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Dietrich Bonhoeffer war nicht nur Theologe und Widerstandskämpfer, sondern auch Prediger und Seelsorger. Besonders in den "Predigten an Wendepunkten", also den Predigten zu Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung, hören wir Bonhoeffer persönlich und seelsorgerlich zu Menschen sprechen. In den Bibelarbeiten beschäftigt er sich ausführlicher mit biblischen Themen und Personen, wie dem Leben König Davids, dem Wiederaufbau Jerusalems unter Nehemia, dem geistlichen Auftrag des Timotheus und weiteren. Für das eigene Geistliche Leben auch heute noch "geistliches Schwarzbrot"!
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Seitenzahl: 272
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DIETRICH BONHOEFFER
Bibelarbeiten und Predigten an Wendepunkten
Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Peter Zimmerling
Bibelzitate entsprechen der von Bonhoeffer verwendeten Fassung bzw. dort, wo Bonhoeffer den Predigttext nicht mitgegeben hatte, der Lutherbibel 1912.
Die Rechtschreibung wurde aktualisiert und offensichtliche Fehler korrigiert, Zeichensetzung wurde weitestgehend beibehalten.
Die hier abgedruckten Texte finden sich auch in der Dietrich Bonhoeffer Werkausgabe (DBW), Gütersloh 1886-1999: Biblische Besinnung: Der Morgen: DBW 14,871-873 ;„Ich bin der Herr, dein Arzt“: DBW 16, 501-505; König David: DBW 14, 878-904; Der Wiederaufbau Jerusalems nach Esra und Nehemia: DBW 14, 930-945; „Führe uns nicht in Versuchung“: DBW 15, 371-406; Der Diener am Hause Gottes: DBW 14, 954-969; Von der Dankbarkeit des Christen: DBW 16, 490-493; Trauerfeier für Julie Bonhoeffer: DBW 14, 920-925; Frühe Vollendung: Trauerfeier für Hans-Friedrich von Kleist-Retzow: DBW 16, 644-648; Beichtansprache: Ist der König nicht bei dir?: DBW 15, 483-485; Konfirmationsansprache: Glauben lernen: DBW 15, 476-481; Abendmahlsansprache: Zur Siegesfeier geladen: DBW 15, 488-491; Traupredigt: Dankbar in allen Dingen: DBW 14, 926-929; Traupredigt: Liebe als Gebot Christi: DBW 14, 56-58; Alle Herrschaft auf den Schultern des Kindes: DBW 16, 633-639; Das Kreuz über der Krippe: DBW 15, 492-498; Der gute Hirte und seine Gemeinde: DBW 15, 560-564; Der Tröster, sein Werk und seine Gaben: DBW 15, 565-571; Auf dem Wege zu den Menschen nicht mehr aufzuhalten: DBW 15, 554-559.
© 2020 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Celia Friedland
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch: 978-3-7655-0745-8
ISBN E-Book: 978-3-7655-7564-8
www.brunnen-verlag.de
Zu dieser Ausgabe
Einführung von Peter Zimmerling
Bibelarbeiten
Biblische Besinnung: Der Morgen
„Ich bin der Herr, dein Arzt“
König David
Der Wiederaufbau Jerusalems nach Esra und Nehemia
„Führe uns nicht in Versuchung“
Der Diener am Hause Gottes: Timotheus
Von der Dankbarkeit des Christen
Predigten an Wendepunkten
Trauerfeier für Julie BonhoefferPsalm 90
Frühe Vollendung: Trauerfeier für Hans-Friedrich von Kleist-RetzowSprüche 23,26
Beichtansprache: Ist der König nicht bei dir?Micha 4,9
Konfirmationsansprache: Glauben lernenMarkus 9,24
Abendmahlsansprache: Zur Siegesfeier geladen1. Korinther 15,55
Traupredigt: Dankbar in allen Dingen1. Thessalonicher 5,16-18
Traupredigt: Liebe als Gebot ChristiJohannes 13,34
Predigtmeditationen
Alle Herrschaft auf den Schultern des KindesJesaja 9,5-6
Das Kreuz über der KrippeMatthäus 2,13-23
Der gute Hirte und seine GemeindeJohannes 10,11-16
Der Tröster, sein Werk und seine GabenJohannes 14,23-31
Auf dem Wege zu den Menschen nicht mehr aufzuhaltenJohannes 20,19-31
Anmerkungen
Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 von den Nazis hingerichtet. 2015 waren es 70 Jahre, dass dieses Verbrechen geschah. Nach 70 Jahren werden die Bücher und Texte eines Verstorbenen „rechtefrei“. Das schien dem Brunnen Verlag und mir eine gute Gelegenheit, zunächst vier Bücher Bonhoeffers neu herauszugeben: „Das Gebetbuch der Bibel“, „Gemeinsames Leben“, „Nachfolge“, „Schöpfung und Fall“. Durch sie ist er schon zu Lebzeiten einer größeren Lesergemeinde bekannt geworden.
Die gute Aufnahme der vier Bände, von denen zum Teil bereits wieder eine Neuauflage nötig wurde, hat uns bewogen, die Reihe fortzusetzen. Den Anfang machte 2018 ein Band unter dem Titel „Aber bei dir ist Licht“ mit Gebeten, Gedichten und Gedanken Bonhoeffers aus der Zeit seiner Inhaftierung durch die Nazis. Ein weiterer Band „Du wartest jede Stunde mit mir“ mit seinen Briefen aus dem Gefängnis an die Eltern, die Verlobte Maria von Wedemeyer und den Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge folgte 2019.
