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Drei Märchen der Brüder Grimm verwandelt Ulrich Zieger in ein Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Spione, Detektive, Mörder. Rudi Carrell, der Tiger von Eschnapur und andere vergessene Helden. Das ist Literatur für wilde Geister und wache Stunden. Bis ins Realistische surreale Geschichten von Engeln und Eigenbrötlern sind Ziegers Metier: in den achtziger Jahren spielte er in der freien Gruppe »Zinnober« im Prenzlauer Berg Anton Tschechow, schrieb Theaterstücke und Anfang der Neunziger das Drehbuch zu Wim Wenders' Film ›In weiter Ferne so nah‹. Zehn Jahre hat Ulrich Zieger nun an diesem Prosawerk gearbeitet und einen monumentalen Roman geschaffen, der mitten in der Zeit steht, in die er nicht gehören will.
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Seitenzahl: 1037
Ulrich Zieger
Durchzug eines Regenbandes
Roman
FISCHER E-Books
Wenn die Erklärungen beginnen, Wörter sprechen.
(links)
HANS: Sie erfinden die Krankheiten.
BEHRINGER: Vielleicht erfinden sie sie.
Aber sie heilen die Krankheiten,
die sie erfinden.
Eugène Ionesco,
Die Nashörner, 2. Akt, 2. Bild
Vortrag:
WER spielt wie?
Bis zur Entstehung dieser Frage ist die Wahrheit kein Mysterium gewesen. Darüber hinaus wusste man wahrscheinlich schon immer, dass sich kleine Lichter gern und leicht gegen ein größeres verbünden und sich dabei in aller Regel ohne Schwierigkeiten einig werden. Wir begeben uns bei der Nachzeichnung solcher Übereinkünfte schnell in die stickigen Gründe der Niedertracht, denen wir bald wieder zu entfliehen wünschen, da man sich dort gern ansteckt. Man wird sich in ihnen, was die wenigen verbliebenen, den eigenen Charakter betreffenden Unerschütterlichkeiten anbelangt, früher oder später untreu. Man erregt sich unnötig. Auf diese Weise wird man falsch …
Anders verhielt es sich in dem Falle, von dem hier die Rede sein soll. Die Akte der Niedertracht waren dabei keine ordinären, die Ansteckungen führten nicht zu den erwarteten Symptomen, sämtlichen Voraussagen schien früher oder später das gleiche Schicksal zu blühen – sie begannen alle irgendwie zu tanzen und ihre Bahn zu verlieren.
Zunächst einmal muss dazu allerdings rekonstruiert werden, dass eines Spätsommerabends, sagen wir eines Spätnachmittags in einem außergewöhnlich heißen Hochsommer, ein eleganter, dunkelhaariger, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, dessen kurzgeschnittenes Haar an den Schläfen bereits leicht ergraute, von einem Unbekannten angerufen wurde, und dass der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung um eine möglichst sofort herbeizuführende Begegnung ansuchte, die Ersterer ihm aus großem Unwillen nach anfänglichem Zögern doch gewährte. Das Leben kennt solche Momente in Fülle, wie man weiß, handelt es sich bei ihrer Summe um die fälschlich vergessene Fülle des Lebens, da man sich später meist außerstande sieht, sich in Erinnerung zu rufen, wie es überhaupt zu ihnen kommen konnte.
Wir werden später mehr von beiden wissen, dem Angerufenen ebenso wie dem Anrufer, der noch dazu aus einer öffentlichen Telefonzelle und, wie es den Anschein hatte, unter starker Bedrängung durch nachrückende Teilnehmer gesprochen, ja darum gefleht hatte, das erbetene Treffen nur nicht auf einen der nächsten Tage zu verschieben.
Vorhang auf, das Spiel beginnt! Vorläufig wissen wir nicht viel mehr, als dass der Angerufene sich zum Zeitpunkt des Telefonats in seinem Büro, einem kleinen Büro in der dritten Etage eines Mietshauses vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufhielt, welches er vier, beinahe fünf Jahre zuvor bezogen hatte. Vom Fenster dieses Zimmers, in dem sich neben dem Schreibtisch und einer kleinen Sitzgruppe mit Rauchtisch, an dem er seine Besucher empfing, auch eine Schlafcouch befand, da der Mann hin und wieder in seinem Büro übernachtete, von diesem hohen, schmalen Fenster aus überblickte man einen kleinen Platz, der sich an drei Seiten in ein Labyrinth aus engen Gassen öffnete, wie sie die Altstadt kanalartig durchzogen, und auf dem sich ein paar einfache Tische und Stühle gegen das Gedränge der hin- und herwogenden Menschenströme behaupteten, die von dem ebenerdig gelegenen Café herausgestellt wurden, dem das Plätzchen in Ermangelung einer solchen als Terrasse diente.
Dort unten saßen auch jetzt die üblichen Gäste, die stets um diese Stunde ihren Aperitif oder einen Espresso zum Feierabend tranken, der Mann selber ging, seitdem er hier im Viertel arbeitete, manchmal hinunter und mischte sich unter sie. Die zahlreichen Männer und wenigen Frauen dort unten waren ihm vertraut, wenn auch im engeren Sinne keine Bekannten. Man grüßte einander, man wechselte ein paar Worte, ab und zu ergab sich ein längeres Gespräch mit jemandem, den man dann meist für lange Zeit nicht wiedersah, so dass bei einer späteren Begegnung keinerlei Anknüpfung an die einst erreichte Nähe oder Intimität mehr möglich wurde und somit auch nicht nötig war.
Der Mann kehrte, den Blick von der Außenwelt abwendend, in sein Büro zurück und dachte über den seltsamen Anrufer nach, der ihm aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich unbekannt sein würde. Wie hatte er sich noch vorgestellt: »Mein Eigenname ist ohne Bedeutung. Würden Sie ihn aber in Ihre Sprache übersetzen, so klänge er am ehesten wie Weh, Weh-Theobaldy …« Das war eine ungewöhnliche Eröffnung gewesen, auch wenn der Mann in seinem Büro nicht selten wegen delikater, überstürzt getroffener und zumeist nicht sehr alltäglicher Entscheidungen zu Rate gezogen wurde.
Während er noch darüber nachsann, warum der Anrufer Eigen- und nicht Familienname gesagt hatte, angesichts dieser Frage aber glaubte, im Trüben zu fischen, klingelte es bereits an der Eingangstür und jener Fremde stand, den Hut mit beiden Händen vor den Bauch haltend, im surrenden Licht des Treppenhauses. Ein erster Blick verriet, dass der Besucher zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sein würde, obwohl man ihn sicher auch schon oft für älter gehalten hatte. Das aufgelöste, rötlich blonde, freilich seit längerem nicht geschnittene Haar begann an den Schläfen und im Stirnbereich ebenfalls schon grau zu werden, was auf ein frühes Übermaß an Sorgen schließen ließ, das Gesicht war schmal, um nicht zu sagen hohlwangig, doch funkelten die grünen Augen darin bei aller schnell zu erratenden Verwirrtheit nicht ohne Hinweis auf eine ursprünglich einmal starke, dann irgendwie misstrauisch gewordene Intelligenz. Sommermantel und Hut waren von dezentem, schon leicht verschossenem Grau.
Der Mann bat seinen Gast herein, nachdem er kurz den Gedanken gehabt hatte, ihm vorzuschlagen, sich vielleicht doch lieber ins Café hinabzubegeben. Er verwarf ihn. Sie nahmen am kleinen Rauchtisch Platz.
»Legen Sie ab …!«, bat der Mann, doch wollte sein Besucher lieber angezogen und auch sonst nicht lange bleiben. »Wir sind einander nie begegnet …?«, begann er daher zögernd, da ihm sein Gegenüber nicht sofort sympathisch werden wollte.
»Ich kenne Sie …«, erwiderte der Ankömmling, »ich habe Sie vor Jahren auf einem Fest bei Vektor und Nane Bollo gesehen.«
»Somit hätten wir zumindest gemeinsame Bekannte …«
»Sie tanzten dort mit einer schönen Frau und hatten sicher kein Auge für mich, der nur sehr kurz auf dem Fest erschienen war, um etwas für die Bollos abzugeben, eine Lieferung von Lappen.«
Der Mann überlegte flüchtig, seit wann er Vektor und Nane Bollo nicht gesehen hatte. Es mussten dies mehrere Monate sein, vielleicht schon ein Jahr. Damals hatten sie zu viert einen Ausflug unternommen, besagtes Fest musste also noch länger zurückliegen.
