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Nach seinem Gefängnisaufenthalt in New York genießt Riley Moore das Leben in Freiheit in vollen Zügen - bis ein schwerer Schicksalsschlag ihn dazu zwingt, in seinen Heimatort nach Michigan zurückzukehren. Dort warten nicht nur Vorurteile und seine enttäuschte Familie auf ihn, sondern auch Lexi Pierce: die Frau, die er seit Jahren aus seinem Kopf - und Herz - verbannen will ...
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Seitenzahl: 462
SOPHIE JACKSON
DUNKLE LIEBE
Sühne
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anita Nirschl
Seit seinem Gefängnisaufenthalt hält Riley Moore sich so gut es geht von den Menschen fern, die er einst enttäuscht hat. Er hat sich in New York ein neues Leben als Mechaniker in der Werkstatt seines Freundes Max aufgebaut und genießt seine Freiheit in vollen Zügen. Als er jedoch den Anruf erhält, dass sein Vater einen schweren Herzinfarkt hatte, lässt er alles stehen und liegen, um zu seiner Familie zurückzukehren. Doch schon auf dem Weg nach Michigan merkt Riley, dass es nicht sein Vater ist, der sein Herz Kilometer für Kilometer stärker zum Rasen bringt. Obwohl die beiden über drei Jahre lang kein Wort gewechselt haben, kann Riley an niemand anderen denken als an Lexi. Seine beste Freundin, seine Liebe, seine ganze Welt. Einst waren sie unzertrennlich und versprachen sich, für immer zusammenzubleiben – doch das Leben hatte trotz aller Versprechen andere Pläne mit ihnen. Als sie sich das erste Mal wieder gegenüberstehen, spüren Lexi und Riley vom ersten Augenblick an, dass sie sich noch immer lieben, als wäre kein Tag vergangen. Aber die Zeit hat tiefe Spuren hinterlassen, und für ein gemeinsames Glück müssen sie erst mühsam lernen, einander wieder zu vertrauen. Doch Lexi verbirgt seit Jahren ein Geheimnis vor Riley, das seine ganze Welt von einem Tag auf den anderen zum Einsturz bringen wird …
Für dich. Danke.
Mein Herz ist und wird immer das deine sein.
– Jane Austen
Er war acht Jahre alt, als er sie zum ersten Mal sah.
Wie gebannt stand er da, das Fahrrad zwischen den Beinen, während ihre Familie Kartons aus einem Umzugswagen vor einem Haus in der Straße seiner Schule lud. Sie drehte sich im Vorgarten im Kreis, und ihr blondes Haar, das in zwei Rattenschwänzchen von ihrem Kopf abstand, wirbelte wie zwei Rotorblätter eines Hubschraubers. Sie trug Jeansshorts, pinke Badeschuhe und ein sogar noch pinkeres T-Shirt mit einem leuchtenden Regenbogen drauf. Sie sprang, sang und lachte in der heißen Sommersonne. Sie war vollkommen sorgenfrei.
Und sie war das schönste Geschöpf, das er je gesehen hatte.
Rückblickend war er ziemlich sicher, dass er sich schon an jenem Tag in sie verliebt hatte. Sie war hell, bunt, aufregend und neu. Sie war fröhliches Lachen an Sommertagen und aufregende Abenteuer nach der Schule. Obwohl seine Brüder ihn gnadenlos damit aufzogen, wurden er und das Mädchen dicke Freunde. Sie radelten zusammen auf ihren Fahrrädern durch die Gegend, und das Mädchen hatte sogar ein Skateboard und zeigte ihm, wie man damit fuhr. Sie kletterte auf Bäume, warf Steine auf Abbruchhäuser und klaute Süßigkeiten aus einem Laden, weil er sie dazu angestiftet hatte.
Sie war das Allercoolste.
Sie wuchsen zusammen auf, stritten sich, vertrugen sich wieder und erlebten ihren ersten Kuss miteinander, als sie vierzehn waren und ihm bewusst wurde, dass er sie auf eine Art mochte, bei der sich sein Körper komisch anfühlte.
Sie war nicht mehr nur seine beste Freundin – sie war mehr. An sie dachte er, wenn er allein war und sein Bruder ihn drängte, sich die Bilder in den Zeitschriften anzusehen, vor denen ihn seine Mutter gewarnt hatte.
An ihrem siebzehnten Geburtstag zeigte er ihr endlich, wie viel sie ihm bedeutete. Auf der von Decken und Kissen übersäten Ladefläche seines geborgten Pick-ups glitt er unter den Sternen in sie hinein, gestand ihr flüsternd seine Liebe und versprach, dass sie niemals enden würde. Dass er immer so für sie empfinden würde. Dass es niemals eine andere für ihn geben würde. Sie war alles, was er brauchte, alles, was er je wollen würde.
Das ganze Leben noch vor sich, nackt und heftig atmend in der lauen Sommerluft, hielten sie einander in den Armen und hatten keine Ahnung, dass das Leben trotz all ihrer Versprechen andere Pläne mit ihnen hatte.
»Härter! Oh Gott, fick mich härter!«
Grinsend packte Riley Moore die schlanken Waden, die auf seinen Schultern lagen. »Nicht Gott.« Er stieß in sie hinein, wie sie ihn gebeten hatte, hart und heftig. »Nur ich.«
Verdammt, er brauchte das.
»Oh ja! Gib’s mir!«
Ihr Haar breitete sich wie eine riesige schwarze Pfütze auf seinem Kissen aus, und sie bog den Rücken durch und begann, sich um ihn herum zusammenzuziehen. Nach drei weiteren tiefen Stößen kam er mit einem lauten Stöhnen. Nach Atem ringend brach er auf ihr zusammen, das Gesicht an ihrem Hals und dem Schweiß, der sich an ihrem Schlüsselbein gesammelt hatte.
»Heilige Scheiße, Moore«, keuchte sie. Sie ließ die Beine zurück auf die Matratze fallen und legte kopfschüttelnd eine Hand zwischen ihre Brüste. »Du musst mich öfter anrufen, Süßer.« Sie tätschelte ihm den Hinterkopf.
»Gleichfalls«, erwiderte Riley, während er den Kopf hob und sich aus ihr zurückzog.
Er streifte das Kondom ab und warf es in den Müll, bevor er der atemlosen Frau, die ausgestreckt auf seinem Bett lag, ein Handtuch zuwarf und zusah, wie sie sich vom Hals bis zu der Stelle zwischen den Beinen abwischte. Carla war ausgesprochen nett anzusehen, und sie konnte blasen wie keine andere, aber da hörte ihre Beziehung auch schon auf. Das rein auf Sex basierende Arrangement, das sie seit Monaten hatten, funktionierte für sie beide bestens.
Schmunzelnd ging Riley zur Toilette, während das postkoitale Glühen ihn immer noch umgab wie eine warme Umarmung. Er drückte die Spülung, wusch sich die Hände und ging splitternackt wieder zurück ins Zimmer. Als er sah, dass Carla bereits wieder halb angezogen war und gerade ihren BH zuhakte, nickte er anerkennend. Dass es zwischen ihnen keine emotionalen Hürden gab, gefiel ihm außerordentlich. Sie zog ihre weiße Bluse an und überprüfte ihr Make-up in einem kleinen Taschenspiegel, dabei berührte sie die roten Male, die Rileys rauer Bart an ihrem Hals hinterlassen hatte.
Mit einem vorwurfsvollen Seitenblick sah sie ihn an, worauf er als Antwort nur die Schultern zuckte. Sie stand drauf. Die meisten Frauen, die in sein Bett kamen, standen drauf. Manche baten ihn sogar darum, ihnen sein Mal aufzudrücken, was er bedenkenlos tat. Es war verdammt sexy, die Spuren seiner Lust an seinen Liebhaberinnen zu sehen.
Er hob seine Jeans von der Stelle auf, wo Carla sie ihm vom Leib gerissen hatte, und schlüpfte hinein, ohne sie zuzuknöpfen. Carla schüttelte ihr Haar auf, während sie sich an ihm vorbeischlängelte und nach ihrer Handtasche auf seinem Nachttisch griff. Sie nahm ihr Handy heraus und tippte stirnrunzelnd darauf herum.
