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"Es gibt hier in der Zelle keine größere Freude als Briefe" – Briefe waren für Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis eine Art Lebenselexier. Durch die Briefe, veröffentlicht unter dem Titel "Widerstand und Ergebung", konnte Bonhoeffer weiterhin Anteil nehmen am Leben seiner Lieben – seiner Eltern Karl und Paula Bonhoeffer, seiner Verlobten Maria von Wedemeyer und seinem Freund Eberhard Bethge. Und in den Briefen, die Bonhoeffer aus dem Gefängnis heraus selber schrieb, konnte er sich der Außenwelt mitteilen. Persönliches und theologische Überlegungen sind daher in diesen Briefen untrennbar miteinander verwoben. Durch seine Briefen wird sich Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis bewusst, dass es nicht um Religion als einen isolierten Bereich des Lebens geht, sondern darum, ganz Mensch zu sein, um ganzheitliche Nachfolge – darum, mit all seinen Bedürfnissen ganz diesseitig an Christi Leben, aber auch an seinem Leiden und Sterben teilzuhaben – und Verantwortung für diese Welt und auch für kommende Generationen zu tragen. Die Briefe an seine wichtigsten Bezugspersonen – seine Eltern, seine Verlobte und seinen besten Freund – sind in dieser Ausgabe erstmalig chronologisch zusammengestellt, denn in "Widerstand und Ergebung" sind seine Briefe an Maria von Wedemeyer nicht enthalten.
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Seitenzahl: 552
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DIETRICH BONHOEFFER
Die Briefe aus dem Gefängnis(1943–1944)
Herausgegeben und mit einer Einführung versehenvon Peter Zimmerling
Mit einem Geleitwort von Christiane Tietz
Die hier abgedruckten Briefe, außer die an Maria von Wedemeyer, finden sich auch in:
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge (†) und Renate Bethge, DBW 8, München: Chr. Kaiser 22016.
Die Briefe an Maria von Wedemeyer sind veröffentlicht in: Ruth-Alice von Bismarck, Ulrich Kabitz (Hrsg.), Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer 1943–1945, München: C.H. Beck, 72016.
Bibelzitate entsprechen der von Bonhoeffer verwendeten Fassung. Die Rechtschreibung wurde aktualisiert. Grammatikalische Eigenheiten, z. B. bei der Zeichensetzung, wurden teilweise beibehalten. Hervorhebung von Anrede und Gruß sind nicht original von Bonhoeffer.
© 2019 Brunnen Verlag GmbH, GießenUmschlagfoto: ShutterstockUmschlaggestaltung: Celia FriedlandSatz: DTP BrunnenDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmISBN Buch: 978-3-7655-1650-4ISBN E-Book: 978-3-7655-7526-6
www.brunnen-verlag.de
Geleitwort
Zu dieser Ausgabe
Einführung von Peter Zimmerling
1. An Karl und Paula Bonhoeffer, 14. April 1943
2. An Karl und Paula Bonhoeffer, 25. April 1943
3. An Karl und Paula Bonhoeffer, 4. Mai 1943
4. An Karl und Paula Bonhoeffer, 15. Mai 1943
5. An Karl und Paula Bonhoeffer, 4. Juni 1943
6. An Karl und Paula Bonhoeffer, 14. Juni 1943
7. An Karl und Paula Bonhoeffer, 24. Juni 1943
8. An Karl und Paula Bonhoeffer, 3. Juli 1943
9. An Karl und Paula Bonhoeffer, 24. Juli 1943
10. An Karl und Paula Bonhoeffer, 30. Juli 1943
11. An Maria von Wedemeyer, 30. Juli 1943
12. An Karl und Paula Bonhoeffer, 3. August 1943
13. An Karl und Paula Bonhoeffer, 7. August 1943
14. An Maria von Wedemeyer, 12. August 1943
15. An Karl und Paula Bonhoeffer, 17. August 1943
16. An Maria von Wedemeyer, 20. August 1943
17. An Karl und Paula Bonhoeffer, 24. August 1943
18. An Maria von Wedemeyer, 27. August 1943
19. An Karl und Paula Bonhoeffer, 31. August 1943
20. An Karl und Paula Bonhoeffer, 5. September 1943
21. An Maria von Wedemeyer, 9. September 1943
22. An Karl und Paula Bonhoeffer, 13. September 1943
23. An Maria von Wedemeyer, 20. September 1943
24. An Karl und Paula Bonhoeffer, 25. September 1943
25. An Maria von Wedemeyer, 30. September 1943
26. An Karl und Paula Bonhoeffer, 4. Oktober 1943
27. An Maria von Wedemeyer, 8. Oktober 1943
28. An Karl und Paula Bonhoeffer, 13. Oktober 1943
29. An Karl und Paula Bonhoeffer, 22. Oktober 1943
30. An Karl und Paula Bonhoeffer, 31. Oktober 1943
31. An Karl und Paula Bonhoeffer, 9. November 1943
32. An Maria von Wedemeyer, 10. November 1943
33. An Karl und Paula Bonhoeffer, 17. November 1943
34. An Eberhard Bethge, 18. November 1943
35. An Maria von Wedemeyer 21. November 1943
36. An Eberhard Bethge, 26. November 1943
37. An Karl und Paula Bonhoeffer, 28. November 1943
38. An Maria von Wedemeyer, 1. Dezember 1943
39. An Eberhard Bethge, 5. Dezember 1943
40. An Maria von Wedemeyer, 13. Dezember 1943
41. An Eberhard Bethge, 15. Dezember 1943
42. An Karl und Paula Bonhoeffer, 17. Dezember 1943
43. An Eberhard Bethge, 18. Dezember 1943
44. An Maria von Wedemeyer, 24. Dezember 1943
45. An Renate und Eberhard Bethge, 24. Dezember 1943
46. An Karl und Paula Bonhoeffer, 25. Dezember 1943
47. An Maria von Wedemeyer, 2. Januar 1944
48. An Maria von Wedemeyer, 14. Januar 1944
49. An Karl und Paula Bonhoeffer, 14. Januar 1944
50. An Eberhard Bethge, 18. Januar 1944
51. An Renate und Eberhard Bethge, 23. Januar 1944
52. An Eberhard Bethge, 29. und 30. Januar 1944
53. An Eberhard Bethge, 1. Februar 1944
54. An Eberhard Bethge, 4. Februar 1944
55. An Renate Bethge, 5. Februar 1944
56. An Eberhard Bethge, 12. Februar 1944
57. An Karl und Paula Bonhoeffer, 20. Februar 1944
58. An Eberhard Bethge, 21. und 23. Februar 1944
59. An Eberhard Bethge, 1. März 1944
60. An Karl und Paula Bonhoeffer, 2. März 1944
61. An Eberhard Bethge, 9. März 1944
62. An Maria von Wedemeyer, 11. März 1944
63. An Eberhard Bethge, 19. März 1944, Lätare
64. An Karl Bonhoeffer, 23. März 1944
65. An Eberhard Bethge, 24. März 1944
66. An Eberhard Bethge, 2. April 1944
67. An Ruth von Wedemeyer, 10. April 1944
68. An Eberhard Bethge, 11. April 1944
69. An Maria von Wedemeyer, 16. April 1944
70. An Eberhard Bethge, 22. April 1944
71. An Maria von Wedemeyer, 23. April 1944
72. An Maria von Wedemeyer, ohne Datum
73. An Karl und Paula Bonhoeffer, 26. April 1944
74. An Eberhard Bethge, 30. April 1944
75. An Eberhard Bethge, 5. Mai 1944
76. An Eberhard Bethge, 6. Mai 1944
77. An Renate und Eberhard Bethge, 9. Mai 1944
78. An Eberhard Bethge, 16. Mai 1944
79. An Renate und Eberhard Bethge, 18. Mai 1944
80. An Renate und Eberhard Bethge, 19. Mai 1944
81. An Maria von Wedemeyer, ohne Datum
82. An Eberhard Bethge, 20. Mai 1944
83. An Eberhard Bethge, 21. Mai 1944
84. An Renate und Eberhard Bethge, 24. Mai 1944
85. An Eberhard Bethge, 26. Mai 1944
86. An Eberhard Bethge, 27. Mai 1944
87. An Eberhard Bethge, 29. Mai 1944
88. An Maria von Wedemeyer, 29. Mai 1944
89. An Eberhard Bethge, 2. Juni 1944
90. An Eberhard Bethge, 5. Juni 1944
91. An Eberhard Bethge, 6. Juni 1944
92. An Eberhard Bethge, 8. Juni 1944
93. An Eberhard Bethge, 21. Juni 1944
94. An Maria von Wedemeyer, 27. Juni 1944
95. An Eberhard Bethge, 27. Juni 1944
96. An Eberhard Bethge, 30. Juni 1944
97. An Eberhard Bethge, 8. Juli 1944
98. An Eberhard Bethge, 16. Juli 1944
99. An Eberhard Bethge, 21. Juli 1944
100. An Eberhard Bethge, 25. Juli 1944
101. An Eberhard Bethge, 27. Juli 1944
102. An Eberhard Bethge, 28. Juli 1944
103. An Eberhard Bethge, 3. August 1944
104. An Eberhard Bethge, 10. August 1944
105. An Eberhard Bethge, 11. August 1944
106. An Maria von Wedemeyer, 13. August 1944
107. An Eberhard Bethge, 14. August 1944
108. An Eberhard Bethge, 21. August 1944
109. An Eberhard Bethge, 23. August 1944
110. An Maria von Wedemeyer, August 1944
111. An Maria von Wedemeyer, 19. Dezember 1944
112. An Paula Bonhoeffer, 28. Dezember 1944
113. An Karl und Paula Bonhoeffer, 17. Januar 1945
Erwähnte Personen
Anmerkungen
Dietrich Bonhoeffers Briefe aus dem Gefängnis gehören zu den bewegendsten theologischen Texten des 20. Jahrhunderts. Denn in diesen Briefen ist man dabei, wenn Bonhoeffer einen neuen theologischen Ansatz wagt. Man schaut ihm über die Schulter, wenn er tastend versucht, sich im Gespräch mit seinem Freund Eberhard Bethge Klarheit über seine sich verändernden Einsichten zu einer mündigen Welt und einer weltlichen, nicht-religiösen Gestalt des Christentums zu verschaffen. Es sind diese Überlegungen, die Bonhoeffer nach seinem Tod berühmt gemacht haben.
