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Navid Kermani

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Beschreibung

Kaum ein Wort in Deutschland hat solches Gewicht: Navid Kermani hat sich zum führenden Intellektuellen seiner Generation entwickelt, und doch interpretiert er diese Rolle ganz anders als Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser, mit denen er oft verglichen wird, nie mit einer steilen These, sondern zweifelnd, beobachtend und stets mit dem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Aber eben deshalb gibt er der öffentlichen Debatte immer wieder eine neue Richtung, die aus den bekannten Denkschemata hinausweist. Ohne sein Wort würde Deutschland etwas fehlen. Mit fünfzehn Jahren begann Navid Kermani in seiner Geburtsstadt Siegen regelmäßig für die Lokalzeitung zu schreiben, und bereits während seines Studiums in Köln arbeitete er als fester Autor für das Feuilleton der FAZ. Seine Berichte aus den Kriegs- und Krisengebieten der Welt wurden Bestseller. Neben seiner vielfach ausgezeichneten literarischen Arbeit ist der Kölner Schriftsteller immer auch Reporter und politischer Kopf geblieben. Wie kaum ein anderer beherrscht er die Kunst, aktuelle Ereignisse wie mit Röntgenstrahlen zu durchleuchten, so dass tiefer liegende Konfliktschichten und Handlungsoptionen sichtbar werden, wo Politiker keinen oder nur einen einzigen Ausweg sehen. Der Band versammelt erstmals seine wichtigsten politischen Artikel aus fast drei Jahrzehnten, vom Terror im Nahen Osten über die Krisen Europas und Rußlands Überfall auf die Ukraine bis hin zum generischen Maskulinum. Man mag kaum glauben, wie lang Kermani uns schon begleitet, so mitfühlend, so wach, mit einer fast kindlichen Neugierde, schaut er bis heute auf die Welt.

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Navid

Kermani

Was jetzt

möglich ist

33 politische Situationen

C.H.Beck

Zum Buch

Kaum ein Wort in Deutschland hat solches Gewicht: Navid Kermani hat sich zum führenden Intellektuellen seiner Generation entwickelt, und doch interpretiert er diese Rolle ganz anders als Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser, mit denen er oft verglichen wird, nie mit einer steilen These, sondern zweifelnd, beobachtend, und stets mit dem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Aber eben deshalb gibt er der öffentlichen Debatte immer wieder eine neue Richtung. Der Band versammelt erstmals seine wichtigsten politischen Artikel aus fast drei Jahrzehnten, vom Terror im Nahen Osten über die Krisen Europas und Rußlands Überfall auf die Ukraine bis hin zum generischen Maskulinum. Man mag kaum glauben, wie lang Kermani uns schon begleitet, so neugierig, mitfühlend und analytisch scharf blickt er auf die Welt.

Über den Autor

Navid Kermani ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt «Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa» (2017), «Morgen ist da. Reden» (3. Aufl. 2020, C.H.Beck Paperback 2021) und «Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan» (5. Aufl. 2020, C.H.Beck Paperback 3. Aufl. 2021).

Inhalt

Vorwort

1: Islam gegen Islam

Das Urteil gegen den ägyptischen Korangelehrten Nasr Hamid Abu Zaid

Frankfurter Rundschau, 4. September 1993

2: Die tausend Stimmen des Schweigens

Die Situation von Künstlern und Intellektuellen in Iran

Süddeutsche Zeitung, 12. August 1995

3: Sympathie für den Satan

Nach den Anschlägen des 11. September

Süddeutsche Zeitung, 18. September 2001

4: Die leisen Worte der Gewalt

Nach Beginn des Krieges in Afghanistan

Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 2001

5: Welche Alternative?

Vor dem Krieg im Irak

Süddeutsche Zeitung, 27. Februar 2003

6: Leider recht behalten

Der Anschlag auf die Synagoge in Istanbul

Süddeutsche Zeitung, 27. November 2003

7: Strategie der Eskalation

Zur Geiselnahme in Beslan

Neue Zürcher Zeitung, 11. September 2004

8: Gut, daß ihr mich erzieht …

Eine Verwirrung in der Integrationsdebatte

die tageszeitung, 20. November 2004

9: Verzweiflungsdruck und Enthusiasmus

Nach Frankreichs Referendum zur Europäischen Verfassung

Süddeutsche Zeitung, 3. Juni 2005

10: Haßbilder und Hysterie

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen

Süddeutsche Zeitung, 8. Februar 2006

11: Israel schwächt sich, wenn es nur auf Stärke baut

Zum Krieg im Libanon

Süddeutsche Zeitung, 7. August 2006

12: Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte

Über Europa als Utopie und als werdende Wirklichkeit

Neue Zürcher Zeitung, 23. September 2006

13: Wir sind Murat Kurnaz

Vor dem Auftritt von Außenminister Steinmeier vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestags

die tageszeitung, 29. März 2007

14: Die Kölner Botschaft

Die Debatte um den Bau einer repräsentativen Moschee

Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007

15: Am Mittwoch der Tod?

Der Prozeß gegen Ajatollah Borudscherdi in Teheran

Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2007

16: Keine Mail von Dieter Beine

Die Aberkennung des Hessischen Kulturpreises

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Mai 2009

17: Absage an Europa

Die Volksabstimmung zum Minarettverbot in der Schweiz

Süddeutsche Zeitung, 11. Dezember 2009

18: Staat ohne Volk

Die neuerlichen Massenproteste in Iran

Die Zeit, 30. Dezember 2009

19: Triumph des Vulgärrationalismus

Die Empörung über Martin Mosebach und das Verbot der Beschneidung

Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 2012

20: Fürs gute Gewissen ist es zu spät

Der Bürgerkrieg in Syrien

Süddeutsche Zeitung, 28. Juni 2013

21: Abschied vom Orient

Der Vormarsch des «Islamischen Staats» auf Bagdad

Die Zeit, 26. Juni 2014

22: Stoppt den «Islamischen Staat»!