»Ich muss los.« Nachlässig warf sie das Handy wieder zurück in die Tiefen ihrer Handtasche. »Die Arbeit ruft.«
Riley nickte, dabei betrachtete er ihre Beine, die in einem knielangen Bleistiftrock steckten. Gott, sie hatte tolle Beine. Der Rest ihres Outfits war durch und durch langweilige Businesskleidung. Flüchtig fragte sich Riley, wie viele andere Männer die wilde Frau, die unter der konservativen Kleidung lauerte, schon erlebt hatten. Wer hätte gedacht, dass man mit Buchhalterinnen so viel Spaß haben konnte?
Carla drehte sich zu Riley um, der lässig hinter ihr an der Wand lehnte, und ließ ihren Zeigefinger an seiner immer noch feuchten Brust entlang nach unten wandern.
»Noch mal danke, Hübscher«, schnurrte sie, bevor sie ihn auf den Mundwinkel küsste. »Das beste Lunch-Date, das ich seit einer ganzen Weile hatte. Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.«
»Das denke ich auch«, antwortete er mit einem Augenzwinkern.
Sie lächelte, und mit einem letzten schwungvollen Zurückwerfen ihrer Haare ging sie. Riley lachte leise vor sich hin, bevor er zurück ins Bad ging, um sich den Sexgeruch abzuwaschen, der jeden Zentimeter seiner Haut bedeckte.
Keine halbe Stunde später arbeitete er schon wieder in O’Hare’s Autowerkstatt unter einem heißen 1965er Ford Galaxie, genoss die laut hämmernde Rockmusik von Guns N’ Roses und die Zufriedenheit, die er stets empfand, wenn er arbeitete. Riley liebte es, an den Fahrzeugen herumzuschrauben, die in die Werkstatt kamen – schon seit sein Vater ihn im Alter von zehn Jahren mit seinem ersten Motor bekannt gemacht hatte. Alles, was es über Autos zu wissen gab, hatte er von seinem Dad gelernt, der seine eigene Firma damit aufgebaut hatte, Klassiker zu kaufen, zu tunen und dann wieder zu verkaufen. Riley war der einzige von Park Moores vier Söhnen, der je Interesse am Geschäft gezeigt hatte, und Park hatte sein Bestes getan, ihn darauf vorzubereiten, die Firma zu übernehmen. Er hatte sogar Rileys Wirtschaftsstudium an der NYU bezahlt.
Nicht dass aus dem Mist was geworden wäre.
Seufzend nahm Riley einen Steckschlüssel. Von seiner heiklen Beziehung zu seinem Vater wollte er sich nicht die Laune verhageln lassen. Außerdem konnte er keinem anderen die Schuld dafür geben, nur sich selbst. Er war ein dämlicher Trottel gewesen. Besitz gestohlenen Eigentums in einem minderschweren Fall und eine Gefängnisstrafe von achtzehn Monaten in der Arthur-Kill-Justizvollzugsanstalt hatten Parks sämtliche Hoffnungen für Rileys geschäftliche Zukunft zunichtegemacht. Mit so einem Vorstrafenregister kam man nicht weit.
»Yo, Moore, bist du da drunter?«
Beim verzweifelten Klang von Max O’Hares Stimme musste Riley lächeln. »Ja, Mann, was willst du?«
Ein Paar Stiefel erschien neben dem Wagen auf der Höhe von Rileys Knöcheln.
»Du musst mit mir diese Quittungen durchgehen, Kumpel. Ich fang schon an zu schielen.«
Lachend rollte Riley unter dem Wagen hervor. Er kniff die Augen gegen die grellen Lichter über ihm zusammen und schaute zu Max hoch, der mit den Nerven völlig am Ende zu sein schien.
»Mathe ist einfach nicht mein Ding«, brummte Max. Er wedelte Riley mit einer Handvoll Papiere vor der Nase herum. »Hilfe!«
Schnaubend rappelte sich Riley vom Rollbrett hoch und nahm seinem Freund die Papiere ab. »Klar doch.«
Max hatte O’Hare’s nach dem Tod seines Vaters geerbt. Die Geschäfte waren eine Weile lang gut gelaufen, aber vor gut eineinhalb Jahren war Max wegen seiner Drogensucht in eine Entzugsklinik aufgenommen worden. Es war eine verdammt trostlose Zeit gewesen, aber während Max wieder gesund wurde, hatte Riley mit finanzieller Unterstützung ihres guten Freunds Carter in der Werkstatt das Ruder übernommen und dafür gesorgt, dass der Laden weiterhin Geld abwarf.
Er und Max waren schon seit fast einem Jahrzehnt Freunde, und seinem Kumpel zu helfen war das Mindeste, was Riley tun konnte. Nachdem Max aus der Entzugsklinik entlassen worden war, hatten die beiden Männer beschlossen, ihr geschäftliches und handwerkliches Wissen zu vereinen. Sie wollten die Sache gemeinsam aufziehen, und Carter hatte bereitwillig finanziell investiert. Vor seiner Haftstrafe hatte Riley seit knapp zwei Jahren einen Abschluss der NYU in der Tasche gehabt und seine eigene kleine, aber aufstrebende Autowerkstatt auf der anderen Seite der Stadt besessen. Verständlicherweise hatte er nach seiner Zeit in Arthur Kill einen Haufen Kunden verloren, was ihn zu der Entscheidung zwang, den Laden dichtzumachen und zu verkaufen. Von dem Geld hatte er seine Wohnung und alle ausstehenden Schulden abbezahlt – nicht zuletzt die bei seinem Vater, der die hunderttausend Dollar Studiengebühren bezahlt hatte. Es hatte Riley fast umgebracht, seine Firma so aufgeben zu müssen, aber ihm war kaum eine andere Wahl geblieben.
Er wollte verzweifelt wieder auf die Beine kommen, und sich mit Max zusammenzutun war die perfekte Lösung.
Max war derselben Meinung, aber nun, da er seine Zeit zwischen West Virginia und New York aufteilte, hatte er den größten Teil der administrativen Verantwortung an Riley abgegeben, der mehr als glücklich darüber war. Die Leute sahen in ihm oft nichts weiter als einen tätowierten, muskelbepackten Frauenhelden – was zum Teil auch stimmte. Aber trotz seiner äußeren Erscheinung war Riley klug, und das Einzige, was er noch mehr liebte als Frauen und Autos, waren Zahlen.
»Bist du bereit für heute Abend?«, fragte er Max, als sie das Büro betraten.
»Paintball?«, erwiderte Max, während er die Tür hinter ihnen schloss. »Baby, ich wurde schon bereit geboren, verdammt.« Er ließ seine Fingerknöchel knacken. »Bereite du dich lieber darauf vor, dass ich dir den Arsch aufreiße.«
Riley lachte und ließ sich in den Sessel hinter dem großen hölzernen Schreibtisch fallen. »Du weißt, dass mein Bruder drei seiner alten Kumpel von den Marines mitbringt, oder? Ich glaube nicht, dass mein Arsch der einzige sein wird.«
Max winkte ab. »Wie auch immer, Mann. Solange sie mir verdammt noch mal nicht auf die Eier zielen, soll’s mir recht sein.«
Riley zog eine Augenbraue hoch. »Das sind Marines. Die zielen nur auf die Eier.«
Sie lachten beide. Riley wurde warm ums Herz, Max so entspannt und glücklich zu sehen. Das war nicht immer so gewesen. Max hatte zwar jeden Tag darum gekämpft, nüchtern und clean zu bleiben, aber erst seine Freundin Grace hatte ihm neuen Lebensmut gegeben. Und Riley freute sich sehr für die beiden. Er war immer der Meinung gewesen, dass von all seinen Freunden Max derjenige war, der es am meisten verdiente, glücklich zu sein.
Scheiße, das letzte Jahr hatte ein paar gewaltige Veränderungen für Rileys Freundeskreis parat gehabt. Carter war seit fast zwölf Monaten verheiratet, und trotz eines etwas holprigen Starts ins Eheleben schien er verliebter zu sein denn je. Dann war da noch Max, rundum zufrieden, und die Jungs in der Werkstatt, die ständig von ihren Frauen und Kindern erzählten.
So lief es nun mal, wenn ein Mann und seine Crew an der Türschwelle zur Dreißig standen, schätzte Riley – eine Menge veränderte sich, und Leute wurden erwachsen. Aber Riley war nicht davon überzeugt, dass das jemals auf ihn zutreffen würde, ganz egal, wie alt er wurde. Und obwohl er sich fröhlich in die Arbeit stürzte oder seine übliche Liste von Spielgefährtinnen anrief, wann immer ihm danach war, ertappte er sich im Laufe des letzten Jahres immer öfter dabei, sich zu fragen, wie es wohl wäre, endlich sesshaft zu werden.
