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Fast immer ist es "das andere Ende der Leine", dem in einer Tierarztpraxis die meiste Aufmerksamkeit zukommt. Und das alles, zu Markus' großem Kummer, ohne Psychologietestat im tiermedizinischen Studiengang. Es sind die täglichen Arbeitsabläufe voller charmanter Zwischenfälle, magischer Begegnungen und ein bestimmtes Klavierstück, die Markus zu bedeutsamen Erkenntnissen treiben. Zum Glück befinden sich Elisabeth, Camilla und Leonie als gute Geister mit an Bord. Offenherzig plaudert Markus aus dem Behandlungsköfferchen. Er ist am Lachen, Weinen, Zuhören und Nachdenken. Im Notfall behält er einen kühlen Kopf und bringt es auf den Punkt. Bodenständig mit viel Witz, in geschliffenen Worten und mit emotionalem Tiefgang erzählt jedes Kapitel eine Geschichte mit meist unerwarteter Wendung.
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Seitenzahl: 220
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-396-1
ISBN e-book: 978-3-99130-397-8
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlagfoto: Julia Pecher | Natuerlich Fotografiert
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Ich widme dieses Buch
Emily, Nadine und Alex,
meinen Eltern, meinen Kindern
und allen Fachkräften der K 3
Vorwort
Also, das war so …
Wie in jeder anderen Tierarztpraxis, so kommt es auch bei uns des Öfteren zu erstaunlichen Begegnungen, Geschehnissen, Zwischenfällen und Episoden. Manche hinterlassen aus den unterschiedlichsten Gründen lebenslange Erinnerungen.
Allmählich häufen sich die Erlebnisse, und deren zeitliche Abstände werden immer kürzer. Berichte ich meinen Freunden, der Verwandtschaft und den Kollegen davon, lautet mein Resümee meistens:
„Das war der Hammer, unglaublich.
Echt, ich könnte ein Buch schreiben.“
Daraus ergibt sich der Titel des entstandenen Werks, welches sich über zweieinhalb Jahre entfaltete. Es könnte auch heißen: „Das andere Ende der Leine – Tierarzt trifft auf Spaßgesellschaft“. Darauf komme ich später zurück, denn das vorliegende Buch wartet nach seinem Erscheinen hufescharrend darauf, in einer zweiten Auflage durch weitere Kapitel ergänzt zu werden, für die noch immer ein praller Vorrat an Stoff vorhanden ist.
Der Inhalt dieses Buchs erhebt keinen Anspruch darauf, „tierisch“ ernst genommen zu werden. Es kann auch nicht Aufgabe eines Veterinärs sein, erlesene Lektüre zu verfassen, ebenso wie niemand von einem Schuster verlangen würde, ein Dach decken zu können. Keiner erwartet ernsthaft, dass ein Friseur Buttercremetorten und Windbeutel anfertigt oder Brot und Brötchen bäckt. Kann er es trotzdem, freut sich die ihn umgebende Menschheit. Probiert er es aber und es gelingt nicht, achtet man wenigstens den guten Willen. Vielleicht stecken in ihm liebenswürdige Besonderheiten anderer Art, und er kann stattdessen Klavier spielen, Gedichte entwerfen, Bilder malen, ein Rad schlagen, mit den Ohren wackeln, singen, tanzen oder Schlittschuh laufen.
Um es kurzweilig und wissenswert zu halten, habe ich bewusst auf verbales Füllmaterial verzichtet. Floskelwolken und Wortgirlanden bewirken bei mir Widerwillen. Dennoch muss klar unterschieden werden, ob die Länge einer Story mit Informationsgehalt, Wesentlichkeit und Botschaft konform geht oder nicht. Und da das alles vorher nicht bekannt ist, sollte man jeder Geschichte, die das Leben schreibt, mit Aufgeschlossenheit begegnen und ihr Zuwendung schenken.
Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit bekannten und unbekannten Personen sind grundsätzlich zufällig, vielleicht unbeabsichtigt, eventuell möglich, keinesfalls gewollt. Alle Namen, außer mein eigener und Emilys Name, auch die der Ortschaften und Einrichtungen, wurden geändert, abgewandelt oder frei erfunden.