Der drohende Genozid an Christen, Jesiden und anderen Volksgruppen im Irak

Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Kölner Stadtanzeiger, Mitteldeutsche Zeitung, 15. August 2014

23: Die europäische Idee versinkt

Das Mittelmeer als Massengrab

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. April 2015

24: Auf Kosten unserer Kinder

Europa nach dem Brexit

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juni 2016

25: Was uns in dieser Lage möglich ist

Nach den Anschlägen in Ansbach, Würzburg und München

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 2016

26: Wie schwer zwei Säcke wiegen

Auf der Suche nach den letzten blinden Flecken des Fortschritts in China

Die Zeit, 16. Januar 2020

27: Das Lachen von Nasrin Sotudeh

Iran am Internationalen Tag der Menschenrechte

Die Zeit, 10. Dezember 2020

28: Für drei Dollar am Tag

Nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 2021

29: Politik statt Programm

Die Kanzlerschaft Angela Merkels

Die Zeit, Le Monde, 23. September 2021

30: Afghanistan? Schon kein Thema mehr

Das deutsche Desinteresse an der Welt

Die Zeit, 4. November 2021

31: Preis der Gerechtigkeit

Das Verschwinden des generischen Maskulinums

Die Zeit, 4. Januar 2021

32: Krieg als Mittel der Politik

Nach der Ankündigung Wladimir Putins, russische Truppen in den Donbass zu verlegen

Die Zeit, 24. Februar 2022

33. Durch die Nacht

Die Ukraine im Krieg

Die Zeit, 5. Mai 2022

Vorwort

Zeitungen sind vergänglich. Den ältesten Text, den ich für das vorliegende Buch vorgesehen hatte, den Artikel über Nasr Hamid Abu Zaid in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1993, konnte ich zu Hause nirgends finden, nicht einmal als Datei in meinem Computer. In der Annahme, dort sei der Artikel elektronisch erfaßt, wandte sich mein Lektor an die Frankfurter Rundschau – vergebens. Gut, dann gibt es doch sicher einen Keller, in dem ältere Jahrgänge der Zeitung lagern, glaubte der Lektor, und gegen ein entsprechendes Entgelt werde die entsprechende Ausgabe hervorgeholt. Nein, gibt es nicht, teilte die Redaktion mit: Die Frankfurter Rundschau, die bis vor wenigen Jahren zu den vier, fünf überregionalen Zeitungen im deutschsprachigen Raum gehörte, mit einem herausragenden Feuilleton und einer Auslandsberichterstattung, deren schierer Umfang heute kaum glaublich erscheint – sie verfügt heute nicht einmal mehr über ein Archiv. Schließlich begab sich eine Mitarbeiterin des Verlags in die Münchner Staatsbibliothek und fand in einem der Regale tatsächlich die große, staubbedeckte Kladde mit dem Jahrgang 1993. Als sie die Ausgabe vom 4. September aufschlug, war sie so geistesgegenwärtig, nicht nur den gesuchten Artikel über Abu Zaid abzuphotographieren, sondern auch die Titelseite: «Ukraine gibt Atomwaffen ab. Auch über die Schwarzmeerflotte Einigung mit Rußland erzielt». Dreißig Jahre später, im März 2022, herrschte in der Ukraine Krieg.

Mit fünfzehn Jahren habe ich begonnen, für die Siegener Lokalredaktion der Westfälischen Rundschau zu arbeiten. Von Ratssitzungen über Theateraufführungen und Rockkonzerte bis hin zu Demonstrationen gegen die geplante Stadtautobahn und die unvermeidlichen Schützenfeste gab es nichts, worüber ich nicht berichtet hätte. Seither habe ich immer weiter für Zeitungen geschrieben, anfangs häufiger, seit meinen ersten Buchveröffentlichungen eher sporadisch. Was habe ich aus den politischen Situationen gelernt, die ich beschrieben oder kommentiert habe? Wenn ich nur einen Punkt herausgreifen soll, wäre es dieser: Gelernt oder genauer gesagt: erfahren, ja, mit eigenen Augen gesehen habe ich, wie einzelne Ereignisse, die regional begrenzt zu sein scheinen, weit entfernt und Jahre später massive Eruptionen auslösen können. Wie in der Natur scheint auch in der Politik alles mit allem durch eine Kette von Ursache und Wirkung verbunden, die in ihrer Komplexität selten vorauszusehen ist, aber im nachhinein bisweilen erkennbar wird.

