; zu lange haben die beiden einander formelle Briefe geschrieben: „Es geht mir gut.“ Paul Pauer runzelt die Stirn und ärgert sich über sich selbst und beisst die arme Zigarre entzwei und macht dann doch einen schmählichen Bogen um seine und Claires intime Geschichte herum. „Man will doch“, sagt er, von Wort zu Wort vorsichtig schreitend, „einer jungen Frau, die man gern hat, ein weniger ärmliches Leben bieten. — Schau, wo doch die Claire erst Schauspielerin war und es aufgegeben hat, meinetwegen — —“.
Hier liegt die Geschichte begraben, und Josef Matelian wäre nicht, der er immer gewesen ist, der feine Instinktmensch, vor allem in Frauensachen, wenn er nicht irgend etwas merkte; allein er schweigt, wird gewiss nichts fragen. — Paul Pauer gleitet ein bisschen schwächlich ans sichere Ufer hinüber:
„Und auf einmal, stell’ dir das vor, kommt so ein amerikanisches Kabel, und du teilst mir mit: zweitausendfünfhundert Dollars, zehntausend Mark für diesen Bockmist, den Sketch! Du, und nur eine Woche später kommt dann die zweite Bescherung vom Himmel geflogen, noch schöner womöglich: mein Band Sonette, der gar nicht eingeschlagen hat, nicht zweihundert Exemplare ist der Idealist von Verleger losgeworden, für den Gedichtband — —.“
Josef Matelian macht ein verblüfftes Gesicht.
„Für den Gedichtband bekomme ich feierlichst den Mörike-Literaturpreis, wieder tausend Mark! Das ist nur so ein zweitklassiger Preis, nicht der richtiggehende Kleist-Preis, um den ich mich gleichfalls beworben hatte, was versucht man nicht alles, aber, Mensch, doch mal eine Anerkennung für das Eigentliche; das hat wohlgetan nach dem „Rammler“, kann ich dir sagen! Natürlich, und auch das Geld. Im ganzen mehr als elftausend Mark, für uns, die wir nie einen Pfennig ersparen konnten! Nicht, dass wir Schulden gehabt hätten, nein, darauf habe ich mich niemals eingelassen. Wie wir das Mordsgeld kriegen, haben wir uns zusammengesetzt, die Claire und ich, und wunderbar überlegt, was man kaufen könnte, Kleider und Möbel und Bücher und so — —. Dann kommt mir mit einemmal die Erleuchtung: nein, nicht bürgerlich Zeug zusammenkaufen, sondern alles an alles wagen, heraus aus Steglitz und all dem Dreck dieses Rammler-Lebens, wir sind noch jung und können ein Abenteuer riskieren. ,Du,‘ sage ich zu der Claire, ,wir fahren nach Hollywood, wenn dort mein Film gedreht wird‘ — —. Sie glaubt erst, ich bin meschugge, dann fällt sie mir gleich um den Hals. Der Film, das war immer mein grosser Traum — —. Ich glaube daran; das ist doch die rasche Kunst, die dem Tempo der Zeit entspricht, nicht tintene Worte auf Druckpapier. Diese kostbare Möglichkeit, einmal den Massen etwas zu sagen, an die der Bücherschreiber von heute sonst überhaupt niemals rankam! — Du, mehr will doch unsereiner von seinem Leben nicht! Ein Dichter, der das nicht möchte, auf alle wirken und allen sein Bisschen erzählen, wer ist denn der überhaupt? Die Bücher? Wenn einer sein Bestes gegeben hat, und das Buch hat das, was man einen Riesenerfolg nennt; — wieviel Exemplare werden verkauft? Hunderttausend? So viele Menschen gehen an einem mittleren Abend allein in Berlin in die Kinos, denke ich mir; einen Film, der ein bisschen Erfolg hat, sehen hundert Millionen Menschen, vielleicht! — —“
Paul Pauer schliesst ein wenig die Augen, da sieht er wieder den flammenden Broadway und den lohenden Himmel über dem Broadway, die Titel von Filmen, hellauf zwischen die Sterne geschrieben, weithin — —.