Anfang 2020 wurde ein erster Band mit einer repräsentativen Auswahl von Predigten Dietrich Bonhoeffers veröffentlicht. Der vorliegende Band enthält nun speziell Bibelarbeiten, Kasualpredigten und Predigtmeditationen aus den Jahren 1925 bis 1941. Die Auslegungen und Predigten aus der Gefängniszeit sind bereits in den beiden vorausgegangenen Bänden zusammen mit den anderen Briefen und Texten aus der Haft veröffentlicht worden.
Zu danken habe ich wieder Frau Margitta Berndt (Herrnhut) und meinem Mitarbeiter Herrn stud. theol. Daniel Lechner für das sorgfältige Korrekturlesen.
Leipzig, im Frühjahr 2020
Peter Zimmerling
Die im vorliegenden Band abgedruckten Bibelarbeiten1 u. a. über den Morgen, über David, über Esra und Nehemia, über das Thema Versuchung, über Timotheus und über die Dankbarkeit sind außer durch ihre Länge und ihren Ort kaum von Predigten zu unterscheiden. Im Vordergrund stand hier wie dort die Beschäftigung mit dem Bibeltext. Auf Rüstzeiten für die ehemaligen Finkenwalder Seminaristen gehalten, bilden sie den Nährboden für deren Predigtpraxis. Der Begriff „Bibelarbeit“ wurde zuerst 1919 verwendet, fast zeitgleich mit der Entstehung der Weimarer Republik, der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Der Begriff betonte das gemeinschaftliche Studium der Bibel. Es ging damals in den evangelischen Jugendverbänden darum, Umgangsformen mit der Bibel zu entwickeln, „die ein aktives Mitdenken, Mitreden und Mitwirken der Jugendlichen fördern und ihre Lebenswelt bewusst in das Gespräch mit dem Bibeltext einzubeziehen“.2 Die Bekennende Kirche griff dieses Anliegen eineinhalb Jahrzehnte später in der Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen auf und übertrug es auf alle Gemeindeglieder. Auch Bonhoeffer war der Meinung, dass alle kirchliche Arbeit zunächst das Ziel haben muss, den Gemeinden wieder die Bibel nahezubringen: „Es geht uns dabei hauptsächlich darum, dass in den Häusern wieder die Bibel gelesen und gebetet wird.“3
Die Kasualpredigten, gehalten anlässlich von Abendmahlsfeiern, Konfirmationen, Trauungen und Trauerfeiern, stammen aus sämtlichen Lebensphasen Bonhoeffers. Sie zeigen, dass er in den Predigten die im Mittelpunkt stehenden Personen und die Besonderheit der Situation berücksichtigte. Das Evangelium sollte zum spezifischen Anlass im Gespräch mit den betroffenen Personen zur Geltung gebracht werden. Bonhoeffer ist durchaus in der Lage, den einzelnen Menschen in der anlassbezogenen Predigt zu würdigen – anders als manche andere Schüler Karl Barths, die über dem ewig gültigen Evangelium vergaßen, dass dieses in der sich wandelnden Wirklichkeit zünden muss, um bei Hörerinnen und Hörern anzukommen.
Am Ende der Zeit der illegalen Theologenausbildung verfasste Bonhoeffer auch eine Reihe homiletischer Auftragsarbeiten, u. a. eine Lesepredigt und vier Predigtmeditationen. Es war etwas Neues für Bonhoeffer, Predigten bzw. Predigthilfen zu veröffentlichen. Ursprünglich war er der Überzeugung, dass jeder Prediger ausschließlich das ihm unmittelbar durch eigene Exegese und Meditation erschlossene Wort Gottes predigen sollte. Aufgrund der besonderen Zeitumstände, gekennzeichnet von Krieg und vielen Vakanzen (viele Pfarrer waren eingezogen), hat er nach anfänglichem Zögern diese Ansicht revidiert und mit großem Engagement die Hilfen zur Predigt erstellt. Diese Predigtmeditationen sollten weniger pragmatische Hilfe zur Erarbeitung der eigenen Predigt geben, als vielmehr den Predigern helfen, selber unmittelbar auf das biblische Wort zu hören.4
In den folgenden Überlegungen möchte ich mich auf Bonhoeffers Predigtlehre konzentrieren, die er in seiner Zeit als Predigerseminardirektor den Vikaren vermittelte. Im Hinblick auf Forschungsgeschichte, Quellenlage, Eigenart, Inhalt und Bedeutung der Predigten Bonhoeffers für heute verweise ich auf meine Einführung im ersten Band der Predigten „Bleibt der Erde treu. Ausgewählte Predigten“ (Gießen 2020). Als Direktor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin hatte er seine Vikare zunächst ganz praktisch darin zu unterrichten, wie eine Predigt anzufertigen und vor einer Gemeinde zu halten war. Zusätzlich hielt er in jedem Vikarskurs auch eine Homiletikvorlesung, in der neben der Praxis des Predigens die Theorie der Predigt thematisiert wurde.