Ich erinnere mich, daß afghanische Bekannte 1989 behaupteten, die Berliner Mauer sei eigentlich von Afghanen zu Fall gebracht worden. Als Student schien mir das etwas weit hergeholt, aber als ich mich näher mit den Ereignissen beschäftigte, ging auch mir schnell auf, daß die Reformpolitik Michail Gorbatschows, die zur deutschen Einheit führte, kausal mit dem erfolgreichen Widerstand der Mudschaheddin zusammenhing – und also mit der Entscheidung des Kremls, 1979 in Afghanistan militärisch zu intervenieren. Oder: Hätte 1952 der demokratische Bewerber Adlai Stevenson die Wahl zum amerikanischen Präsidenten gewonnen, dann hätte ein Jahr später die CIA nicht in Teheran die demokratische Regierung Mossadegh gestürzt und wäre es 1979 nicht zur Islamischen Revolution und zur Besetzung der amerikanischen Botschaft gekommen – mit allem, was daraus für das Verhältnis zwischen dem Westen und der islamischen Welt folgte. Dabei hatte wohl nicht einmal Dwight D. Eisenhower selbst im Wahlkampf viel über Iran nachgedacht. Und so weiter und so fort bis hin zur Ukraine: 1993 wollte das Land seine Nuklearwaffen nicht nur im Vertrauen auf das russische Versprechen abgeben, seine Souveränität in den bestehenden Grenzen zu respektieren. Wie aus der Meldung auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau vom 4. September 1993 hervorgeht, verlangte die Ukraine außerdem Sicherheitsgarantien des Westens. Ich glaube nicht, daß sich außerhalb der Fachwelt irgendwer noch an diese Forderung erinnert – ich selbst tat es jedenfalls nicht. Vielleicht wurde sie seinerzeit in den westlichen Hauptstädten nicht einmal ernstgenommen. Aber dreißig Jahre später weiß die ganze Welt, wie berechtigt die Forderung war. Sie seinerzeit zu erfüllen, hätte den Krieg womöglich verhindert, der nicht nur für die Ukraine verheerend ist, für Rußland, für ganz Europa, sondern weit entfernt in Ostafrika zu fürchterlichen Hungersnöten führen wird. Im schlimmsten Fall folgt aus der damaligen Weigerung, die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, der Dritte Weltkrieg.

Der Gedanke kam mir oft, als ich die Artikel für das vorliegende Buch zusammenstellte: Daß politische Entscheidungen, die man womöglich sogar als bedenklich markiert, gleichwohl in ihren Konsequenzen nicht absieht, lange Zeit später und ganz woanders dramatische Folgen haben. Manchmal allerdings können die Folgen auch viel früher eintreten, und das Seltsame ist: Jeder ist dann genauso überrascht. Ohne den fluchtartigen Rückzug des Westens aus Afghanistan wäre Rußland vermutlich nicht versucht gewesen, die Ukraine anzugreifen, in der Annahme, daß der Westen uneinig, müde, ängstlich, mit sich selbst beschäftigt und also zu keiner entschlossenen Reaktion fähig sein würde. Man ahnte wohl, daß die Bilder vom Kabuler Flughafen, wo Afghanen sich vergeblich an die amerikanischen Flugzeuge klammerten, weiteres Unheil nach sich ziehen würden, und zwar nicht nur für Afghanistan selbst. Nicht nur ich schrieb, daß die Herrschaft der Taliban auch im Westen spürbar sein würde, etwa durch neue Fluchtbewegungen, verbilligte Drogen, terroristische Rückzugsgebiete oder die weitere Stärkung Chinas. Aber daß nur wenige Monate später mitten in Europa Krieg herrschen würde – nein, das hat niemand auf der Rechnung gehabt, außer vielleicht im Kreml selbst. Und doch läßt sich im Rückblick ein Zusammenhang erkennen, der vom Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan 1979 über das Erstarken des islamischen Fundamentalismus und die Anschläge vom 11. September bis hin zu den Kriegen Amerikas im Nahen Osten, der Passivität des Westens in Syrien, der Flüchtlingskrise 2015 und schließlich zum Brexit, zu Trump und der Schwäche des Westens reicht, die China und Rußland immer selbstbewußter auftreten ließ. Im Grunde gilt das für alle Bereiche unseres sozialen Lebens, nur merken wir es nicht bereits, wenn wir die Zeitung von heute aufschlagen, und schon gar nicht, wenn wir lediglich die Nachrichten verfolgen oder im Netz die Topthemen anklicken. Man denke nur an den Klimawandel, den wir im Norden maßgeblich bewirken und der im Süden zu schweren Dürren führt, durch die wiederum Kriege ausbrechen und ganze Völker ihre Lebensgrundlagen verlieren – wenn nicht sogar physisch den Boden unter ihren Füßen wie in Bangladesch oder auf den Malediven. Was für eine Illusion, zu glauben, daß wir von den Entwicklungen um uns herum auf diesem immer kleiner werdenden Planeten abgeschottet wären – und wie ernüchternd, zu sehen, daß die Illusion mit jedem Wahlkampf von neuem gehegt wird, in dem es alle vier Jahre wieder nur um Deutschland, Deutschland, Deutschland geht.

Das vorliegende Buch bildet die maßgeblichen politischen Entwicklungen der vergangenen drei Jahrzehnte nicht repräsentativ oder gar gültig ab, schon weil die Themen, über die ich mich zu äußern vermag, nun einmal begrenzt sind. Hinzu kommt, daß ich, wie bereits angedeutet, in manchen Jahren häufiger für Zeitungen schrieb, dann wieder über Jahre kaum, weil mich die Bücher oder auch mal das Leben zu sehr in Beschlag nahmen. Zudem bestand bis zur Pandemie ein guter Teil meiner publizistischen Arbeit aus Reportagen. Je inflationärer die Meinungen von jedem zu allem wurden, seit es die Talkshows und das Internet gibt, desto stärker wurde mein Drang zu berichten. Die Reisen aber haben, auch wenn viele Reportagen zunächst als Zeitungstexte erschienen, fast immer zu eigenen, in sich abgeschlossenen Büchern geführt. Ebensowenig berücksichtigt habe ich die Feuilletons, Kritiken und literarischen Impressionen, die ich über die Jahre in Zeitungen veröffentlichte. Das vorliegende Buch beschränkt sich auf meine politischen Stellungnahmen. Unter ihnen habe ich die dreiunddreißig ausgewählt, die mir aus heutiger Sicht am bedeutsamsten erscheinen, sei es, weil sie unmittelbar nach der Veröffentlichung besonders starke Reaktionen hervorriefen, sei es, weil sie immer noch relevant sind oder durch die nachfolgenden Entwicklungen von neuen relevant geworden sind. Dabei habe ich in Einzelfällen auch Artikel berücksichtigt, die bereits in frühere Bücher eingegangen sind, in den vergriffenen Sammelband Strategie der Eskalation. Der Nahe Osten und die Politik des Westens, in den Essay Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime sowie in abgewandelten Fassungen in den Roman Dein Name.