„Wir fahren nach Hollywood,“ sagt er und unterdrückt den Enthusiasmus, „weil ich das doch einmal im Leben versuchen möchte, ob das nicht geht, ob man gute Bücher nicht ohne Tinte verfassen kann, ohne Papier, ohne den ganzen Altväterhausrat des alten Gutenberg, der auch einmal abgeschafft werden muss in veränderten Zeiten — —. Denn, glaube mir, die schriftlose Dichtung kommt. Das Radio ist auf dem Wege dahin, und der Film, sie werden einander demnächst begegnen. Und ich möchte dabei sein. Das ist es. Ich halte es nicht aus in der Schublade mit der Etikette: Lyriker — —.“
Matelian rückt auf seinem Sessel schon einige Zeit ein bisschen nervös herum, in seinem Gesicht ist ein Jungenlächeln, das er in der Kadettenschule gehabt haben muss, wenn ein Streich mal daneben ging.
„Du,“ sagt er, „Pauer, mit deiner Lyrik — — alsdann, schau, ehrlich gestanden, was ist denn das für ein Büchel, was dir prämiiert worden ist? Es heisst doch: ,Sentimentale Geschichte‘, hab’ ich geglaubt — — Das muss ja doch ein Roman sein, nicht? Was red’st du denn fort von Sonetten und so?“
Paul Pauer schweigt eine Weile. Er schämt sich heftig. Er hat seinem besten Freunde sein Buch nicht geschickt! Er weiss in seinem hintersten Inneren, warum er es erst immer aufschob, dann ganz unterlassen hat. Er hat sich immer gesagt: Was macht der Matelian sich aus Sonetten! — Der wirkliche Grund ist anders gewesen, er hat ihm von sich und Claire so wenig geschrieben und dieser Gedichtband eben — —
„Nein,“ sagt er schliesslich, „es sind Sonette, sie heissen nur so, weil sie eine Art von Handlung ergeben — — Warte, ich hole dir gleich ein Exemplar aus dem Zimmer.“
„Nur ein Momenterl“, sagt der Matelian. „Weisst, der Reporter, der dich beim Landen gleich interviewt hat“ — —
„Ja, richtig!“ sagt Paul und sieht neugierig auf. Es ist ein Reporter dagewesen, gerade während der Zollrevision, und Paul hat den Koffer nicht aufbekommen und war so nervös, und hat auf einmal das zweite englische Wort nicht verstanden, und Matelian hat mit diesem Reporter geredet, nur das Wort „Mörike-Preis“ hat Paul Pauer selbst buchstabieren müssen. „Ja, richtig,“ sagt Paul, „was war denn das für ein Reporter?“
„Von den ,Evening News‘ “, sagt Matelian. „Sie kommen immer zum Schiff, und vorher, wie ich ihn habe stehen sehen, hab’ ich ihm selbst gesagt, dass ein grosser Dichter ankommt, weisst, ein bisschen Publicity schadet nichts hier in Amerika. Nur, weisst, was gibst du dem Buch so einen verdrehten Titel, nachher, wenn es Gedichte sind? Ich hab’ ihm gesagt, du hast den grössten europäischen Literaturpreis für den sensationellsten Roman bekommen, die ,Sentimentale Geschichte‘. Und da steht es!“
Matelian zieht das Abendblatt aus der Tasche, das er vorhin auf dem Broadway gekauft hat, und zeigt, mit der Miene eines erwischten Kadetten, was auf der zweiten Seite recht breit gedruckt steht: „Grosser Romandichter aus Deutschland, preisgekrönt, sagt, dass erster Eindruck von Amerika überwältigend“ — — Paul Pauer macht ein entsetztes Gesicht und möchte, obwohl er letzten Endes auch ein klein bisschen stolz auf sein erstes Interview ist, Matelian Vorwürfe machen. Doch der hebt die Hände hoch und schreit gleich: „Ich ergeb’ mich!“ Es ist die alte Formel aus der sibirischen Baracke, wenn Paul einmal streitsüchtig war oder Matelian in seiner lässigen Art etwas angerichtet hatte: er hat sich immer gleich zu Beginn des Streites ergeben, auf Gnade und Ungnade, so wie jetzt. Wie immer muss Paul lachen. Lieber, alter Matelian!
Ein Zug, nicht einer von den glanzvollen transkontinentalen Luxuszügen der Southern Pacific Railway, fährt durch die grosse amerikanische Wüste, dort, wo New-Mexico an Kalifornien angrenzt. Der Zug enthält Wagen der billigen „Touristenklasse“, und es fehlen ihm viele von den Bequemlichkeiten des Golden State Express, das Duschebad, der Friseur, die Stenotypistin, selbst der prachtvolle Speisewagen. Die Reisenden essen in Eile auf den Stationen oder kochen im Touristenwagen sich selbst etwas auf Spiritus. Aber ein Aussichtswagen ist dennoch vorhanden, mit einer offenen Plattform.