Seine Eltern waren seit über fünfunddreißig Jahren glücklich verheiratet und hatten vier Kinder, deshalb war die Vorstellung, sich an jemanden zu binden, nichts, wovor er zurückschreckte. Genau genommen war es etwas, an das er zum ersten Mal gedacht hatte, als er acht Jahre alt gewesen war …
»Also, was meinst du?«
Riley schaute hoch und sah, dass Max auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz genommen hatte und nervös auf die Quittungen schaute, die Riley angestarrt, aber nicht wirklich wahrgenommen hatte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was darauf stand. Bedächtig rieb er sich über das bärtige Kinn und lächelte trotzdem. »Sieht gut aus, Mann. Keine Sorge.«
Max kniff die Augen zusammen. »Bist du sicher?« Er lehnte sich zurück. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Riley kannte diesen Ton. Immer wieder einmal holte Max ihn hervor, um Riley damit zu nerven. Aber daran war er selbst schuld. Er hatte vor einer Weile eine dumme Bemerkung gemacht, als Max Kummer wegen Grace gehabt hatte, über verlorene Liebe oder solchen Blödsinn, und Max hatte sich aus irgendeinem Grund daran festgebissen.
Natürlich machte sich sein Freund nur Sorgen, aber Riley wollte nicht über seine Vergangenheit sprechen, obwohl sein Traum von letzter Nacht – der in herrlicher Unschuld beschrieben hatte, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte, mit ihren blonden Rattenschwänzen und pinken Klamotten – im Hinterkopf immer noch an ihm nagte. Es war seltsam. So einen Traum hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr gehabt, und er war auch der Auslöser dafür gewesen, dass Riley Carla für einen Quickie in der Mittagspause angerufen hatte – ein flüchtiger Balsam für die Reue, die immer noch in ihm tobte.
Er räusperte sich, als Bilder eben jenes schönen blonden Mädchens über die gedruckten Zahlen auf dem Blatt in seinen Händen tanzten und Erinnerungen hervorlockten, die Riley nach Kräften unter Verschluss zu halten versuchte.
Lexie.
Nein, schalt er sich stumm, dieser Mist war einfach nur, was er war: Vergangenheit. Und daran ließ sich verdammt noch mal nichts ändern, ganz egal, wie sehr Riley es sich auch anders wünschte.
»Alles bestens«, sagte er und breitete die Quittungen aus.
Riley war kein Lügner. Es war die Wahrheit. Alles war bestens. Er arbeitete viel. Er hatte tolle Freunde und Frauen, die ihm jede Nacht das Bett wärmten, wenn er wollte, und er lebte in einer Stadt, die er liebte. Weshalb sollte er sich elend fühlen?
»Hör auf damit«, bemerkte Riley, den Blick immer noch auf die Papiere gerichtet. »Ich kann die Rädchen in deinem Hirn bis hierher surren hören.«
Max verschränkte schnaubend die Arme. »Na schön. Dann behalte eben deine Geheimnisse.«
Riley blickte hoch. »Das werde ich auch.« Er konzentrierte sich wieder auf die Quittungen.
»Also, du bist heute ein bisschen spät aus der Mittagspause zurückgekommen«, merkte Max in ungezwungenem Ton an. Er versuchte es mit einer anderen Taktik. »Wer war sie denn?«
Riley stieß ein kurzes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf, dass es eine Sie war?«
»Weil du bei Frauen wie Obi-Wan Kenobi bist.«
»Kumpel«, tadelte Riley ihn mit einem Stirnrunzeln und schaute hoch. »Bitte. Ich bin Han Solo.«
»Was auch immer.« Max machte eine wegwerfende Handbewegung. »Also, wer war es?«
Seufzend fand sich Riley mit der Tatsache ab, dass er seinen Freund zu gut kannte. Er würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Carla.«
Max’ Augenbrauen schnellten hoch. »Die mit den Beinen? Die Buchhalterin?«
Riley nahm einen Bleistift vom Schreibtisch und kratzte sich damit den Nacken. »Jepp.«
Max lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Cool. Die ist heiß.«
Ja, das war sie definitiv. Und toll im Bett. Aber so gut es auch gewesen war, die leichte Anspannung, die sich in seinen Schultern eingenistet hatte, seit er aus diesem verdammten Traum aufgewacht war, war immer noch da. Sie drehte sich lachend, mit wirbelnden Farben und glänzend blondem Haar. Riley spürte, dass bei der Erinnerung an diese elenden pinkfarbenen Badeschuhe, die Lexie den ganzen Sommer lang getragen hatte, ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zu ziehen begann. Gott. Er rieb sich mit einem Finger über die Stirn. Sie waren acht Jahre alt gewesen, ohne einen Schimmer, was das Leben für sie bereithielt.
Und war das nicht traurig?
Riley wusste nicht mal, wo sie wohnte oder ob sie in Michigan, wo sie sich kennengelernt hatten, geblieben war. Zumindest hatte er sie da zuletzt gesehen, als er vor fünf Jahren zur Feier des dreißigsten Hochzeitstags seiner Eltern dort gewesen war.
Wieder zurück in New York und nachdem Lexie darauf bestanden hatte, er solle sich von ihr fernhalten und nie wieder mit ihr reden, hatte er sich darauf verlegt, alte Freunde nach ihr auszufragen, was denen ziemlich schnell auf den Senkel ging. Seit der Nacht, in der Riley sie weinend auf der Veranda ihrer Mutter zurückgelassen hatte, besaß er kein Recht mehr, sich um Lexie Pierce Gedanken oder Sorgen zu machen.
Diese Brücken hatte er hinter sich abgebrannt, und Gott wusste, dass sie nicht mehr zu reparieren waren. Zu vieles war gesagt und getan worden. Er hatte es zu oft verbockt und denen wehgetan, die er am meisten liebte.
Außerdem – Riley schnaubte leise, bevor er sich endlich auf die Zahlen vor ihm konzentrierte –, dass ein Kerl die Frau bekam, die er seit einundzwanzig Jahren liebte, kam höchstens in diesen furchtbaren Liebesschnulzen vor, die seine Mutter sich so gern ansah.
»Himmelherrgott noch mal, ich glaube, du hast mir die Rippen gebrochen!« Carter hob zum hundertsten Mal sein T-Shirt an, um den kreisrunden dunkelblauen Bluterguss zu zeigen, der sich hübsch unter seiner linken Brustwarze bildete. »Schau, was sie mit mir gemacht haben«, rief er der Kellnerin zu, die gerade Eiswasser in Tates Glas goss. Sie lachte und schüttelte den Kopf, bevor sie zum nächsten Tisch weiterging.
Der Bluterguss war das Ergebnis eines von Rileys Schüssen aus seiner Paintball-Gun, mit einem hammergeilen Hechtsprung durch die Luft wie Will Smith in Bad Boys, und Carter jammerte schon seit fast drei Stunden deswegen rum. Es sah verdammt schmerzhaft aus. Riley kriegte sich immer noch nicht ein vor Lachen.
»Hör auf, so ein Baby zu sein«, meinte Rileys Bruder Tate lachend neben ihm und stieß seinen Marine-Kumpel Steve amüsiert mit dem Ellbogen an. »Sonst kommt noch jemand auf die Idee, das würde wehtun.«
»Leck mich«, brummte Carter. Er ließ das T-Shirt fallen und verlagerte sich mit leidender Miene ein wenig auf dem Stuhl. Spöttisches Gejohle machte die Runde um den Restauranttisch, und Carter holte aus, um Riley einen Vergeltungsschlag zu versetzen.
»Ich habe auch blaue Flecken«, protestierte Riley, während er Carters Angriff abwehrte. »Dank diesem Wichser hier.« Er boxte Tate in den Oberarm.
»Betrachte es als Dankeschön«, lächelte Tate mit einem kleinen Schulterzucken.
»Wofür denn?«
»Dass ich es mit dir aushalte.«
»Ja, echt super.« Riley verdrehte die Augen und trank von seinem Bier. »Wie rücksichtsvoll von dir. Du hättest mir auch gleich noch den Schwanz mit einer glühenden Nähnadel piercen können, wenn du schon dabei warst.«
Tate zögerte keine Sekunde. »Ich hätte eine Gabel da«, sagte er und hielt sie hoch.