Nicht alle meine Vorhersagen haben sich als richtig erwiesen, und das vorliegende Buch übergeht nicht die Fehleinschätzungen, die mir unterlaufen sind. Der Leser, der von heute aus auf die jeweiligen Situationen blickt, wird sein eigenes Urteil fällen, das aufgrund der abgelaufenen Zeit auf einer stabileren Grundlage steht. Bestürzt hat mich bei der Durchsicht der Texte allerdings, daß ich seltener mit den Hoffnungen richtig lag, häufig indes mit meinen Befürchtungen, wenn diese nicht sogar übertroffen wurden. Und so gehört zu den Einsichten, die mir als politischer Kommentator und erst recht als Reporter zuteil geworden sind, leider auch diese: Gewalt wirkt. Wer Oppositionelle gnadenlos verfolgt, gleich zu Beginn von Protesten Schußwaffen gegen friedliche Demonstranten einsetzt oder Bomben auf eine aufständische Bevölkerung wirft, dessen Herrschaft hat gute Chancen zu überleben. Nicht Glasnost hat seit der Zeitenwende von 1989 Schule gemacht, sondern Tian’anmen. In gewisser Weise gilt das auch für unsere westlichen Demokratien, ob in den Vereinigten Staaten, Europa oder Israel: Wer das Völkerrecht bricht, im Kampf gegen den Terror allein auf Härte setzt, den Rechtsstaat aufgibt, gegen Fremde hetzt oder Demokratie als Diktatur der Mehrheit versteht, gewinnt allzu häufig die nächste Wahl.

Gewalt wirkt. Aber wie lange? Wenn wie in der Natur auch in der Politik alles mit allem durch eine Kette von Ursache und Wirkung verbunden ist, holt Gewalt früher oder später die Gewalttäter selbst ein oder mindestens ihre Nachfahren, ihre Gesellschaften. Deshalb bleibt es in gleich welcher politischen Situation falsch, das eigene Handeln danach auszurichten, was kurzfristig Erfolg verspricht, am wenigsten Einsatz verlangt oder gerade am populärsten ist. Nichts hat seit dem Zweiten Weltkrieg so viel realpolitischen Schaden angerichtet wie vermeintliche Realpolitik. Es ist nicht nur der Moral geschuldet, daß unsere Religionen nicht die Eigennützigen verehren, sondern die Märtyrer, und selbst in unseren heutigen säkularen Gesellschaften diejenigen zu Helden werden, die gegen das Unrecht aufbegehren. Es ist auch klug im Sinne des Selbsterhalts, sofern der Horizont über den Tag hinausgeht, den die Zeitung festhält.

Köln, Mai 2022

1

Islam gegen Islam

Das Urteil gegen den ägyptischen Korangelehrten Nasr Hamid Abu Zaid

Frankfurter Rundschau, 4. September 1993

Von ihrer bevorstehenden Scheidung erfuhr Ebtehal Yunes aus der Zeitung. Ein ebenso eifriger wie vor religiöser Überzeugung eifernder ägyptischer Rechtsanwalt hatte im Juni vor einem ordentlichen ägyptischen Gericht – ohne daß sie oder ihr Mann, der Universitätsdozent Nasr Hamid Abu Zaid, davon gewußt hätten – die Scheidung beantragt. Seine Begründung: Die Ehe einer muslimischen Frau mit einem Apostaten sei nach islamischem Recht ungültig.

Ein schlechter Scherz, möchte man meinen; tatsächlich ist es der neueste Höhepunkt einer Affäre, die seit Monaten die ägyptische Öffentlichkeit in Atem hält. Die Washington Post hielt die Auseinandersetzung, in deren Mittelpunkt einige literatur- und islamwissenschaftliche Bücher eines ägyptischen Gelehrten stehen, für so bedeutsam, daß sie auf der Titelseite darüber berichtete. Aus gutem Grund: Wie in einem Brennglas scheint in ihr das Elend der muslimischen Welt sowie das verzweifelte Ringen um Erneuerung konzentriert zu sein. «Ich erwarte das Schlimmste», wird Frau Yunes von der Washington Post zitiert. Falls das Gericht die Scheidung verkünde, werde sie mit ihrem Mann das Land verlassen: «Haben Sie eine andere Lösung? Wir sind keine Helden.»