In diesen Briefen erlebt man aber auch hautnah mit, wie Bonhoeffer versucht, mit der belastenden Haftsituation fertigzuwerden. Er vermisst die Eltern, den Freund und seine Verlobte Maria von Wedemeyer. Er zwingt sich einen disziplinierten Tagesablauf ab, um der negativen Gefühle und der Einsamkeit Herr zu werden. Mal trösten ihn alte Kirchenlieder, mal liest er kaum noch in der Bibel. Sein Innenleben schwankt zwischen Zuversicht und Depression, zwischen Selbstzweifeln und Gottvertrauen.
Zum ersten Mal werden hier Bonhoeffers Briefe an Eltern, Freund und Verlobte in chronologischer Reihenfolge abgedruckt. Bislang musste man zwei verschiedene Bücher, „Widerstand und Ergebung“ und „Brautbriefe Zelle 92“, nebeneinanderlegen, um rekonstruieren zu können, wie sich Bonhoeffers Briefe an Eltern und Freund und seine Briefe an die Verlobte zueinander verhalten. Nun ist endlich am Stück nachzulesen, welche Gedanken und Gefühle er mit wem wann teilte und inwiefern diese Beziehungen, aber auch die Hoffnung auf Gott, die „guten Mächte“ waren, die ihm in der Haft Trost und Halt gaben.
Christiane Tietz(Prof. Dr. Christiane Tietz war bis 2018 Vorsitzende der Internationalen Dietrich-Bonhoeffer-Gesellschaft, deutschsprachige Sektion.)
Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 von den Nazis hingerichtet. 2015 waren es 70 Jahre, dass dieses Verbrechen geschah. Nach 70 Jahren werden die Bücher und Texte eines Verstorbenen „rechtefrei“. Das schien dem Brunnen Verlag und mir eine gute Gelegenheit, zunächst vier Bücher Bonhoeffers neu herauszugeben: „Das Gebetbuch der Bibel“, „Gemeinsames Leben“, „Nachfolge“, „Schöpfung und Fall“. Durch sie ist er schon zu Lebzeiten einer größeren Lesergemeinde bekannt geworden.
Die gute Aufnahme der vier Bände, von denen z.T. bereits wieder eine Neuauflage nötig wurde, hat uns bewogen, die Reihe fortzusetzen. Den Anfang machte 2018 ein Band unter dem Titel „Aber bei dir ist Licht“ mit Gebeten, Gedichten und Gedanken Bonhoeffers aus der Zeit seiner Inhaftierung durch die Nazis. Hier folgt ein Band mit seinen Briefen aus dem Gefängnis an die Eltern, die Verlobte Maria von Wedemeyer und den Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge. Die Briefe und übrigen Texte Bonhoeffers wurden unter dem Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“ weltberühmt. Seine Briefe an die Verlobte wurden erst nach deren Tod separat als Buch unter dem Titel „Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer/Maria von Wedemeyer (1943–1945)“ veröffentlicht.
Potsdam, im Herbst 2018Peter Zimmerling
Die im vorliegenden Buch abgedruckten Briefe schrieb Dietrich Bonhoeffer während seiner Haftzeit zwischen April 1943 und Januar 1945.1 Sie entstanden fast alle, während er im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel einsaß (von April 1943 bis Anfang Oktober 1944). Nur drei Briefe sind im Dezember 1944 und im Januar 1945 im Kellergefängnis der Gestapo in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße verfasst worden, in das Bonhoeffer am 8. Oktober 1944 überstellt worden war. Das Grundstück an der heutigen Niederkirchnerstraße in Berlin-Kreuzberg, auf dem sich das Kellergefängnis befand, gehört seit 2004 zur Gedenkstätte „Topografie des Terrors“.
Man merkt diesen Briefen an, dass sie für Bonhoeffer im Gefängnis eine Art Lebenselixier waren.2 Das gilt für die empfangenen Briefe nicht anders als für die von ihm selbst verfassten. „Es gibt hier in der Zelle keine größere Freude als Briefe“ (17.8.1943). „Ich danke Euch sehr für Eure Briefe […]. Es ist, als täte sich hier in der Zelle für einen Moment die Gefängnistür auf, und man lebt ein Stück Leben draußen mit“ (4.6.1943). Manche der Briefe Bonhoeffers, vor allem die an Eberhard Bethge, erwecken den Eindruck, dass er auch deshalb in ihnen kein Ende findet, weil er wenigstens auf diese Weise am Leben des Freundes teilnehmen will.
Ein erster Auszug aus dem Brief Bonhoeffers vom 21.7.1944 wurde bereits 1945, also unmittelbar nach dem Krieg, unter der Überschrift „Diesseitigkeit des Christentums“ vom Ökumenischen Rat in Genf veröffentlicht.3 Sechs Jahre später, 1951, publizierte Bonhoeffers Freund und theologischer Gesprächspartner Eberhard Bethge (1909–2000) eine erste Sammlung der Briefe unter dem Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“. „Widerstand und Ergebung“ enthielt neben Bonhoeffers Briefen an seine Eltern und an Eberhard Bethge auch dessen im Gefängnis entstandenen Texte, Gedichte und Gebete. Die Briefe waren z. T. stark gekürzt. Privates wurde, wenn möglich, weggelassen. Persönliche Angaben wurden nicht näher erläutert. Darum wurden auch die Namen mit Initialen belassen. Das Inhaltsverzeichnis sprach von Briefen an „einen Freund“, ohne zu verraten, wer sich dahinter verbarg. Auch die Eltern wurden nicht namentlich genannt. Stattdessen hieß es im Inhaltsverzeichnis lediglich: „Briefe an die Eltern“. Neben den Antwortbriefen der Adressaten fehlte vor allem der Briefwechsel Bonhoeffers mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer. In einer erweiterten Neuauflage von „Widerstand und Ergebung“ wurden im Jahr 1970 nicht nur die Briefe meist ungekürzt abgedruckt, sondern auch die Antwortbriefe mitveröffentlicht. Die Brautbriefe von Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer erschienen 1992 nach dem Tod der Verlobten als eigenständiges Buch: „Brautbriefe Zelle 92“.4 1998 schließlich wurde im Rahmen der „Dietrich Bonhoeffer Werke“ unter dem gleich gebliebenen Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“ eine neu durchgesehene und vervollständigte Gesamtausgabe der Briefe von und an Bonhoeffer aus dem Gefängnis publiziert (weiterhin mit Ausnahme der Brautbriefe).5 Sie enthielt auch die meisten übrigen, in der Haft entstandenen Texte Bonhoeffers.6
Die Briefsammlung im vorliegenden Buch kehrt in mancher Hinsicht zurück zur Erstausgabe der Bonhoeffer-Briefe von 1951, die ihn weltberühmt gemacht hat. Allerdings mit einer gravierenden Ausnahme: Es werden erstmals Bonhoeffers Briefe an seine Verlobte Maria von Wedemeyer im selben Buch mitveröffentlicht.7 In chronologischer Reihenfolge kommen in diesem Band ausschließlich die Briefe Bonhoeffers – jetzt ungekürzt – zum Abdruck, und zwar nur die an die Eltern, die Verlobte und an den Freund. Die Briefe der Eltern Bonhoeffers, der Verlobten Maria von Wedemeyer und des Freundes Eberhard Bethge sind noch nicht gemeinfrei und können deswegen nicht mit abgedruckt werden. Allerdings waren es die Gedanken Bonhoeffers, die „Widerstand und Ergebung“ zum religiösen Klassiker werden ließen.8 Sie treten komprimierter vor Augen, wenn man – wie in dieser Ausgabe – nur Bonhoeffers eigene Briefe liest.