„Jeder Depp schreibt irgendwann mal ein Buch über sein Leben“ – so sprach es Jörg Kachelmann inRiverboatam 14. Mai 2021, und obwohl die vorliegende Kollektion unvergesslicher Ereignisse meines Berufslebens keine Lebensgeschichte sein kann, so enthält das Büchlein doch in erheblichem Maße autobiografische Anteile, denn ein gerüttelt Maß des Textinhalts erinnert mich an mich.
Markus Weinrich
Wir brauchen eine Quittung
„Der Hund niest rückwärts“, heißt es am Telefon.
Heute kommt es mir ständig so vor, als ob eine versteckte Kamera über mir schwebt. An diesem letzten Augustsonntag, im kühlen Spätsommer, bin ich an der Reihe mit Notdienst, und schon am frühen Morgen erreicht mich eine erschütternde Botschaft, dass der Kater Gino gelähmt sei.
„Wie, gelähmt? Kann er nicht aufstehen?“
„Doch, aufstehen geht sehr gut.“
„Kann er den Kopf nicht bewegen?“
„Doch, das geht auch.“
„Läuft er herum? Bewegt er die Beine und den Schwanz?“
„Oh ja, und wie!“
„Woraus schließen Sie dann, dass der Kater gelähmt ist?“
„Na, sein ganzer Körper ist gelähmt und knickt ab. Außerdem schreit er furchtbar.“
Ich begreife, was los ist: „Okay, ich kann Ihnen versichern, Ihr Kater Gino ist eine Katze. Und wenn ich richtig rate, ist sie etwa zehn Monate alt und Ihre erste Katze?“
„Ja, so ist es.“
„Sie können sich beruhigen. Die Katze kommt in den Geschlechtszyklus und sucht einen Kater. Sie ist also rollig und streckt das Hinterteil in die Höhe. Und sie schreit nicht vor Schmerzen.“
In Ordnung, das hätten wir geklärt.
Kurze Zeit später kommt ein junges Fräulein in die Praxis geeilt und möchte, auf den letzten Drücker, für die Oma zum Geburtstag Wellness- oder Kosmetikgutscheine kaufen. Zugegeben, es brennen im Wartezimmer manchmal Kerzen, und wir haben eine Afrikadeko. Der Wandanstrich hat eine mediterrane Farbkombination, bloß kein Weiß. Aber auf so etwas wäre ich nie gekommen. Es ist nett, und ich habe auch einen Einfall, wie ich ihr doch noch helfen kann.
Dann mittags das kleine freche Zirkusäffchen Chipo, das mir am Schreibtisch, auf dem Schoß seines Dompteurs sitzend, drei Kulis zerbeißt. Es hat während der Tierschau ein Kind gekratzt und braucht jetzt eine Tollwutbescheinigung.
Wenig später bin ich schon etwas genervt, denn mein Freund Basti hängt sich sofort einen Wunderbeutel um. Er ist Klauenpfleger und hat mich angefordert, wegen einer Kuh mit einem vereiterten Sohlengeschwür. Die Kuh hat keinen Namen, nur eine Ohrmarken-Nummer, die auf 007 endet. Sie braucht eine Injektion mit einem speziellen Langzeitantibiotikum. Wortgewaltig schildert er mir das Problem. Ein guter Vorschlag jagt den anderen. Er erklärt mir, wie die Welt geht, und denkt, an ihm ist ein Professor verloren gegangen. Ich kenne das schon zur Genüge von Basti, und prompt geht es wieder los:
„Hey, Doc, du jochst die Spritze am Halse rein! Du weißt schon, dass die kranke Lenne hinten ist?“
Ich vertiefe das Thema nicht. Er ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber sonst ein guter Kerl, und ich will ihn nicht anzicken. Ich gehe lediglich auf seinen Slang ein: „Ein Auto hat auch den Tankstutzen hinten und den Motor vorne. Nur nicht der Trabi. Und wenn einem Hund aus dem Hintern Würmer kommen, kriegt er die Wurmkur ins Maul statt in den After. Na, das ist erst eigenartig, mein lieber Basti.“
Sein Blick verrät mir, dass er sich noch überlegen muss, ob er mich ernst nehmen soll oder nicht. Vielleicht wollte er einen Spaß machen und ich soll ihn verstehen, aber auch diesmal kommt kein Kurt Felix hinter der Kuh hervorgesprungen, nicht mal Guido Cantz, so sehr ich es mir auch wünsche. Wenn das heute in dieser Art weitergeht, kann ich mich freuen.