»Schon okay«, versetzte Riley. »Die kannst du behalten. Schieb sie dir in den Arsch, damit der Stock, den du da schon drin hast, nicht so einsam ist.«
»Herrgott«, beschwerte sich Max und fuhr sich übers Gesicht. »Ich hatte ganz vergessen, wie ihr zwei seid.«
Die beiden Brüder sahen Max an, als wäre er völlig durchgeknallt, und riefen einstimmig: »Was?«
Gelächter wogte um den Tisch. Um die Wahrheit zu sagen, Riley war mehr als nur ein wenig stolz darauf, dass sein Bruder ein paar Treffer gelandet hatte. Nachdem Tate damals im Einsatz von einem auf der Strecke platzierten Sprengsatz verletzt worden war, hatten Riley und seine Familie wochenlang nicht gewusst, ob er je wieder die Augen öffnen, geschweige denn einen Haufen Spinner auf einem Paintball-Gelände aufmischen würde. Für einen Kerl, der achtzig Prozent der Zeit am Stock gehen musste und ein genesender Schmerzmittelabhängiger war, hatte Tate es ihnen allen gehörig gezeigt.
»Pack Eis drauf und wirf ein paar Ibuprofen ein – dann geht es dir wieder gut«, sagte Tate zu Carter.
»Danke, Doc«, murrte Carter.
»Hey, sieh es mal so«, schlug Carters Arbeitskollege Ben von seinem Platz neben Max vor. »Es ist ein guter Vorwand, damit Kat sich um dich kümmert.«
Carter zeigte auf ihn. »Das ist wahr.«
»Bitte«, schnaubte Max verächtlich. »Sie wird einen einzigen Blick auf dich werfen, fragen, was passiert ist, und sich den Arsch ablachen.«
Jetzt wanderte Carters Finger zu Max. »Das ist auch wahr.« Er kicherte in sein Colaglas. »Aber es könnte mir ein paar Macho-Punkte einbringen, oder?«
Riley und Max wechselten einen zweifelnden Blick, was Carter noch heftiger lachen ließ. Gott, Riley liebte das hier. Die Männerabende hatten nicht lange nach Carters Junggesellenabschiedsparty in Vegas angefangen, und heute war besonders viel los – sie waren zu zehnt, einschließlich Paul und Cam von der Werkstatt. Die Teilnehmerzahl variierte, je nachdem, wer Zeit hatte, aber Riley, Max, Carter und Tate versuchten, wenigstens einmal alle zwei Monate zusammenzukommen.
Trinken und durch die Clubs ziehen standen wegen Max’ und Tates noch andauernder Genesung von ihren Suchterkrankungen nicht auf der Liste möglicher Aktivitäten, aber das war unwichtig. Sie spielten Paintball, gingen bowlen oder einfach nur zusammen essen. Wichtig war, dass sie Zeit miteinander verbrachten, Spaß hatten, ihre Freundschaft zusammenschweißten und sich über das Leben, die Arbeit und Frauen ausließen. Nicht dass Riley zu Letzteren viel beizutragen hätte – er und Tate waren inzwischen die einzigen Singles in ihrer regulären Gruppe. Aber das hinderte beide nicht daran, großzügig die Beziehungen aller anderen zu kommentieren.
»Also, kommt ihr Jungs immer noch zu Grace’ Kunstausstellung dieses Wochenende?«, fragte Max, bevor er einen Riesenbissen von seinem Bacon-Cheeseburger nahm. Seine Freundin Grace war Fotografin, die in der Kunstwelt viel Aufmerksamkeit genoss.
Riley nickte. »Hab schon meine Eintrittskarte und alles.«
»Klar«, bemerkte Carter, während Ben zur selben Zeit den Daumen nach oben hielt. Carters Blick flog hinüber zu Riley. »Wen bringst du diesmal als Date mit, Moore?«
»Die Latina?«, fragte Paul eifrig, die grauen Augen weit aufgerissen.
»Nee, Mann, die, die mal ein Victoria’s-Secret-Model war«, warf Cam ein und hüpfte regelrecht auf seinem Stuhl auf und ab.
Riley schmunzelte. »Ich bringe die mit, die das Glück hat, ausgesucht zu werden.«
Carter schüttelte den Kopf, während Tate an seiner Seite etwas vor sich hin brummte. Riley warf seinem Bruder den Arm über die Schulter und drückte ihn. »Ach, komm schon, nicht neidisch sein. Ich kann teilen.«
Tate schüttelte ihn ab. »Das Einzige, was du verteilst, sind Geschlechtskrankheiten. Ich hoffe inständig, dass du den Lümmel eintütest.«
»Immer«, gab Riley zurück. Er warf sich eine Pommes in den Mund.
»Er allein sorgt schon dafür, dass die Kondom-Industrie nicht pleitegeht«, warf Max mit lachenden braunen Augen ein.
Riley legte gespielt ernst den Kopf schief. »Oh, schau an, wer da seit gerade mal fünf Sekunden in einer monogamen Beziehung ist und sich jetzt für die Jungfrau Maria hält.« Er duckte sich, um dem Ketchuptütchen auszuweichen, das ihm entgegenflog, und zeigte mit dem Finger über den Tisch. »Gewalt ist nie die Lösung.«
»Ja, aber damit fühle ich mich besser«, erwiderte Max und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Ich auch«, bemerkte Tate, bevor er Riley einen Schlag auf den Hinterkopf gab. Als Riley Anstalten machte, zurückzuschlagen, hob Tate abwehrend die Hand. »Ah, ah. Denk nach, bevor du einen Krüppel schlägst.«
Riley stieß ein kurzes Lachen aus und schubste seinen Bruder stattdessen. »Schöner Krüppel.«
Tate grinste, dann griff er in seine Tasche und zog sein vibrierendes Handy hervor. Beim Blick auf das erleuchtete Display runzelte er die Stirn. Er schob seinen Stuhl zurück, griff nach seinem Gehstock und hob das Handy ans Ohr, während er aufstand. »Hey, Mom.«
Während Riley sein Bier trank, sah er seinem Bruder zu, wie der zum Eingang des Restaurants ging, wo er sie vermutlich besser verstehen konnte. Eine eigenartige Sorge schnürte ihm kurz die Kehle zu. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre Mutter anrief – im Gegenteil, sie rief jeden ihrer Söhne mindestens einmal, manchmal zweimal die Woche an. Aber irgendetwas an der Uhrzeit – es war beinahe neun Uhr an einem Wochentag – ließ Riley die Nackenhaare zu Berge stehen.
»Alles okay?«, fragte Carter leise.
Riley nickte, die Augen immer noch auf Tate gerichtet. »Klar.«
Als sein Bruder jäh stehen blieb und die Schultern straffte, wusste Riley sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Angst bestätigte sich, als Tate sich mit gerunzelter Stirn umdrehte und sein besorgter Blick um Kellnerinnen und andere Gäste herum nach Riley suchte. Rileys Magen sank ihm in die Kniekehlen, und er stand so schnell auf, dass sein Stuhl über den Holzfußboden scharrte, während Tate immer noch telefonierend zum Tisch zurückkam.
»– das hat der Arzt gesagt?«
»Arzt?«, fragte Riley, während er die zusammengeknüllte Serviette auf seinen halb vollen Teller warf. »Was zum …?«
Tate schüttelte den Kopf, um Rileys Fragen zu unterbrechen. »Nun, das ist die übliche Vorgehensweise. Ja. Und seine Werte?« Er runzelte die Stirn und schluckte. »Ist Seb da?«
Riley holte seine Brieftasche hervor und ließ ein paar Zwanziger auf den Tisch fallen, um die beiden Essen zu bezahlen, die sie kaum angerührt hatten.
Carter und Max standen ebenfalls auf, mehr als bereit, den beiden in jeder Hinsicht zu helfen. Tate mochte mit Riley blutsverwandt sein, aber das hieß nicht, dass die beiden Männer an seiner Seite weniger seine Brüder waren.
Tate rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Ja, Mom, wir werden da sein. Halte einfach durch, okay? Wir nehmen so schnell wie möglich einen Flug.«
Carter zog sein Handy aus der Tasche.
»Was ist los, verdammt?«, fragte Riley seinen Bruder, sobald Tate den Anruf beendet hatte.
Tate seufzte. »Dad hatte noch einen Herzinfarkt.«
Zitternd stieß Riley den Atem aus, und seine Brust wurde ganz eng. »Scheiße. Ist es schlimm?«
Aufmerksam musterte Riley Tates Gesicht und bemerkte, wie der Mediziner in ihm sich regte und an die Oberfläche kam. »Sie bringen ihn gerade in den OP«, antwortete er.
Riley entging nicht, dass sein Bruder die Frage nicht beantwortet hatte.