Die Predigtarbeit in Finkenwalde insgesamt und damit auch die theoretische Predigtlehre erwuchsen aus dem gemeinsamen Leben in Predigerseminar und Bruderhaus in Finkenwalde mit seiner spezifischen geistlichen Lebensordnung. Zentrale Punkte des gemeinsamen Lebens waren das tägliche persönliche Bibellesen – die Meditation anhand der Meditationstexte, die für alle verbindlich waren –, Gebet und Fürbitte füreinander, Morgen- und Abendandachten und die theologisch-wissenschaftliche Arbeit. Im gemeinsamen Leben sollte jeder Vikar die persönliche Nachfolge Jesu Christi nach der Bergpredigt einüben. Indem die Weisungen der Bergpredigt im Alltag befolgt werden sollten, erhielten die Worte der Bibel eine so vorher unbekannte Autorität.
Bonhoeffer ging davon aus, dass das Ankommen der christlichen Botschaft nicht von der gelingenden Anknüpfung der Predigt an eine vorgefundene Situation abhing, sondern primär vom Gehorsam des Hörers. Er brach dadurch mit dem Ansatz der liberalen Homiletik beim Hörer.
Sein Herz schlug eben nicht bei Methoden zur Kommunikation und bei gewissen Bemühungen um „Vergegenwärtigung“. Diese standen für ihn deutlich in zweiter Linie gegenüber Sachfragen und Überlegungen zur Ermächtigung der Träger dieser Sache. Nicht, wie sage ich es weiter, sondern was sage ich und wer sagt – das interessierte ihn vornehmlich, wenn er die Wie-Frage zuzeiten nicht sogar für täuscherisch und verderblich hielt.6
O-Ton Bonhoeffer: „Wo aber die Frage nach der Vergegenwärtigung zum Thema der Theologie wird, dort können wir gewiss sein, dass die Sache bereits verraten und verkauft ist“.7
Die Stärke des homiletischen Ansatzes von Bonhoeffers Predigtlehre beim Wort Gottes – von seinem Lehrer Karl Barth übernommen – bestand darin, dass der Hörer nicht nur die deutschchristliche Irrlehre zu durchschauen vermochte, sondern auch einen Zugewinn an Wirklichkeit erfuhr. Wenn der Hörer gehorchte, wurde ihm der Weg in eine völlig neue Wirklichkeit, in den Raum des Glaubens und der Nachfolge, eröffnet. Im Vordergrund der Predigt stand für Bonhoeffer deshalb die dringliche Einladung zum Gehorsam gegenüber dem Evangelium. „[…] nur der Gehorsame glaubt“.8 Das Wort Gottes besaß die Kraft, dem Menschen ein neues Leben zu erschließen, das gegenüber dem Dritten Reich und seinen Illusionen ein revolutionäres Kontrastprogramm darstellte.
Die Predigt ist für Bonhoeffer motiviert durch den Auftrag Jesu Christi, konzentriert auf Bibelwort und Nachfolge und orientiert am Aufbau von Kirche. Unter der Überschrift „Wie entsteht eine Predigt?“ gibt Bonhoeffer sehr konkret einzelne Schritte auf dem Weg vom Bibeltext zur Predigt vor: Am Anfang der Ausarbeitung jeder Predigt steht das Gebet. Dieses ist für die Predigtvorbereitung unerlässlich, weil die Predigt nicht die Aufgabe hat, eigene Gedanken des Predigers weiterzugeben, sondern darin Gott selbst zu Wort kommen soll. Darauf folgt die Meditation: in einem ersten Schritt unter der Fragestellung, was der Text dem Prediger persönlich, in einem zweiten, was er der Gemeinde zu sagen hat. Bonhoeffer thematisiert auch den Zeitraum der Abfassung der Predigt: „Spätestens Dienstag anfangen, spätestens Freitag fertig sein! Es muss wenigstens zwölf Stunden daran gearbeitet werden“ (488). Die Predigt soll vor dem Vortrag memoriert werden, wobei die Vikare sich Gedankenzusammenhänge einzuprägen haben, nicht jedoch den gesamten ausgearbeiteten Text. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Predigt auf der Kanzel wirklich gehalten werden: Sonst verkommt der Kanzelvortrag zum bloßen Vorlesen des Manuskripts: „Eine Predigt wird zweimal geboren, in der Pfarrstube und auf der Kanzel, die zweite ist die eigentliche Entstehung“ (488; Hervorhebungen im Text).
Bonhoeffer gibt auch Hinweise für die Gestaltung der Arbeitswoche, vor allem des Samstags: „Sonnabend Abend unter allen Umständen freihalten. Es ist schön, wer Sonnabend Nachmittag noch seelsorgerliche Besuche machen kann, die wirklich streng seelsorgerlich sind. Grundsätzlich jede Einladung in der Gemeinde absagen“ (488). Er spricht über das Verhalten des Predigers in der Sakristei und auf der Kanzel. Bonhoeffer verabscheut jedes Pathos, auch das religiöse: „Das Niederknien gehört nicht auf die Kanzel, sondern in die Sakristei“ (488f).