Nachdem er seinem Gast Kaffee und einen Sherry angeboten, dieser aber dankend und ein wenig fuchtelnd abgelehnt hatte, fragte er ihn nach dem Anlass seines Kommens und dem Grund für die Nachdrücklichkeit, mit der der Gast um ein Zusammentreffen angesucht hatte. Dieser führte kurz aus, dass die Dringlichkeit, für die er sich ebenso höflich wie fahrig zu entschuldigen vorgab, sich höchstwahrscheinlich aus seinem nachfolgenden Bericht erhellen würde, er den engeren Anlass seiner Bitte um eine Anhörung aus dem Stegreif aber unmöglich näher fassen könne, woraufhin sich der Blick des Mannes, dem das Büro gehörte, kurzzeitig verfinsterte. Der Gast, der dies sah, fuhr augenblicklich fort und bekannte in klagendem Ton, dass er einfach nicht mit Bestimmtheit sagen könne, wann und wo das alles angefangen habe. Er sagte das alles, und so sehr er sich späterhin auch darum bemühte, die Dinge, die sich vor seinem geistigen Auge zu bilden und gleich wieder aufzulösen schienen, zu konkretisieren, blieben seine Erklärungen doch lange Zeit über nichts als Masken für das alles, sämtliche persönlichen Beobachtungen und Schlussfolgerungen, wie der Mann in seinem Büro sofort mutmaßte, eingeschlossen …
»Wahrscheinlich hat es auf einem engen Bürgersteig begonnen …«, sagte der Gast unvermittelt, nachdem er seinen Hut auf dem Rauchtisch abgelegt hatte, »einem Trottoir nach Einbruch der Dämmerung oder in der Ruhe der Mittagshitze. Wahrscheinlich ist es nicht sehr lange her, auch wird es nicht nur einmal so gewesen sein … Man bog um eine Ecke und betrat den schmalen Bürgersteig dieser früheren Gasse, welche gar keine Gasse mehr genannt werden dürfte, da sie einseitig längst durch eine großzügige Parkanlage erweitert worden war, und sah aus einiger Entfernung eine Frau auf sich zukommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein funktionales Gedächtnis noch so programmiert gewesen, dass der Anblick einer mir entgegenkommenden Frau mich schlagartig dazu bewog, das schmale Trottoir zu verlassen, damit die Unbekannte ihren Weg ungestört fortsetzen möge. Doch bevor ich meinerseits auf die Fahrbahn hinunterhüpfen konnte, hatte die Frau es bereits vermocht, mir auszuweichen, sich über den Bordstein zu schwingen und mir ihrerseits auf diese Weise meinen Weg, der eigentlich gar kein Weg, sondern nur ein zielloser Abendspaziergang gewesen war, zu überlassen …«
Der Fremde stockte, atmete tief durch und warf sich daraufhin in seiner Erzählung weiter voran: »Sie müssen mir jetzt genau zuhören …«, sagte er und blickte sein Gegenüber zweifelnd an, wenn auch in diesem Zweifel eine starke Kraft um beinahe beschwörenden Nachdruck rang, »sehr, sehr genau, da mir das wiederholt geschehen ist. Wiederholt und zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten …!«
Für eine kurze Zeit, einer langen Sekunde in etwa entsprechend, lastete Stille auf der Begegnung.
»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen …«, unterbrach der Mann deshalb in ruhigem Ton, »versuchen Sie am besten einen Anfang zu finden und nicht so viele Eindrücke auf einmal vorzubringen …!«
»Verzeihen Sie, mein Herr …«, lenkte der andere ein, »doch wird mir das sicher nicht leicht werden. Dabei hatte ich mir alles so schön zurechtgelegt, wochenlang habe ich mich darum bemüht, Ordnung in meine Beobachtungen zu bringen, aber in dem Moment, vorhin, als ich endlich den Mut gefasst hatte, Sie anzurufen, da war im selben Augenblick alles wieder zu Scherben zerfallen …«
»Alles …?«, fragte der Mann, und ein ironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Der andere überging den Anflug von Spott in der Frage: »Hören Sie …«, sagte er, »hören Sie mir bitte noch einen winzigen Augenblick zu, selbst wenn ich Ihnen vorkommen mag wie jemand, der seinen Verstand bereits zu Teilen oder gänzlich eingebüßt hat. Ich bin nicht verrückt, sondern durchaus bei Trost, auch wenn ein Teil meiner Persönlichkeit mittlerweile untröstlich geworden sein muss …
Ich beginne also anders, bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich auch dazu etwas weiter auszuholen habe … Ich bin auf Leute getroffen, die lebten zu zweit und besaßen nur zwei flache Teller. Als ich als Gast bei ihnen weilte, musste ich die mir angebotene Flachspeise aus einem tiefen Teller essen. Doch waren diese Menschen freundlich und von einer warmherzigen Klugheit. Aber ich habe auch bei anderen Leuten gegessen, die einhundertfünfzig und mehr Teller in ihren Schränken stapelten und nur an manchen Tagen mehr als zwei davon benutzten. Diese Menschen waren häufig eingebildet und herrisch, sie waren hartherzig und kalt, doch waren sie nicht selten dumm wie Bohnenstroh. Wann also, fragte ich jahrelang alle und Gott, kehren sich die Verhältnisse um …?« Der Fremde macht eine kurze Pause. Er schien innerlich zu rekapitulieren, was er bis zu dieser Stelle schon von sich gegeben hatte: »Sie zweifeln noch immer an mir …«, fuhr er fort, »aber es spricht einiges dafür, dass die insgesamte Geschichte der Zeit als die Geschichte der Verkehrungen aufgefasst werden muss …! Lassen Sie es mich daher so kurz wie möglich fassen: Der ganze Ärger begann, als die Kleinheinrichs plötzlich anfingen verrücktzuspielen, vielleicht haben Sie seinerzeit davon gehört … Über Jahrzehnte hatte es so ausgesehen, als ginge es langsam mit ihnen zu Ende, doch hatte man sich getäuscht. Ihr früherer Größenwahn war im Verlauf der scheinbaren Agonie nur umgeformt worden. Sie hatten viel Zeit und Geduld auf die Veränderung der Oberfläche ihrer Wesensart verwendet, darunter aber waren sie die Gleichen geblieben. Wo immer sie hergekommen sein mochten, ihre Vorgeschichte liegt im Dunkel der nicht überlieferten Mythen, hatten sie doch so etwas wie einen Charakter entwickelt, einen negativen Charakter, wenn man so will, an dem man sie mühelos erkannte. Sie waren hinterhältig, stets auf ihren persönlichen Vorteil bedacht, stärkeren oder von ihnen für höhergestellt erachteten Personen gegenüber feige und duckmäuserisch, schwatzhaft, sobald sie sich unbeobachtet wähnten, stets bestens informiert über die Zustände in benachbarten Häusern, entpuppten sich freilich bei entsprechenden Nachfragen entweder als Denunzianten oder vorgetäuscht Unwissende, die eher zu blöden, blökenden, als zu inspirierten Aussagen neigten … Vor allem aber waren sie niederträchtig, neidisch und voller Verachtung für jeden, dem das Leben besser zu glücken schien als ihnen selbst. Daraus war ihre Anmaßung gegenüber anderen Völkern, Volksgruppen und Vorstellungen entsprungen, ihre Aggressivität, ihre Erbarmungslosigkeit in den Kriegen, die sie geführt hatten, ihr Hochmut in der Menge oder Masse, der sich am Ende wohl nur auf den Minderwertigkeitskomplex jedes Einzelnen von ihnen gründete … Soweit die Einleitung, die ich mir selber erst mühsam zusammenreimen musste. Ich war nämlich erst spät in ihr Land gekommen, und zwar zu einer Zeit, in der es allmählich überall so aussah, als könne man inzwischen einigermaßen sorglos unter ihnen leben. Sie hatten in der ganzen Welt ein Bild von sich erzeugt, das Vertrauen erweckte. Schließlich soll man nicht nachtragend sein, die bitteren Erinnerungen an ihre früheren Taten, ihre gebrochenen Zusagen und Verträge, ihre schnöde Ablehnung, sich für den Schrecken, den sie da und dort verbreitet hatten, späterhin verantwortlich oder gar reumütig zu zeigen, all diese Dinge waren allmählich verblasst. Warum auch nicht, hatte man sich gesagt, schließlich waren sie nicht die Einzigen, die sich in diese Welt als Halunken eingeführt hatten. Manch einer meinte gar, sie seien gar nicht so schlecht und missgünstig von ihren Wurzeln her, viel eher seien sie vorübergehend ein wenig naiv gewesen und auf diese Art zum Spielball weitaus finstererer Mächte geworden, die sich hinter ihren offenbar gewordenen Entladungen im Windschatten der Zeitläufte gut hatten verbergen können. Meine Leute hingegen, ich gehöre dem Volksstamm der Lapislazuli an, sind seit Jahrhunderten in alle Winde und in alle Herren Länder verstreut, doch waren wir stiller als die Hebräer und weniger freiheitsliebend als die Zigeuner. Hinzu kommt, dass wir immer nachgeordnete Berufe ausgeübt haben: Glöckner, Schaffner, Kärrner und Puppner gewesen sind, Taschner oder, wie in meinem Falle, Lappner, was in Ihre Sprache übersetzt Chiffonnier bedeutet, kurz gesagt, Arbeiter ohne Besitz an Rohstoffen oder Ländereien, die man mit Gewinn ausbeuten kann. Wir kamen, um uns ausbeuten zu lassen, das entspricht unserem Selbstverständnis, denn die Welt, die die Kleinheinrichs allerorts aus ihren Quellen rissen, gefiel ihnen selber nicht, und so bedurften sie unserer oft belächelten Neigung zum Schönen. Ja, so sind wir von alters her, wir glauben weder an die Götter noch ihre unverzichtbaren Dämonen, obwohl wir in den Augen unserer Gegner mit beiden in Kontakt stehen. Wir halten die Schönheit für möglich, die gegebene, verschüttete, bezweifelte und wieder und wieder verletzte Schönheit eines Lebens voller Unterschiede in den Sprachen, Formen, der Zubereitung des Essens, der Musik und der Rauschzustände, der Ehrung der Frauen, des Blicks auf Kinder, Gegenstände des Daseins und Tiere, ob sie sie nun in Herden halten oder wild, um mit dem klugen Blick des Jägers in den Wäldern und Gebirgen aufzuspüren, was dort aufzuspüren ist … Ich merke schon, es wäre angebracht und höflich, an dieser Stelle meinen wirklichen Namen zu nennen, doch werde ich darauf verzichten müssen. Ich hoffe, Sie werden das im Verlauf der folgenden Ausführungen verstehen. Meine Zugehörigkeit zum Volk der Lapislazuli ist augenblicklich Entdeckung genug. Die Zeiten sind verwirrt, verwirrte Zeiten sind gefährlich, daran hat sich nichts geändert, auch wenn die stetig klüger gewordene Menschheit es nicht wahrhaben will …«
Der zuhörende Mann hatte sich während der letzten Minuten tief in seinen Sessel zurückgelehnt, einen abgeschabten, braunen Ledersessel. Nun war er plötzlich daraus hervorgeschnellt und bedeutete dem Gast, der sich in Fahrt geredet hatte, mit der winkenden Rechten, dass ihn nach einer Unterbrechung des Vortrags verlangte. Er stand auf und ging in seine kleine Küche, um jetzt doch einen Kaffee zuzubereiten.