»Seb ist schon da«, fügte Tate hinzu. Ihr jüngerer Bruder war also informiert. »Wir müssen einen Flug kriegen.«
Carter, das Handy am Ohr, hob die Hand und bedeutete ihnen, langsam zu machen und zu warten. »Ja, zwei Passagiere«, sagte er zu wem auch immer am anderen Ende der Leitung. »Sobald der Vogel bereit ist. Ja. Direkt nach …« Eine Augenbraue fragend hochgezogen, sah er Riley an.
»Cherry Capital Airport, Traverse City«, sagte Tate, bevor er sich wieder an Riley wandte. »Er ist in Munson. Das sind fünfzehn Minuten mit dem Taxi.«
Riley nickte, während Beklemmung und Hilflosigkeit durch ihn hindurchströmten. Das war ungewohnt, und um ehrlich zu sein, machte es ihm eine Scheißangst. Sein Vater. Im Krankenhaus. Rileys Beziehung zu seinem Dad war seit seinem Abstecher in den Knast bestenfalls angespannt, und der Gedanke, ihn zu verlieren, bevor Riley ihre Differenzen wirklich wieder aus der Welt schaffen konnte, erfüllte ihn mit Panik. Er holte tief Luft und schloss die Augen. Was zum Teufel würde er tun, wenn seinem Vater etwas zustieß? Seine Mutter wäre am Boden zerstört. Das hier war der zweite Herzinfarkt in zwei Jahren, und die Ärzte hatten beim letzten Mal gesagt, dass …
Er presste sich eine Hand an die Stirn und räusperte sich, um sich ein wenig zu beruhigen.
Carter beendete das Gespräch und klopfte mit dem Handy gegen seine Handfläche. »Der Firmenjet wird in ungefähr neunzig Minuten für euch bereitstehen.«
Überwältigt vor Dankbarkeit starrte Riley seinen Freund an, bevor er ihm eine Hand auf die Schulter schlug. »Danke, Mann.«
»Was immer ihr braucht.«
»Komm schon«, drängte Tate. Er ging um die beiden Männer herum und machte sich auf den Weg in Richtung Ausgang. »Wir haben noch Zeit, ein paar Sachen aus deiner Wohnung zu holen, bevor wir aufbrechen. Wir gehen zu Fuß. Das geht schneller, als zu versuchen, ein Taxi zu bekommen.«
Riley nahm seine Jacke von der Rückenlehne seines Stuhls. »Besorg ein Taxi, Tate – dein Bein verkraftet die Entfernung nicht.« Er ignorierte den durchbohrenden Blick, den sein Bruder zu ihm zurückschoss. Dagegen war er immun. »Wir haben genug Zeit«, fügte er besänftigend hinzu. Er wollte in Gegenwart anderer nicht auf die Behinderung seines Bruders hinweisen, aber manchmal war der Arsch einfach sturer, als gut für ihn war.
Tate seufzte und kniff die Lippen zusammen, sein universelles Signal für »Über den Scheiß sprechen wir später«, und setzte sich wieder in Bewegung. Er stieß die Tür auf und trat hinaus auf die Straße.
Riley folgte ihm rückwärtsgehend, während er mit den Jungs sprach, die sich von ihren Stühlen erhoben hatten. »Ich rufe euch an, wenn wir angekommen sind.« Er sah Carter an. »Danke noch mal. Max, Kumpel, ich bin nicht dazu gekommen – die Geschäftszahlen müssen …«
»Geh.« Max zeigte in die Richtung, in die Tate verschwunden war. »Das ist schon okay. Ich kümmere mich darum.«
Riley nickte, drehte sich um und stieß die Tür des Restaurants auf. Draußen hielt gerade das Taxi am Bordstein. Tate öffnete die Wagentür und schaute sich zu seinem Bruder um. Einen kurzen Moment lang hielt er inne, und sein Blick, sonst immer so sicher und bedacht, flackerte vor Angst. Es traf Riley eiskalt. Das einzige andere Mal, dass Riley Tate so gesehen hatte, war an dem Morgen gewesen, als Tate aus dem künstlich herbeigeführten Koma aufgewacht war, in das ihn die Ärzte versetzt hatten, um die schrecklichen Verletzungen zu behandeln, die er im Einsatz erlitten hatte.
»Scheiße«, stieß Riley hervor. »Was, wenn – ?«
»Nicht«, unterbrach Tate ihn so ruhig, dass es Riley an die Zeit erinnerte, als sie noch Kinder waren. Er legte Riley eine Hand auf die Schulter.
»Tate, Mann.« Riley schaute zum Himmel. »Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen seit …«
Gott, es war schon fast drei Jahre her. Seit dem Herbst nach Rileys Entlassung aus Kill, um genau zu sein. Es hatte hitzige Wortgefechte gegeben, dann Schweigen, was vermutlich noch schlimmer war als das enttäuschte und wütende Gift, das die Lippen seines Vaters ausgespuckt hatten. Als er vor zwei Jahren den ersten Herzinfarkt gehabt hatte, war Riley ins Krankenhaus gefahren und bei seiner Mutter geblieben, bis sein Vater das Bewusstsein wiedererlangt hatte, aber sie hatten nicht miteinander gesprochen. Sein Vater war immer noch zu wütend auf Riley gewesen, um ihn auch nur anzusehen. Da Riley wusste, was Park Moore für ein Mann war und dass er vor sich hin brüten und sich in seinem eigenen Tempo mit der Enttäuschung abfinden musste, hatte er einfach den Mund gehalten und sich mit eingezogenem Schwanz getrollt.
»Komm schon.« Tate gestikulierte in Richtung Taxi. »Wir müssen los. Es wird schon alles gut werden.«
Riley hoffte, dass sein Bruder recht hatte, denn wenn er wirklich ehrlich war, dann war es nicht nur der Gedanke, seinen Vater wiederzusehen, der sein Herz schneller hämmern ließ.
Einundzwanzig Jahre zuvor …
Er hatte sie drei Tage lang beobachtet, bevor sie mit ihm redete.
Vor Kurzem hatte er die zweite Klasse hinter sich gebracht, und es waren Sommerferien. Jeden Tag erzählte er seinen Eltern, er würde in den Park gehen, der fünf Minuten entfernt lag und der einzige Ort war, an den er ohne seine Brüder gehen durfte, aber »nicht länger als eine halbe Stunde«. Dann radelte er zu ihrem Haus, wo er an seinem Platz neben einem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, das Fahrrad zwischen den Knien, und beobachtete, wie das faszinierende blonde Mädchen in ihrem Vorgarten herumtanzte.
Sie hatte einen Hund und eine kleine Schwester, mit der sie oft spielte. Es sah aus, als würden sie sich wirklich gut vertragen, was Riley verwirrte, da er und seine Brüder ständig stritten und miteinander rangelten. Besonders er und Dex. Dex war der älteste und dachte, er könne Riley, Tate und Seb herumkommandieren. Seb nannte Dex einen Vollpfosten. Beim letzten Mal, als er das getan hatte, hatte Mom es gehört und ihm ein Wochenende Hausarrest aufgebrummt. Daraufhin hatten sie gelernt, dass Flüstern oder Handzeichen eine viel sicherere Methode waren, ihren Bruder zu beleidigen.
Heute hatte das Mädchen eine Wasserpistole, mit der sie auf Bäume und Blätter zielte, bevor sie sich auf die Hängepflanzen vor der Eingangstür verlegte. Und sie war eine gute Schützin. Viel besser als er. Sie pumpte die Pistole auf, legte den Kopf schief, kniff ein Auge zu, streckte die Zunge heraus und feuerte, und jedes Mal, wenn sie ins Schwarze traf, zog sie den Arm mit geballter Siegerfaust zum Körper.
Er hatte eine Wasserpistole zu Hause und fragte sich, ob es ihr wohl etwas ausmachen würde, wenn er mitmachte. Er war gerade damit beschäftigt zu überlegen, wie er zu ihr gehen und sie fragen sollte, wobei er sich wunderte, warum er dabei ein komisches Gefühl im Bauch bekam, als er bemerkte, dass sie aufgehört hatte zu schießen und ihn von der anderen Straßenseite her anstarrte, die Hand über den Augen, um sich gegen die Sonne abzuschirmen.
Er erstarrte wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht und fing an, an den Griffen seines Fahrrads herumzufummeln. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie in seine Richtung losging, an der Bordsteinkante anhielt, ohne sie zu übertreten, und die Hände in die Hüften stemmte.