Ziel des Predigens ist es, dass die Gemeinde beginnt, selbstständig die Bibel zu lesen. Sie soll – gut reformatorisch – mündig werden in Gottes Wort. Die Predigt soll die Gemeinde deshalb zur Bibel hinführen, ihr Freude am Lesen des Wortes Gottes machen. Darum schlägt Bonhoeffer eine strenge Textpredigt vor und bevorzugt die Homilie, d.h. die Auslegung Vers für Vers. Entscheidend ist, dass der Text selbst zum Reden gebracht wird. Bonhoeffer geht von der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes, seiner Eigenbewegung aus.10 Wenn nur der biblische Text selbst zu den Hörerinnen und Hörern zu reden beginnt, ist das Ziel einer Predigt erreicht. Deshalb lehnt Bonhoeffer jede Form von Einleitung ab: „Den Leuten mit dem Text ins Gesicht springen!“ (490). Einleitungen lenken einerseits vom Text ab, andererseits drängt sich bei den Hörern der Eindruck auf, als ob der Bibeltext nicht selbst etwas zu sagen hätte und ihm durch den Prediger erst nachgeholfen werden müsse.
Grundsätzlich ist nach Bonhoeffers Ansicht jeder biblische Text als Predigttext geeignet. Betont wirbt er für alttestamentliche Texte.11 Auch das stellte ein Novum gegenüber der liberalen Theologie dar, die, wie etwa Friedrich Schleiermacher, das Alte Testament für entbehrlich hielt. Bonhoeffer hat – wie Martin Luther – im Gegensatz dazu eine Vorliebe für das Alte Testament. In „Widerstand und Ergebung“ spricht er davon, er habe am Alten Testament gelernt, dass Gott den Menschen an sein Leben auf der Erde verweist. Im Gegensatz zu den altorientalischen Erlösungsmythen werde die Erlösung im Alten Testament nämlich streng geschichtlich, d. h. irdisch-diesseitig gedacht.12
Bonhoeffer thematisiert in seiner Predigtlehre auch formale Aspekte. Im Anschluss an Augustinus und Cicero soll sie Momente der Lehre, der Erbauung und der Bekehrung enthalten. Die Reformation entdeckte die Unverzichtbarkeit der Predigt für den Gottesdienst wieder. Das Proprium des protestantischen Gottesdienstes liegt in der Predigt. Das Wort der Predigt steht für Bonhoeffer nicht im Dienst von etwas anderem, sondern ist die Sache selbst (495). Er geht von ihrem performativen Charakter aus: Das Wort selbst ist es, das siegt und tröstet (495). Weil Gott das Subjekt des menschlichen Sprechens in der Predigt ist, kann der Prediger zuversichtlich sein, dass das Wort Gottes in der Predigt tatsächlich seine Kraft entfalten wird. Immer wieder macht Bonhoeffer seinen Vikaren Mut, auf die Kraft des Wortes Gottes zu vertrauen: „Größte Scheu und Zurückhaltung gegenüber dem Wort. Größte Zuversicht und Fröhlichkeit zu der alleinigen Kraft des Wortes“ (498; Hervorhebungen im Text).
Als Kirche des Wortes hat die Kirche der Reformation die Aufgabe, die Sprache der Predigt besonders zu pflegen. Sie soll nicht die wortreiche „Sprache Kanaans“ sein, sondern durch die Sprache der Lutherbibel bestimmt werden. Bonhoeffer meint, dass die Lutherbibel in vorbildlicher Weise jeden Wortüberfluss vermeidet: „Überfluss macht das Wort in den Wörtern unhörbar“ (499).
Am Ende der Vorlesung spricht Bonhoeffer über das Verhalten des Predigers nach der Predigt. Das Gebet in der Sakristei steht dabei an erster Stelle. Bonhoeffer empfiehlt dem Pfarrer auch den regelmäßigen Besuch des Abendmahls (eine Besonderheit, weil das Abendmahl in den Gemeinden meist nicht öfter als dreimal im Jahr gefeiert wurde). Der Prediger bedarf überdies der Seelsorge, d.h. geistlich geprägter Rückmeldungen zu seiner Predigt. Außerdem soll er den Text und die Predigt noch einmal für sich selber durchgehen. Schließlich hat er die Aufgabe, Fürbitte für seine Amtsbrüder zu üben.
Abschließend möchte ich von den durch Bonhoeffer im Lauf der Jahre vorgenommenen Erweiterungen der Homiletikvorlesung noch zwei Themenkreise aufgreifen, die mir im Hinblick auf die heutige Diskussion wesentlich erscheinen:
• Das Wort, das Predigtamt und das Pfarramt“ (502–507):
In diesem Vorlesungsabschnitt fällt der Gedanke ins Auge, dass Bonhoeffer die Predigt mit Christus identifiziert. „Als Wort schreitet er durch seine Gemeinde“ (503). „Das Wort ist der Inkarnierte als derjenige, der die Sünde der Welt trägt“ (a.a.O.). „Das Wort der Predigt will Menschen annehmen, will unsere sündige Natur tragen“ (a.a.O.). „Im verkündigten Wort tritt Christus in die Gemeinde hinein […]“ (506). Die Predigt hat also für Bonhoeffer eine Art sakramentalen Charakter.