»Woher kennen Sie die Bollos …?«, fragte er beiläufig, während er die italienische Kanne auf den Gaskocher setzte.
»Durch Schal …!«, rief sein Gast in derselben Sekunde.
Die Nennung dieses Namens übte auf den Mann in der Küche jene unerwartet starke Wirkung aus, die früher mit dem Wort Verdruss umschrieben wurde.
»Hajo Schal …?«, fragte er leise nach.
»Es gibt hier nur einen, der Schal heißt …!«, antwortete der Besucher.
In diesem Moment pfiff der Wasserdampf durch die Kanne, der Mann drehte die Gasflamme herunter und ließ den Kaffee noch ein wenig denken, wie der italienische Freund, der sie ihm einst geschenkt hatte, es nannte. Währenddessen stellte er zwei Tassen, die Zuckerdose, ein Sahnekännchen und einen Teller mit etwas Gebäck auf ein Tablett und kehrte damit ins Büro zurück.
»Wann und wo sind Sie mit Schal zusammengetroffen …?«, fragte er ernst.
»Auch das ist eine längere Geschichte …«, bemerkte der Gast mit klagender Stimme, »sämtliche Geschichten aus meinem Leben sind lang und wirken, ehe sie zum Kern vordringen, jenem Kern, auf dessen Kenntnis Sie einen Anspruch haben, von weit, oft sehr weit hergeholt …! Meine Vorfahren, müssen Sie wissen, hatte es auf eine Insel verschlagen. So gesehen bin ich von Geburt her Insulaner. Doch wussten wir auch auf Bienitz, so der Name des Eilands, jederzeit, wer wir waren, was mich später übrigens dazu veranlasste, meinen erzwungenen Aufenthalt dort zu beenden. Wie einige unter den Älteren hier im Umkreis sich noch erinnern dürften, aber die Alten haben alles vergessen, und die Jungen blieben folgerichtig unwissend, war die Regierungsgewalt auf Bienitz von der Monarchie direkt in eine Art Militärdiktatur übergegangen, wenn dieses Militär auch über die Jahrzehnte, von denen ich eingangs schon sprach, für den Rest der Welt vollkommen unsichtbar geblieben ist. Eine Geheimarmee herrschte über die Insel, ein Netzwerk von scheinbaren Zivilisten, die erst bei genauerem Hinsehen eine streng hierarchisch aufgebaute Befehlsordnung bildeten, welche sämtliche Lebensabläufe dort kontrollierte. Den seltenen Besuchern des Eilands mag das in der Tat nicht aufgefallen sein, wer allerdings auf Bienitz lebte, und jeder, der länger als zwei Monate blieb, lebte im Grunde schon dort, dem konnten die Zustände nicht verborgen bleiben, welche diese Camouflage aus Drahtziehern, Spionen und Vollstreckern eines anonymen Willens nach und nach geschaffen hatte, und der jede Regung, beinahe jedes Wort für seine Zwecke zurechtbog, sobald es die Zurückgezogenheit der Häuser verließ. Es hat Stimmen gegeben, die verwundert festgestellt hatten, wie wenig auf Bienitz gesprochen wurde, einige verstiegen sich zu der Behauptung, dort sei über lange Zeiträume gar nicht mehr geredet worden …! Doch ist das falsch, weil Menschen so nicht leben können! Nirgendwo auf der Welt …!«
Dem Zuhörer tat es jetzt erstmalig leid, dem Fremden eine solche Ausführlichkeit gestattet zu haben. Möglicherweise schädigte sich dieser Mann mit seinen verworrenen, ihm stets wieder entgleitenden Erinnerungen ja selbst viel mehr als den wenigen Menschen, die ihm da und dort noch ihr Ohr leihen mochten. Dennoch fragte er: »Stammte nicht Schal auch ursprünglich von Bienitz …?«
Der andere machte eine wegwerfende Kopfbewegung: »Kommt denn der Scheitan nicht von überall und nirgends auf sein Opfer zu …?«
Damit war ein Begriff gefallen, den man nicht unbedingt als landestypisch zu betrachten hatte. Obwohl man Namen gern als bloßen Schmuck abtut, gehören sie doch zu den geheimnisvollsten Dingen des Lebens.
»Was hat Schal Ihnen angetan …?«, fragte der unfreiwillige Gastgeber.
»Schal hat die Menschen entwegt …!«, gab der zur Antwort. »Wenn Sie ihn kannten, wird er auch Sie in gewisser Weise entwegt haben … Entschuldigen Sie, ich selber kenne Sie ja nur aus der Entfernung …!«
Der Besucher schlürfte an seinem Espresso und zerkaute, geistig vorübergehend weggetreten, ein Anisherz. Sein Gegenüber, der exakt von diesem Anblick ausgelöst, dem Anblick des langsam im Mund des Fremden verschwindenden und dort zermahlenen Anisherzens an, den Namen Norden tragen wird, stand auf und öffnete das Fenster. Schon oft in seinem Leben waren es nicht die Worte gewesen, die aus einem Mund drangen, welche ihn für jemanden eingenommen oder ihn von der entsprechenden Person entfernt hatten, sondern ein dem Redner unbemerkt gebliebenes Detail in seiner äußeren Erscheinung, das dichte Weiß einer Drüsenausscheidung im Mundwinkel, ein Speiserest, der auf der Krawatte liegengeblieben war und dort nachglänzte, ein angetrockneter Tintenfleck auf dem Revers … Man kann unendlich viele Worte aneinanderreihen, doch wird das Gesagte bedeutungslos bleiben. Es muss etwas hinzukommen, etwas, das jenseits der Worte und aller Beschreibungen liegt, bevor man zu den Hintergründen vordringt, vor die sie als Wächter gestellt sind. Immer wenn dieser Punkt erreicht war, zumindest seit langem, war der Name Norden vor ihm aufgetaucht. Das Spiel hatte übergegriffen, er hieß auch jetzt wieder so …
Der Abend wurde eingeläutet, die Seeschwalben waren wie jeden Tag um diese Stunde in die Stadt eingefallen und schossen in wahnsinnigem Spiel haarscharf an den Fassaden der umliegenden Häuser vorüber. Die Terrasse hatte sich gefüllt, dort unten herrschte inzwischen ein lärmendes, ausgelassenes Treiben. Man hatte Tische zusammengeschoben und große Runden gebildet, Bier und Wein flossen in Strömen, die Menschen lachten und redeten laut durcheinander. Norden bedauerte es flüchtig, selber nicht zu diesen Glücklichen gehören zu können.
»Wie viel an den Berichten der Besucher Ihrer Insel ist demnach als wahr zu betrachten …?«, fragte er, als er zur Sitzgruppe zurückkehrte.
»Wahr ist, bezogen auf Bienitz, was manchem als das Auffälligste galt, dass nämlich sämtliche Bewohner der Insel Papierkleidung trugen. Sommers bestand sie aus leichtem, seidenähnlichem Material, winters hingegen aus einer Art Flies, das am ehesten an Krepp erinnerte. Es gibt nur zwei Jahreszeiten auf Bienitz, die Aufrechterhaltung der Kleiderordnung stellt kein logistisches Problem dar. Wir trugen Unterhosen, Unterhemd, Wickelgamaschen und Oberbekleidung aus weißem, reißfesten Papier, das nach der Benutzung gereinigt, wieder eingeweicht und in der Großen Papiermühle zu Drone, der heimlichen Hauptstadt des winzigen Staates, erneut für den Bekleidungskreislauf aufbereitet wurde. Streichgarnstoffe, Spitzen und Tuche waren mir bis zu meinem Fortgang von Bienitz so unbekannt geblieben wie Schokolade, Tabak, Portwein und weitere Produkte, die man, einmal als Primärschmutzquellen eingestuft, im Namen der Glückseligkeit aus dem öffentlichen Leben der Insel verbannt hatte …«
»Ich habe viel von dieser Papierkleidung gehört und mich mitunter gefragt, ob das nicht eine durch und durch praktische Erfindung ist …«, warf Norden an dieser Stelle scherzend ein.
»Die Siedlung der Lapislazuli auf Bienitz …«, ratterte der andere ungeachtet dessen weiter, »war weder Ghetto noch Elendsquartier, wie man leicht annehmen könnte. Wir galten als geduldet, für den Export gewisser Kleinigkeiten, mit denen Bienitz seine Wirtschaft anreicherte, waren wir als Fachleute sogar angesehen. Man gab uns an den Wochenenden Schnaps und ließ uns weitgehend in Ruhe, auch wenn dadurch nicht verschleiert werden soll, dass man uns auf den großen Plätzen und Boulevards der Hauptstadt nicht gern sah. Offiziell waren wir, gekleidet wie die übrige Bevölkerung, von dieser zwar nicht unterscheidbar, doch hatte man auf Bienitz ein feines Gespür für unsere Andersartigkeit. Eine Qualität übrigens, die ich inzwischen bei den Kleinheinrichs wiederentdecken musste, denen so viel Feinsinn überhaupt nicht zuzutrauen gewesen war …«
»Wollen Sie ab jetzt von Schal erzählen oder von Bienitz …?«, intervenierte Norden.
»Wahrscheinlich wird es mir während der noch folgenden Schilderungen nicht erspart bleiben, da und dort auf meine Herkunft Bezug zu nehmen. Ich werde von daher versuchen, mich jedweder Weitschweifigkeit zu entheben, ohne deren Prägung zu verleugnen, die mir in die Seele eingeschrieben steht …«
»Sind Sie auf einem Boot geflohen?«, fragte Norden hart.