Dabei unterscheiden sich die Briefe an die Eltern, an die Verlobte und an den Freund nicht nur in inhaltlicher Hinsicht: In den Briefen an Eberhard Bethge nehmen theologische Überlegungen einen weitaus größeren Raum ein. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Briefe an die Verlobte, von Ausnahmen abgesehen, und an die Eltern den offiziellen Weg durch die Zensur nahmen, während die Briefe an Bethge an der Zensur vorbei auf konspirative Weise gelangten – vermittelt über Gefängniswärter, deren Vertrauen Bonhoeffer gewonnen hatte. Allerdings ist diese Unterscheidung insofern wieder zu relativieren, als Bonhoeffer sich nicht scheute, auch an die Eltern und die Verlobte persönliche Dinge zu schreiben, während er umgekehrt bei den konspirativen Briefen immer damit rechnen musste, dass sie in die Hände der Gestapo gelangten.
Nach einer zehntägigen Kontaktsperre am Beginn der Haft durfte Bonhoeffer am 14.4.1943 den ersten Brief an seine Eltern schreiben. Der Briefwechsel dauerte bis zum April 1944 (bis zu diesem Zeitpunkt ist er jedenfalls erhalten geblieben). Erst aus dem Dezember 1944 und Januar 1945 sind, wie bereits erwähnt, nochmals zwei kurze Briefe an die Eltern vorhanden. Der Briefwechsel mit der Verlobten beginnt mit dem Brief vom 30.7.1943. Fortan durfte Bonhoeffer offiziell alle vier Tage schreiben. Er wechselte jeweils zwischen der Verlobten und den Eltern ab. Der letzte Brief an die Verlobte stammt vom 19.12.1944, dem auch das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ beigelegt war. Der erste konspirative Brief an Eberhard Bethge stammt vom 20.–23.11.1943, der letzte vom 23.8.1944. Die danach noch geschriebenen Briefe Bonhoeffers an Bethge hat dieser angesichts der drohenden eigenen Verhaftung durch die Gestapo vernichtet.9 Die übrigen Briefe an Bethge haben den Krieg in Gasmaskenbüchsen überdauert. Sie waren im Garten des Hauses der Eltern von Eberhard Bethges Frau Renate geb. Schleicher in der Berliner Marienburger Allee 42, dem Nachbarhaus der Eltern Bonhoeffers, vergraben.
Charakteristisch für Bonhoeffers Briefe ist die Verbindung von persönlichen Mitteilungen und theologischen Überlegungen auf hohem intellektuellem Niveau. Das gilt vor allem für die Briefe an Bethge. Äußerlich erkennbar wird die Verbindung an der Tatsache, dass Bonhoeffer im Originalbrief zuweilen zwei unterschiedliche Schriftarten verwendet hat: Im Rahmen theologischer Überlegungen kann er unwillkürlich von der lateinischen in die – für andere beinahe unlesbare – deutsche Schrift wechseln. In den Briefen an die Eltern steht deren Ergehen angesichts der zunehmenden Bombardierungen Berlins und die Verbundenheit miteinander im Vordergrund. Die Briefe an die Verlobte thematisieren naturgemäß die gemeinsame Zukunft und die Liebe zueinander, aber auch theologische und spirituelle Fragen und solche des literarischen Geschmacks.
Dass Briefe den wesentlichen Teil eines Lebenswerks bilden, ist im Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder vorgekommen. Aus dem Umkreis der Lektüre Bonhoeffers ist hier an Theodor Fontane zu erinnern, dessen Briefe von ihrer literarischen Bedeutung her gleichberechtigt neben seinem Romanwerk zu stehen kommen.10 In theologischer Hinsicht gilt das natürlich zuallererst für die Briefe des Apostels Paulus im Neuen Testament. Der Vergleich der Briefe Bonhoeffers mit denen des Apostels drängt sich geradezu auf. Paulus hat, ausgehend vom antiken Briefformular, mit ihnen sogar eine eigene Briefgattung überhaupt erst geschaffen. Bis dahin war es nicht üblich, derart lange Briefe zu verfassen. Dabei zeichnen sich auch die Briefe des Paulus durch die Verknüpfung von theologischen Überlegungen und persönlichen Mitteilungen aus. Es handelt sich bei ihnen also nicht um abstrakte theologische Abhandlungen. Stattdessen sind es allesamt anlassbedingte Gelegenheitsschriften. Das gilt sogar für den Römerbrief, in dem Paulus bei der ihm persönlich nicht bekannten Gemeinde in Rom seine theologische Visitenkarte abgibt, um die Gemeinde als Unterstützerin für die von ihm geplante Missionsarbeit in Spanien, dem Westen des Römischen Reiches, zu gewinnen. Schon bei Paulus bedingen sich Theologie und Biografie wechselseitig. Dazu kommt noch eine weitere Gemeinsamkeit mit den Bonhoeffer-Briefen: Manche Briefe des Apostels sind im Gefängnis geschrieben. Das Gefängnis wurde für Paulus zum fruchtbaren Ort theologischer Erkenntnis.
Natürlich waren Bonhoeffer die Briefe des Paulus durch Studium und kontinuierliche Bibellektüre gut bekannt. Auch Bonhoeffer wurde im Gefängnis theologisch kreativ. Schon in „Nach zehn Jahren“ schrieb er – nur wenige Wochen vor seiner Inhaftierung: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben […], dass das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück.“11 Während der Haft hat sich diese Perspektive von unten für Bonhoeffer noch einmal forciert. Gerade sie wird jetzt zum fruchtbaren Erkenntnisprinzip. Im Briefwechsel mit Eberhard Bethge erfolgt ein regelrechter Ausbruch an Kreativität.12
Dazu kommt noch etwas anderes. Die Briefform entspricht genau – anders als die großen theologischen Werke der Vorfahren Bonhoeffers – dem Fragmentarischen seines Lebens insgesamt. Er musste im Gefängnis nämlich erkennen, dass er – anders als sein Vater und seine übrigen Vorfahren – einmal kein „geistiges ‚Lebenswerk‘“13 hinterlassen würde: „Wo gibt es noch die schöne Zwecklosigkeit und doch die große Planung, die zu einem solchen Leben gehört? […] Unsere geistige Existenz aber bleibt dabei ein Torso.“ Über dieser Einsicht wird er „fast etwas wehmütig“ gestimmt. Dann aber erkennt er den Wert, den auch ein fragmentarisches Leben bzw. ein Fragment bleibendes Lebenswerk gewinnen kann: „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. […] Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, sodass schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret’ ich allhier‘ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“ Der Brief korrespondiert in seinem Gelegenheitscharakter und seiner Vorläufigkeit mit Bonhoeffers Leben insgesamt. Trotzdem ist das für ihn nicht länger ein Grund zur Trauer. Im Gegenteil: In dem Zitat nennt Bonhoeffer die Bedingung dafür, wann man sich über das Fragmentarische des eigenen Lebens sogar freuen kann: Wenn die unterschiedlichen Lebensthemen durch den Glauben an Gott, den großen Kontrapunkt, zusammenstimmen. Der Glaube an Jesus Christus, der selbst als Gescheiterter, als am Kreuz Hingerichteter, das ihm von Gott bestimmte Lebenswerk vollendet hat, vermag auch das fragmentarische menschliche Leben zum Ziel zu führen.