• Der Pfarrer und die Bibel“ (510–513):
Bonhoeffer geht von einem dreifachen Gebrauch der Bibel durch den Pfarrer aus. Die Bibel gehört nicht nur auf die Kanzel, sondern genauso auf den Schreibtisch, aber eben auch auf das Betpult. Einerseits besitzt die Bibel eine jeweils eigenständige Aufgabe auf der Kanzel, auf dem Schreibtisch und auf dem Betpult. Andererseits stehen alle drei Arten des Schriftgebrauchs miteinander in Wechselwirkung und befruchten sich gegenseitig. Die ganze Existenz des Pfarrers soll durch die Schrift geprägt werden. Die unterschiedlichen Zugänge zur Bibel führen überdies zu einer der Auslegung zugute kommenden Multiperspektivität der Bibelbetrachtung.13
Eine entscheidende Stärke von Bonhoeffers Predigtlehre liegt darin, dass sie davon ausgeht, dass das Wort Gottes kein leeres Wort ist, sondern Kraft besitzt, Menschen und Situationen zu verändern. Die Finkenwalder Predigtlehre hat Vikaren Zuversicht in die Möglichkeiten der Predigt und dadurch Lust am Predigen vermittelt. Bonhoeffers Freund und theologischer Gesprächspartner Eberhard Bethge, der selbst Finkenwalder Vikar war, erinnert sich:
Es gab kaum einen, der nicht verändert und freudiger an seine Predigtaufgabe ging, wenn er in die Gemeinde zurückkehrte. Und es gab kaum einen, dessen Zutrauen und Wille, etwas ausrichten und verlangen zu können, nicht gewachsen war, der nicht überzeugt davon war, wie sehr die Frische seiner Predigt von einem zweckgelösten Umgang mit der Schrift und dem Glauben an das Vorgegebene abhing.14
Positiv ist weiter, dass Bonhoeffer die Selbstmächtigkeit und Selbstwirksamkeit des Wortes hervorhebt. Die Wirksamkeit des Wortes Gottes hängt daher nicht vom Können des Predigers oder der Predigerin ab. Eine Erkenntnis, die enorm entlasten kann. Bonhoeffer will die Würde des biblischen Wortes gewahrt wissen. Sie muss gegenüber dem Prediger und dem Hörer eine eigene Stimme erhalten. Dazu gehört der Respekt gegenüber der sachlichen und inhaltlichen Fremdheit des Bibelwortes. Der Text soll mit seiner Botschaft an den Menschen zu Wort kommen. Denn nur auf diese Weise vermag er den Hörer über sich selbst hinauszuführen, d. h. über das, was er sich sowieso selbst sagen kann. Inhaltliches Zentrum dieses Den-Hörer-über-sich-selbst-Hinausführens stellt die Rechtfertigung des Sünders durch Gott allein aus Gnaden dar.
Zu würdigen ist auch, dass Bonhoeffer die grundlegende Bedeutung des Gebets für die Predigtarbeit hervorhebt. Das Gebet vermag dem Prediger neue Dimensionen zu erschließen, zu denen er auf andere Weise keinen Zugang erhalten würde. Es öffnet die Predigtvorbereitung für anders nicht zugängliche kreative und intuitive Impulse.
Auch die Konzentration der Predigt auf den Glauben an Jesus Christus stellt ein Positivum der Finkenwalder Homiletik dar: Nicht nur deshalb, weil es dadurch zu einer Wiederaufnahme reformatorischer Einsichten kam,15 sondern auch, weil damit ein befreiender Gegenentwurf zum Führerkult des Dritten Reiches vorgelegt werden konnte. In der Predigt soll den Hörerinnen und Hörern eine Person begegnen: Jesus Christus, und zwar als Person für mich.16 Die gesamte Predigtarbeit Bonhoeffers kreist darum, wie Jesus Christus als Mitte des Evangeliums in der Predigt zu Klang und Stimme kommen kann. Dass jede entschiedene Konzentration ihre Kehrseite im Verlust an Pluralität hat, wird erst in friedlicheren Zeiten sichtbar, sollte man Bonhoeffers Überlegungen aber nicht negativ anrechnen.
Problematisch ist an Bonhoeffers Predigtlehre, dass Hörer und Situation kaum thematisiert werden. Ein Grund dafür ist die Ausblendung von Erkenntnissen aus den Humanwissenschaften, wobei allerdings zu bedenken ist, dass Bonhoeffer das Gespräch mit den Humanwissenschaften nicht eigentlich ausschließen, sondern nur zurückhalten will.17 Z. B. lässt sich Bonhoeffers Predigtlehre entnehmen, dass er die Gesetze des gottesdienstlichen Sprechens gerne näher erforscht hätte.18 Im Prinzip hat er durchaus auch von der Wichtigkeit der Situation für das Ankommen der Verkündigung gewusst. Darauf hat wiederum besonders Ernst Lange hingewiesen.19 Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Verkündigung des konkreten Gebots hält Bonhoeffer fest:
Mit Vollmacht kann zu mir nur gesprochen werden, wenn ein Wort aus der tiefsten Kenntnis meiner Menschlichkeit mich in meiner ganzen Wirklichkeit jetzt und hier betrifft. Jedes andere Wort ist Ohnmacht. Das Wort der Kirche an die Welt muss darum aus der tiefsten Kenntnis der Welt dieselbe in ihrer ganzen gegenwärtigen Wirklichkeit betreffen, wenn es vollmächtig sein will. Die Kirche muss hier und jetzt aus der Kenntnis der Sache heraus in konkretester Weise das Wort Gottes, der Vollmacht, sagen können, oder sie sagt etwas anderes, Menschliches, ein Wort der Ohnmacht. Die Kirche darf also keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn, was „immer“ wahr ist, ist gerade „heute“ nicht wahr: Gott ist uns „immer“ gerade „heute“ Gott.20
Ich würde nicht so weit wie Lange gehen und in diesen Sätzen Bonhoeffers „Homiletik in nuce“21 sehen. Tatsächlich enthalten sie aber eine wichtige theologische Begründung für die Berücksichtigung der Situation des Hörers, von der in der Finkenwalder Homiletik nicht explizit die Rede ist.