»Wie sonst …«, antwortete Weh-Theobaldy, »im Fesselballon wäre ich nicht weit gekommen. Aber das Boot ist gesunken, ich bin für mehrere Stunden beinahe bewusstlos in einem Schwimmring paddelnd im Wasser geblieben, ehe ich die Küste des Festlands erreichte. Splitternackt betrat ich Ihr Land, einen lächerlichen, schon gar nicht mehr straffen Schwimmreifen notdürftig um meine Blöße gelegt …!«
»Ihr Aufenthalt hier wurde sicher schnell und unbürokratisch legalisiert …«, beharrte Norden.
Der Besucher warf seinen Oberkörper blitzschnell nach vorn: »Ich konnte glaubhaft versichern, dass ich bei meiner Rückverbringung auf Bienitz ins Gefängnis geworfen und höchstwahrscheinlich peinlicher Befragung ausgesetzt gewesen wäre. Aber man hat meines Wissens nie einen Lapislazuli zurückgewiesen, sofern ihm die Flucht von Bienitz geglückt war.«
Norden bestätigte diese Aussage durch nachdenkliches Kopfnicken. Die parlamentarische Mehrheit des Landes hatte bereits vor Jahrzehnten ein Gesetz akzeptiert, das bestimmten politischen Flüchtlingen Duldung versprach. Nur Schwerstkriminelle aus unbedenklichen Nachbarstaaten konnten in Einzelfällen ausgeliefert werden, aber das kam fast nicht vor. Man würde diesen Ankömmling eingekleidet und für eine Weile auf Staatskosten ernährt haben.
»Wie alt waren Sie, als Sie angespült wurden?«, fragte er seinen Gast.
»Vielleicht elf oder zwölf …«, grummelte dieser, »ich erinnere mich nicht … Ich war körperlich sehr klein, noch heute bin ich, wie Sie leicht ersehen können, mager. Zum Glöckner, meinem Traumberuf, hätte ich nicht getaugt, also wurde ich zu einem Lappner in die Lehre gegeben …«
»Nun ja, Chiffonnier ist nicht der schlechteste Broterwerb …«, lenkte Norden ein, »man kommt mit interessanten Leuten zusammen, denken Sie nur an die Bollos! Der Lappen ist nun einmal schon immer der beste Freund des Malers gewesen, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.«
»Die Lappner unterstanden Schal …«, wieherte darauf der Besucher, »auch wenn wir ihn damals in dieser Eigenschaft nie zu Gesicht bekamen …!«
»Und doch sind Sie ihm eines Tages begegnet …!«
»Das bin ich wohl …!«, rief Weh-Theobaldy mit erhobenem, sehr spitzem Zeigefinger.
Norden richtete sich im Sessel auf und blickte seinem Gast kühl ins Gesicht: »Wie und wann …?!«, fragte er.
»Ich war noch jung, noch nicht sehr lange fort von Bienitz. An den Abenden ging ich oft zu den Männern, die am Stadtrand auf Obstkisten standen und billigen Wein aus Kanistern in sich hineinschütteten. Dort, ich erinnere mich, vor glutrotem Himmel, auf dem sich mehr und mehr auch violette Streifen bildeten, erzählte ein gewisser Kuchenbuch, ich musste mir, denke ich heute, diesen Namen einfach merken, lauter unglaubwürdige Dinge über Schal, den er früher allerdings gut gekannt haben wollte. Demnach sollte er, Schal, beispielsweise eine der umfangreichsten Bibliotheken des Landes besitzen und doch ein Mann sein, dem Hohn und Spott über alle geschriebenen Worte wie Kröten aus dem Mund absprängen. So zumindest drückte Kuchenbuch sich aus. Einmal gebrauchte er sogar die Formulierung, sie würden ihm wie Kröten aus dem Mund abfließen. Solche Erzählungen erhitzten selbstverständlich meine pubertäre Phantasie. Es hieß darin, er habe sich unter dem Vorsatz, die Welt und ihre Sorgen auf ewig zu verlachen, ganz bewusst der Völlerei, dem Trunk und der Schändung von Knaben und Jungfrauen hingegeben, bete den Beelzebub an und feiere seine Tage währenden Gelage mit Vorliebe in spätrömischem Badehausstil oder der russischen Deutung der Finnsauna, mit Birkenruten auf den blanken Hintern und anschließendem kristallklaren Wodka …! Womöglich erahnen Sie schon jetzt den Grad der Ausschmückungen seitens Kuchenbuch …«, fuhr er fort, »die ich in meiner gedankenlosen Anmaßung seinerzeit noch für tatsächliche Berichte nahm. Ich war jung, womöglich nicht wirklich naiv, aber jung genug und voller Frechheit, mir die Welt als einen großen Zirkus vorzustellen. Kennen Sie das Märchen von der Frau Trude, ein Märchen der Deutschen, in dem ein kleines Mädchen beschließt, heute einmal die Frau Trude zu besuchen, woraufhin seine Eltern zu Tode erschrecken und ihm mitteilen, dass es sich bei der Frau Trude um eine ganz furchtbare Frau handelt, das kleine Mädchen aber dennoch aufbricht, dieser Bösen in die Arme zu laufen …?«
Norden zuckte mit den Schultern und stand wieder auf, diesmal um das Fenster wieder zu schließen. Während er die beiden Flügel ineinanderschob und den Knauf drehte, fiel ihn ein leichter Schauder an. Die Märchen der Deutschen handelten alle in finsteren Wäldern, in denen sich nach ermüdenden Wanderungen und Irrfahrten einsame Häuser fanden, deren Licht man von weitem mit Freude, näherkommend aber meist mit Grauen sah. Nicht selten war es die Spiegelung des fahlen Mondlichts auf der glatten Oberfläche eines Totenschädels, was da wie eine wärmende Lampe ausgesehen hatte, oder es lebten dort Räuber, die Jungfrauen dreierlei Wein zu trinken gaben, wovon den Ärmsten das Herz zersprang …!
»Wie geht die Sache mit dem eigensinnigen Mädchen aus …?«, fragte er schroff, während er unverwandt in den Sommerabend blickte und sein Büro, die Stirn an der Glasscheibe, als den staubigsten Ort unter dem weitesten Himmel empfand, der je das Meer überwölbt hatte.
»Schrecklich …!«, flüsterte sein Gast beschwörend.
Norden wandte sich um und stürzte auf die Sitzgruppe zu. Er umklammerte die Lehne seines Sessels mit beiden Händen derart fest, dass ihm alles Blut aus den Knöcheln wich.
»Wie …?!«, herrschte er seinen Besucher an.
Der Fremde verstummte augenblicklich. Er streckte seinen Rücken und faltete die Hände, die mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ruhten. Seine grünen Augen blitzten wie Smaragde. Sein fast nicht vorhandener Mund, der zwischen den eingefallenen Wangen weniger als einen schmalen Strich bildete, krümmte sich zu einem Lächeln.
»Die Kleinheinrichs lieben die Märchen der Deutschen nicht besonders …«, sagte er entschieden, »obwohl man von ihnen behauptet, dass sie diesem Volk früher selbst einmal angehört haben sollen. Das muss aber so nicht stimmen. Sie können den verräterischen Namen auch erst im Nachhinein angehängt bekommen haben. Schal, um heute Abend auch diesen Umstand nicht zu verschweigen, fürchtete sich regelrecht vor ihnen. Mir selbst gelang es mitunter, aber das muss später gewesen sein, viel später, als ich schon unter seiner Gegenwart litt, ihn barbarisch mit diesen Märchen zu quälen, indem ich plötzlich und meist völlig unvermittelt damit anfing, eines zum Besten zu geben. Haben nicht auch Sie deutsche Wurzeln …?«
Der Gesichtsausdruck Weh-Theobaldys nahm eine fast schon verführerische Unschuld an, der Mund wurde zum spitzen Mündchen. Überhaupt schien ein von seltener Heiterkeit gespeister Glanz auf diesem sonst so trüben Antlitz zu liegen. Nun musste auch Norden lächeln und ließ das Blut wieder durch seine Finger rinnen. Sein Gegenüber mochte zwar durch verschiedentliche Missstände in seiner Vergangenheit öfters gestaucht worden sein, doch verdiente er nichtsdestotrotz durchaus die Bezeichnung Filou …
»Weder bin ich einer von Ihren Kleinheinrichs …«, sagte er in spöttischem Tonfall, »noch habe ich deutsche, dafür aber norwegische Wurzeln, wenn auch diese längst verblasst sein dürften …«, und fuhr mit folgenden drei Fragen fort: »Haben Sie Schal auch von dieser Frau Trude erzählt? Sind Sie aufgebrochen, ihn zu besuchen, so wie dieses dumme Mädchen es getan hat? Und wie geht die Sache letztendlich aus …?«
Der Mann am Tisch blieb davon vorerst ungerührt. Dann ließ er die Atemluft einmal hörbar durch die Nasenlöcher pfeifen, was an ein Seufzen denken ließ. Mit monotoner Stimme sagte er: »Das unbelehrbare Mädchen findet einen schwarzen, einen grünen und einen roten Mann im Stiegenhaus der Frau Trude vor. Der eine ist angeblich Schornsteinfeger, der nächste Wundarzt und der letzte Abdecker. Und als es der Frau Trude erzählt hat, was für wunderliche Dinge es in ihrem Schloss gesehen, da wird es von dieser … Nein, verzeihen Sie, aber der Abschluss der Geschichte ist mir infolge einer Reihe schwerer Nervenanfälle in der Vergangenheit unaussprechlich geworden …!«
Norden schwieg und blickte seinem Besucher fest in die Augen, die sich allerdings schon wieder eingetrübt hatten: »Wann nun hat Ihrer beider Bekanntschaft angefangen?«, fragte er trocken.