Wie bei einer Ellipse kreisen die Briefe inhaltlich um zwei Brennpunkte: um Menschliches und Theologisches. Familie, Verlobung und Freundschaft wurden für Bonhoeffer in der Nazizeit insgesamt, erst recht aber während der Haft, zu Oasen der Menschlichkeit. Schon im ersten Brief an die Eltern vom 14.4.1943 fällt die ungeheuer wache menschliche Zuwendung und Wärme Bonhoeffers auf. Dieser Ton prägt auch alle folgenden Briefe an die Eltern, die Verlobte und den Freund. Der inhaftierte Bonhoeffer ist voller Interesse und Mitgefühl am Ergehen nicht nur der Eltern, der Verlobten und des Freundes, sondern auch der Geschwister und anderer Angehörigen und Freunde. Zwischen den Zeilen spürt man seinen Kampf mit den Infragestellungen des Menschlichen durch das nationalsozialistische Terrorregime. Immer wieder geht Bonhoeffer darauf ein, was ihm hilft, trotz des unmenschlichen Terrors nicht am Leben zu verzagen: Es sind die „guten Mächte“ – neben geistlichen Dingen wie Paul-Gerhardt-Liedern, den Psalmen, den Losungen und der Bibel insgesamt auch gute weltliche Lektüre (vor allem Adalbert Stifter), mit Liebe gepackte Esspakete der Familie und der Verlobten, aber auch geistige Arbeit allgemein (vgl. den Brief vom 18.11.1943 an Eberhard Bethge und den Brief vom 19.12.1944 an Maria von Wedemeyer14). Zeitweise kann Bonhoeffer seine Gefängniszelle mit Erinnerungen an die Eltern, die Verlobte und den Freund so ausgestalten, dass sie für ihn den Charakter eines Zuhauses annimmt. Ohne einem „Kult des Menschlichen“15 verfallen zu wollen, stellt Bonhoeffer fest: „Schließlich sind eben die menschlichen Beziehungen doch einfach das Wichtigste im Leben […].“ Die theologische Begründung dafür findet er, gut lutherisch, in Gottes Gebot. Die beiden höchsten Gebote sind nach den Worten Jesu das Gebot der Gottes- und das der Nächstenliebe, woraus für ihn folgt: „Gott selbst lässt sich von uns im Menschlichen dienen.“
Hinter diesen Überlegungen zur Bedeutung des Menschlichen steht Bonhoeffers Entdeckung der „Polyfonie des Lebens“16. Diese Polyfonie spiegelt sich in seinem Verhalten im Gefängnisalltag. Er lernt, zu eigenen irdischen Wünschen zu stehen,17 genießt die Wärme, die von der Liebe seiner Verlobten und seiner Familie ausgeht,18 und freut sich an der Schönheit der irdischen Dinge.19 Er kann sich von dem Druck befreien, ein besonders religiöser Mensch sein zu müssen, und stattdessen ganz nüchtern als Mitmensch die Nöte der Mitgefangenen wahrnehmen und mittragen.20
Die Liebe zu Maria von Wedemeyer ist der „Katalysator“, durch den diese Erkenntnisse bei Bonhoeffer Gestalt gewinnen. In seiner Verlobten – und auch in seinem Freund Eberhard Bethge – hat er Menschen gefunden, die ihr Christsein ganzheitlicher leben als er. In einem Brief an Maria von Wedemeyer heißt es: „Erkennen, Wollen, Tun, Empfinden und Erleiden bricht bei Dir nicht auseinander, sondern ist ein großes Ganzes […], das ist es, was ich brauche, was ich in Dir gefunden habe, was ich liebe – das Ganze, Ungeteilte, wonach ich Sehnsucht und Verlangen habe.“21 Durch die Beziehung zu Maria wird Bonhoeffer sich seiner Existenz als theologischer „Kopffüßler“ bewusst. In einem Brief beschreibt er seine Sehnsucht, wieder am ganzen Leib die Sonne zu spüren: „Ich möchte mir von ihr meine animalische Existenz erwecken lassen, nicht jenes Animalische, das das Menschsein erniedrigt, sondern das es aus der Muffigkeit und Unechtheit einer nur geistigen Existenz befreit und den Menschen reiner und glücklicher macht.“22
Es geht Bonhoeffer nun nicht mehr darum, ein Heiliger zu werden, sondern wirklicher Mensch zu sein. Er will Christ sein mitten in der Diesseitigkeit der Welt. Am 21.7.1944 – unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler – schreibt er an seinen Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge: „Ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden […] –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst […], und so wird man ein Mensch, ein Christ.“23 Entsprechend soll die Ehe mit Maria von Wedemeyer „ein Ja zu Gottes Erde sein“.24 Dabei ist die von Bonhoeffer gemeinte Diesseitigkeit nicht zu verwechseln mit der „platten und banalen Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“, sondern zu verstehen als eine „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist“.25
Theologisch begründet Bonhoeffer seinen Weg zu einem ganzheitlichen Menschsein von der Menschwerdung Jesu Christi her: Weil Jesus Mensch war, darf auch der Christ schlicht Mensch sein. Auf diesem Hintergrund wird auch Bonhoeffers Liebe zum Alten Testament verständlich: Indem er das Alte Testament in den Vordergrund rückt, will er verhindern, dass das Diesseits im Glauben vorzeitig aufgehoben wird. So wie Jesus soll auch der Christ das irdische Leben ganz auskosten: „und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden.“26
Menschliches und Theologisches gehören in Bonhoeffers Briefen untrennbar zusammen und sind wechselseitig aufeinander bezogen. Genau wie Bonhoeffer seine Hinwendung zum ganzheitlichen Menschsein und damit zum weltlichen Leben theologisch begründet, erwachsen seine neuen theologischen Erkenntnisse organisch aus der für ihn neuen und ungewohnten Situation im Gefängnis. Bonhoeffer geht aus von der Frage, „wer Christus heute für uns eigentlich ist.“27 Er möchte wissen, wie die christliche Botschaft den modernen Menschen heute noch in seiner Lebensmitte erreichen kann. Denn Gott ist nicht ein Gott für die existenziellen oder intellektuellen Grenzsituationen des Menschen, wo dieser mit seiner eigenen Kraft nicht mehr weiterweiß. Der christliche Gott gibt uns – so Bonhoeffer – vielmehr zu wissen, „dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertigwerden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist in Matthäus 8,17 ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!“28
Diese Sätze haben einer ganzen theologischen Bewegung, der sogenannten Gott-ist-tot-Theologie, in den 1960er-Jahren mit Bischof Robinson und Dorothee Sölle als ihren prominentesten Vertretern als Legitimation gedient. Es ist heute weithin anerkannt, dass sich diese Bewegung zu Unrecht auf Bonhoeffer berufen hat. Er will ja nicht etwa sagen, dass Gott tot sei und wir unser Leben darum nicht mehr an Gott ausrichten müssten. Vielmehr kritisiert er in diesen Aussagen einen traditionellen Gottesbegriff, der nicht wirklich Ernst gemacht hat mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Gott ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Bonhoeffer ringt um eine Verchristlichung der herkömmlichen Rede von Gott.29 Leitgedanke ist für ihn dabei Johannes 1,14: „Das Wort ward Fleisch.“30
Die nicht-religiöse Interpretation christlicher Begriffe ist der Versuch, traditionelle christliche Begriffe radikal-christlich zu interpretieren. Bonhoeffer hat sie allerdings selbst nicht mehr durchführen können.31 Die von ihm geforderte Neuinterpretation geht von seiner neuen Erkenntnis dessen aus, was christlich verstanden „Weltlichkeit“ bedeutet. „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“32 Ebenso streng inkarnatorisch bestimmt er das Sein Gottes: „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“33 Hierin unterscheidet sich für Bonhoeffer die christliche Rede von Gott und der Welt grundsätzlich von allen anderen Religionen. Das hat Konsequenzen für seine Bestimmung von Christsein: Ein Mensch wird Christ, indem er teilnimmt am Leiden Gottes im weltlichen Leben.34 Nur so erfährt er, dass Gott ihm gerade als der Ohnmächtige, als der Gekreuzigte hilft. Das Gedicht „Christen und Heiden“ bringt diesen Doppelakt in der zweiten und dritten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:
2. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
3. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.35
Hinter der Forderung einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe steckt ein zutiefst missionarisches Motiv: Bonhoeffer will dazu beitragen, dass Menschen berufen werden, das Wort Gottes wieder so auszusprechen, dass sich die säkulare, autonome Welt darunter verändert und erneuert.36 Es geht letztlich um die Erneuerung der christlichen Predigt, „die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“.37 Im Augenblick schwerster Bedrohung des christlichen Glaubens durch den Nazi-Staat sucht Bonhoeffer nach einer Gestalt des christlichen Glaubens, die dieser Herausforderung gerecht wird.
Auf dem Weg dahin regt Bonhoeffer als flankierende Maßnahme die Erneuerung der altkirchlichen Arkandisziplin an, nach der bestimmte Wahrheiten des christlichen Glaubens nicht der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern den Christen vorbehalten sind. Das Stichwort kommt in den Gefängnisbriefen der Sache nach dreimal vor,38 wobei die zweite Stelle besonders aufschlussreich ist. Darum soll sie hier im Zusammenhang zitiert werden: „Barth hat als erster Theologe – und das bleibt sein ganz großes Verdienst – die Kritik der Religion begonnen, aber er hat an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: ‚friss Vogel, oder stirb’; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muss oder gar nicht. Das ist nicht biblisch. Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h., es muss eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung behütet werden. Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er letztlich ein Gesetz des Glaubens aufrichtet und indem er das, was eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! –, zerreißt. An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch –, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich selbst gestellt und sich selbst überlassen, und das ist der Fehler.“39 Barths offenbarungspositivistische Lösung erscheint Bonhoeffer verfehlt, weil sie den wesentlich missionarischen, d. h. dem Menschen zugewandten Charakter der christlichen Botschaft nicht angemessen berücksichtigt. Bonhoeffer begründet seinen Vorschlag, die Arkandisziplin zu erneuern, mit biblischen Aussagen, nach denen es „Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit“ gibt (vgl. etwa Hebr 5,14). Es gibt Geheimnisse des christlichen Glaubens, die nicht ohne Weiteres jedem zugänglich sind.