Jetzt würde es mich auch nicht mehr wundern, wenn plötzlich ein Laubfrosch mit Karnevalsmütze, auf Rollschuhen vor mir erscheint, mir die Zunge rausstreckt und beginnt, Musikvideos zu moderieren. Echt, es liegt etwas in der Luft.
Eine Familie Mischke aus dem benachbarten Bundesland hat ein Problem mit ihrem alten Hund Gottfried und findet keinen Bereitschaftsdienst. Gottfried hat seit zwei Wochen Husten, und heute ist es besonders schlimm. Sie erreichen mich telefonisch und flehen förmlich, dass ich zu ihnen komme, um Gottfried zu helfen. Ich sträube mich und gebe zu bedenken: „Wissen Sie, wie weit das ist? Das dauert ja ewig. In der Zeit fehle ich hier. Das geht nicht.“ Ja, sie nehmen alles in Kauf, auch die Kosten. Ich soll trotzdem kommen.
Okidoki, ich bin dann mal weg, wenn auch nicht auf dem Jakobsweg, dafür wenigstens auf der B 1 Richtung Osten. Das sind für Hin- und Rücktour zweimal vierzig Minuten Fahrzeit. Vielleicht entspannt sich ja die Situation in der Zwischenzeit etwas. Doch mein Gefühl sagt mir, das war noch nicht alles, es könnte noch dicker kommen.
Familie Mischke kostet mich zwei Stunden Zeit. Auf dem Rückweg stellt sich bei mir das Verlangen nach Kaffee ein, und das Grummeln im epigastrischen Winkel signalisiert einen versäumten Termin.
Als Herrn Schellenbergers Anruf kommt, dass sein Hund rückwärtsniest, befinde ich mich bereits im Nachbardorf und habe noch zwei Minuten bis zur Praxis: „Wieso niest der Hund rückwärts? Wie soll’n das aussehen?“
„Also er niest so heftig, dass er jedes Mal abhebt und einen halben Meter weiter hinten wieder aufsetzt.“
Meine Fantasie schlägt Purzelbaum. Allein die Vorstellung birgt so viel Komik in sich: „Welche Rasse?“
„Französische Bulldogge.“
„Wo sind Sie jetzt?“
„Wir stehen vor Ihrer Praxis, und wir brauchen eine Quittung.“
„Ich habe ja noch gar nichts gemacht.“
Die Verbindung zwischen dem rückwärtsniesenden Hund und einer unbedeutenden Quittung soll sich mir kurze Zeit später erschließen.
„Bleiben Sie bitte dort stehen, und laufen Sie nicht weg. Ich bin sofort da.“
Auflegen – loslachen: Das ist ja der Hammer. Das will ich sehen. Nichts wie hin. Ich gebe Gas und muss schon wieder laut lachen.
Meine Ankunft wird sehnsüchtig erwartet. Vier Erwachsene, zwei Kinder und „er“ – Rocky. Beim Einparken beobachten mich sieben Augenpaare aus einem Pulk, der sich sofort in meine Richtung in Bewegung setzt. Wir stehen mitten auf der Straße. Alle reden aufgeregt auf mich ein und zeigen auf Rocky. Er steht im Zentrum des Ganzen und schaut etwas unbeholfen von einem zum anderen. Er hat’s geschnallt, es geht um ihn, und mit ihm stimmt etwas nicht.
