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Warum kapern Menschen ein Flugzeug und stürzen sich mitsamt der übrigen Insassen in den Tod? Die Anschläge des 11. September wurden weithin als islamischer Akt der Selbstopferung gedeutet. Navid Kermani geht in diesem Buch der Frage nach, inwiefern solche Selbstmordanschläge wirklich der islamischen Tradition entspringen oder ein spezifisch modernes Phänomen sind. Um sie zu beantworten, analysiert er die Idee der Selbstopferung im islamischen wie im westlichen Denken. Nietzsche, so Navid Kermani, trage mehr dazu bei, den 11. September zu verstehen als der Koran. Eine kürzere Fassung des Textes ist im März im Times Literary Supplement erschienen und hat im angelsächsischen Raum Aufsehen erregt.
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Seitenzahl: 93
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Göttinger Sudelblätter
Herausgegeben vonHeinz Ludwig Arnold
Navid Kermani
Martyrium, Islam und Nihilismus
Der vorliegende Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 6. November an der Berliner Volksbühne gehalten habe. Die Frage, die zu beantworten der Dramaturg Carl Hegemann mich gebeten hatte, schien in den Wochen nach dem 11. September jedem auf den Lippen zu liegen: Warum sind Menschen bereit, ein Flugzeug zu kapern und sich mitsamt der übrigen Insassen in den Tod zu stürzen? Eine erste kurze Fassung des Vortrags, den ich anschließend auch in London und Jerusalem gehalten habe, hat die tageszeitung am 20. November 2001 abgedruckt. In erweiterter Form ist das Manuskript im Times Literary Supplement vom 29. März 2002 erschienen. Eine ebenfalls englische, wesentlich längere Fassung ist seit März 2002 auf der Webseite von openDemocracy zu lesen (www.opendemocracy.net/forum/document_details.asp?CatID=110&DocID=1106).
Angeregt und bereichert durch die Diskussionen, die ich mit dem Publikum der Vorträge wie mit Lesern der verschiedenen Fassungen führen durfte, habe ich für die Veröffentlichung in den Göttinger Sudelblättern das gesamte Manuskript überarbeitet, es an vielen Stellen erweitert und bibliographische Hinweise hinzugefügt.
Ich danke dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, das mir wie so viel anderes auch die Arbeit an diesem Text ermöglichte, und Malte Büchs, der mich gleichermaßen kreativ wie beharrlich unterstützte. Danken möchte ich auch Heinz Ludwig Arnold für die Freundschaft, die zwischen uns gewachsen ist.
Berlin, im Juni 2002
Navid Kermani
»Gott selbst ward Nihilist.«Friedrich Nietzsche
Die erste Geschichte beginnt am Morgen des dritten Oktobers 680 in der Ebene von Kerbela im heutigen Irak. Damals stand der Enkel des Propheten und dritte Imam der Schiiten, Hussein ibn Ali, mehreren tausend Soldaten des umayyadischen Kalifen Yazid gegenüber. Der Konflikt zwischen Hussein und Yazid, dem Imam und dem Kalifen, hat das Schisma der Muslime, die damals noch nicht formal in Sunniten und Schiiten geteilt waren, besiegelt. Entbrannt war der Streit eine Generation zuvor. Die Schia, die »Partei« Ali ibn Abi Talibs, erklärte ihn, den angesehenen Cousin und Schwiegersohn des Propheten, zum göttlich vorgesehenen Führer der Gemeinde, während die Vorfahren der Sunniten das Kalifat akzeptierten, das Mu‘awiya ibn Abi Sufyan in Damaskus, fern von Mekka also und ohne religiöse Weihe, ausrief. Ali war erdolcht, sein Sohn Hassan wohl vergiftet worden, nun herrschte Yazid, der Sohn Mu‘awiyas. Die Einwohner von Kufa weigerten sich jedoch, dem Kalifen zu huldigen, den sie als Tyrannen und Verräter an der Botschaft des Propheten verachteten. Sie riefen Hussein zu Hilfe, den zweiten Sohn Alis, der bis dahin ein zurückgezogenes Leben in Mekka geführt hatte. Die Bücher beschreiben ihn als sanften, feingeistigen Mann, nicht als Krieger, der sich jedoch dem Hilferuf der bedrängten Bevölkerung von Kufa nicht entziehen konnte. Also brach der Enkel des Propheten am 9. September 680 mit seiner Familie, vierzig Reitern und hundert Mann zu Fuß auf, um gemeinsam mit den Kufanern das Erbe seines Großvaters zu retten.