Es ist Vormittag; welcher Tag der Reise? Der fünfte? sechste? Die Rechnung verwirrt sich. In ihrem Coupé liegt Claire und schläft von neuem; das kurze rote Haar vergoldet ein weisses Kissen. Sie hat mit Paul gefrühstückt, irgendwo in einem Bahnhofsbüfett, auf einem hohen Stuhl baumelnd, und ist nachher gleich wieder eingeschlafen, müde, müde. Paul, ihr gegenüber, sieht sie friedlich atmen, steht behutsam auf, geht durch den ganzen langen Zug bis zu dem letzten Wagen, dem mit der offenen Plattform. Der Zug ist voll, und die Reisenden haben viel zu viel Handgepäck; romantische Rollen und Bündel und Koffer, die man in teueren Zügen nie sieht. Es ist nicht so leicht, zu passieren. Paul, mit einem Lächeln, windet sich durch. Jetzt kennt er die Leute schon, die mit ihm fahren, nur ein par Mexikaner sind neu, in der Nacht irgendwo eingestiegen, Vaqueros offenbar, von einer Ranch, Cowboys ins Indianisch-Spanische übersetzt, Zigaretten drehend und spuckend und laut. Ein alter Mann ist unter ihnen, mit ganz silbernen Haaren über einem kupferbraunen Gesicht mit den starken Backenknochen der Indios. Paul Pauer denkt bei sich, dass jetzt also doch ein alter Mensch in dem Zuge ist, die anderen sind alle jung, Männer und Frauen; in diesem Zug fahren lauter junge und fast lauter schöne Menschen nach Hollywood. Paul Pauer, durch die Korridore gehend, sieht nach rechts und links und vergnügt sich insgeheim damit, seine Mitreisenden zu klassifizieren. Dieser junge Mann glaubt offenbar, dass er so aussieht wie Valentino; ein anderer hat sich von der Sonne braun brennen lassen und zeigt, fortwährend lächelnd, seine weissen Zähne, ganz wie Douglas Fairbanks. Die Mädels sind ebenso leicht einzuteilen; hier fährt eine neue Lilian Gish nach Hollywood, um dort ein so berühmter Star zu werden wie die bisherige; Mary Pickford ist mehrfach da, zum Aussuchen, die Miss dort sucht den Stil der Constance Talmadge. Paul Pauer denkt sich, dass um diese Zeit, in dieser gleichen Sekunde, noch viele andere Eisenbahnzüge durch Amerika rollen, auf anderen Schienensträngen, die auch nach Kalifornien führen, nach Hollywood, und es fahren Schiffe nach Hollywood, durch den Panamakanal, und andere, die aus Australien kommen, durch die Südsee, und Autos rollen nach Hollywood, auf tausend Strassen, und in allen diesen Zügen und Schiffen und Autos sitzen lauter schöne, junge Menschen, die davon träumen, dass sie doch eigentlich aussehen wie Douglas Fairbanks oder Lilian Gish, und dass sie daher in Hollywood bestimmt berühmt werden müssen, und reich, das auch, aber das wichtigste ist doch, dass dieses ihr Gesicht, o aus tausend Spiegeln kennen sie es, dass es in der ganzen Welt sichtbar sein wird, lächelnd, oder in tragischer Traurigkeit, und dass über dem Broadway die Flammen den Namen an den Nachthimmel schreiben werden, den neuen Namen des jungen Menschen, der jetzt nach Hollywood kommt, heute, einer von Tausenden, aber nicht lange — —.
Paul Pauer ist ans Ende des Zuges gelangt und muss hinter einer Glastür einige Zeit warten, bis auf der hinteren Plattform einer der Klappstühle für ihn frei wird.