Der Angesprochene senkte fluchtartig den Kopf und krümmte den Rücken zu einem Katzenbuckel, so dass es den Anschein nahm, als blicke er aus einer unendlichen Vogelperspektive auf seinen, vor ihm auf dem Boden liegenden Hut hinab. Er schien wieder Papierkleidung zu tragen, so unwürdig, so tief beschämt war seine Haltung.
»Ich bin Schal zufällig begegnet …«, wisperte er schwach.
Norden bemerkte in diesem Augenblick, wie sich ein silbriger, überaus dünner Speichelfaden aus dem leicht geöffneten Mund seines Besuchers spann und sich in Zeitlupe dem Hutrand näherte. Er sprang auf den Mann zu, fasste ihn bei den Schultern und riss ihn nach hinten, so dass die Spucke aufgeschleudert und dem Sabbernden über die Wange geweht wurde. Die Augen des Ermahnten glitzerten jetzt kalt wie die Glasknöpfe im Kopfstück einer ausgestopften Schlange. Sein Mund hatte sich zu einem unverschämten Grinsen aufgeworfen. Norden fürchtete für die Bruchteile einer Sekunde, das Scheusal werde ihn im nächsten Augenblick zu sich herabziehen, um ihm einen saugenden Kuss auf die Lippen zu stülpen.
»Was in aller Welt machen Sie denn da …?!«, herrschte Norden ihn an.
»Ich gebe mich auf …«, antwortete Weh-Theobaldy und sank welk über die Sessellehne.
Norden nutzte die neuerliche Schwäche seines Besuchers, sich an jenen Herrn Schal zu erinnern, den er vor ein paar Jahren für einige Zeit selbst zu kennen geglaubt hatte, bis zu dem Tag, an dem ihm dies zu einer hoffnungslosen Illusion zerronnen war. Er war damals noch neu in dieser Stadt gewesen und hatte den Leichtsinn entwickelt, seine Abende in den unterschiedlichsten Kaffeehäusern, Pinten und Kaschemmen zu verbringen. Sicher, seine ursprüngliche Intention war es gewesen, auf diese Weise etwas über ihre Einwohner zu erfahren, den Jargon des alltäglichen Miteinanders zu erkunden und diese oder jene Bekanntschaft zu schließen. Eine schöne Entdeckungslust hatte damals Besitz von ihm ergriffen, aus der jedoch bald so etwas wie eine innere Abhängigkeit geworden war. Körperliche Unruhe hatte ihn meist schon in der Stunde vor Büroschluss ergriffen und in die Gassen hinausgetrieben, in denen man so geheimnisvoll flirrende Namen über den niedrigen Türgiebeln fand, wie etwa ›Zur diamantenen Hochzeit‹, ›Zum Mückenschiffchen‹ oder ›Zum goldenen Lappen‹ … Besonders in die steinernen Gewölbe der letztgenannten Schankwirtschaft war er mit zunehmender Häufigkeit eingetaucht, nicht zuletzt deshalb, weil sich dort regelmäßig eine kleine Gruppe von örtlichen Kunstmalern traf, unter ihnen Nane und Vektor Bollo, mit denen er sich später sogar wirklich befreundet hatte …
Nane Bollo hatte zu dieser Zeit schon einigen Erfolg mit ihren großformatigen Collagen gehabt, die sie aus zerrissenen Aquarellen zusammensetzte, was ihrem Mann Vektor, dessen Malereien und Skulpturen sich nicht wirklich verkaufen ließen, ein rauschhaftes Leben gestattete. Beide verbrachten die Abende zumeist mit Weinen aus der Umgegend, die von einem spezifischen tiefdunklen Rot waren und fast durchgängig ein Bouquet aufwiesen, das an steinige Böden und Waldfrüchte denken ließ. In einer solchen Runde auch war Norden eines Abends mit Schal zusammengetroffen, der sich von Vektor Bollo hatte porträtieren lassen. Norden selbst hatte dieses Porträt nur einmal kurz gesehen, so wie er Schals Haus nie betreten hatte, doch war es, wie ihm jetzt dunkel wieder in Erinnerung kam, in der Art eines Brustbildnisses angelegt worden, wie man sie im späten Mittelalter aus Italien und den Niederlanden kannte. Der Maler hatte Schal, entgegen seinem tatsächlichen Aussehen, als dicken, kraushaarigen Mann geschildert, der ein winziges Hündchen auf dem Arm trug, dem ein beinahe durchsichtiges Filigrantüchlein aus der Schnauze hing. Der anwesende Lappner, wurde ihm jetzt klar, gab nicht nur befremdliche, sondern vielleicht schon perfide Zeichen seiner Kenntnis lange zurückliegender Zusammenhänge …
»Dieser, wie hieß er noch …?«, fragte er, aus seinem unvermittelten Sinnen wieder hervortauchend.
»Kuchenbuch!«, antwortete Weh-Theobaldy präzise.
»Dieser Kuchenbuch also hat Sie mit Schal bekannt gemacht …?«, nahm Norden das unterbrochene Gespräch wieder auf.
»Ich möchte durchaus behaupten, dass er das nicht gewagt haben würde …«, antwortete der Befragte, »aber er hat zu mir mehr und mehr, und auf eine äußerst speziell zu nennende Weise, von ihm gesprochen. Es machte mich auf gewisse Art trunken, von einem derart einflussreichen Menschen Kenntnis zu bekommen. Wie schon gesagt, wurde dadurch meine Phantasie angeheizt, ich vergaß meine ärmliche Herkunft, meine bedauernswürdige Weltsicht, meine Minderwertigkeit … Sie werden wissen, dass die Berufsgruppe der Lappner zu den am wenigsten angesehenen in der gesellschaftlichen Hierarchie zählt. Man nennt uns verächtlich mit Vorliebe Lumpensammler, und wenn man sich auf einem öffentlichen Amt als Chiffonnier zu erkennen gibt, so erntet man nicht selten ein ganz unflätiges Gelächter, und die Kinder eines solchen Arbeiters werden in der Schule ohne Unterlass gehänselt und geneckt …«
»Das alles ist mir nicht entgangen …«, unterbrach Norden den erneuten Schwall von weit ausgreifender Betrachtung seitens seines Gastes, »dennoch muss ich Sie darum ersuchen, Ihren Bericht ein wenig zu straffen. Meine Zeit ist begrenzt, auch meine geistigen Kapazitäten sind es leider. Da ich nicht nur mit hiesigen, sondern auch mit überregionalen Blättern korrespondiere, nehme ich an, dass Sie sich eine Vorstellung von meinem Tagwerk zu machen imstande sind. Kommen Sie also möglichst umweglos zu Sache …! Was geschah mit den Kleinheinrichs, nachdem sie, wie Sie es nennen, anfingen verrücktzuspielen? Welche Rolle kommt Herrn Schal in dieser Angelegenheit zu? Wie zuverlässig sind Ihre Beobachtungen und Wahrnehmungen in Hinblick auf ein allgemeines Interesse …?«
Weh-Theobaldy starrte ihn für eine Weile mit offenem Munde an, doch kam es Norden so vor, als blicke dieser unglückliche Mensch dabei durch ihn hindurch. Der smaragdene Glanz seiner Augen schien ein weit entferntes Licht zu spiegeln, zwischen dessen Quelle und der gegenwärtigen Situation eine schwer zu ermessende Wegstrecke liegen musste. Norden räusperte sich, einen Anflug von Zorn damit betonend, der langsam aber stetig in ihm aufwärts kroch.
So als spräche er am Rande einer trancestiftenden Meditation, erklang die nun viel leiser, brüchiger gewordene Stimme des Besuchers: »Ja, wann hat es angefangen …?«, hauchte er, »angefangen muss es haben, als die Frauen damit begannen, auf uns herumzuhacken wie böse, degenerierte Vögel …?! Als wir uns über die entstandene Lage gegenseitig nicht mehr auszusprechen wagten, wir, die wir doch alle dieses Schicksal miteinander teilen mussten …? Herr Norden, ich kann einfach nicht mit der Folgerichtigkeit erzählen, auf die Sie mich gegenwärtig und sicher zu Recht verpflichten wollen …! Die ganze Angelegenheit ist in sich selbst viel zu verworren, zu dicht, zu stark vernebelt, als dass jemand wie ich, ein Mensch ohne höhere Bildung, ohne die Gewohnheit einmal nicht hinter vorgehaltener Hand zu sprechen, leicht zum Thema käme …«
Die Verzweiflung des Mannes schien echt, und Norden empfand einen Anflug von Mitleid, was ihn freilich gleichzeitig ärgerte. Die gewährte Unterhaltung würde sich nicht auf die eine, sagen wir, gute Stunde beschränken lassen, die ursprünglich dafür vorgesehen gewesen war …: »Ich bitte Sie, den Mut nicht zu verlieren …«, lenkte er deshalb ein, »und da Sie anscheinend die Öffentlichkeit scheuen, in der ich mich in den Abendstunden eigentlich recht gern bewege, werde ich uns ein Abendessen heraufbestellen, etwas Wein dazu, eine Zigarre … Vielleicht kann das Ihre verfestigte Erinnerung ein wenig lösen! Was hielten Sie von einem Ragout oder einem Risotto mit Waldpilzen …?«
Der Angesprochene zuckte, unfähig zu einer klaren Antwort, nur kurz mit den Schultern, und Norden empfand eine ganz unaussprechliche Vergeblichkeit in dieser Geste.