»Hey, du!«, rief sie, die Wasserpistole kopfüber an der Seite, wodurch Wasser an ihrem Bein hinuntertropfte. »Hey, Junge!«
Er sah hoch, die Zunge völlig verknotet, und seine Augen flogen umher, bevor er fragend auf sich zeigte.
»Ja, du. Hast du dich verlaufen?«
Ihm fiel auf, wie laut ihre Stimme war, trotz ihrer Größe. Er schüttelte den Kopf.
»Hast du kein Zuhause?«
Er runzelte die Stirn und schüttelte wieder den Kopf.
»Bist du ein Spinner?« Als er verdutzt blinzelte, lächelte sie. »Wohnst du in diesem Baum? Du bist nämlich ziemlich oft hier.«
Seine Wangen loderten vor Scham. Es war nicht so, als habe er versucht, sich zu verstecken, aber dass sie ihn bemerkt hatte, sorgte dafür, dass er sich ein bisschen dumm vorkam.
»Spielst du gern mit Wasserpistolen?« Sie stemmte die Pistole in die Hüfte. Alles, was ihr noch fehlte, um den Look zu vervollständigen, war ein Cowboyhut.
Diesmal nickte er.
»Kannst du reden?«
Er hielt den Mund geschlossen und nickte wieder.
»Darfst du über die Straße?«
Er warf einen Blick die Straße entlang, weil er wusste, dass er es eigentlich nicht durfte, aber es war ruhig, niemand war in der Nähe. Er nickte.
»Na, dann steh nicht einfach so rum. Komm spielen!« Sie hob die Pistole und schoss. So mächtig die Pistole auch wirkte, das Wasser streifte nur die Spitze seiner Sandale und spritzte auf seine Zehen.
Er lächelte breiter und schob das Fahrrad über die Straße zu ihr. Als er näher kam, erkannte er, wie hell ihre Augen waren, wie der Sommerhimmel über ihnen, und dass ihr Haar nicht einfach nur blond war, sondern weiß und golden und schimmernd wie der Teich in ihrem Garten. So etwas hatte er noch nie gesehen.
An einem ihrer Arme sah er etwas, das wie ein Tattoo in Form einer Blume aussah, und am anderen Arm eine pinkfarbene Katze. Wie hatte sie ihre Eltern dazu überredet?
Für einen kurzen Moment starrte sie ihn an, dann zeigte sie mit einem Nicken auf sein Batman-T-Shirt, anscheinend erfreut. »Also, hast du auch einen Namen, oder soll ich dich Batman nennen?«
Er hustete leise, bevor er sprach. »Riley.«
Sie lächelte und zeigte dabei zwei Lücken in ihrer unteren Zahnreihe. »Hi, Riley. Ich bin Lexie.«
In den nächsten zwei Wochen sah Riley Lexie so ziemlich jeden Tag. Er schoss mit ihr auf Aliens und lernte alles, was es über das fantastische Teleskop zu wissen gab, das sie auf ihrer Veranda hinter dem Haus hatte. Seiner Mom versicherte er, dass der Park wirklich unglaublich toll war, und fragte sie, ob er bitte, bitte jede Minute dort verbringen durfte, weil er schon acht und ganz vernünftig war.
Seine Mom stand an der Küchenspüle und wischte sich die Hände an einem gestreiften Geschirrtuch ab. Interessiert zog sie eine Augenbraue hoch.
»Was genau gefällt dir denn so an diesem Park, Riley?«, fragte sie mit einem leichten Lächeln.
»Da, ähm, ist es lustig«, bot er an und scharrte mit dem Zeh über den Linoleumfußboden. »Viele meiner Freunde sind da.«
»Und Mädchen.«
Riley fuhr herum, um einen Todesblick auf seinen Bruder Tate zu schleudern, der aus dem Nichts aufgetaucht war und über Rileys Gesichtsausdruck nur lachte.
»Sind da Mädchen?«, fragte seine Mutter, eher aufmerksam als neckend.
Rileys Wangen wurden ganz heiß, und er zog am Saum seines Superman-Shirts. »Nein.«
»Er geht gar nicht in den Park«, fügte Tate hinter ihnen hinzu, den Mund voll Erdnussbutter, die er direkt aus dem Glas löffelte. »Ich bin ihm nachgegangen. Er hängt bei einem Baum in der Wick Avenue rum.«
Riley drehte sich zu seinem großmäuligen Bruder um und schubste ihn heftig. »Halt die Klappe!«
»Riley«, schalt ihn seine Mutter. Sie scheuchte Tate fort und hielt Riley am Ellbogen fest. »Geschubst wird nicht, junger Mann.«
Schnaubend schüttelte Riley sie ab. Während sie Tate die Erdnussbutter wegnahm, stampfte er beleidigt zum Küchentisch, wo er einen Stuhl zu sich zog und sich darauf fallen ließ. Das war echt kacke. Jetzt, da sein Geheimnis raus war, wusste er, dass seine Mutter ihm entweder Hausarrest aufbrummen oder ihm verbieten würde, wieder zu Lexie zu gehen. Bei dem Gedanken zog sich sein Magen zusammen.
Seine Mutter setzte sich ihm gegenüber und faltete die Hände auf dem Tisch. »Also«, sagte sie leise. »Willst du mir erzählen, was an der Wick Avenue so interessant ist?«
»Nein«, murmelte Riley in seinen Schoß.
»Bist du sicher?«
Riley stieß schwer den Atem aus. »Da ist nichts.«
»Hört sich aber nicht anwie nichts. Hört sich ziemlich interessant an, wenn du jeden Tag hingehst.«
Als Riley zu seiner Mutter hochschaute, sah er, dass ihre grünen Augen weich waren und ein kleines Lächeln um ihre Lippen spielte. Sie griff in die Obstschale zwischen ihnen, zupfte zwei Weintrauben von den Stielen und gab Riley eine davon. Er nahm sie und warf sie in den Mund. Grün und kernlos. Wie er sie am liebsten mochte.
»Ich … bin mit jemandem befreundet, der da wohnt«, murmelte er, das Kinn an die Brust gedrückt. Er konnte die Hitze spüren, die in seinem ganzen Gesicht pulsierte.
»Ein Freund?«, wiederholte seine Mutter. »Wie heißt er denn?«
Riley zappelte verlegen. »Sie heißt Lexie.«
Seine Mutter blieb stumm, dann reichte sie ihm noch eine Traube. »Das ist ein hübscher Name.«
Überrascht schaute Riley hoch. »Ja«, sagte er. »Das ist sie. Ich meine, das ist er. Hübsch. Ihr Name.«
Sie lachte, offenbar amüsiert über sein Unbehagen. Sie streckte die Hand aus und wuschelte ihm vorne durchs Haar. »Es ist toll, dass du eine neue Freundin gefunden hast. Aber ich will nicht, dass du allein zur Wick Avenue gehst. Das ist ein langer Weg, und auf der Straße kann ziemlich viel Verkehr sein.«
Riley schluckte heftig. Er hatte schon geahnt, dass das passieren würde, trotzdem machte es ihn traurig. Wie sollte er Lexie wiedersehen?
»Wenn du das nächste Mal hin willst, dann fahre ich dich.«
Rileys Kopf schnellte hoch. »Wirklich?«
»Wirklich.«
Riley sprang von seinem Stuhl auf und stolperte beinahe, weil sich seine Füße in den Stuhlbeinen verhedderten. »Können wir jetzt gleich hinfahren?«
»Jetzt gleich?«
»Ja. Ich hab gesagt, dass ich sie heute besuche. Da gibt es eine wichtige Weltraummission, aber dafür brauchen wir ein Raumschiff. Lexie kennt jeden Planeten mit Namen und sogar ein paar Sterne. Wusstest du, dass Sterne Namen haben? Sie hat sie mir durch ihr Teleskop gezeigt. Also bauen wir hinter ihrem Haus im Waldein Raumschiff. Wir gehen aber nicht zu weit rein, weil ihre Mom gesagt hat, dass wir das nicht dürfen, aber ihr Dad hat uns ein bisschen Holz zugeschnitten, das wir nehmen können, solange er uns helfen darf, obwohl er mich immer nur ›dieser Junge‹ nennt statt bei meinem Namen, also wollen wir heute damit anfangen.«
Seine Mutter lachte wieder. »Ein Raumschiff für eine wichtige Mission, was?«
»Ja! Lex ist der Pilot. Ich bin der Kopilot, aber ich bin trotzdem Han Solo.«
»Na, warum hast du das nicht gleich gesagt? Raumschiffe sind eine wichtige Angelegenheit.«
»Ich weiß!«, pflichtete Riley ihr bei, erleichtert darüber, dass seine Mutter verstand, wie dringend es war.