Endlich bekommt er den Platz und setzt sich nieder, zwischen zwei junge Burschen aus dem mittleren Westen, die ihre Füsse auf den Messingstangen der Brüstung liegen haben, und je einen breiten Stetson-Hut tragen und je eine kurze Pfeife rauchen, sie sind beide, offenbar, Zwillingssöhne von Tom Mix und werden in Hollywood zahllose Heldinnen, unschuldig-holde, aus den Klauen der Bösewichter befreien, herbeisprengend auf ungesattelten Bronchos. Paul Pauer, zwischen Tom Mix und Tom Mix, liegt in dem bequemen niederen Sessel und blickt auf die Schienen, die hinter dem Zuge rennen wie zwei flinke Schlangen. Das Land, das er sieht, hinter dem eilenden Zuge, ist seltsam fremd und dennoch wieder vertraut, die Wüste aus hundert Filmen, der Wilde Westen der Kinos, nur anders, farbig, ganz toll und besoffen von Farbe; blutrot steigt ein Tafelberg auf, oder sonderbar grün, nicht durch Pflanzen grün, sondern durch giftig gefärbtes Gestein; gelb, braun und purpurn sind kahle Hügel, und in den Felsenschluchten liegen die Schatten bläulich. Auch blüht diese Wüste wie ein phantastischer Garten; ein verfrühter Regen hat hier plötzlich den Sand erweckt, und es sind Blumen da, in ganzen Feldern und, scheinbar, Unendlichkeiten; hier ist alles weiss von kleinen Kamillenblüten, dort ist ein rotes Feuer aus Blüten, weithin, und dort ein stahlblauer See, der nicht aus Wasser ist. Grotesk dazwischen die Säulen und Pfeiler und Kandelaber und Trolle und Gnomenfiguren und Urwelttiere, die der Kaktus vortäuscht. Ein feiner Staub, vom Wind über das Hochplateau der Wüste getrieben, hüllt das alles ein, Paul Pauer fühlt ihn rauh in seinem Gesicht und salzig auf seiner Zunge.
Manchmal, in einer Senkung, die Wasser enthält, einen kleinen bitteren See mit Salzkristallen an den eingetrockneten Rändern, wächst derbes Gras auf sumpfigen Wiesen, und Herden von freien Pferden sprengen herum, es weiden Rinder. Hier sieht man auf einmal einen Cowboy, einen richtigen, aus dem Indianerbuch, der hinter dem Zug dreingaloppiert, als wie um ihn einzuholen; das bunte Nackentuch flattert, und wenn er sich im Sattel hebt, bemerkt man hinten den Pistolenhalfter. Oder es stehen ein paar würfelförmige Hütten da, aus Holz genagelt oder aus Lehmziegeln aufgepappt; und Indianerkinder, zerlumpt, mit straffem Haar über schwarzen Augen, blicken dem Zuge nach; sie winken nicht und rufen nichts, sie sind feierlich ernsthaft. Einmal hält der Zug in einer Station, die ohne besonderen Zweck in der Wüste da ist; ein indianisches Weib in einem grellroten Rock geht von Wagen zu Wagen und bietet Waren an, Wolldecken, graue und rote, mit schönen Mäandern verziert, und prachtvoll buntes Korbwerk und Töpfe; der eine Topf ist ganz voll von silbernen Ringen, die mit Türkisen verziert sind, so wie sie der Indio in den Bergen findet. Paul Pauer kauft eine ganz billige, kleine Spange mit einem Türkis, und Claire, erwachend, findet sie später am Halsausschnitt ihrer Bluse.
*
Den ganzen Tag bleibt Paul Pauer auf dieser hinteren Plattform, von der Luft berauscht und fasziniert von der Wüste. Claire, die mehrmals kommt und sich neben ihn setzt, findet am Mittag die Sonne zu heiss und gegen Abend den Wind zu kalt und immer den Staub unertragbar. Jetzt, am späten Nachmittag, hat der Zug die hochgelegenen Teile Neumexikos schon durcheilt und fährt knapp an der mexikanischen Grenze entlang durch ein Gebiet, das sich langsam hinabsenkt in eine tiefe Depression; hier blüht nichts mehr, der Kaktus selbst ist verkrüppelt und schmächtig, es ist die tote und durstige Wüste; eine grosse Landstrasse, ausgezeichnet gepflegt, mit Telegraphenpfählen, die von Benzinstation zu Benzinstation führen, zerschneidet die Wüste, und manchmal sieht man ein Auto durch die gespenstischen Sanddünen fahren, rasch vorwärts, in die Oasen am anderen Ende, in Kalifornien, wo sie Wasser in diese Wüste geleitet haben und aus dem leeren Sande die Gärten gemacht, die Dattelwälder, die Königreiche der Goldorange und der silbrigen Grapefruit.