Seine Bücher behandeln den Koran und die Geschichte der islamischen Theologie, und wie heikel ein solches Thema im heutigen Ägypten ist, erfährt Nasr Hamid Abu Zaid nun am eigenen Leib. Abu Zaids Studien erscheinen zu einem Großteil im Ausland, seine Ernennung zum Professor der Kairo-Universität wurde ihm aus fadenscheinigen Gründen verweigert, das Zentrum der sunnitisch-islamischen Theologie, die Azhar-Universität in Kairo, hat ein Verfahren wegen Apostasie gegen ihn eingeleitet, in der Presse ist er wüsten Beschimpfungen ausgesetzt, Prediger verurteilen ihn öffentlich als Ketzer, in seinem Briefkasten finden sich Morddrohungen, in seinem Heimatdorf wird er nach eigener Aussage mitsamt seiner Familie terrorisiert, von seiner Frau soll er geschieden werden, und nun erklärt ihn ein Rechtsanwalt zum Freiwild: «Unsere Verfassung schützt die Rechte der Mitglieder aller drei Religionen: Christentum, Islam und Judentum. Aber sie schützt nicht diejenigen, die sich entscheiden, ihre Religion zu verlassen», erläuterte Mohammed Samida Abu Samada der Middle East Times, weshalb es für ihn unausweichlich gewesen sei, die Scheidung der Eheleute Abu Zaid zu beantragen.

Etwa zur gleichen Zeit rechtfertigte der ehedem als moderat geltende Scheich Mohammed Ghazali, einer der einflußreichsten Theologen Ägyptens, die Ermordung von «Apostaten», falls der Staat seiner Verpflichtung zur Verurteilung und Bestrafung der Frevler nicht nachkomme. Ghazali, durch regelmäßige Fernsehauftritte bis in die abgelegensten Dörfer bekannt, verkündete diesen Freibrief zur Selbstjustiz als Zeuge der Verteidigung im Verfahren um dreizehn Fanatiker, die der Ermordung des säkularistischen Autors Farag Foda angeklagt waren. Foda war 1992 vor seinem Haus erschossen worden, nachdem er zuvor – ähnlich wie nun Abu Zaid – von der staatstragenden Presse als Ketzer gebrandmarkt worden war. Man hat in Ägypten sehr genau verstanden, daß der angesehene Scheich praktisch den Mord an Abu Zaid legalisiert hat. Was vor knapp drei Jahren mit der Veröffentlichung einer literaturwissenschaftlichen Studie über den Koran begann, könnte mit dem Exil oder gar Tod des Autors enden. «Es gibt keine Diskussion mit Dir», heißt es in einem der anonymen Briefe. «Entscheidend ist, daß Du an irgendeinen Ort, weit weg von der islamischen Welt, emigrierst; denn Du wirst nicht leben können in einem Land, das Du zerstören willst. Egal, wie sehr die Polizei versucht, Dich zu beschützen, Du wirst nicht entkommen.»

Das Übliche also? Wird nach Salman Rushdie, Aziz Nesin, Sadiq al-Azm, Mohammed Khalafallah, Said Aschmawi, Mahmud Mohammed Taha nun ein weiterer Vertreter westlich-säkulärer Aufklärung von religiösen Terrorkommandos bedroht? Ein erneuter Beleg für die zunehmende, religiös begründete Intoleranz in der islamischen Welt? Oder gar ein weiteres Anzeichen für den Kampf der Muslime gegen die Moderne, der sich noch gegen die Modernisten im eigenen Lager richtet?

Machen wir es uns nicht zu einfach. Die meisten der genannten Autoren sind in erster Linie keineswegs die Anwälte der westlichen Freiheits- und Menschenrechtsideale, als die sie oft dargestellt werden, sondern genauso Produkte ihrer eigenen, orientalisch-islamischen Kultur wie die großen Vereinfacher vom fundamentalistischen Lager auch. Es ist eben nicht so, daß auf der einen Seite vom Westen geprägte Modernisten und auf der anderen Seite die in ihrer Tradition verhafteten Fundamentalisten stehen, sondern beide Denkrichtungen, in sich unendlich vielfältig und uneinheitlich, sind dem Boden der gleichen, vom Westen zutiefst und unwiderruflich geprägten Kultur entwachsen. Nicht zwei Kulturen mit jeweils unterschiedlichen Wertmaßstäben stehen sich gegenüber, sondern zwei Standpunkte innerhalb einer Kultur. Khomeini ist genausowenig ein Repräsentant des Islams wie es Rushdie für die Werte des Abendlandes ist; vielmehr stehen beide für unterschiedliche Antworten innerhalb derselben geistigen Welt auf die unübersehbare Krise, in der sie sich befindet. Die Affäre Abu Zaid verdeutlicht, daß ein wahrhafter Modernist der islamischen Kultur viel traditionalistischer sein kann als alle Traditionalisten.

Auslöser der Debatte um den Kairener Gelehrten, die sich später auch auf andere Werke Abu Zaids erstreckt hat, war die Veröffentlichung von Mafhum an-nass (etwa: «Das Konzept Text»), in dem der Ägypter die koranische Offenbarung mit literaturwissenschaftlichen und linguistischen Methoden untersucht. Sein selbsterklärtes Ziel ist es, ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit des Textes, der dialektischen Beziehung zwischen Offenbarung und Wirklichkeit zu erzeugen. Daher führt er akribisch auf, wie sehr der Koran auch ein Produkt des kulturellen und historischen Umfeldes ist, in das er herabgekommen ist, und wie es dazu kam, daß diese eigentlich selbstverständliche Tatsache tabuisiert wurde im Laufe der islamischen Theologiegeschichte, so daß ihn schließlich eine Aura der Unberührbarkeit umgab. Die Botschaft Gottes sei herabgesunken «zu einem verdinglichten, heiligen Objekt» und zu «einem Gegenstand der Zierde».