Die Predigtausbildung in Finkenwalde sah strikt davon ab, eine im Gottesdienst gehaltene Predigt zu kritisieren. Kritik war nur an Predigten zulässig, die im Lehrsaal zu Übungszwecken vorgetragen wurden.22 Die von Bonhoeffer im Prinzip gewollte Erziehung der Gemeinde zur Mündigkeit wird dadurch konterkariert. Paradoxerweise enthält die Vorlesung zur Predigtlehre gleichzeitig Überlegungen, wonach die Gemeinde doch – im Sinne Luthers – zur Kritik an der gehörten Predigt ermutigt werden soll:
Der Pfarrer hat ein Recht darauf zu wissen, ob in seiner Predigt Gottes Wort hörbar wurde. Die Gemeinde sollte dazu angehalten werden, in die Sakristei zu gehen zu solchem Gespräch. Aufgabe der Frau des Pfarrers, ihm diesen Dienst zu tun. Aber er muss ihn suchen!23
Bonhoeffer will die Predigt also für Kritik offenhalten. Allerdings drängt er sie in den eher privaten Bereich zurück: Sie bekommt ihren Platz im Vier-Augen-Gespräch in der Sakristei und zwischen Pfarrer und Pfarrfrau.
Beim Lesen von Bonhoeffers Kasualpredigten, Bibelarbeiten und Predigtmeditationen sticht zweierlei sofort ins Auge: Sie stecken voller Bibel und laden zum Gebet ein: „Es geht uns dabei [in den Predigten während der Volksmissionswochen] hauptsächlich darum, dass in den Häusern wieder die Bibel gelesen und gebetet wird.“24 Das gilt als allererstes natürlich für das Pfarrhaus. Geradezu verblüffend ist die fabelhafte Bibelkenntnis Bonhoeffers, die es ihm ermöglicht, die unterschiedlichsten Bibelaussagen zueinander in Beziehung zu setzen – ganz nach dem Motto von Martin Luthers Bibelauslegung: „Die Schrift legt sich selber aus.“ Trotz ihrer Orientierung an Bibel und Gebet gewinnt man nirgends den Eindruck, dass darüber die wache Zeitgenossenschaft des Predigers zu kurz käme. Durchgängig ist jedoch deutlich: Bonhoeffers Predigten wollen primär Hilfe zum Glauben sein. Dass sie darin auch Hilfe zum Leben sind, ergibt sich quasi von selbst.
Im Zentrum der Predigten steht der dreieinige Gott, genauer gesagt: Jesus Christus. In jeder Predigt lädt Bonhoeffer explizit oder implizit zur Nachfolge des auferstandenen Gekreuzigten ein. Der Prediger zeigt auf, dass das menschliche Leben erst darin seiner Bestimmung entspricht und zur Erfüllung kommt. Von hier aus ergibt sich auch die Ewigkeitsorientierung der Predigten. Bonhoeffer hält mit ihr den Riss offen, der durch die Welt geht. Es ist und bleibt letztlich Gottes Sache, diese Welt zu erneuern. Trotz der Notwendigkeit des Engagements für den Nächsten, biblisch gesprochen: der Nächstenliebe, ist Gott nicht auf unsere Hände angewiesen. „Gott führt seinen Plan zum Ziel mit uns oder gegen uns. Aber er will, dass wir mit ihm seien“ (so in der Predigtmeditation über Jes 9,5-6). Deshalb scheut sich Bonhoeffer auch nicht, Gottes Gericht zu predigen, wobei er ausdrücklich festhält, dass die christliche Gemeinde von diesem Gericht nicht ausgenommen ist – im Gegenteil: Gerade an ihr übt Gott sein strengstes Gericht, und sie erweist sich darin als seine Gemeinde, dass sie sich diesem Gericht beugt. Gottes Reich beruht für Bonhoeffer nämlich auf Gericht und Gerechtigkeit. Die ewige Dauer dieses Reiches hat ihren Grund darin, dass in ihm das Unrecht nicht ungestraft bleibt.
In meinen Augen hat der geistliche Tiefgang der Predigten Bonhoeffers seine Ursache darin, dass sie bibelorientiert, christuszentriert und ewigkeitsmotiviert sind. Darin unterscheiden sie sich von den meisten Predigten, die heute gehalten werden. Nicht zuletzt deswegen lohnt die Lektüre von Bonhoeffers Predigten bis heute. Das Ziel dieser Neuherausgabe der Predigten wäre erreicht, wenn sie Predigerinnen und Prediger inspirieren würden, ihre eigene Predigt infrage stellen und durch Bibel und Gebet erneuern zu lassen.