Hier, in der tiefgelegenen, trostlosen Wüste, hat der Dichter Paul Pauer eine Vision, die er lang nicht vergessen wird, und die in ihm zu dem Kern wird, um den ein schöner Kristall seines Geistes sich bilden soll. Auf dieser energischen, amerikanischen Strasse, die durch die Wüste liniiert ist, sieht er manchmal ein Auto und denkt sich immer: in diesem Auto fahren schöne, junge Menschen nach Hollywood, weil sie das grosse Glück dort vermuten. Einmal aber sieht er einen Mann, der langsam und müde zu Fuss geht, durch die unendliche Wüste der amerikanischen Mitte, von Telegraphenstange zu Telegraphenstange, von Kaktus zu Kaktus, immer weiter. Der Zug donnert vorbei an dem Tramp, der stehen bleibt und ihm nachblickt, mit einem traurigen Gesicht, in dem wenig Hoffnung ist. Paul Pauer, jetzt allein auf der hinteren Plattform, in der kalten und stauberfüllten Dämmerung des herbstlichen Abends, sieht den Menschen noch lange; es ist ein grosser, starker Mann zwischen zwanzig und dreissig, in Kleidern, die einmal städtisch waren, er trägt ein ganz kleines Bündel, und es scheint ihn zu Boden zu ziehen, er kann kaum mehr weiter. Hier, an diesem jungen Vagabunden vorbeifahrend, auf dem Weg nach dem bunten Märchenziel, Hollywood, denkt der Dichter Paul Pauer an eine Dichtung, die er schreiben möchte, an einen Film, dessen Anfang von einem Vagabunden erzählen soll, verzweifelt und müde und durstig in der grossen Wüste, hinter der Fata Morgana strahlt, die gespiegelte Phantom-Stadt der Sehnsucht, Hollywood.
Am nächsten Tag, um die Mittagsstunde. Der Golden State Express, der vor dem billigen Zug von Chicago ausgefahren ist, ist schon fast einen Tag und eine Nacht in Los Angeles, oder rast längst wieder zurück nach Chicago, da fahren Paul und Claire Pauer erst in die grosse Stadt ein, die auf den ersten Blick sonderbar aussieht, und hässlich. Der Zug ist in den letzten Stunden immer durch grüne und goldene Orangengärten gefahren und durch weisse Villenvororte; jetzt fährt er ohne besondere Umstände wie irgendeine Tramway durch schäbige Strassen, in deren niederen Häusern lauter Chinesen und Japaner zu wohnen scheinen und kaffeefarbene Mexikaner. Die grosse Glocke auf der Lokomotive läutet fortwährend, mit einem tiefen und festlichen Ton, wie eine Kirchenglocke; aber das ist auch die ganze Festlichkeit dieser Ankunft. Auf einem Bahnhof, der wildwestlich und improvisiert aussieht, hilft Paul seiner Frau aus dem Zug, sie ist furchtbar müde von der endlosen Reise in dem unbequemen Zug und eingeschüchtert von dem ersten Anblick der unfassbar fremdartigen Stadt und hat eine heimliche Angst vor dem Gedanken an das billige Logis, in dem sie sicherlich absteigen werden. Wo ist überhaupt dieses Hollywood? Hier ist man doch erst in Los Angeles!
Aber Paul Pauer versteckt ein Lächeln, er bereitet eine kleine Überraschung vor. Er hat vorhin im Zug Kasse gemacht und gefunden, dass sie bisher weniger Geld ausgegeben haben, als sie vorher berechnet hatten. Auch hat sich Matelian, der Gute, doch platterdings geweigert, irgendeine Provision von den zweitausendfünfhundert Dollars anzunehmen; die Finanzen stehen im Augenblick nicht so ungünstig. Paul Pauer plant, der kleinen Frau einen behaglichen Abend und eine gesicherte, gute Nachtruhe zu geben, ehe sie, das muss freilich sein, morgen irgendein bescheidenes Quartier suchen. Claire macht grosse und frohe Augen, da er ein Taxi herbeiwinkt und dem Chauffeur mit affektierter Lässigkeit sagt: „Hotel Ambassador, please!“ Das „Ambassador“ ist doch das berühmte Luxushotel, in dem die Filmmillionäre absteigen! Claire remonstriert, ohne Überzeugung, aber Paul sagt, eine Nacht im „Ambassador“ werde noch zu erschwingen sein.