„Ja, Moment, Moment …“, ich klinge wie ein Schulmeister, „jetzt mal bitte nicht alle durcheinander. Der Hund niest doch gar nicht.“
Schon wieder antworten alle gleichzeitig. Frau Schellenberger ergreift das Wort am lautesten: „Wir waren spazieren, und dabei hat es angefangen.“
„Durch die Stadt spazieren?“
„Nein, wir waren im Wald. Aber Rocky ist immer zum Feld gerannt und über die Wiese gesprintet. Dann nieste er plötzlich ein paarmal, hat sich beruhigt, und zu Hause ging es umso stärker wieder los. Inzwischen kommt auch jedes Mal Blut aus der Nase geflogen. Bei uns zu Hause sieht es aus wie nach einer Schlägerei.“
Sie führen mich zu einer Stelle auf dem Fußweg, an der es aussieht, als hätte jemand mit einer Gießkanne rote Farbe versprüht, ganz frisch. Mir ist vollkommen klar, was hier los ist. Herr Schellenberger sagt nichts mehr. Sein Gesichtsausdruck lässt nichts Gutes erwarten. Mich durchfährt ein Geistesblitz: „In welchen Abständen niest er denn?“
„Er niest, dann ist zehn oder zwölf Minuten Ruhe. Dann niest er wieder und fliegt dabei rückwärts. Aber wir brauchen eine Quittung.“
„Wann hat er zum letzten Mal geniest?“
„Gerade eben, nachdem mein Mann Sie angerufen hatte, vor höchstens fünf Minuten.“
Jetzt treibe ich sie an: „Nichts wie rein in die Praxis und Rocky sofort auf den Behandlungstisch.“ Ich stürme vorneweg, reiße alle Türen auf, haue im Vorbeigehen auf sämtliche Lichtschalter, und in Rekordzeit steht die ganze Brigade im OP-Raum und Rocky auf dem Tisch. Narkosemittel berechnen nach Gewicht, die Waage sparen wir uns. Ich schätze Rocky auf knapp vierzehn Kilo, dosiere auf elf, und zackig die Spritze mit Schwung in die Keule. Intramuskulär mit Druck is like i. v. a little bit, kann ich mir gut vorstellen. Vielleicht gelingt es, dass Rocky schläft, bevor er den nächsten Niesanfall bekommt. Der Plan geht auf.
Für mich steht fest, Rocky hat eine Granne in einem der beiden Nasengänge. Granne, Grashalm oder auch Achel, wie man in diesem Landstrich manchmal sagt. Herrn Schellenbergers Gesicht wird immer länger. Er setzt sich, schüttelt langsam den Kopf und bewegt die Lippen. Ich kann nichts verstehen, es klingt wie „Quittung“. Seine Frau weist mich darauf hin, dass sie glaubt, sie hätte am Anfang etwas schmales Grünes am rechten Nasenloch gesehen. Hmm …, sie glaubt, sie hätte …
Ich nehme das rechte Nasenloch ins Visier. Endoskop rein und Licht in die unendlichen Weiten des Nasengangs. Ich kann nichts finden und versuche es links, auch nichts. Ich schaue rechts noch mal und entdecke einen winzigen grünen Zipfel. Also doch, ich hab’s geahnt, und die junge Frau hat recht. Die Schwierigkeit ist jetzt nur noch, dieses Teil zu erfassen, denn wenn sich eine Alligatorpinzette zum Greifen des Fremdkörpers dazwischendrängelt, gibt es kaum noch Sichtkontrolle.
Es gelingt, ich befördere einen acht Zentimeter langen Grashalm ins Freie. Durch die Meute geht ein erstauntes Raunen.
Herr Schellenberger freut sich eher unauffällig. Er steht auf, runzelt die Stirn und holt tief Luft. Als ich sagen will: Ja, ja, ich denke an die Quittung, beginnt er zu reden:
„Dieser Hund gehört meiner Schwester und ist bei uns zu Gast. Seit einer Woche lässt er die Sau raus und benimmt sich wie die Axt im Walde. Er hat meine Hausschuhe zerstört, ein Galaxy S8 kaputt gebissen, das Basecap vom letzten Türkeiurlaub zerfetzt und auf die Tastatur unseres Laptops gepinkelt, weil es auf dem Fußboden stand. Zweitausend Euro Schaden und jetzt diese Aktion.
Dabei ist nicht mal das Schrecklichste, dass er beim Niesen seine Umgebung geduscht hat. Auch dass er meine Couchecke zu seiner gemacht hat, lässt sich verschmerzen. Und wenn er ständig die Nachbarskatze rammeln will, ist das nicht mein Problem. Das Schlimmste ist, dass dieser Hund auch noch Durchfall hat, und bei jeder Niesattacke kam nicht nur eine Ladung Erdbeerbrause vorne raus, sondern gleichzeitig hinten ein gewaltiger Spritzpups. Wir können unsere Küche komplett sanieren. Nie wieder werden wir diesen asozialen Hund als Urlaubsvertretung für meine Schwester aufbewahren.“
Seine Frau versucht zu schlichten. Schließlich wäre es auch nicht einfach für so ein Tier. Und Rocky hätte immer so schön Pfötchen gegeben. Herr Schellenberger blickt zu seiner Frau, und mir wird klar, er braucht keinen Mittelfinger, er macht das mit den Augen.