Bethge interpretiert die Überlegungen Bonhoeffers wie folgt: „Diese ‚Geheimnisse‘ sind schöpferische Vorgänge des Heiligen Geistes. Sie werden jedoch zu ‚religiösen‘ Objekten, zum ‚Offenbarungspositivismus‘, wenn sie unmotiviert angeboten, aufgezwungen und billig verschleudert werden. Bonhoeffer kann auch von einer Unterscheidungsverantwortung der Kirche nach Zeit und Gegenüber sprechen, indem sie ‚Stufen der Bedeutsamkeit‘ beachtet. Man wird sogar von der anderen Seite her argumentieren dürfen: Die Arkandisziplin schützt ebenso die Welt vor einer Vergewaltigung durch die Religion. So erhält die Arkandisziplin eine wichtige Funktion, das nichtreligiöse Interpretieren vor dem Rückfall in das Religiöse zu bewahren.“40 Mit der Forderung eines Arkanums wird die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe vor dem Missverständnis platter Verweltlichung des Glaubens bewahrt. Bonhoeffers eigene Frömmigkeitspraxis während der Haft bis unmittelbar vor seiner Ermordung ist hierfür ein deutliches Indiz. Andererseits schützt die Arkandisziplin die Welt vor religiöser Vereinnahmung. In seiner großen Bonhoeffer-Biografie formuliert Bethge prägnant: „Arkandisziplin ohne Weltlichkeit ist Getto, und Weltlichkeit ohne Arkandisziplin ist nur noch Boulevard.“41
Bonhoeffer wollte die Radikalität der biblischen Aussagen über Jesus Christus in der Situation einer säkularisierten Gesellschaft neu zu Gehör bringen. Es ging ihm dabei um viel „mehr“ als Rudolf Bultmann, der mit seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments dessen theologische Aussagen dem modernen Zeitgenossen verträglich machen wollte. Für Bonhoeffer war die Neuinterpretation primär ein inhaltlich-theologisches Problem. Er dachte ontologisch-sozial: Die Frage war für ihn, wie der lebendige Gott in Kirche und Gesellschaft erkannt und geehrt werden kann. Für Bultmann, der individual-existenzialistisch dachte, handelte es sich bei der Neuinterpretation um eine primär hermeneutische Aufgabe: Wie kann der moderne Mensch mit den überholten biblischen Vorstellungsmustern versöhnt werden? Weil Bonhoeffer vom gegenwärtig wirkenden Gott ausgeht, ist seine Fragestellung gerade angesichts heute zu beobachtender Wiederkehr der Religiosität hochaktuell.42
Bonhoeffer wagte es, sich selbst und anderen unbequeme Fragen zu stellen. Er wollte ehrlich fragen und konstatieren, „was man selbst eigentlich glaubt“.43 Nur vom Boden der Redlichkeit sich selbst gegenüber44 war für ihn ein echter Neuansatz christlicher Existenz angesichts einer „mündig gewordenen Welt“45 denkbar. Er übernahm Verantwortung für Kirche und Gesellschaft unter dem Motto: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen.“46 Bonhoeffer nahm ein bleibendes Anliegen des theologischen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert auf, indem er Theologie und Kirche auftrug, die modernen Infragestellungen des Glaubens ernst zu nehmen: „Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“47
In dem Kampf gegen kirchlich-fromme Sterilität und Phrase liegt ein Grund für die ungebrochene Aktualität von Bonhoeffers Gedanken. In der Kirche sollen Echtheit und Aufrichtigkeit herrschen.48 Sein Suchen und Sehnen ging nach einer Weise, „das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden […].“49 Bonhoeffer wusste, dass er selbst die neue Sprache, die er suchte, noch nicht gefunden hatte: „Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“50 Auch diese Aussage hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Bis heute hat die Gemeinde Jesu Christi noch nicht das Wort für eine fortschreitend entkirchlichte und säkularisierte Gesellschaft gefunden, das sie in der Breite aufhorchen ließe.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer regt heutige Menschen schließlich auch deswegen zum Nachdenken an, weil bei ihm „Denkakt und Lebensakt“, Theologie und Biografie, untrennbar verknüpft waren.51 Seine Theologie war nie nur eine Angelegenheit des Denkens. Darum kämpfte er bis zuletzt gegen den „religiösen Akt“, der immer etwas Partielles ist. „[…] der ‚Glaube‘ ist etwas Ganzes, ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.“52 Bonhoeffer hat scharfsichtig erkannt, dass die (bürgerliche) Religion getrennt von der Alltagswirklichkeit bleibt. Sie erlaubt höchstens die Rede von Gott in den Grenzsituationen des Lebens. Ihre Bedeutung ist mit der Sahne auf dem Kakao vergleichbar: durchaus entbehrlich. Bonhoeffer dagegen wollte „von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen“.53 Nicht Rückzug, liberale Reduktion des christlichen Glaubens, sondern „die Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus“,54 dem sie ohnehin gehört, war sein Ziel. Das Wort Gottes regiert!55 Das hat Bonhoeffer als Theologe, Christ und Zeitgenosse selbst vorgelebt. Sein Engagement für Kirche und Gesellschaft bis zum Märtyrertod zeigt, dass er sich nicht ins Getto zurückgezogen, sondern als Christ in der Welt bewährt hat. Genauso wenig verfiel er in einen gottvergessenen Aktivismus, sondern wartete „aktiv“ auf das Kommen des Reiches Gottes. Bonhoeffer ist damit Theologie und Kirche immer noch voraus. Indem er die Gültigkeit der biblischen Aussagen voraussetzte, hat er einen verheißungsvollen Weg in die Zukunft eröffnet, den jede Generation auf ihre Weise gehen muss.
Für eine weitere Einführung von Peter Zimmerling in das Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers finden Sie im Internet:
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit:Dietrich Bonhoeffers Leben
www.brunnen-verlag.de/
peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-leben
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit:Dietrich Bonhoeffers Werk
www.brunnen-verlag.de/
peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-werk
14. April 1943
Liebe Eltern!
Vor allem müsst Ihr wissen und auch wirklich glauben, dass es mir gut geht. Leider kann ich es Euch erst heute schreiben, aber es war wirklich die ganzen zehn Tage so. Was man sich gewöhnlich bei einer Haft als besonders unangenehm vorstellt, also die verschiedenen Entbehrungen des äußeren Lebens, das spielt merkwürdigerweise tatsächlich fast gar keine Rolle. Man kann sich auch mit trocken Brot morgens satt essen – übrigens gibt es auch allerlei Gutes! – und die Pritsche macht mir schon gar nichts aus und schlafen kann man von abends 8 bis morgens um 6 Uhr reichlich. Besonders überrascht hat es mich eigentlich, dass ich vom ersten Augenblick an so gut wie nie Verlangen nach Zigaretten hatte; ich glaube eben doch, dass bei all diesen Dingen das Psychische die entscheidende Rolle spielt; eine so starke innere Umstellung, wie sie eine so überraschende Verhaftung mit sich führt, die Nötigung, sich innerlich zurecht- und abzufinden mit einer völlig neuen Situation – das alles lässt das Körperliche völlig zurücktreten und unwesentlich werden; und das empfinde ich als eine wirkliche Bereicherung meiner Erfahrung. Alleinsein ist für mich ja nicht etwas so Ungewohntes wie für andere Menschen und ist sicher ein gutes seelisches Dampfbad. Quälend ist oder wäre nur der Gedanke, dass Ihr Euch um mich ängstigt und quält, dass Ihr nicht richtig schlaft und esst. Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul-Gerhardt-Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue. Übrigens habe ich meine Bibel und Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek, auch Schreibpapier jetzt genug. Nun könnt Ihr Euch denken, dass mir meine Braut in dieser Zeit ganz besonders leidtut. Es ist viel für sie, nachdem sie Vater und Bruder erst kürzlich im Osten verloren hat. Als Offizierstochter wird sie vielleicht besonders schwer an einer Verhaftung tragen. Wenn ich ihr doch ein paar gute Worte sagen könnte. Nun werdet Ihr es tun, und vielleicht kommt sie mal zu Euch nach Berlin, es wäre schön. Heute vor 14 Tagen war der 75. Geburtstag. Es war ein schöner Tag. Der Morgen- und Abendchoral mit den vielen Stimmen und Instrumenten klingt noch in mir nach: „Lobe den Herren, den mächtigen König … in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ So ist es, und darauf wollen wir uns weiter getrost verlassen.