Am 2. Oktober, dem 2. Moharram des Jahres 61 nach islamischer Zeitrechnung, lagert die Karawane Husseins bei Kerbela, einem Flecken am Euphrat, siebzig Kilometer südlich von Kufa. Dort spürt sie am nächsten Tag das umayyadische Heer auf und versperrt ihnen den Zugang zum nahen Fluß; der Wasservorrat ist bald aufgebraucht, kein Schatten lindert die Hitze, nicht nur die Kinder leiden entsetzlich. Vergeblich wartet Hussein auf die versprochene Unterstützung aus Kufa. Wahrscheinlich weiß er nicht, daß der dortige Gouverneur, vom Aufbruch Husseins aus Mekka aufgescheucht, die Bevölkerung inzwischen terrorisiert und unter anderem Husseins Vetter Muslim ibn Aqil hingerichtet hat. Kein Kufaner wagt oder vermag es mehr, dem Imam zu Hilfe zu kommen. Derart im Stich gelassen, wird Hussein vom umayyadischen General Umar ibn Sa‘d in tagelangen Verhandlungen zur Anerkennung Yazids gedrängt – ohne Erfolg. Als daraufhin die Schlacht unvermeidlich geworden ist, entläßt Hussein – im sicheren Wissen um den Ausgang des bevorstehenden Kampfes und vom Durst bereits stark geschwächt – seine Gefährten aus dem Treueschwur und fordert sie auf, dem bevorstehenden Massaker zu entfliehen. Dieses Detail ist für das Thema des vorliegenden Aufsatzes sehr wichtig: Hussein will seine zweiundsiebzig übriggebliebenen Gefährten überreden, nicht den Märtyrertod zu sterben. Die Gefährten weigern sich jedoch, Hussein allein der feindlichen Armee zu überlassen, und so ziehen sie am Morgen des 10. Moharram gemeinsam in eine Schlacht, die keiner von ihnen überlebt.1
Angefangen mit dem Schriftsteller und Rassentheoretiker Arthur Comte de Gobineau, der im dreizehnten Kapitel seines berühmten Werkes Les religions et les philosophies dans l’Asie centrale das Geschehen von Kerbela als eine griechische Tragödie interpretierte, haben westliche und iranische Gelehrte wiederholt die Frage nach der Freiheit Husseins diskutiert.2 Betonten die einen, daß der Imam wissentlich nach Kerbela und damit freiwillig in sein Verderben gezogen, daß er auf dem Weg gewarnt worden sei, sehen die anderen in ihm einen mutigen, aber nicht tollkühnen Helden, der beim Auszug aus Mekka gute Gründe hatte, auf die aufständische Bevölkerung von Kufa zu hoffen. In der Ebene von Kerbela Yazid anzuerkennen verwehrten ihm Charakter und Ehrgefühl, er hätte damit nicht nur die bedrängten Kufaner, sondern auch seine Familie mitsamt dem Propheten verraten. Husseins Passion sei unausweichlich gewesen und daher tragisch im eigentlichen Sinne.
Die muslimische Geschichtsschreibung hält die Schlacht in all ihren Stadien und dramatischen Bildern fest.3 Beispielsweise schildern die Historiker, darunter auch die sunnitischen wie der große Gelehrte des frühen 10. Jahrhunderts, Muhammad ibn Dscharir at-Tabari,4 wie Husseins einjähriger Sohn vom Pfeil getroffen wird.
»Wir sind Gottes, und zu ihm kehren wir zurück!« ruft Hussein: »Herr, gib mir die Kraft, dieses Elend zu ertragen.«
Vom Durst gepeinigt, schlägt er sich dann zum Euphrat durch.
»Laßt ihn nicht trinken!« brüllt der gefährlichste Kommandant der Umayyaden, Schimr, eben als Hussein sich niederkniet. »Wenn er trinkt, wird er zum Leben zurückkehren!«
In dem Augenblick, da Hussein trinkt, wird sein Gaumen von einem Pfeil durchbohrt. Er speit das Wasser aus, zieht sich den Pfeil aus dem Gaumen und eilt zu den Zelten zurück. Dort will ihm der General Umar ibn Sa’d den Todesstoß versetzen, doch als Hussein ihn anblickt, weicht er zurück. Dem Blick ist er nicht gewachsen. Da kommt Schimr mit sechs Männern, von denen einer Husseins Arm mit einem Hieb von der Schulter trennt und den Rücken Husseins durchbohrt. Schimr selbst trennt den Kopf vom Rumpf. Der Leib des Imams wird auf Befehl des umayyadischen Generals von den Hufen der Pferde zerstampft und später von Beduinen der Gegend beerdigt; Frauen und Kinder werden verschleppt, Husseins Kopf als Trophäe nach Damaskus gebracht, wo ihn der Kalif Yazid am Osttor der Umayyadenmoschee zur Schau stellen läßt.