Es tut mir sehr leid, aber wer das Gefühl kennt, der weiß, wie schwer es ist, seinem Gegenüber Betroffenheit und Mitgefühl anzudeuten, während man sich im Grunde genommen vor Lachen nicht mehr halten kann. Ich rechne zusammen, trage alles genau ein, und während er noch etwas murmelt von „kriminell“ und „terroristisch“, kracht mein Stempel auf die Quittung. Familie Schellenberger rauscht aus der Praxis. Zweimal Senior, zweimal Junior, zwei Kinder und ein Rocky. Er wird wie ein Fürst im Korb getragen, kann seinen Rausch ausschlafen und neue Kräfte sammeln.
Ich bleibe zurück, lausche in die abrupte Stille, und mich bewegt eine Frage: Die Tierärztliche Approbationsordnung protokolliert sämtliche Fächer, in denen eine Studentin oder ein Student der Veterinärmedizin zu unterweisen ist und geprüft werden muss. Ich bin dafür, dass der tiermedizinische Studiengang um das Fach Psychologie bereichert wird, und zwar über eine Zeitspanne von wenigstens zwei Semestern. Unklarheit besteht bei mir zumindest darin, weshalb das nicht bereits seit Jahrzehnten geschieht. Ja, warum eigentlich?
Alles wird gut. Gino heißt jetzt Gina und kommt nächste Woche zur Sterilisation, üblicherweise Kastration – die Eierstöcke werden dabei entnommen. Der Klauenpfleger Basti verbringt seinen gemütlichen Abend mit einer Denkaufgabe. Die Oma bekommt zum Geburtstag keinen Wellnessgutschein, sondern für ihr Hündchen Toni eine Vitaminpaste. Familie Mischke bedankt sich telefonisch für meine Hilfe. Gottfried geht’s jetzt besser, er hustet schon lockerer.
Und in Rockys Nasengänge ist wieder Ruhe eingezogen, womit auch sein flotter Otto besser unter Kontrolle ist, Quittung inklusive.
Und ich? Was ist mit mir?
Den Verlust der Kulis muss ich verschmerzen, es gibt Schlimmeres.
In meiner unendlichen Gnade habe ich dem Äffchen Chipo verziehen. Haben wir eben nicht mehr zweiundzwanzig, sondern nur noch neunzehn Kulis.
Ich stehe kurz vorm hypoglykämischen Schock. Im Kühlschrank ist noch Kartoffelsalat. Hmm …, der Leckere mit Apfel und Ei. Dazu zwei heiße Anklamer Bockwürste, die geräucherten. Das alles mit Bautzner Senf – vorzüglich. Danach gibt’s Obstsalat vom Feinsten. Den hat unsere frischgebackene Tierarzthelferin Elisabeth von ihrer Tante mitgebracht. Darin sind außer Früchten mit ein paar Spritzern Zitronensaft auch noch Mandelsplitter und in Rum eingelegte Rosinen. Bisschen Sprühsahne dazu – ein Gedicht. Das habe ich mir verdient. Da wird jetzt hier nicht über Kalorien diskutiert.
Ich nehme eine große Tasse, hänge einen Teebeutel Thüringer-9-Kräuter hinein, und während ich kochendes Wasser aufgieße, muss ich wieder daran denken: Ich könnte ein Buch schreiben.
Das hat ein Nachspiel
„Nix morgen! Morgen sind wir tot! Du bleibst jetzt hier! Heute und jetzt wollen wir mit dir Sekt trinken. Nicht immer morgen, morgen …
Was morgen kommt, das ist uns jetzt egal.“
Und wie recht sie haben. Sigrun und Sigurfried stehen vor mir und lassen keinen Widerspruch zu. Die Uhr zeigt zehn nach sieben. Unsere Arbeit auf diesem Hof ist bereits beendet. Zwei Ziegen, Rita und Cita, haben Euterentzündung und brauchten eine Behandlung. Längst hat die Sonne am Horizont ihre goldene Bahn betreten, und zweifelsohne wird sie auch heute wieder eine mächtige Glut entwickeln. Wir haben eine Wetterphase, wie sie mein damaliger Projektleiter und väterlicher Freund an der Universität als „Russenhoch“ bezeichnete. Woche für Woche wird es wärmer und heißer, Bombenwetter, Kaiserwetter, alles trifft zu.