Nun kommt ja der Frühling mit Macht. Ihr werdet viel im Garten arbeiten; bei Renate gehen hoffentlich die Hochzeitsvorbereitungen gut voran. Hier im Gefängnishof singt morgens und auch jetzt abends eine Singdrossel ganz wunderbar. Man wird für Geringes dankbar, auch das ist wohl ein Gewinn! Lebt wohl!
Es denkt an Euch und alle Geschwister und Freunde in Dankbarkeit und Liebe immer
Euer Dietrich
Würdet Ihr bitte gelegentlich Hausschuhe, Schnürsenkel (schwarz, lang), Schuhcreme, Briefpapier und -umschläge, Tinte, Raucherkarte, Rasierseife sowie Nähzeug und einen Anzug zum Auswechseln hier für mich abgeben? Vielen Dank für alles!
25. April 1943, Ostersonntag
Liebe Eltern!
Heute ist endlich der 10. Tag wieder da, an dem ich Euch immer schreiben darf, und wie gern würde ich Euch wissen lassen, dass ich auch hier ein frohes Ostern feiere. Es ist das Befreiende von Karfreitag und Ostern, dass die Gedanken weit über das persönliche Geschick hinausgerissen werden zum letzten Sinn alles Lebens, Leidens und Geschehens überhaupt und dass man eine große Hoffnung fasst. Seit gestern ist es wunderbar still im Haus geworden. „Frohe Ostern“ hörte man viele einander zurufen und neidlos gönnt man jedem, der hier schweren Dienst versieht, die Erfüllung dieses Wunsches. Im Stillen höre ich nun auch Eure Ostergrüße, wenn Ihr heute mit den Geschwistern zusammen seid und an mich denkt.
Am Karfreitag war Marias Geburtstag. Wenn ich nicht wüsste, mit wie festem Herzen sie im vorigen Jahr den Tod ihres Vaters, ihres Bruders und zweier besonders geliebter Vettern getragen hat, dann wäre mir wirklich bange um sie. Nun wird Ostern sie trösten, ihre große Familie wird ihr sehr beistehen und ihre Arbeit im Roten Kreuz beansprucht sie ganz. Grüßt sie sehr, sagt ihr, dass ich mich sehr nach ihr sehne, dass sie aber nicht traurig, sondern tapfer sein soll wie bisher. Sie ist eben noch so sehr jung, da ist das schwer.
Nun muss ich Euch aber erst einmal sehr danken für alles, was Ihr mir gebracht habt und für Papas und Ursels Grüße. Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn einem plötzlich gesagt wird: „Ihre Mutter, Ihre Schwester, Ihr Bruder waren eben da und haben etwas für Sie abgegeben.“ Einfach die Tatsache der Nähe, das handgreifliche Zeichen dafür, dass Ihr immer an mich und für mich denkt – was ich ja eigentlich sowieso weiß –, das ist etwas so Beglückendes, dass es durch den ganzen Tag hindurch trägt. Habt vielen, vielen Dank für alles!
Es geht mir weiter gut, ich bin gesund, darf täglich 1/2 Stunde ins Freie, und nachdem ich nun auch wieder rauchen kann, vergesse ich manchmal sogar für kurze Zeit, wo ich eigentlich bin! Ich werde gut behandelt, lese viel, außer Zeitung und Roman vor allem die Bibel. Zum richtigen Arbeiten ist die Konzentration noch nicht da, aber ich habe mich in dieser Karwoche doch endlich mit einem, wie Ihr wisst, mich längst sehr beschäftigenden Stück der Passionsgeschichte, dem hohenpriesterlichen Gebet, gründlich befassen können und sogar ein paar Kapitel paulinischer Ethik für mich auslegen können; das war mir sehr wichtig. Also, ich muss wirklich immer noch sehr dankbar sein. Wie mag es Euch nur gehen? Freut Ihr Euch noch an den vielen herrlichen Geburtstagsblumen? Was machen Eure Reisepläne? Ich fürchte fast, Ihr werdet nun gar nicht in den Schwarzwald fahren, was doch so gut und nötig gewesen wäre! Und zu dem allen kommen ja nun noch Renates Hochzeitsvorbereitungen. Ich möchte dazu als meinen ausdrücklichen Wunsch sagen, dass Ursel den Termin um keinen Tag hinausschiebt, sondern Renate so bald, so fröhlich und so unbeschwert wie möglich heiraten lässt; alles andere wäre mir nur schmerzlich. Renate weiß ja, mit wie viel guten Wünschen ich an sie denke und wie ich mich mit ihr freue. Wir haben es in den letzten Jahren doch wirklich gelernt, wieviel Freude und Kummer zugleich im menschlichen Herzen Platz haben können und müssen. Also je bälder, je besser! Grüßt sie bitte sehr!
Übrigens wüsste ich gern, wie es Marias Großmutter geht. Bitte verheimlicht es mir nicht, wenn sie gestorben ist. Maria und ich haben beide sehr an ihr gehangen.
Nun ein paar Bitten: Ich hätte gern die braunen oder lieber die schwarzen hohen Schuhe mit Schnürsenkeln. Meine Absätze gehen hier ab. Mein Anzug ist sehr reinigungsbedürftig; ich möchte ihn Euch gern mitgeben und den anderen braunen dafür haben; außerdem Haarbürste, viele Streichhölzer, Pfeife, mit Tabak, Beutel und Reiniger, und Zigaretten. Von Büchern: Schilling: Moral Band 11 und einen Band A. Stifter. Verzeiht die Mühe! Vielen Dank!
Merkwürdigerweise gehen die Tage hier schnell vorüber. Dass ich 3 Wochen hier bin, scheint mir unglaublich. Ich gehe gern um 8 Uhr schlafen – Abendbrot gibt es um 4 Uhr! – und freue mich auf meine Träume. Ich habe früher gar nicht gewusst, was für eine glückliche Gabe das ist: Ich träume täglich und eigentlich immer schön. Bis zum Einschlafen sage ich mir die über Tag gelernten Verse auf, am Morgen um 6 Uhr freue ich mich dann, Psalmen und Lieder zu lesen und an Euch alle zu denken und zu wissen, dass Ihr auch an mich denkt.
Inzwischen ist der Tag vorübergegangen, und ich hoffe nur, es sieht in Euch ebenso friedlich aus wie in mir; ich habe vieles Gute gelesen und Schöne gedacht und gehofft. Es wäre doch eine große Beruhigung für mich, wenn Maria einmal einen Tag in aller Ruhe bei Euch wäre. Lasst sie und auch Renate diesen Brief doch lesen! Vor mir liegen immer die kurzen Zeilen von Papa und Ursel, und ich lese sie immer wieder.
Und nun lebt wohl, verzeiht alle Sorge, die ich Euch mache! Grüßt alle Geschwister und ihre Kinder. In großer Liebe und Dankbarkeit grüßt Euch von Herzen
Euer Dietrich
4. Mai 1943
Liebe Eltern!
Vielen Dank für Mamas, K.-Friedrichs und Rüdigers Briefe! Ich bin so froh, dass Ihr ruhig und zuversichtlich seid, auch dass K. Friedrich öfter bei Euch sein kann. Dass es für mich persönlich gut ist, das durchzumachen, ist mir gewiss, auch glaube ich, dass keinem Menschen mehr auferlegt wird, als er Kraft empfangen kann zu tragen. Dass Ihr daran mittragen müsst, ist mir das Schwerste, aber so wie Ihr es tut, ist es doch auch wieder unendlich beglückend und stärkend für mich. Dass Maria Euch so tapfer und voll Vertrauen geschrieben hat, beglückt mich sehr. Wie lebt man doch ganz vom Vertrauen und ohne Vertrauen wird das Leben arm. Ich lerne nun täglich, wie gut ich es bei Euch immer gehabt habe, und muss im Übrigen einmal selbst exerzieren, was ich in Predigten und Büchern andern gesagt habe.
Jetzt nach 4 Wochen Haft kommt zu der raschen, bewussten, inneren Aussöhnung mit dem Geschickten allmählich eine gewisse unbewusste, natürliche Gewöhnung hinzu. Das ist eine Erleichterung, hat aber auch seine Probleme; denn gewöhnen will und soll man sich wohl an diesen Zustand nicht; das wird Euch ebenso gehen.
Ihr wollt mehr über mein hiesiges Leben wissen: Sich eine Zelle vorzustellen, dazu gehört ja nicht viel Fantasie; je weniger, desto richtiger; aber an Ostern brachte die DAZ eine Reproduktion aus Dürers Apokalypse; die habe ich mir aufgehängt und Marias Primeln sind z.T. auch noch da! Von den 14 Stunden des Tages gehe ich etwa drei in der Zelle spazieren, viele Kilometer, außerdem 1/2 Stunde im Hof. Ich lese, lerne, arbeite. Besondere Freude hatte ich wieder an Jeremias Gotthelf in seiner klaren, gesunden, stillen Art. Es geht mir gut und ich bin gesund.