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Lebenwww.brunnen-verlag.de/peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-leben
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Werkwww.brunnen-verlag.de/peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-werk
Finkenwalde, Sommer 1935
Jeder neue Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Jeder Tag ist ein abgeschlossenes Ganzes. Der heutige Tag ist die Grenze unseres Sorgens und Mühens (Mt 6,34; Jak 4,14). Er ist lang genug, um Gott zu finden oder zu verlieren, um Glauben zu halten oder in Sünde und Schande zu fallen. Darum schuf Gott Tag und Nacht, damit wir nicht im Grenzenlosen wanderten, sondern am Morgen schon das Ziel des Abends vor uns sähen. Wie die alte Sonne doch täglich neu aufgeht, so ist auch die ewige Barmherzigkeit Gottes alle Morgen neu (Klgl 3,23). Die alte Treue Gottes allmorgendlich neu zu fassen, mitten in einem Leben mit Gott täglich ein neues Leben mit ihm beginnen zu dürfen, das ist das Geschenk, das Gott uns mit jedem neuen Morgen macht.
In der Heiligen Schrift ist der Morgen eine Zeit voller Wunder. Er ist die Stunde der Hilfe Gottes für seine Kirche (Ps 46,6), die Stunde der Freude nach einem Abend des Weinens (Ps 30,6), die Stunde der Verkündigung des göttlichen Wortes (Zeph 3,5), der täglichen Austeilung des heiligen Mannas (2Mose 16,13 f). Vor Tagesanbruch geht Jesus beten (Mk 1,35), in der Frühe gehen die Frauen zum Grab und finden Jesus auferstanden, im Morgengrauen finden die Jünger den Auferstandenen am Ufer des Sees von Tiberias (Joh 21,4). Es ist die Erwartung der Wunder Gottes, die die Männer des Glaubens früh aufstehen lässt (1Mose 19,27; 2Mose 24,4; Hiob 1,5 und öfter). Der Schlaf hält sie nicht mehr. Sie eilen der frühen Gnade Gottes entgegen.
Beim Erwachen vertreiben wir die finsteren Gestalten der Nacht und die wirren Träume, indem wir alsbald den Morgensegen sprechen und uns für diesen Tag für Hilfe dem dreieinigen Gott befehlen. Böse Launen, unbeherrschte Stimmungen und Wünsche und Sorgen, die wir am Tag nicht mehr los werden, sind oft genug Nachtgespenster, die nicht beizeiten verjagt worden sind und uns den Tag vergällen wollen. In die ersten Augenblicke des neuen Tages gehören nicht eigene Pläne und Sorgen, auch nicht der Übereifer der Arbeit, sondern Gottes befreiende Gnade, Gottes segnende Nähe. Wen die Sorge frühzeitig aufweckt, zu dem sagt die Schrift: „Es ist umsonst, dass ihr frühe aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Tränen“ (Ps 127,2). Nicht die Angst vor dem Tag, nicht die Last der Werke, die ich zu tun vorhabe, sondern der Herr „weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger“; so heißt es vom Knecht Gottes (Jes 50,4). Bevor das Herz sich der Welt aufschließt, will Gott es sich erschließen, bevor das Ohr die unzähligen Stimmen des Tages vernimmt, soll es in der Frühe die Stimme des Schöpfers und Erlösers hören. Die Stille des ersten Morgens hat Gott für sich selbst bereitet. Ihm soll sie gehören.
Vor das tägliche Brot gehört das tägliche Wort. Nur so wird auch das Brot mit Danksagung empfangen. Vor die tägliche Arbeit gehört das morgendliche Gebet. Nur so wird die Arbeit in der Erfüllung des göttlichen Befehls getan. Für stille Gebetszeit und gemeinsame Andacht muss der Morgen eine Stunde hergeben. Das ist wahrhaftig keine vergeudete Zeit. Wie könnten wir anders gerüstet den Aufgaben, Nöten und Versuchungen des Tages entgegengehen? Und ob wir auch oft nicht „in Stimmung“ dafür sind, so ist es doch schuldiger Dienst an dem, der von uns angerufen, gelobt und gebeten sein will und der uns unsern Tag nicht anders als durch sein Wort und unser Gebet segnen will.
Es ist nicht gut von „Gesetzlichkeit“ zu reden, wo es um die Ordnung unseres christlichen Lebens, um die Treue in den gebotenen Dingen des Schriftlesens und Betens geht. Unordnung zersetzt und zerbricht den Glauben. Das muss der Theologe besonders lernen, der Zuchtlosigkeit so leicht mit evangelischer Freiheit verwechselt. Wer einmal ein ausfüllendes geistliches Amt versehen und nicht in Betriebsamkeit sich und seine Arbeit zugrunde richten will, der lerne beizeiten die geistliche Disziplin des Dieners Jesu Christi. Der junge Theologe wird es als eine große Hilfe erfahren, wenn er sich für sein stilles Gebet und für die Andacht feste Zeiten setzt, die er in großer Beharrlichkeit und Geduld einhält.