Mit der linken Hand umklammert Sigurfried die Stiele dreier Sektschalen, und in der rechten hält er die bereits entkorkte Flasche. Seine Hände zittern etwas, und die Gläser mit Goldrand ergeben ein Glockenspiel. Es ist so herzergreifend, ich kann nicht anders, ich muss und will bleiben. Elisabeth sieht es meinem Blick an. Sie nimmt mir das Handy aus der Hand, begibt sich ins Praxisauto und beginnt zu koordinieren. Alle Termine verschieben sich um sechzig Minuten nach hinten.
Sigurfried ist mehrere Male und auf verschiedene Art und Weise in Schwepnitz hängen geblieben, zum ersten Mal 1945. Während viele andere auf der Flucht vor den Russen die Elbe überwanden, um in die westlichen Besatzungszonen zu kommen, mussten seine Eltern mit ihm diesseits der Elbe bleiben, weil keiner von ihnen schwimmen konnte. So erzählt er es jedenfalls immer.
Das nächste Hängenbleiben, ein paar Jahre später, hatte ein lebenslanges Nachspiel und führte zu Anhang und Familie. Sigrun lud ihn damals zum Essen ein. Da sie aus Thüringen stammt, war es für sie eine einfache Sache: Ganz simpel Gulasch mit Thüringer Klößen, und schon hing Sigurfried am Haken. Zunächst verlor er bei ihr sein gebügeltes Taschentuch, beim zweiten Mal vergaß er die Mütze, ein paar Tage später ließ er „aus Versehen“ seine Jacke hängen. Nachdem es Wickelklöße, gefüllt mit geröstetem Semmelmehl und dazu Petersiliensoße gegeben hatte, blieb der ganze Sigurfried für immer. Doch Amors Pfeil war kein Selbstläufer, denn es gab durchaus einige Mitbewerberinnen, die fanden, dass der Sigurfried ein ganz ein fescher Jüngling sei, und Interessenten, welche in Sigrun ein sehr attraktives Fräulein sahen. Ungeachtet der Äußerlichkeiten haben die inneren Werte der beiden triumphiert und die Seelen sich gefunden. Sie heirateten bald darauf, bekamen Tochter Christine und gingen durch dick und dünn. Ihr Lebensalltag wurde durch die Landwirtschaft bestimmt. Ein dauerhaft liebevoller Umgang miteinander, voller Achtung und Rücksicht, war und ist der Schlüssel zu ihrem gemeinsamen Glück, einfach beneidenswert. Einer kann nicht ohne den anderen. Ich sehe sie oft Arm in Arm auf der Bank, unter der alten Linde, am Feuerlöschteich sitzen oder Händchen haltend spazieren gehen. Sigurfried ist ein Schlitzohr, ein Schelm und hat immer ein Augenzwinkern parat. Er passt in die Landschaft und seine Sigrun gleichermaßen.
Vergangenes Jahr hätte ich ihn auf den Mond schießen können. Vierspännig wollte er durchs Dorf fahren, hat es auch getan, gegen den Rat seines Schwiegersohns und seines Enkels. Im herbststürmigen Blätterwirbel sind ihm die Pferde durchgegangen. In der Hektik verlor er die Kontrolle über den Karren und holperte ungezügelt im Regen, mit flatternder Pelerine, entfesselt wie der Leibhaftige, über den frisch gepflügten Acker. Dabei blieb er wiederum hängen, nämlich mit dem Hosenbein an der Geländerverzierung des Kutschbocks, was ihn vorm Abstürzen bewahrte. Sein teurer, wachsbeschichteter Westernhut, mit dem er ordentlich Staat machen wollte, flog ihm vom Kopf und verschwand auf Nimmerwiedersehen in den Senken und Ebenen der Elbwiesen. Die Hose riss, dennoch konnte er sich einige Zeit bei rasender Fahrt halten und hatte letztendlich mehr Glück als Verstand. Unvermittelt befand er sich auf Kollisionskurs mit Brüshavers Strohmiete, vor der die Dorfkinder mit einigen Strohbündeln ein Iglu gebaut hatten. Dahinein ließ er sich fallen, landete weich und komfortabel, ohne auch nur die geringste Blessur davonzutragen.