»Wir können uns das ja auch noch einmal überlegen …«, gab er unverhofft versöhnlich zu erkennen, »erzählen Sie fürs Erste so, wie es in Ihrer Art liegt, und erschrecken Sie nicht gleich, wenn ich Ihnen da und dort eine vertiefende Zwischenfrage stelle oder um eine Präzisierung Ihrer Schilderungen bitte, schließlich bin ich ja noch beinahe unfähig, aus Ihrem Bericht einen im engeren Sinne greifbaren Inhalt abzuleiten …«
»Das ist es ja, was mir so leidtut …«, ging Weh-Theobaldy auf den Vorschlag ein, »was mich bereits beim Nachdenken zum Stottern bringt! Haben Sie also schon an dieser Stelle allen Dank, zu dem ich fähig bin, insbesondere für Ihre wirklich ganz außergewöhnliche Geduld …«
Norden stutzte bei dieser Formulierung. Hatte er es nicht am Ende doch nur mit einem Schlitzohr zu tun bekommen, das seine Erbärmlichkeit absichtsvoll vortäuschte? Wer waren schließlich diese Lapislazuli, von denen man im Allgemeinen nur wusste, dass es sie irgendwo gab, kaum etwas aber darüber, was sie im Schilde führten …? Norden war ein Mann ohne Vorurteile, hatte sich zumindest stets darum bemüht, sich selbst und anderen gegenüber als ein solcher zu bestehen, aber waren diese und jene Gerüchte, die über dieses eigenartig versteckt lebende Völkchen kursierten, nicht doch irgendwie begründet …?
Der Besucher unterbrach ihn im Geiste vollkommener Unschuld in seinem Abschweifen und redete unruhig weiter: »… eine Geduld, für die Sie in gewissen Kreisen als namhaft gelten! Ich hingegen bin nicht einmal mit mir selbst geduldig, sondern fahrig und voller Widersprüche, so wie jemand, der, beim Versuch vorwärtszukommen, immerfort über die eigenen Füße fällt. Das allerdings ist wirklich nebensächlich, es ist rein persönlich und weist auf keinerlei hervorstechendes Ungeschick anderer hin, in deren Namen ich womöglich hin und wieder sprechen muss. Obwohl wir uns im Leben bekanntlich mitunter dabei ertappen, nach einem Zusammentreffen mit fremden, uns jedenfalls nicht gerade vertrauten Personen keinerlei Aussage zu deren Anzug oder Augenfarbe treffen zu können, wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ich von Natur aus grünäugig bin. Ich habe grüne Augen, keine leuchtend blauen, wie sie die Lapislazuli für gewöhnlich auszeichnen, und die dabei doch von einem so anderen Blau sind als die der Kleinheinrichs, dass darüber jede Menge Sprichwörter und Anekdoten in Umlauf sind, nein, grüne, grüne, grüne und schon von daher könnte ich auch Ire oder Balte sein. Ich bin auf grünäugige Balten tatsächlich schon getroffen. Jedenfalls sieht man mir den Lapislazuli nicht ohne weiteres gleich an, was anfänglich wie ein großes Glück erscheint, obwohl es vielleicht ein doch tieferes Unglück beinhalten mag. Ihr Verdacht, ich habe Ihnen diesen Verdacht gleich angemerkt, als ich eingangs von meiner Flucht sprach, von meinen Erlebnissen auf Bienitz, von der bis heute auf meiner Haut juckenden und kratzenden Papierkleidung, die ich in den ersten Jahren meines Lebens zu tragen verpflichtet war, Ihr Verdacht also, nach dem ich mich mit dem Gedanken getragen haben könnte, eines Tages meiner Herkunft zu entfliehen und, gewissermaßen unter liberianischer Flagge segelnd, ein weniger erniedrigtes Dasein zu beginnen, dieser Verdacht ist keineswegs falsch. Ich habe geschwankt! Auch wenn es nun einmal dieses Schwanken sein soll, welches uns im Rückblick erst zu Menschen macht, so ist es doch eine schändliche Schwäche. Und da kam es mir gerade recht, als dieser geschwätzige Kuchenbuch mir von Schal erzählte, mir den Floh ins Ohr setzte, eines Tages vielleicht einen ganz unvorstellbaren Aufstieg zu absolvieren. Schließlich, wie gesagt, unterstanden die Lappner ja eben diesem Herrn Schal. Woher kennen Sie ihn eigentlich, wenn ich einmal so indiskret nachhaken darf …?«
Norden sah zuerst das in die Hand gestützte Kinn seines Gegenübers, den spitzen Mund, wanderte dann mit dem Blick die fein geschnittene Nase empor bis zu den hochgezogenen Augenbrauen und der vorzeitig verhärteten Stirn: »Schal …?«, überlegte er laut, »wer ist dieser Mensch, kenne ich ihn denn …? Ich kannte ihn nur flüchtig, irgendwann sind wir, im ›Goldenen Lappen‹ glaube ich, einander vorgestellt worden …«
»Wann aber haben Sie ihn zuletzt gesehen …?«, wollte Weh-Theobaldy ungeduldig wissen.
»Sicher vor mehr als einem Jahr. Und Sie …?«
»Vor wenigen Stunden …!«, hechelte Weh-Theobaldy, »kennengelernt freilich habe ich ihn, als ich Herrn Vektor Bollo eines Tages eine Lieferung feinsten Chiffons für seine allgemein bekannten künstlerischen Wischeffekte ins Haus brachte. Sie wissen, dass wir nicht einfach jeden Stoff, den man uns überlässt, die Bettwäsche, die Übergardinen, Hemden, Tischdecken, Tagesdecken, wie man uns entweder böswillig oder kenntnislos nachsagt, gedankenverloren und ohne jedes Feingefühl zerreißen und anschließend als Lappen wieder in Umlauf bringen. Im Gegenteil, wir suchen sorgfältig aus, denn unsere Kundschaft ist mannigfaltig und anspruchsvoll …! Was sollte auch eine Scheuerfrau mit Kaschmir oder Seide, was ein Museum, dem es um die Beseitigung des Staubs auf den Vitrinen geht, mit einem kratzigen Hader …? Sicher mögen das nebensächliche Interna, uninteressante Kleinigkeiten sein … Aber die meisten Menschen sind, unter uns gesagt, sowohl böswillig als auch kenntnislos, ja, sie sind in der Hauptsache böswillig aus Kenntnislosigkeit. Doch ist das wie gesagt sowieso alles nur heiße Luft …! Der Mann, um den es geht, Schal, spielte damals jedenfalls mit dem Gedanken, sich von Herrn Bollo porträtieren zu lassen. Wahrscheinlich wissen Sie darüber viel besser Bescheid als ich …! Ich traf ihn also unverhofft in Bollos Atelier an, als ich meinen Verkaufskoffer präsentieren wollte. Bei dieser Gelegenheit sah ich Schal zum ersten Mal. Was sich jedoch als weitaus folgenschwerer herausstellen sollte, ist der Umstand, dass Schal auch mich hierbei zum ersten Male zu Gesicht bekam. Wie soll ich sagen, es war Liebe auf den ersten Blick …! Verstehen Sie mich bitte richtig, ich gebrauche diesen Begriff mit aller in einem solchen Falle zu Gebote stehenden Manneszucht! Und doch wäre mir das Wort von der Freundschaft zu lau, zu allgemein. Auch hat sich ja, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, gerade der Begriff der Freundschaft in den letzten Jahren als einer der grippeanfälligsten erwiesen. Wer ist nicht alles mit sonst wem befreundet, ich möchte beinahe sagen, alle Welt freundet sich ständig miteinander an, und wenn man sich einmal der Mühe unterzieht, ein wenig an der Oberfläche zu kratzen, Sie ahnen es, da sind sie allesamt einander spinnefeind …«
»Ja, das mag wohl so sein, doch was kam dann …?«, knurrte Norden mürrisch.
»Wir trafen uns, wir gingen miteinander aus. Hajo schrieb mir Briefe, ich besuchte ihn in seinem Haus, verbrachte zuerst nur die Wochenenden mit ihm, später ganze Monate … Am Ende wurde ich sein Kompagnon, allerdings nur inoffiziell. Für die Öffentlichkeit fungierte ich als sein Vetter aus Tallahassee, dessen Familie einst aus Belfast ausgewandert war und sich mit Seminolen vermischt hatte. Viele Menschen glaubten in der Tat, Spuren dieser indianischen Einschmelzungen in meiner Physiognomie zu erkennen …!«
Norden wuchs eine steile Falte auf der Stirn, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, und die Fingerknöchel der einen Hand knackten hörbar in der Umklammerung durch die andere: »Ihr früherer Bekannter, dieser Kuchenbuch, wusste doch über Ihre wahre Identität Bescheid …«, sagte er, »und sicher nicht als Einziger …!«
»Identität, wissen Sie, Identität ist etwas sehr Geheimnisvolles …«, beeilte sich daraufhin der Besucher, was dennoch beinahe so klang, als denke er in Wahrheit nur laut nach und richte seine Stimme dabei eher nach innen als an seine Mitwelt, »man hat diesen Begriff eine Zeitlang höchstwahrscheinlich überbewertet. Schal, der sich bestimmten Leuten gegenüber Scheidt nannte, nicht selten auch Halter, verfügte einfach über viel zu großen Einfluss, um so ein Püppchen wie Kuchenbuch nicht durch ein bloßes Schnippen mit dem Finger kaltzustellen. Dass ihm die Lappner unterstanden, das war ja nur die Außenfassade seiner Existenz, in Wirklichkeit ist das ein Renaissance-Mensch gewesen, ein geistiger Nachfahre der Medici, für den die Welt schon sehr viel länger aus den Fugen war, als meine bescheidenen Beobachtungen es glaubhaft nahezulegen vermögen …«
»Sie wollen sagen, schon lange bevor Sie überraschend zu seinem Vetter wurden …?«, unterbrach ihn Norden.
»Ja, selbstverständlich, warum fragen Sie das …?!«, reagierte Weh-Theobaldy irritiert.