»Dann lass uns gehen.«
Riley schämte sich nicht allzu sehr, als ihr Wagen vor Lexies Haus hielt, aber er hätte sich gern verkrochen, als seine Mutter darauf bestand, Lexies Mom Christine kennenzulernen, bevor sie wieder fuhr. Er stand im Vorgarten, Lexie an seiner Seite, während die beiden Frauen murmelnd miteinander redeten und über etwas kicherten, das sie beide äußerst witzig zu finden schienen. Dabei sahen sie ihn und Lexie auf eine Weise an, dass er am liebsten das Gesicht in den Händen versteckt hätte.
»Vielleicht kann Riley zum Abendessen bleiben?«, platzte Lexie heraus, worauf ihm vor Überraschung beinahe der Kopf von den Schultern purzelte. Sie warf einen schnellen Blick zu ihm rüber und trat von einem Fuß auf den anderen. »Was denn?«, flüsterte sie. »Willst du nicht?«
Er wollte. Er wollte auf jeden Fall. Das Einzige, was er bisher vom Inneren ihres Hauses gesehen hatte, waren die Küche und das Bad im Erdgeschoss. Der Gedanke, mehr zu sehen, war irgendwie aufregend. Und mehr Zeit mit Lexie zu verbringen, konnte nur gut sein.
»Ich finde, das wäre schön«, stimmte Christine mit einem Lächeln zu, das sich im Gesicht von Rileys Mom spiegelte. »Okay, Riley?«
»Ja«, antwortete er schnell. Er schaute zu Lexie und sah, dass sie grinste. »Ja.«
»Können wir jetzt gehen?« Lexie hüpfte regelrecht auf der Stelle, dann packte sie Riley am Ärmel und zog ihn von ihren Müttern fort. »Wir haben eine Mission zu erfüllen!«
»Ich bin um sieben wieder hier, um dich abzuholen«, rief Rileys Mom ihm hinterher, aber er antwortete nicht. Er winkte ihr nur über die Schulter zu, während er neben Lexie zur Rückseite des Hauses rannte.
Der Jet, den Carter für Riley und Tate organisiert hatte, war verdammt schick. Cremefarbene Ledersitze, zwanzig an der Zahl. Voll ausgestattete Bar, Mahagonitische, Flachbildfernseher und eine süße Stewardess, die jedes Mal kichernd errötete, wenn Riley um einen Drink bat. Er hätte sich gern zurückgelehnt und ihren Anblick in der Uniform genossen, aber ehrlich gesagt war er viel zu abgelenkt.
Nachdenklich schlürfte er seinen Bourbon aus einem Kristallglas. Es war zwei Jahre her, seit er zum letzten Mal zu Hause gewesen war. Er wusste, er hätte schon eher zurückkommen sollen, und er wünschte, er wäre nicht so ein Feigling, aber verdammt, so war das Leben nun mal. Das Flüstern der Schuldgefühle, das sich beim Anruf seiner Mutter bemerkbar gemacht hatte, dröhnte nun wie ein Kampfjet in seinem Schädel. Riley fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und ließ den Kopf zurück auf die Lehne sinken, während das Flugzeug von Turbulenzen geschüttelt wurde.
Tate warf einen Blick zu ihm hinüber. »Dad kommt wieder in Ordnung, Ri.« Seufzend rieb er sich das schlimme Knie. »Grübel nicht. Das passt nicht zu dir.«
Durchs Fenster blinkte das Licht am Ende der rechten Tragfläche unablässig weiter. »Ich grüble nicht«, erwiderte Riley. »Ich mache mir Sorgen.«
»Ich auch, Mann. Ich auch.«
Knapp neunzig Minuten später hasteten sie durch den Haupteingang des Munson Medical Center, wo Tate einer Schwester hinter dem Anmeldepult ein paar medizinisch klingende Worte und den Namen ihres Vaters zuwarf.
»Ihr Vater ist noch im OP«, sagte sie ihnen schließlich, nachdem ihre Nägel klickend über die Computertastatur geflogen waren. »Sie können hoch in den Familienraum im dritten Stock gehen. Der Doktor wird dort zu Ihnen kommen.«
Ihre Mutter wartete in dem Zimmer.
Riley vergötterte seine Mom. War er ein Muttersöhnchen? Vermutlich, aber das war ihm scheißegal. Es war eine Bezeichnung, die er mit Freuden trug. Joan Moore war und würde immer eine Naturgewalt sein. Die einzige Frau in einem Haus mit vier wilden Jungs und einem Mann zu sein, der sehr lange Arbeitstage hatte, wäre für jeden eine Herausforderung, aber sie hatte es immer geschafft, es leicht aussehen zu lassen.
Riley konnte sich nicht erinnern, dass er sie jemals gestresst oder unglücklich gesehen hätte, und die wenigen Male, als sie ihn, seine Brüder oder seinen Dad angeschrien hatte, konnte er an einer Hand abzählen. Sie besaß ein unendliches Maß an Geduld und Optimismus, von dem sie großzügigen Gebrauch machte, um Riley und seine Brüder im Zaum zu halten. Und es funktionierte. Obwohl der ordnende Teil stets sein Vater Park gewesen war, hatte sich Riley immer bemüht, seine Mutter nicht zu enttäuschen.
Nie würde er den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen, als sie ihn zum ersten Mal in Arthur Kill besucht hatte. Es hatte ihm das Herz entzweigerissen. Obwohl Riley ihre ein Meter fünfundsechzig schon überragte, seit er sechzehn war, hatte Joans offenkundige Enttäuschung ihn zu einem daumengroßen Wicht schrumpfen lassen, der diesen Ausdruck in ihren Augen nie wieder sehen wollte.
»Mom?«, fragte er von der Tür her.
Rasch blickte sie hoch, die grünen Augen müde und gerötet. Bei dem Gedanken daran, dass sie geweint hatte, regte sich ein heftiger Beschützerinstinkt in Riley, und er überwand den Abstand zwischen ihnen so schnell wie möglich. Dann zog er sie an sich und in eine enge Umarmung, während Tate, der es nicht so mit Umarmungen hatte, sich zurückhielt. Joans Kopf passte unter Rileys Kinn, und der vertraute Duft des süßen Parfums in ihrem aschblonden Haar ließ Riley die Augen schließen. Sie lag so klein und verletzlich in seinen Armen, und das machte ihm Angst.
»Oh, Riley«, murmelte sie in seine Brust.
Riley beruhigte sie mit einem sanften Schh und drückte sie noch enger an sich. »Es ist okay, Mom. Er kommt wieder in Ordnung.«
»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte Tate neben ihnen in einem seltenen Ausbruch.
Joan hob den Blick und ließ Riley los, um eine Hand auszustrecken und Tates Unterarm zu drücken. »Er hat das Dach dieses verdammten Anbaus repariert.«
Riley und Tate schnaubten.
»Ich habe ihm gesagt, dass das eine dumme Idee ist«, fuhr sie fort. Sie rieb sich die Handflächen an der Jeans und setzte sich wieder. »Aber ihr wisst ja, wie er sein kann.«
»Der sture alte Kauz«, bemerkte Tate kopfschüttelnd. »Wo war Seb?«
»Er war kurz weg, um was fürs Abendessen zu besorgen, und kam zurück, als euer Vater gerade in den Krankenwagen geladen wurde.«
Riley setzte sich auf den Platz neben seiner Mutter. »Hat Dad es noch geschafft, vom Dach runterzukommen, bevor er …?«
»Nein.« Joan befeuchtete die Lippen und presste sie zusammen. »Ich hörte ihn schreien und dann einen lauten Aufprall. Er ist auf dem Rasen gelandet, aber es war trotzdem ein Sturz aus drei Metern. Er hat sich den Kopf aufgeschlagen, und … ich habe sofort den Notruf gewählt.« Ihre Stimme zitterte, bevor sie sich eine Hand vor den Mund legte.