Man muß die überragende Stellung des Korans für den islamischen Glauben kennen, um den Aufruhr zu verstehen, den Abu Zaids wissenschaftlicher Ansatz hervorgerufen hat. Um sie zu verdeutlichen, sei daran erinnert, daß der Koran in der islamischen Lehre die zentrale Rolle einnimmt, die für Christen der Person Jesu Christi zukommt: nämlich Gott nicht bloß zu verkündigen, sondern selbst göttlicher Natur zu sein. Abu Zaid leugnet zwar mit keiner Zeile den göttlichen Ursprung des Korans, klammert ihn aber aus dem wissenschaftlichen Diskurs aus. Studieren könne man nicht die Göttlichkeit des Textes, sondern lediglich seine Bedeutung als ein Dokument, das in der Wirklichkeit entstanden ist, die Einflüsse dieser Wirklichkeit aufnimmt und die Wirklichkeit wiederum verändert, genauso wie man jeden anderen – literarischen – Text studieren würde. «Ich behandele den Koran als einen Text in arabischer Sprache, den der Muslim ebenso wie der Christ oder Atheist studieren sollte, weil sich in ihm die arabische Kultur verdichtet und weil er noch immer imstande ist, auf andere Texte in der Kultur auszustrahlen», sagte mir Abu Zaid in einem Gespräch, das ich letztes Jahr mit ihm geführt habe. «Es ist ein Text, der die vorislamischen Texte aufgenommen hat und den alle Texte nach ihm aufgenommen haben, selbst diejenigen, die heute entstehen.»

Tatsächlich erinnert Abu Zaids wissenschaftliche Koran-Exegese in mancherlei Hinsicht an die historisch-kritische Bibelforschung, deren Methode für die christliche Theologie ähnlich revolutionär war, wie die Arbeit des Kairener Wissenschaftlers für den Islam zu sein scheint – und die für viele Christen noch immer eine ähnliche «Entartung im Glauben» darstellt, als die Abu Zaids Position in der ägyptischen Presse verurteilt wurde. Ein entscheidender Unterschied ist: Während die historisch-kritische Bibelforschung ein völlig neuartiges Verhältnis zur Offenbarung präsentierte, läßt sich das von Abu Zaid so nicht behaupten. Abgesehen davon, daß schon andere muslimische Gelehrte in den letzten Jahrzehnten ähnliche Ansätze vertraten, steht Nasr Hamid Abu Zaid durchaus in der Tradition klassisch-islamischer Gelehrsamkeit. Mehr noch: In seinem Bemühen um Wissenschaftlichkeit in der Koranexegese beruft sich Abu Zaid immer wieder auf die Tradition, oder genauer: auf die textkritischen Methoden der klassisch-islamischen Theologie. Im Gespräch formulierte er diesen Ansatz besonders markant: «Der Koran muß studiert werden, wie man die Sprache Shakespeares studiert, mit den Instrumenten und der Methode der Sprachanalyse, um den Sinn zu entdecken. So studierten ihn früher die Gelehrten.»

Aber warum der Aufruhr, wenn Abu Zaid im Prinzip nichts Neues vertritt? Bestimmend für die Reaktion der ägyptischen Öffentlichkeit war nicht die Anknüpfung an progressive und pluralistische Elemente in der frühen Tradition, sondern die Kritik an jener Interpretation des Korans, die sich im 10. Jahrhundert herausgebildet hat und heute den theologischen Diskurs dominiert. Abu Zaid nennt sie reaktionär. Diese Interpretation isoliere den Koran vom Kontext seiner objektiven geschichtlichen Umstände und verfälsche dadurch seine Botschaft und seine Bedeutung für die Gesellschaft. Und das habe politische Gründe: Rationalität, Undogmatismus und Vielfalt in der Koranauslegung seien verloren gegangen, seitdem die Theologen in die Abhängigkeit des Staates geraten seien, der naturgemäß die bestehenden Verhältnisse zementieren wolle. Die Konservierung der Koranauslegung und ihre Monopolisierung durch «Staatstheologen» habe zur Bewahrung des jeweiligen Status quo beigetragen, indem Neuinterpretationen und kritische Fragen, die oft auch sozialen Sprengstoff in sich bargen, als ketzerisch gebrandmarkt und der Verfolgung preisgegeben worden seien.

Abu Zaids Problem ist, daß der von ihm kritisierte religiöse Diskurs heute vielfach mit dem Islam gleichgesetzt wird. Aus einer Attacke auf eine bestimmte theologische Richtung wird eine «Attacke auf den Koran und die Sunna», wie es zum Beispiel das einflußreiche, in Riad erscheinende Organ der Islamischen Weltliga, al-Alam al-Islami, festgestellt haben will. Es zeigt sich: Ein guter Muslim hat heute nicht nur an Gott und seinen Gesandten zu glauben, sondern auch an die offiziösen, im Fernsehen predigenden Gelehrten. Dem zweifachen Glaubensbekenntnis des Islams wird de facto ein drittes hinzugefügt: der Glaube an eine islamische Kirche, die es im Islam nicht geben darf, aber sich in vielen muslimischen Ländern praktisch etabliert hat.