Die stille Gebetszeit braucht jeder Christ. Der Theologe, der Christ sein will, braucht sie nötiger als irgendein anderer. Er braucht mehr Zeit für Gottes Wort und für das Gebet, denn dazu ist er besonders [ein]gesetzt (Apg 6,4). Wie sollen wir den Tag über mit Gottes Wort umgehen, predigen und unterweisen lernen, anderer Menschen Last brüderlich tragen helfen, wenn wir nicht selbst Gottes Hilfe für den Tag erfahren haben? Wir wollen ja nicht Schwätzer und Routiniers werden. Es ist ratsam, der stillen Gebetszeit ein Wort Gottes zugrunde zu legen. Das gibt dem Gebet Inhalt, festen Grund und Zuversicht. Es kann für eine Woche derselbe Schriftabschnitt sein. Dann wird das Wort in uns zu wohnen und zu leben beginnen und uns bewusst oder unbewusst gegenwärtig sein. Ein zu rascher Wechsel macht oberflächlich. Auf dem Grund der Schrift lernen wir in der Sprache, in der Gott zu uns gesprochen hat, zu Gott sprechen, wie das Kind zum Vater. Vom Worte Gottes ausgehend beten wir alles, was das Wort uns lehrt, bringen wir den kommenden Tag vor Gott und reinigen unsre Gedanken und Vorsätze vor ihm, beten wir vor allem um die volle Gemeinschaft Jesu Christi mit uns. Wir wollen nicht vergessen für uns selbst zu beten. „Achte deine Seele hoch in Demut“ [Jesus Sirach 10,31]. Dann aber liegt vor uns das weite Feld der Fürbitte. Hier weitet sich der Blick, er sieht nahe und ferne Menschen und Dinge, um sie der Gnade Gottes zu befehlen. Keiner, der uns um unsre Fürbitte gebeten hat, darf fehlen. Dazu kommen all die, die uns persönlich oder beruflich besonders anbefohlen sind – und das sind viele. Schließlich weiß jeder von Menschen, denen sonst wohl kaum einer diesen Dienst tut. Nicht vergessen wollen wir, Gott für die zu danken, die uns durch ihre Fürbitte helfen und stärken. Wir wollen die stille Gebetszeit nicht beschließen, bevor wir mehrfach und schließlich mit großer Gewissheit das Amen gesprochen haben.
Zur gemeinsamen Andacht suchen wir Hausgenossen oder Brüder aus der Nachbarschaft, um mit ihnen zusammen das Wort Gottes zu hören, zu singen und zu beten. In die Andacht gehören vor allem die gemeinsam gelesenen Psalmen, die nur dann zu unsrem Besitz werden, wenn wir sie täglich und reichlich und ohne Auslassung lesen und beten, auch dort, wo sie uns schwer werden. Dann sollte ein nicht zu bescheidener Abschnitt im Alten und Neuen Testament fortlaufend zur Verlesung kommen. Das Lied der Kirche stellt uns in die große Gemeinde der Gegenwart und Vergangenheit. Das Gebet, das einer für die ganze Gemeinschaft spricht, bringt die gemeinsamen Anliegen der kleinen Hausgemeinde vor Gott.
Nun hat Gott in dem Schweigen des Morgens sein Wort geredet, nun haben wir mit ihm und mit der Gemeinde der Christen Gemeinschaft gefunden. Sollten wir nun nicht zuversichtlich an das Tagewerk gehen?
Aufsatz für die Bädermission
Ettal, Januar 1941
Mitten in der herrlichen Natur sehen wir, wie ein gelähmtes Kind im Rollstuhl gefahren wird. Wer noch ein Herz hat, das nicht völlig stumpf geworden ist für den Nächsten, dem wird es im Augenblick klar, dass hier etwas in unserer Welt nicht in Ordnung ist, dass die Welt, in der dieses Bild der Qual und der Trauer möglich ist, nicht die ursprüngliche Schöpfung Gottes ist. Hier ist etwas Widergöttliches in die Welt eingebrochen. Die Welt ist von ihrem Ursprung abgefallen, zerstörende Mächte haben in ihr Gewalt gewonnen. Nur in einer gott-los gewordenen Welt gibt es Krankheit. Weil die Welt an Gott selbst krankt, darum gibt es kranke Menschen. Nur eine Welt, die wieder ganz in Gott geborgen wäre, eine erlöste Welt, würde ohne Krankheit sein.
In der Bibel begegnet uns ein seltsames Wort: „Und er suchte auch in seiner Krankheit den Herrn nicht, sondern die Ärzte“. Es handelt sich dort um einen frommen Mann, dem die Bibel sonst hohes Lob zollt für seinen Eifer um die Sache Gottes. Aber dieser Mann dachte bei aller Frömmigkeit darin sehr modern, dass er streng unterschied zwischen den Dingen der Religion, in denen man sich an Gott wendet, und den irdischen Dingen, in denen man sich bei irdischen Stellen Hilfe holt. Krankheiten, besonders leibliche Krankheiten sind irdische Angelegenheiten mit irdischen Ursachen und irdischen Heilmitteln. Krankheiten gehören also vor den Arzt, aber nicht vor Gott. Wie dürfte man auch Gott, den Herrn der Welt, mit seinen kleinen leiblichen Übeln belästigen? Gott hat andere Sorgen.
Das ist ganz vernünftig und vielleicht auch ganz religiös gedacht. Aber es ist falsch. Gewiss haben Krankheiten ihre irdischen Ursachen und irdischen Hilfsmittel; aber damit ist eben bei Weitem nicht alles und nicht das Entscheidende über das Wesen der Krankheit gesagt. Gewiss soll der Kranke zum Arzt gehen und dort Hilfe suchen. Aber das Wichtigste ist damit allein nicht getan und nicht erkannt. Hinter den irdischen Ursachen und Heilmitteln stehen die überirdischen Ursachen und die überirdischen Heilmittel der Krankheit. Solange man daran vorbeigeht, lebt man in Wahrheit an seiner eigenen Krankheit vorbei, bekommt man ihr Wesen gar nicht zu Gesicht. Ihr Fluch und ihr Segen bleiben unerkannt.