»Weil Sie plötzlich auf eine neuartige Weise in der Vergangenheit von ihm sprechen, so als sei er inzwischen schon von uns gegangen …«, begründete Norden seinen Einruf, woraufhin sein Gast einen Augenblick lang innehielt.
»So etwas unterläuft mir …«, sagte er dann, plötzlich nervös kichernd, »entschuldigen Sie bitte nochmals, aber die Zeiträume, welche Schal für sich beanspruchte, ragen weit in die dunkelsten Epochen unserer Zivilisation zurück. Für ihn hat es, und damit gebe ich nur seine eigenen Worte wieder, seit der verräterischen Absetzung der Merowingerkönige durch ihre Hausmeier keine einzige Minute und schon gar keine Person mehr gegeben, der so etwas wie Identität auch nur in Andeutungen zuzusprechen gewesen wäre. Aber die meisten Menschen leben wie im Traum und kümmern sich überhaupt nicht darum, was man mit ihnen anstellt. Auch Sie nicht, Herr Norden! Oder sollte ich besser Max Tillitz zu Ihnen sagen …?!«
Die letzten Strahlen der Sonne hatten auch die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser gestreift und damit der langen, schönen blauen Abenddämmerung Raum gegeben. Wenn man es genau nahm, so hatte dieser Sommer gar keine richtigen Nächte. Aus dem Hellblau des Tages wurde Dunkelblau, dann wurde es schon wieder hell. Dennoch schaltete Norden die schmale Stehlampe ein, welche die Sitzgruppe in ein angenehm weiches Kunstlicht tauchte. Die Gesichtszüge seines Besuchers waren ihm bereits seit einigen Minuten gänzlich vor den Augen verschwommen: »Max Tillitz war ein rätselhafter Freiheitskämpfer, er ist seit vielen Jahren verschollen …«, sagte er mit erzwungener Gefasstheit, um die Frage: »Wie wäre es, ganz nebenbei bemerkt, in absehbarer Zeit mit einem Risotto …?«, unmittelbar an seine Feststellung anzuschließen.
»Gern …!«, erwiderte Weh-Theobaldy, »ich werde mich selbstverständlich an den Unkosten beteiligen …!«
»Ich bitte Sie, mein Lieber, Sie sind selbstverständlich mein Gast …!«, bestand Norden auf seiner Einladung.
Er erhob sich und ging hinüber zu seinem Schreibtisch, über dem, am Ende eines metallenen Teleskoparms, der Fernsprecher schwebte.
»Bevorzugen Sie Weißwein …?«, fragte er, während er die Nummer eines nahegelegenen Restaurants mit Lieferservice wählte.
»Bei dieser Hitze ist ein kühler Weißer sicher einem Blauburgunder vorzuziehen …!«, bestätigte der Besucher mit aufgesetzter Kennermine.
Norden bestellte ein Risotto für zwei Personen und zwei Flaschen von einem eisgekühlten Chardonnay, jener anderswo kaum bekannten Marke, mit der er aber in der Vergangenheit hier schon gute Erfahrungen gemacht hatte.
»Was wissen Sie über diesen Tillitz …?«, fragte er anscheinend emotionslos, nachdem die gastronomische Angelegenheit vorerst abgewickelt war.
»Nichts …!«, antwortete der Fremde, »rein gar nichts oder viel zu wenig …! Es war Schal, der diesen Namen mit Ihnen in Zusammenhang brachte …!«
»Seltsam, mir gegenüber hat er ihn niemals erwähnt …«
»Schal ist immer ein Taktiker gewesen, ein Mann, der die Leute, für die er ein gewisses Interesse aufbrachte, an den Fäden seiner Maschinerie tanzen ließ, ganz wie es ihm beliebte …! Wie ich schon sagte, er entwegte die Menschen. Er hat auch mich entwegt. Vor allem aber hat er sein Spiel mit den Kleinheinrichs getrieben, die ihn schon nach kurzer Zeit ganz für einen der ihren hielten …!«
Das Abendessen wurde angeliefert und von einem Kellner in bodenlanger weißer Schürze und rotem Velourgilet serviert. Die beiden Flaschen Chardonnay standen in Kühlern auf dem Schreibtisch wie auch die silbern überwölbte Servierplatte mit dem restlichen Risotto, das hatte Norden so angeordnet, da der Clubtisch sich schon für zwei Teller und Gläser in Restaurantformat, mitsamt Besteck und Servietten, als zu klein erwies. Besser gesagt, standen die Teller an seinen Rändern bereits leicht über und stießen in der Mitte fast zusammen. Nachdem man sich die Servietten in den Schoß gelegt und das Besteck zur Hand genommen hatte, ließ sich die Sache jedoch arrangieren. Der Bote ging wieder, er fand allein zum Ausgang.
Während sich die tieferen Gedanken des Besuchers, grünäugig, womöglich Lapislazuli, Flüchtling von Bienitz, Chiffonnier, falscher Vetter …, aus dem bisher Gesagten nicht ohne weiteres ableiten ließen, kreisten diejenigen Nordens um den überraschend gefallenen Namen Max Tillitz.
Die Insel Bienitz hatte eine Nachbarinsel von geographisch weit geringeren Ausmaßen, auf die sich die Überreste der Bienitzer Monarchie samt anhängiger Aristokratie noch knapp vor Ausrufung der dortigen Militärdiktatur geflüchtet hatte. Der andere, weitaus größere Teil dieser Familien war zu diesem Zeitpunkt bereits den vorausgegangenen, erbitterten Kämpfen zwischen vermeintlichen Erneuerern und hochherzigen Bewahrern zum Opfer gefallen. Diese Insel, obwohl im Großen und Ganzen durch ähnliche Vegetation geprägt, insgesamt allerdings felsiger, schroffer und ein wenig rauer im Klima, hieß Wespitz, was sich daraus erklärt, dass ihre Ureinwohner, jene fahrenden Stämme, entfernte Verwandte der späteren Kelten vielleicht, irgendeine Kugelamphorenkultur, die sie irgendwann in der ausgehenden Jungsteinzeit besiedelten, dort keine Bienenvölker kultiviert hatten. Die Beziehungen zwischen beiden Eilanden waren nie besonders freundlich gewesen, obwohl man sich über die Jahrhunderte weitgehend in Ruhe gelassen hatte, auch wenn Forscher wiederholt darauf hingewiesen haben, dass ihre Bevölkerungen, etymologisch betrachtet, einst eine gemeinsame sprachliche Wurzel gehabt haben mussten. Insulaner sind bekanntlich eigenartig in einem nicht selten äußerst zugespitzten Sinne, nahezu vernarrt in ihre Eigenheiten übertreiben sie in ihren Mythen und Legenden das Trennende, sei es gegenüber dem Festland, sei es gegenüber ihren Nachbarn, in viel stärkerem Maße als das potentiell Verbindende. Als nun das gestürzte Königshaus auf Wespitz um Exil ansuchte, strömte ihm schon bald eine Welle falscher Sympathie und Solidarität entgegen, was sich daraus herleitete, dass einem die Ankömmlinge dort zwar überhaupt nicht, die neuen Machthaber auf Bienitz aber noch viel weniger willkommen waren. Man fürchtete, die dortigen Militärs könnten, nachdem ihr Reformeifer, darunter nicht zuletzt die obligatorische Einführung der bereits erwähnten Papierkleidung, erst einmal zum Erliegen gekommen wäre, auf kriegerische Absichten gegenüber dem Nachbarn verfallen und eines Tages mit Besatzungsstreitkräften am eigenen Gestade anlanden. Angst machte sich breit, der völlig irreale Wunsch, eine Rückkehr des Monarchen auf seinen angestammten Thron herbeizuführen, wuchs von Tag zu Tag. Freilich fürchtete die Regierung auf Wespitz eine Verhärtung in den diplomatischen Beziehungen zum benachbarten Inselstaat und sah ein Anwachsen der aggressiven Tendenzen im feindlichen Offizierscorps überhaupt erst dadurch entstehen, dass man die gegnerische Seite durch die unkontrollierten Manifestationen des chaotischen Bevölkerungswillens praktisch mit der Nase auf den Gedanken einer solchen Invasion stieß, ja, sie fürchtete ein solches Szenario beinahe mehr als ein Überborden der Unruhen im eigenen Land. Deshalb entschloss man sich nach eiligen Verhandlungen in einem eigens dafür gebildeten Krisenstab dazu, eine paramilitärische Scheinguerrilla zu installieren, die unter dem Zeichen der Wiedereinführung der Monarchie auf Bienitz gegen die eigenen Interessen aufbegehren sollte und den Volkszorn dadurch hoffentlich kanalisieren und allmählich wieder beschwichtigen würde. Wer tatsächlich für die Absichten des Königshauses zu den Waffen greifen wollte, dem stünde es frei, den vorgesehenen Heldentod zu sterben, die übrigen Populisten hingegen würden sich nach einiger Zeit von den erfolglosen Marodeuren abwenden und zum Tagesgeschehen zurückkehren. Mit dem Aufbau jener Guerilla wurde dieser Version zufolge der Geheimagent Max Tillitz beauftragt, seiner Legende nach ein früherer, kriminell schon auffällig gewordener Bienitzer Rechtsanwalt aus einer kleinen Hafenstadt im Norden der Insel, dem als illegalem Flüchtling jederzeit die Auslieferung an die dortigen Militärs drohte. Die Tatsache, dass dieser Tillitz selbst kein Royalist, zur Bekämpfung des größeren Übels aber zu einem Manne des Königs (Okape) geworden war, umgab ihn mit der Aura eines Volkstribuns und potentiellen Retters zweier Inselwelten. Wie vorauszusehen gewesen war, hielt sich der Zustrom zu seinen Einheiten zwar in Grenzen, die Leute gehen für ihre Ziele und Zwecke wohl mitunter auf die Straße, in die Berge gehen sie deshalb noch lange nicht, dennoch gehörte dem versprengten Haufen für eine gewisse Zeit die Sympathie des überwiegenden Teils der Bevölkerung von Wespitz, wohingegen die Militärs auf der Nachbarinsel freie Hand erhielten, ihre eigenen Untertanen mit Fingerzeig auf die stümperhaft agierenden ›Männer des Königs‹ (Okape, Ott) weiterhin zu terrorisieren und flächendeckend in Papier einzukleiden. Die geheimen Absprachen zwischen Bienitz und Wespitz, die zum reibungslosen Ablauf des Gesamtplans notwendig wurden, soll im Auftrag der Militärdiktatur ein gewisser Halter geführt haben …
Norden öffnete die zweite Flasche Chardonnay und schenkte seinem Gast, der sich soeben mit der Serviette die Mundwinkel abtupfte, erneut ein. Das Risotto war ausgezeichnet gewesen, auf ein Dessert hatte man verzichtet, da die Hitze den Appetit zügelte und vor den alljährlich wiederkehrenden Salmonellen in Rundfunk und Presse gewarnt worden war.