Nun rückt die Hochzeit bei Schleichers ja schon ganz nahe. Ich werde vorher nicht mehr schreiben können. Dieser Tage las ich bei Jean Paul, dass die „einzigen feuerbeständigen Freuden die häuslichen Freuden“ seien. Wenn die beiden das verstehen – und ich glaube, sie verstehen es schon gut –, dann kann ich mir von dieser Ehe nur ein großes Glück versprechen, und ich freue mich schon darauf, einmal an ihren häuslichen Freuden teilzunehmen. Dazu sollten sie recht bald zusammen „Geld und Geist“ von Jeremias Gotthelf lesen, das ist besser als jede Tischrede, die ich ihnen halten könnte. Schenken möchte ich ihnen das Spinett, das ihnen zur Hälfte ja schon gehört, außerdem, was ich Ursel schon sagte, meinen Beitrag, wie sie ihn brauchen, zum Flügel, den sie hoffentlich bald bekommen. Ich wünsche ihnen von Herzen einen sehr frohen Tag und werde mit vielen frohen Gedanken und Wünschen bei ihnen sein, und ich möchte es gern, dass auch sie nur mit frohen Gedanken, Erinnerungen und Hoffnungen an mich denken. Gerade wenn man persönlich etwas Schweres erlebt, möchte man, dass die echten Freuden des Lebens – und dazu gehört eine Hochzeit doch wahrhaftig – daneben ihr Recht behalten. Dass ich dabei ganz im Stillen darauf hoffe, dass wir alle zusammen auch einmal meinen und Marias Freudentag feiern werden – wann?, kommt mir zwar im Augenblick fantastisch vor, aber die Hoffnung ist schön und groß. Für Ursel ist das alles ja etwas viel, wie gern würde man ihr räumen und überlegen helfen. Nun hat sie auch unsertwegen noch so viel Mühe. Grüßt das ganze Haus sehr, besonders das Brautpaar, und den Eltern gratuliere ich zum 20. Hochzeitstag. Sie sollen ein paar Fotos machen!
Und nun wieder der Dank für alles Gebrachte, für alle Mühe, Überlegung und Liebe – der Mittwoch ist so immer ein besonders ersehnter und schöner Tag! – und einige Bitten: Je 1 Kleiderbügel, Spiegel, Handtuch, Waschlappen, und wenn es so kalt bleibt (es scheint heute wärmer zu werden), 1 warmes Hemd und Strümpfe; ferner: Holl, Kirchengeschichte, Band „der Westen“ und Rauchbares, was eben geht, und Streichhölzer. Dass Du meinen Anzug und Jacke nicht findest, verstehe ich auch nicht.
Von der Verlobung wissen nun wohl alle? Aber es bleibt doch in der Familie? Da allerdings nach meiner Zählung „die engste Familie“ auf beiden Seiten zusammen über 80 Menschen sind, wird es wohl nicht lange verborgen bleiben. Ich hätte nur den Wunsch von Marias Mutter gern eingehalten. Dankt Maria doch besonders für ihre Grüße! Wie schön, dass es der Großmutter besser geht, sie hat auch eine große Last zu tragen mit ihren fünf gefallenen und noch sieben draußen stehenden Enkeln und Söhnen. Grüßt sie sehr, ich bin ihres Gedenkens gewiss! Tante Elisabeth habe ich leider nicht mehr für die Bachkantaten danken können. Grüßt sie auch sehr!
Ich denke jetzt oft an das schöne Hugo-Wolf-Lied, das wir in letzter Zeit mehrfach gesungen haben: „Über Nacht, über Nacht kommt Freud und Leid, und eh' dus gedacht, verlassen dich beid‘, und gehen dem Herren zu sagen, wie Du sie getragen.“ An diesem „Wie“ liegt ja alles, es ist wichtiger als alles äußere Ergehen. Es bringt die manchmal quälenden Gedanken über die Zukunft ganz zur Ruhe. Nun also noch einmal vielen Dank für alles, was Ihr täglich für mich denkt, tut und tragt, grüßt Geschwister und Freunde, und Renate soll wirklich eine ungetrübte fröhliche Hochzeit feiern und es mir ruhig zutrauen, dass ich mich auch hier wirklich mit ihr freuen kann! Am 15. darf ich gerade den nächsten Brief abschicken, ich werde ihn also am Tag vor der Hochzeit schreiben.
Übrigens, wenn ich mittwochs hier im Haus bin, gebe ich Euch die alte Wäsche immer gleich wieder mit zurück, andernfalls muss sie eine Woche hier liegen. Ich muss beim Auspacken Eures Pakets immer selbst dabei sein.
Mit dem Wunsch, dass Euch und uns allen alle Sorge bald abgenommen werden möchte, grüßt Euch von ganzem Herzen
Euer dankbarer Dietrich
Eben höre ich, dass eine der Schwestern mit dem Paket hier war, habt wieder vielen Dank! Aus dem Inhalt des Pakets sehe ich, dass mein Brief vom 25. noch nicht bei Euch ist; das tut mir sehr leid für Euch! Aber es dauert wohl oft recht lange! Schreibt nur recht oft! Die Zigarren scheinen mir aus Stettin zu kommen! Vielen Dank!
15. Mai 1943
Liebe Eltern!
Wenn Ihr diesen Brief bekommt, sind die bewegten Tage der Hochzeitsvorbereitungen und -feier längst verklungen und auch mein bisschen Sehnsucht, dabei zu sein, und stattdessen ist dann wieder die ruhige Freude und Zuversicht eingekehrt, dass die beiden nun ihr Glück gefunden haben. Schleichers werden Renate sehr vermissen, aber sie dürfen sie in den denkbar besten, liebevollsten und treuesten Händen wissen und haben einen Sohn gewonnen, der ganz zu ihnen gehört und an dem sie nur Freude haben werden. Dankbar denke ich heute an viele schöne vergangene Jahre und Stunden und freue mich mit ihnen allen. Ich bin nun begierig, den Trautext zu hören; der schönste, den ich kenne, steht in Röm 15,7; ich habe ihn oft genommen. Was für ein herrliches Sommerwetter haben sie! Da werden sie als Morgenchoral wohl „die güldne Sonne“ von P. Gerhardt singen!
Nach längerer Pause erhielt ich Euren Brief vom 9. sehr rasch am 11. 5. Habt vielen Dank! Für wen das Elternhaus so sehr ein Teil des eigenen Selbst geworden ist wie für mich, der empfindet jeden Gruß mit ganz besonderer Dankbarkeit. Ja, wenn wir uns doch wenigstens mal kurz sehen oder sprechen könnten! Das wäre eine große innere Entspannung. Man macht sich draußen natürlich doch schwer eine richtige Vorstellung vom Gefangensein. Die Situation als solche, d. h., der einzelne Augenblick ist ja vielfach gar nicht so anders als anderswo, ich lese, denke nach, arbeite, schreibe, gehe auf und ab – und auch das wirklich ohne mich wie der Eisbär an den Wänden wund zu reiben –, und es kommt nur darauf an, sich an das zu halten, was man noch hat und kann – und das ist immer noch sehr viel – und das Aufsteigen der Gedanken an das, was man nicht kann, und d. h. den Groll über die ganze Lage und die Unruhe in sich niederzuhalten. Allerdings ist mir nie so deutlich geworden wie hier, was die Bibel und Luther unter „Anfechtung“ verstehen. Ganz ohne jeden erkennbaren physischen und psychischen Grund rüttelt es plötzlich an dem Frieden und der Gelassenheit, die einen trug, und das Herz wird, wie es bei Jeremia sehr bezeichnend heißt, das trotzige und verzagte Ding, das man nicht ergründen kann; man empfindet das wirklich als einen Einbruch von außen, als böse Mächte, die einem das Entscheidende rauben wollen. Aber auch diese Erfahrungen sind wohl gut und nötig, man lernt das menschliche Leben besser verstehen.
Ich versuche mich jetzt an einer kleinen Studie über das „Zeitgefühl“, ein Erlebnis, das wohl für die Untersuchungshaft besonders charakteristisch ist. Einer meiner Zellenvorgänger hat über die Zellentür gekritzelt: „In hundert Jahren ist alles vorbei“, das war sein Versuch, mit diesem Erlebnis der leeren Zeit fertigzuwerden, aber dazu ist eben allerlei zu sagen, und ich würde mich gern mit Papa darüber unterhalten. „Meine Zeit steht in Deinen Händen“, Psalm 31, ist die biblische Antwort auf diese Frage. Aber auch in der Bibel gibt es eben die Frage, die hier alles zu beherrschen droht: „Herr, wie lange?“ Psalm 13.