Die Attacke Abu Zaids auf die staatsnahen Theologen, die Infragestellung ihres Monopols auf die Auslegung der heiligen Texte, ist von eminenter tagespolitischer Bedeutung. Dahinter steht der Kampf zahlreicher Intellektueller gegen den wachsenden Einfluß der Islamisten auf alle Bereiche der Gesellschaft, die zunehmende Akzeptanz radikaler Ideen in der Öffentlichkeit. Abu Zaid nennt ein Phänomen beim Namen, das heute auch in Deutschland im Umgang mit rechtsradikalen Parteien zu beobachten ist: Man bekämpft die extremistischen Organisationen und verwirklicht gleichzeitig ihr Programm. Weil die Kritik Abu Zaids an gesellschaftlichen Entwicklungen im Rahmen einer islamwissenschaftlichen Studie erscheint, verwundert es nicht, daß die Kritisierten und deren Apologeten sich mit dem – im heutigen Ägypten lebensbedrohlichen – Vorwurf des Unglaubens zur Wehr setzen.

Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung von Mafhum an-nass haben Abu Zaid nicht davon abgehalten, in weiteren Büchern und Artikeln seine Attacke auf den staatlich geförderten Islam fortzuführen und zu präzisieren. So wirft er in dem 1992 erschienenen Werk Kritik des religiösen Diskurses den offiziellen religiösen Institutionen vor, sich inhaltlich nicht wesentlich von der gewalttätigen islamistischen Opposition zu unterscheiden. «Der Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich darin», meinte Abu Zaid in unserem Gespräch, «daß die Extremisten den politischen Sinn dieser Gedanken kennen und sich um die Veränderung der Gesellschaft bemühen. Die Meinungsverschiedenheit entzündet sich an der politischen Bedeutung der Gedanken. Die gedanklichen Grundlagen sind die gleichen. Wie können die offiziellen Religionsmedien nur eine so verfälschende Rolle spielen?»

Die verfälschende Rolle der ägyptischen Medien wird von der Debatte um Abu Zaid eindrucksvoll belegt. So läßt etwa ein Artikel von Abduldschalil Schalabi in der regierungsnahen Zeitung al-Dschumhuriyya den unkundigen Leser in der Annahme, Abu Zaid führe das Auftreten Mohammeds auf wirtschaftliche Motive zurück – kein Wort davon im Buch. Der Kolumnist der staatlichen Zeitung al-Ahram, Fahmi Huwaidi, diagnostiziert eine persönliche Aversion des Autors gegen den Islam und seinen Propheten; der populäre Autor Mustafa Mahmud beklagt in derselben Zeitung, daß Transzendenz für Abu Zaid lediglich eine Legende sei; und Dschamal Badawi, Chefredakteur der ehemals liberalen al-Wafd, empört sich, daß Abu Zaid mutwillig die Religionen beschmutze und damit die Freiheit der Wissenschaft mißbrauche. Einig ist man sich mit dem Präsidenten des Schriftstellerverbandes, Tharwat Abaza, der bekanntgibt: «Kein Zweifel, er ist ein Ungläubiger.»

Man muß solche Behauptungen – so verleumderisch sie sein mögen – ernstnehmen, ebenso wie man die Ermordung Farag Fodas, die Bedrohung Sajid Aschmawis, die Verurteilung Salman Rushdies ernstgenommen hat. Es handelt sich nicht um Flugblätter einer extremistischen Organisation, sondern um Beiträge von Männern, die oberste Positionen in den ägyptischen Medien einnehmen. Es sind Biedermänner und Brandstifter zugleich. Sie geben Abu Zaid zum Abschuß frei. Die extremistischen Organisationen brauchen keine Flugblätter zu verteilen, wenn das, was sie sagen, bereits in den Regierungszeitungen des engsten Verbündeten der USA im Nahen Osten steht. Sie brauchen lediglich auszuführen.

Der Skandal um die verweigerte Beförderung Abu Zaids zum Professor der Kairo-Universität wirft ein Licht auf den zunehmenden Einfluß islamistischen Gedankenguts selbst in den ehemaligen Hochburgen säkularer Wissenschaft. Im Mai letzten Jahres legte der «Dozent für rhetorische und islamische Studien», der zuvor in Japan und den Vereinigten Staaten gelehrt hat, seiner Universität zwei Bücher und insgesamt dreizehn Artikel vor und beantragte die Habilitation. Von den drei Gutachtern befürworteten zwei den Antrag, während der dritte, Professor Abdussabur Schahin, sie in einer polemischen, stellenweise vulgär formulierten Stellungnahme ablehnte. Schahin, prominentes Mitglied der regierenden Nationaldemokratischen Partei, fand in den Werken Abu Zaids neben ungeheuerlichen Lügen, inhaltlichen Fehlern, perversen Ideen und marxistisch-atheistischen Gedanken «die abscheulichste Verachtung für die Grundsätze der Religion» und empfahl ihm gönnerhaft, seine Gedanken lediglich in literarischen Magazinen mit geringen Auflagen zu verbreiten, damit ihn nicht der Zorn der Gesellschaft treffe.