»Welche konkreten Aufgaben hatten Sie als falscher Vetter unseres gemeinsamen Bekannten eigentlich zu erfüllen …«, fragte er, »denn nur als Gesellschafter wird er Ihrer nicht bedurft haben, möchte ich einmal vermuten …?!«
Weh-Theobaldy leerte sein Glas in einem Zug. Er hatte dem Weißwein schon während des gemeinsamen Essens kräftig zugesprochen, so dass seine eingefallenen Wangen sich an den Übergängen zum Jochbein mittlerweile leicht röteten.
»Nun ja …«, antwortete er, »zuerst begnügte Hajo, ich nannte ihn fortschreitend nur noch bei seinem Vornamen, sich durchaus mit dieser meiner Rolle. Während der regelmäßig veranstalteten Gelage lernte ich eine Reihe von Persönlichkeiten kennen, von denen manche öfters, andere hingegen nur sporadisch auf den Festen erschienen. Man gab sich zu Anfang hauptsächlich dem üblichen gesellschaftlichen Klatsch und Tratsch hin, die meisten der Gäste waren ohnehin Kleinheinrichs, wirtschaftlich und politisch einflussreiche Herrschaften, denen vor allem die moralische Freizügigkeit im Hause Schal gefiel. Nach und nach bemerkte ich allerdings, dass sich gewisse Veränderungen in der sonst eher oberflächlichen Konversation abzuzeichnen begannen. Vereinzelt sickerten plötzlich Gerüchte durch, die an das fanatisierte Geschwätz Kuchenbuchs erinnerten, wenn auch in weitaus umfänglicherem Maße. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die sogenannte Affäre Jungfrauenfleisch, die, wenn auch ohne nähere Nennung von Namen, durch gewisse Strömungen innerhalb der öffentlichen Berichterstattung schamlos lanciert worden war. Es ist in diesem Zusammenhang von Ungeheuerlichkeiten die Rede gewesen, auf die ich hier nicht noch einmal eingehen möchte, dennoch blieb das Ganze damals seltsam in der Schwebe. Irgendwo in einflussreichen Kreisen gingen demnach Dinge vor, wie man sie bestenfalls im Flüsterton zu besprechen wagte. In dieser Zeit ahnte ich erstmals, dass etwas noch nicht wirklich Fassbares bevorstand, der Idee einer Verschwörung dunkler Kräfte gegen das Wohl der Allgemeinheit nicht unähnlich …«
»Sie meinen damals erste Anzeichen für Ihren späteren, auf Schal bezogenen Verdacht wahrgenommen zu haben …?«
»Das kann ich rückblickend leider nicht mehr mit Bestimmtheit sagen …«, wiegelte Weh-Theobaldy ab, »auf jeden Fall rückte unversehens die Volksgruppe der Lapislazuli auf eine bis dahin nicht gekannte Weise ins Zentrum von Gesprächen, die ich während der Abende im Hause Schal mitverfolgen konnte …«
»Sie werden wieder unkonkret …!«, warf Norden gereizt ein.
»Dann muss ich es eben anders versuchen …«, entschuldigte sich der Besucher, »ganz anders werde ich es einfädeln müssen …! Nichts liegt mir ferner, als Sie noch länger im Trüben fischen zu lassen, glauben Sie mir das …!«
»Ich glaube Ihnen ja, zumindest bemühe ich mich darum …! Aber Ihr Gegenstand scheint mir, soweit ich das bislang zu beurteilen vermag, ganz einfach noch nicht weit genug durchdrungen! Was haben Sie denn nun damals vernommen, was schwante Ihnen lediglich, was darunter zeichnete sich greifbar ab …?«
Weh-Theobaldy überlegte kurz, indem er seinen Hut aufnahm, den er für die Dauer des gemeinsamen Essens unter dem Tisch abgelegt hatte. Er drehte ihn ein paarmal in den Händen, blickte in die Kappe mit dem fleckigen Schweißband, dann wieder von oben auf die Krempe. Er atmete tief durch die Nase ein, schloss die Augen, sank ein wenig nach hinten, schnellte dann aber plötzlich wieder nach vorn, wobei er Nordens Gesicht dermaßen nahe kam, dass dieser, der gerade seine Zigarre über einem Streichholz zu schwenken begonnen hatte, nun seinerseits zurückwich und die Flamme wieder ausblies …
»Immer öfter steckten damals die Kleinheinrichs die Köpfe zusammen …«, begann der Besucher erneut, »nicht jedes dieser Gespräche war für jedermanns Ohren bestimmt, will sagen, auch ein irisch-seminolischer Vetter musste sich zuweilen damit begnügen, nur noch da und dort in ihre Machenschaften eingeweiht zu werden. Während einer Wolfsjagd, zu der Schal die allermeisten der mir mittlerweile schon bekannt gewordenen Persönlichkeiten eingeladen hatte, wurde ich Zeuge einer Begegnung zweier Herren, deren Namen mir später allerdings wieder entfallen sind. Es handelte sich dabei um eine Lappenjagd, ein für mich höchst verfänglicher Umstand, den Schal ganz bewusst initiiert zu haben schien, um mich, der ich ja sein Chiffonnier war, auf die Probe zu stellen. Ich fühlte mich während der Jagd die ganze Zeit über von ihm beobachtet, aus der Ferne, aus den Augenwinkeln, stets mit einem hintergründigen, ich möchte sagen bösartigen Lächeln auf den Lippen. Ich konnte also auch hier nur mit einem Ohr zuhören, meine übrige Aufmerksamkeit musste dem schweißenden Wild gehören, dem Geviert aus Draht und Lappen, aus dem es nicht entweichen durfte. Was soll ich sagen, es ging dabei um gewisse Behauptungen über mein Volk, besonders in Bezug auf das schöne Geschlecht. Wie Sie vielleicht wissen werden, ist es den Lapislazuli gestattet, ihre Brautschau in begrenztem Rahmen auch auf Frauen auszudehnen, die nicht im engeren Sinne der eigenen Rasse entspringen. Zwar werden diese Frauen bereits mit der Verlobung dem sogenannten Kontingent zugeschlagen, werden also forthin selbst als Lapislazuli geführt, behalten allerdings verschiedene Privilegien ihrer Herkunft, was nicht zuletzt in Erbschaftsangelegenheiten positiv zu Buche schlägt. Wie ich vernahm, erkannte man in dieser Regelung inzwischen einen willkommenen Schwachpunkt, eine Angriffsfläche, einen Herd für die folgenschwere Ausstreuung entsetzlicher Gerüchte …«
»Einen Moment bitte …!«, unterbrach Norden jäh. »Sie wollen damit sagen, man reagierte damit auf die Vorwürfe aus der von Ihnen genannten Affäre …?! Aber waren denn die Gelage und Jagden, zu denen Schal eingeladen hatte, wirklich solche unbeschreiblichen Orgien?«
»Keineswegs …«, beeilte sich sein Besucher zu antworten, »gemessen an anderen offiziellen Empfängen und Bällen, über die man sich ja ohne weiteres ganz legal informieren kann, waren sie mitunter vielleicht etwas delikat im Thematischen, im Grunde aber sind das völlig harmlose Veranstaltungen gewesen.«
»Nun, vorhin sprachen Sie selbst noch von einer gewissen Großzügigkeit in sittlichen Dingen …!«, ermahnte Norden seinen Gast, »was genau also muss man sich vorstellen …? Wenn ich an die genannte Affäre zurückdenke, so sollen dort ja sogar Föten verzehrt worden sein, ein zugegebenermaßen etwas sonderbarer Vorwurf. Allerdings ist er erhoben worden, man musste der Sache nachgehen, wenn auch freilich nur, den aufgekommenen Verdacht nach kurzer Untersuchung offiziell zu entkräften …«
Norden zündete sich die zwischenzeitlich wieder erkaltete Zigarre nun doch an und ließ den eingesogenen Rauch durch seine heftig bewegten Lippen zurückströmen, was ihm für die Dauer weniger Augenblicke ein ungewohnt froschartiges Aussehen verlieh. Weh-Theobaldy schaute ihm dabei bewundernd zu, bewegte sogar seinerseits stumm den leicht geöffneten Mund mit und folgte den sich kringelnden Schwaden mit neugierigem Blick. Wahrscheinlich hatte er noch nie zuvor einen vergleichsweise so jungen Menschen bei einer so greisen Verrichtung erlebt. Dann zuckte er unwillkürlich zusammen, als sei, das ist eine volkstümliche Redewendung, in dem Augenblick der Tod mit seiner Sense über ihn gesprungen.
»In Zeiten unergiebiger Geschäftslage sucht man nach Skandalen …«, sagte er beinahe beschwichtigend, »das ist nicht neu, das war schon immer so. Sicher wurde während der Gelage recht ordentlich