Es gibt kein historisches Ereignis, das die Schiiten stärker bewegt hätte als die Aschura (»der Zehnte«), jener zehnte Tag von Kerbela. Noch heute kann es geschehen, daß Iraner, erwachsene Männer und Frauen, auch Angehörige der verweltlichten Mittel- und Oberschicht, plötzlich in Schluchzen ausbrechen, wenn jemand auf den Tod Husseins zu sprechen kommt. Bis auf den letzten, den »Verborgenen« sind alle zwölf Imame der Schia, also diejenigen religiösen Führer, die in der direkten Nachfolge des Propheten stehen, nach schiitischer Überlieferung ermordet worden, aber nur das Schicksal Husseins ist zum Gleichnis des Weltgeschehens als solchem geworden. Verkörpert seine Person das Gute, das Gerechte, das Unschuldige schlechthin, so steht sein Widerstand für jegliches Aufbegehren gegen Unterdrückung und Tyrannei. In Husseins Schmerz drückt sich das Leiden der gesamten Menschheit aus, sein Tod wurde zum Synonym der betrogenen Menschheitshoffnung auf eine bessere Zukunft.5 Kein historisches Ereignis der schiitischen Geschichte ist ohne den Hintergrund der Schlacht von Kerbela zu begreifen. Besonders im 20. Jahrhundert, als sie von der Staatsmacht verboten, behindert oder zumindest an den Rand gedrängt wurden, erhielten die Trauerfeiern für Hussein oft einen politischen, oppositionellen Charakter, und während der iranischen Revolution, die sich als ein Aufbegehren gegen den »Yazid dieser Zeit« verstand, war der Moharram eine der intensivsten und wichtigsten Phasen. Am 1. Moharram, dem 2. Dezember des Jahres 1978, durchbrach um neun Uhr abends, der Stunde von Husseins Ankunft in Kerbela, der Ruf »Allaho akbar – La elaha ella llah« (»Gott ist am größten – Es gibt keinen Gott außer Gott«) von tausenden Dächern aus die Stille, die den meisten iranischen Städten durch die Ausgangssperre und das Kriegsrecht aufgezwungen worden war. Am 9. und 10. Moharram schließlich strömten jeweils Millionen Menschen zum Freiheitsplatz in Teheran. »Nie war Ashura leidenschaftlicher und fröhlicher als in diesem Jahr«, bemerkte der französische Islamwissenschaftler Yann Richard hierzu: »Der Volkstaumel erreichte seinen Höhepunkt, die Demonstranten fielen sich in die Arme: das war nicht mehr die Niederlage von Kerbela, sondern eine Vergeltung gegenüber dem Yazid dieser Zeit.«6
Noch der Alltag ist durchsetzt von der Metaphorik jener Ereignisse. Wer im Sommer durch iranische Städte reist, wird allerorten große, eisgekühlte Bottiche finden und Einheimische, die ihm Wasser anbieten. Die beinah religiöse Verehrung des Wassers erklärt sich mit dem Durst, den Hussein in Kerbela gelitten hat. Zum Symbol der Schiiten, das sie als Amulett tragen oder als Standarte hochhalten, wurde die Hand von Abulfazl, dem Halbbruder Husseins, die abgeschlagen wurde, eben als er seinen Gefährten in Kerbela Wasser reichen wollte. Unzählige Ausschmückungen, Wunder, Prophezeiungen und Traumbilder haben sich auf das historische Ereignis gelegt; allein die Legenden, die sich um den abgeschlagenen Kopf Husseins ranken, füllen Bücher. Die schiitischen Erzählungen und Elegien, die alljährlich im Moharram vorgetragen werden, wissen von den alttestamentlichen Patriarchen, die gemeinsam mit Mohammed um die Märtyrer von Kerbela weinen, und kennen den Traum der Sakinah, in dem Gott zweitausend Jahre vor der Erschaffung der Erde dem »fremden, verdursteten Märtyrer« ein Schloß mit weißen Kuppel auf einer Wiese, die vom Himmel zur Erde reicht, errichtet hat. Wer auf persisch einen Brief an Freunde oder Verwandte unterzeichnet, schreibt nicht »Herzliche Grüße« oder »Alles Liebe«, sondern »Dein Opfer«.7
Die Passion Husseins wurde zum Gründungsmythos im kulturellen Gedächtnis der Schiiten, und bis zu welchem Grade dieser Mythos als Kritik am tatsächlichen Verlauf der islamischen Geschichte zu verstehen ist, untermauert die Überlieferung immer wieder neu. Yazid, so heißt es etwa, habe vor der Umayyadenmoschee in Damaskus mit einem Stock ostentativ auf den Mund des geköpften Imams geschlagen, als ein Greis aus der Menge getreten sei. »Nimm deinen Stock weg von diesem Mund«, habe er den gefürchteten Kalifen angeherrscht. »Ich habe gesehen, wie der Prophet ihn geküßt hat.«8