Es geht mir weiter gut, und ich muss für die vergangenen 6 Wochen dankbar sein. Dass Marias Mutter bei Euch war, freut mich ganz besonders. Weiß man schon irgendwas über Konstantin aus Tunis? Das geht mir in Gedanken an Maria und die ganze Familie sehr durch den Kopf. Wenn es doch nicht allzu lange dauerte, bis ich Maria wiedersehen und wir Hochzeit halten könnten! Sie braucht nun wirklich bald einmal ein Zur-Ruhe-Kommen, und man hat eben doch auch noch allerlei irdische Wünsche!
Nun ist eben auch wieder das Wäschepaket gebracht worden, Ihr glaubt nicht, wie einen schon diese indirekte Verbindung freut und stärkt. Habt vielen Dank und sagt ihn bitte auch Susi für alle Hilfe, die sie Euch jetzt leistet, ganz besonders! Auch dass Ihr die Asthmabonbons wieder gekriegt habt, freut mich sehr, sie sind mir sehr angenehm. Einen Spiegel habe ich mir hier schon verschafft. Dankbar wäre ich für etwas Tinte, Fleckenwasser, Laxin, zwei kurze Unterhosen, ein Netzhemd und die reparierten Schuhe, Kragenknöpfe. Wenn sich die Sonne in die dicken Mauern erst mal eingebrannt hat, wird es sicher sehr heiß, bisher ist es noch sehr schön. Hoffentlich gibt Papa nicht zu meinen Gunsten das Rauchen jetzt ganz auf! Vielen Dank übrigens für den Jeremias Gotthelf, in 14 Tagen hätte ich gern „Uli, der Knecht“ von ihm, Renate hat es; Ihr müsst übrigens wirklich den „Berner Geist“ von ihm lesen, und wenn nicht ganz, so doch damit anfangen; es ist etwas Besonderes und interessiert Euch sicher! Ich kann mich erinnern, dass der alte Schoene immer Gotthelf besonders gerühmt hat, und ich hätte Lust, dem Dieterich-Verlag ein Gotthelf-Brevier vorzuschlagen. Auch für Stifter ist der Hintergrund vor allem das Christliche – seine Waldschilderungen machen mich übrigens oft ganz sehnsüchtig nach den stillen Friedrichsbrunner Waldwiesen –, aber er ist nicht so kräftig wie Gotthelf, dabei doch von einer wunderbaren Einfachheit und Klarheit, sodass ich große Freude an ihm habe. Ja, wenn man erst wieder über all das miteinander reden könnte!
Bei allen Sympathien für die Vita contemplativa bin ich doch kein geborener Trappist. Immerhin mag eine Zeit erzwungenen Schweigens auch gut sein, und die Katholiken sagen ja, dass von den rein meditativen Orden die wirksamsten Schriftauslegungen kommen. Ich lese übrigens die Bibel einfach von vorne durch und komme jetzt zu Hiob, den ich besonders liebe. Den Psalter lese ich wie seit Jahren täglich, es gibt kein Buch, das ich so kenne und liebe wie dieses; die Psalmen 3, 47, 70 u. a. kann ich nicht mehr lesen, ohne sie in der Musik von Heinrich Schütz zu hören, deren Kenntnis, die ich Renate verdanke, überhaupt zu den größten Bereicherungen meines Lebens gehört.
Gratuliert bitte Ursel sehr zum Geburtstag; ich denke viel an sie. Grüßt alle Geschwister, Kinder und Freunde und besonders das junge Ehepaar. Hoffentlich kommt Maria bald zu Euch. Ich fühle mich so sehr als ein Teil von Euch allen, dass ich weiß, dass wir alles gemeinsam erleben, tragen, füreinander tun und denken, auch wenn wir getrennt sein müssen. Es dankt Euch für alle Liebe und Fürsorge und Treue täglich und stündlich
Euer Dietrich
Grüßt doch natürlich auch Tante Elisabeth und die Großmutter mit all den Ihren!
4. Juni 1943, Himmelfahrtstag
Liebe Eltern!
Ich hatte Euch schon einen langen Brief geschrieben, da bringt eben die Post die Briefe von Maria und meiner Schwiegermutter und damit ein ganz unbeschreibliches Glück in meine Zelle; nun muss ich den Brief noch mal anfangen und Euch vor allem bitten, beiden gleich zu schreiben und zu danken! Wie mir zumute ist, dass ich es nicht selbst tun kann, werdet Ihr Euch vorstellen. Maria schreibt so froh über den Tag bei Euch, und wie schwer muss es trotz aller Liebe, die Ihr ihr gezeigt habt, für sie gewesen sein; es ist ein Wunder, wie sie das alles durchsteht, und für mich ein Glück und Vorbild sondergleichen. Das Gefühl, ihr gar nicht beistehen zu können, wäre oft kaum zu verwinden, wenn ich nicht wüsste, dass ich im Gedanken an sie wirklich ruhig sein darf. Ich wünsche es wirklich vielmehr noch um ihret- als um meinetwillen, dass diese harte Zeit nicht allzu lange dauert. Dass aber gerade diese Monate einmal für unsere Ehe unendlich wichtig sein werden, ist mir gewiss und dafür bin ich dankbar. Wie sehr mich der Brief meiner Schwiegermutter bewegt hat, vermag ich kaum zu sagen. Dass ich ihr zu all dem Schmerz des vergangenen Jahres noch einen solchen Kummer hinzufügen musste, hat mich seit dem ersten Tag meiner Festnahme gequält, und nun hat sie gerade diese über uns gekommene Not zum Anlass genommen, die Frist des Wartens abzukürzen und mich dadurch glücklich zu machen. Vor diesem großen Vertrauen, dieser Güte und Größe des Herzens stehe ich wirklich sehr beschämt und dankbar da, und ich werde ihr das niemals vergessen. Im Grunde ist das der Geist, den ich in all den Häusern dieser Familie immer gespürt habe und der mich so berührt hat, längst ehe ich etwas von meinem künftigen Glück ahnte. Und nun weiß ich auch aus Euren und K. Friedrichs Briefen, dass Ihr Maria gernhabt; es konnte ja auch nicht anders sein. Ja, sie wird Euch eine sehr gute Schwiegertochter sein und sich sicher in unserer Familie bald ebenso zu Hause fühlen, wie ich mich seit Jahren ihrer großen Familie zugehörig gefühlt habe. Dass K. Friedrich meine Schwiegermutter in die Stadt begleitet hat und sie sich so etwas kennenlernten, freut mich sehr, auch dass er Maria in meiner Stellvertretung ins Gewissen geredet hat, sich ihre Rationen nicht abzusparen, die sie bei ihrem schweren Dienst wirklich selbst braucht, ist sehr nett von ihm.
Ich danke Euch sehr für Eure Briefe, mir sind sie immer nur zu kurz, aber ich verstehe es ja natürlich! Es ist, als täte sich einen Moment die Gefängnistür auf und man lebt ein Stück Leben draußen mit. Das Verlangen nach Freude ist in diesem ernsten Hause, in dem man nie ein Lachen hört – selbst dem Wachpersonal scheint es über ihren Eindrücken vergangen zu sein –, sehr groß und man schöpft alle inneren und äußeren Quellen der Freude voll aus.
Heute ist Himmelfahrtstag, also ein großer Freudentag für alle, die es glauben können, dass Christus die Welt und unser Leben regiert. Die Gedanken gehen zu Euch allen, zu Kirche und Gottesdiensten, von denen ich nun schon so lange getrennt bin, aber auch zu den vielen unbekannten Menschen, die in diesem Haus ihr Schicksal stumm mit sich herumtragen. Solche und andere Gedanken bewahren mich immer wieder gründlich davor, die eigenen geringen Entbehrungen irgendwie wichtig zu nehmen. Das wäre sehr ungerecht und undankbar.
Ich habe gerade wieder etwas über das „Zeitgefühl“ weitergeschrieben, das macht mir großen Spaß, und was man so aus unmittelbarem Erleben schreibt, geht flüssiger von der Hand und man schreibt sich frei. Die „Anthropologie“ von Kant, für die ich Dir, Papa, sehr danke, habe ich durchgelesen; ich kannte sie nicht. Ich fand vieles sehr Interessante darin, aber es bleibt doch eine sehr rationalistische Rokokopsychologie, die an vielen wesentlichen Erscheinungen einfach vorbeigeht. Kannst Du mir etwas Gutes über Formen und Funktionen des Gedächtnisses schicken? Das interessiert mich in diesem Zusammenhang jetzt sehr. Sehr hübsch sind Kants Deutungen des „Rauchens“ als Selbstunterhaltung.
Dass Ihr jetzt Gotthelf lest, freut mich sehr; sicher würden Euch auch seine „Wanderungen“, die, glaube ich, Susi hat, ebenso gefallen. Wissenschaftlich habe ich hier Uhlhorns große „Geschichte der christlichen Liebestätigkeit“ sehr gern gelesen und mich bei Holls Kirchengeschichte an seine Seminare erinnert.