Nachdem der dreizehnköpfige Auswahlausschuß sich nach einer heftigen Debatte über die zwei anderen Gutachten hinwegsetzte und die Habilitation Abu Zaids ablehnte, reagierten Kollegen der Universität, aber auch Intellektuelle und Journalisten bestürzt und versuchten, die Entscheidung des Ausschusses anzufechten. Zu ihrer Überraschung stellten sich allerdings viele Zeitungen auf die Seite Schahins. Als der Universitätssenat am 18. März die Habilitation endgültig ablehnte, schaltete sich sogar die ägyptische Menschenrechtskommission in den Fall ein und verurteilte den Senatsbeschluß als «einen Anschlag auf die Freiheit des Glaubens, des Ausdrucks und der wissenschaftlichen Forschung in Ägypten». Die Zeitschrift Ruz al-Yusuf nannte die Entscheidung des Senats «eine wissenschaftliche und akademische Blamage», während die linksgerichtete Wochenzeitung al-Ahali titelte: «Der Terrorismus bedroht die größte Festung des Denkens». Ghali Asch-Schukri meinte in seiner wöchentlichen Kolumne in der al-Ahram, daß die Kairo-Universität sich zu einem «Gerichtshof der Inquisition und zum Zentrum des Terrorismus» verwandelt hätte. Ähnlich argumentierte auch Lutfi al-Khuli, als er in der englischsprachigen al-Ahram Weekly eine nationale Debatte über den Zustand der Universitäten forderte, «weil wir nun beginnen, alarmierende Belege zu sehen – sowohl innerhalb der Universitäten als auch anderswo – für die Gefahren der Unterdrückung von intellektuellen Aktivitäten, der zwanghaften Gleichförmigkeit der akademischen Arbeit und der Liquidierung – sei es physisch, mit Kugeln, oder nur metaphorisch – von Denkern und Autoren, die der Blasphemie beschuldigt werden. In anderen Worten, der Terrorismus der Straßen hat begonnen, sich in den Universitäten auszubreiten, und vice versa.»

«Ein Koran, der weder gelesen noch verstanden wird, ist ein Buch wie jedes andere, ein unbeschriebenes Blatt», sprach Ali Schariati zu seinen Zuhörern Anfang der siebziger Jahre in Teheran. «Daher gibt man sich so viel Mühe, uns davon abzuhalten, ihn zu lesen, zu verstehen und darüber nachzudenken. Wir würden ihn nicht verstehen, weil er so kompliziert sei, die rationale Interpretation sei verboten.» Schariati wurde 1977 ermordet; nicht von islamischen Fundamentalisten, sondern wahrscheinlich von Schergen des iranischen Schahs. Aber auch im heutigen Iran ist für viele seiner Bücher kein Platz mehr, und seine Witwe meinte einmal, daß, wenn ihr Mann noch lebte, er sicher im Gefängnis wäre.

Das bleibende Verdienst Nasr Hamid Abu Zaids ist es, die Misere der arabischen Kultur nicht anhand von äußeren Vergleichen beschrieben zu haben, sondern direkt in das Innerste der Kultur vorgedrungen zu sein, um dort die Verkrustung offenzulegen, die sich um ihr Herz gelegt hat: um den Koran. Was auch immer mit ihm geschehen wird, mag er erschossen oder ins Exil getrieben werden – nach ihm wird ein neuer Abu Zaid auftreten. Es wird sie immer wieder geben, in ganz verschiedenen Gestalten – als Modernisten und Erneuerer, Blasphemiker und Ketzer, als Iqbals und al-Afghanis, als Aschmawis und Fodahs, als Rushdies und Abu Zaids; sie werden nicht verschwinden, solange die islamische Kultur keinen Ausweg findet aus der geistigen und sozialen Not, in der sie sich befindet. Sie sind, ebenso wie Fundamentalismus und Traditionalismus, ein notwendiger Reflex auf die Herausforderung der Moderne. «Solange kein vorwissenschaftliches Glaubenssystem und keine Methode der Weltaneignung und des Handelns die Fähigkeit besitzt, sich erfolgreich der Penetration und Destabilisierung des modernen Systems der Wissenschaften zu widersetzen, werden in der islamischen Welt mit einer beinahe naturgesetzlichen Regelmäßigkeit weiterhin Rushdies auftauchen», schrieb der Syrer Sadiq al-Azm in der Auseinandersetzung über die Satanischen Verse.

Man kann zur Moderne stehen, wie man will, und gerade für den Orient finden sich genügend Gründe, ihr Mißtrauen und Vorsicht entgegenzubringen – aber man kann sich ihr nicht entziehen. Wie traurig ist es und wie erschütternd, daß gerade die kreativsten und klügsten, die ehrbarsten und mutigsten Geister der islamischen Welt – Wissenschaftler, Theologen und Künstler – von ihrer eigenen Mitwelt verleumdet und bekämpft, ermordet und verjagt werden. Sie sind es, die ihre Kultur und ihre Identität in einer veränderten Welt behaupten, anstatt ängstlich in Dogmen und Dumpfheit Zuflucht zu suchen. Sie ringen um die Moderne, anstatt vor ihr wegzulaufen. Sie bemühen sich um Antworten, anstatt die Augen zu schließen. Sie werden nicht verstummen. Gerade ihnen, nicht nur den Schreihälsen, die das angebliche Schwert des Islams in den Händen halten, sollten wir Gehör schenken.

Die Affäre Abu Zaid macht auch Hoffnung. Eine Gesellschaft, die solche selbstkritischen Bücher hervorzubringen vermag, kann nicht am Ende sein. Der Aufschrei, den sie verursachen, ist auch ein Indiz dafür, daß sie einen Nerv berühren. Und keineswegs waren die Reaktionen nur negativ. Zahlreiche Menschen und insbesondere viele seiner Studenten haben dank Abu Zaid Mut gefaßt, in Frage zu stellen, was ihnen bislang apodiktisch verkündet wurde. Sie haben erfahren, daß die islamische Tradition über zahlreiche Ansätze zu Progressivität und Pluralismus verfügt. Eine Diskussion ist in Gang gekommen. Verleumdungen und Bedrohungen haben eine Welle der Solidarität ausgelöst, nicht nur in Ägypten.