»Der Arzt sagt, sie haben vor, ihm einen Stent in die Herzklappe einzusetzen?« Fragend sah sie Tate an, der nickte. »Aber sie wissen nicht, wie schwer sein Herz geschädigt ist.«
Tate setzte sich an ihre andere Seite und legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich bin sicher, es geht alles gut«, sagte er. »Sie haben ihn schnell hergebracht. Heutzutage gibt es so viel, was man für das Herz tun kann.«
»Ich weiß, aber sie sind besorgt … Es ist noch nicht lange her, seit …«
Riley biss die Zähne zusammen. Er hasste das Zittern in der Stimme seiner Mutter. Sie so mutlos zu sehen, war ebenso fremd wie furchteinflößend. Er wünschte, er könne etwas sagen, um sie aufzumuntern, aber er wusste nicht, was. Selbst Tate, stets der Ruhige und Objektive, sah ängstlicher aus, als er es sich für gewöhnlich anmerken ließ.
»Hey, Leute.« In der Tür, zwei Becher Automatenkaffee in den Händen, stand Seb. Riley hatte seinen kleinen Bruder seit sechs Monaten nicht mehr gesehen, zum letzten Mal, als Seb an Weihnachten von Chicago nach New York geflogen war, und er sah ebenso müde aus, wie Riley sich fühlte. Er ging zu ihnen, reichte Joan einen der Becher und nahm bereitwillig die Umarmung an, die Riley ihm anbot. Obwohl er professioneller Fitnesstrainer mit eigenem Studio war und eine Statur wie ein Rugbyspieler hatte, fehlten ihm noch einige Zentimeter zu Rileys ein Meter achtundachtzig, was ihm stets einen Vorteil verschaffte, wenn sie rauften.
»Hey, Mann.« Riley klopfte seinem Bruder auf den Rücken.
»Hey.« Seb trat zurück, die breiten Schultern verkrampft. Seine graublauen Augen wirkten trüb, er war unrasiert und sein braunes Haar so lang geworden, dass er es im Nacken in einem kleinen Knoten trug.
Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte Riley ihn gnadenlos damit aufgezogen, solche Mädchenhaare zu haben. Aber so hielt er den Mund und sah zu, wie Seb Tate mit Handschlag begrüßte und fragte: »Irgendetwas Neues?«
Joan schüttelte den Kopf und drückte den Kaffeebecher enger an die Brust.
»Also, das ist doch scheiße«, bemerkte Seb, bevor er an seinem Kaffee nippte. Er verzog das Gesicht und sah angewidert auf seinen Becher hinunter. »Genauso wie der Mist hier.«
Die Stühle im Warteraum waren ein chiropraktischer Albtraum, was zur Folge hatte, dass alle vier in den nächsten zwei Stunden jede Menge auf und ab liefen. »Habt ihr von Dex gehört?«, fragte Riley, während er eine Anschlagtafel voller Flyer betrachtete.
»Er ist geschäftlich in Thailand«, antwortete Joan. Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe ihn angerufen, aber mit der Zeitverschiebung …«
Rileys ältester Bruder Dex reiste um die Welt, um an Computern herumzuschrauben und damit ein Vermögen zu verdienen. Er war ein Hacker oder … irgend so was in der Art. Wenn man Riley fragte, war er einfach nur ein besserer Computernerd.
Es dauerte weitere zwei Stunden, bis sich die Tür zum Warteraum öffnete und Riley und Seb aus einem unruhigen Halbschlaf hochschrecken ließ. Der Arzt trug immer noch seine grüne OP-Kleidung, die obligatorische Gesichtsmaske baumelte um seinen Hals. Er lächelte knapp, was den grau melierten Schnurrbart auf seiner Lippe zucken ließ. Bei seinem Anblick wechselte Riley in weniger als drei Sekunden von benommen zu hellwach. Er kam rasch auf die Füße und legte seiner Mutter eine Hand auf die Schulter, um sich an ihr sowie an seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit festzuhalten, sollten es schlechte Nachrichten sein.
»Mrs Moore«, sagte der Arzt. »Mein Name ist Dr. Fitz. Ich habe Ihren Mann operiert.« Er warf einen Blick auf Riley und seine Brüder.
»Schon in Ordnung.« Joan wies um sich. »Das sind meine Söhne. Wie geht es Park?«
Der Arzt verschränkte die Arme, und Rileys Lungen zogen sich zusammen. Scheiße.
»Er ist auf der Intensivstation. Die Operation ist gut verlaufen. Ich konnte den Stent einsetzen und die Herzklappen überprüfen, die in Ordnung zu sein scheinen, aber sein Herz ist sehr schwach. Trotz Mr Moores körperlicher Fitness sind zwei Herzinfarkte in ebenso vielen Jahren viel für einen Mann von zweiundsechzig.«
»Kann ich ihn sehen?«, fragte Joan sofort.
Der Arzt seufzte leicht. »Ja, aber nur für zehn Minuten. Der Patient braucht Ruhe.«
Joan stand auf und nahm ihre Jacke und Handtasche. Riley wartete darauf, dass jemand anderes etwas sagte, während sein Puls in seinen Ohren pochte. Er schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken, um das Pochen zu lindern. Tate sprach als Erster und stellte dem Arzt Fragen, die Riley nicht wirklich verstand, aber trotzdem zu schätzen wusste. Nicht dass sie seine Sorge irgendwie linderten. Er hatte den Arzt laut und deutlich gehört: Sein Dad war noch nicht über den Berg.
Als er die Augen wieder öffnete, waren der Arzt und seine Mutter fort.
»Also, was jetzt?« Seb schob die Hände in die Taschen seiner Jeans.
»Wir warten auf Mom und fahren dann nach Hause«, antwortete Tate und hob eine Hand, als Riley den Mund öffnete, um zu protestieren. »Es gibt nichts, was wir noch tun können. Er ist in den besten Händen. Wir können gleich als Erstes morgen früh wieder herkommen. Wir brauchen alle ein bisschen Schlaf.«
Riley schaute auf seine Armbanduhr, um festzustellen, dass es fast fünf Uhr früh war, und dann zu Seb, der mit den Schultern zuckte. »Also gut«, antwortete Riley und fühlte sich mit einem Mal wirklich verdammt müde. »Also gut.«
Achtzehn Jahre zuvor …
Lexies Mom Christine öffnete die Tür und lächelte. »Hi, Riley. Wie war’s in der Schule?«
Statt zu antworten, schaute er über ihre Schulter zur Treppe, die zu Lexies Zimmer hinaufführte. Christine öffnete die Tür weiter, um ihn hereinzulassen.
Riley trat ein, stellte seine Schultasche wie immer an der Garderobe neben den Ranzen von Lexie und streifte seinen Mantel und die Januarkälte ab. »Geht es ihr schon besser?«
Lexie war seit drei Tagen nicht in der Schule gewesen, und das war, wie Riley zugeben musste, echt scheiße. Sein Schulweg und die Mittagspausen verliefen jedenfalls sehr ruhig. Und langweilig. Er war nicht zu cool, um einzugestehen, dass sie ihm fehlte.
»Sie war seit dem Mittagessen nicht mehr unten«, antwortete Christine, während sie zur Küche ging. »Ich habe gerade heiße Schokolade gemacht. Wie wär’s, wenn du sie ihr raufbringst?«
Riley zuckte die Schultern und folgte ihr. Er fühlte sich bei Lexie zwar stets wie zu Hause, trotzdem war es immer noch komisch, mit ihrer Mom zu reden, wenn seine Freundin nicht dabei war. »Ist sie immer noch krank?«
Christine goss heißes Wasser in drei Tassen und schaute dabei ein paarmal zu Riley rüber, bevor sie antwortete. »Nein. Ich glaube, was immer sie hatte, ist jetzt vorbei.« Fragend hielt sie eine Tüte mit Zucker hoch, und Riley nickte. Er mochte seine heiße Schokolade süß. »Also, vielleicht kannst du mir bei etwas helfen, Riley«, fügte sie hinzu, während sie den Zucker in die Tassen löffelte.
Stirnrunzelnd kam Riley einen Schritt näher. »Ihnen helfen?«
Mit einem summenden Laut drehte Christine sich um und reichte ihm eine Tasse. Dann lehnte sie sich mit der Hüfte an die Küchenzeile und pustete auf ihre eigene heiße Schokolade. »Ich hatte mich gefragt, ob du in der Schule einen Jungen namens Blake Richards kennst.«
Beim Klang des Namens schürzte Riley die Lippen und schnaubte. Ja, er kannte Blake Richards. Jeder kannte ihn. Er war der Neue in der fünften Klasse. Er hatte kurz vor den Weihnachtsferien angefangen – und redete viel mit Lexie. Außerdem brachte er sie zum Lachen, und das gefiel Riley gar nicht.
Riley konnte ihn nicht leiden. Er war so eingebildet. Und er hatte komische Haare.
»Ist er ein netter Junge?«, fragte Christine.