Ich hätte es wissen müssen: Bei einem Glas Sekt bleibt es nicht. Sigrun und Sigurfried bestehen darauf, dass wir zum Frühstück mit in die Küche kommen. Elisabeth freut sich, denn seit sie mit ihrem Freund eine kleine Wohnung hat und ihre Hauswirtschaft selber führen muss, ist Schmalhans Küchenmeister und ihr Kühlschrank hat einen mageren Füllungszustand. Auf dem Tisch steht alles, was das Herz beziehungsweise der Magen begehrt. Es gibt auch Kaffee und Kuchen, sogar gegrillten Schinken, Lachs, Rührei mit Schnittlauch, Erdbeeren und Weintrauben. Ich halte mich an die gefüllten Eier mit Frischkäse und Kaviar, und die Sektschalen sind schon wieder gut gefüllt.
Sigurfried fängt an zu meckern und Sigrun anzustänkern, dass sie nicht genug Brötchen geholt habe. Nun sei er gezwungen, eine trockene Schwarzbrotscheibe zu essen, die sich schon nach oben biegt. Aber in einer Beziehung auf Augenhöhe hat jeder eine Stimme im Parlament, und so faucht Sigrun zurück, dass Sigurfried es sich schwer überlegen solle, mit dieser Nölerei heute fortzufahren. Sein Maß sei voll. Einer, der gestern im einzigen Friseurladen des Dorfs die Frisöse verärgert hat, weil er der Meinung war, seine Wartezeit dauere schon fünf Minuten zu lange, brauche quasi für den Rest der Woche seinen Rand nicht mehr aufzureißen, und es sei erst Mittwoch:
„Mein lieber Siggi, noch nie ist es jemandem gelungen, Frau Herbert in ihrem eigenen Laden zum Weinen zu bringen. Du hast das geschafft! Was bist du nur für ein furchtbarer Mensch? Das hat ein Nachspiel. Das ganze Dorf spricht schon davon. Und wenn dein Brot dir zu trocken und zu verbogen ist, dann kannst du es schön lackieren, hast ein Surfbrett und schaffst es damit vielleicht doch noch über die Elbe.“
Elisabeth hat das Kauen eingestellt und verfolgt gespannt den Wortwechsel. Ihre großen Augen wandern hin und her, als würde sie ein Tennismatch beobachten. Sigrun hält Sigurfrieds Blick stand. Ein verhaltenes Schmunzeln umspielt ihre Lippen, und ihre Augenbrauen bewegen sich von Böse nach Gut und zurück, ähnlich einer Sinuskurve, die sich an der x-Achse entlangschlängelt. Doch hinter ihrer Stirn formuliert sie eine bezaubernde Liebeserklärung: Unter den Arschgeigen bist du für mich die Stradivari, und ganz gleich, wie deine Saiten gestimmt sind, hast du immer in meinem Herzen einen unwiederbringlichen Wert. Sigurfried errät ihre Gedanken, legt seine Hand auf ihre, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und sagt mit einem verschmitzten Lächeln, er würde es versuchen, die Elbe zu bezwingen, aber nur unter der Bedingung, dass er Sigrun mitnehmen dürfe. Allerdings kommt der Einwand, er arbeite nicht so gerne mit Lack, weil der Gestank für ihn unerträglich sei, man könne ja auch ein Schlauchboot nehmen. Sigrun lacht laut los:
„Oh mein Seebär, mein Held in der Brandung, gegen die Strömung, gegen den Wind. Vergiss das Surfbrett, vergiss das Schlauchboot, es genügt schon, dass die Kutsche auf dem Schrottplatz liegt. Wenn wir einigermaßen sicher und gesund übernächstes Jahr die eiserne Hochzeit erleben wollen, lassen wir solche Experimente lieber sein. Frag besser deinen Schwiegersohn und deinen Enkel, ob sie uns den Trabant ausleihen. Das wäre dann schon abenteuerlich genug.“
Die gepeinigte Frau Herbert mit dem Friseursalon heißt Elke und ist zwei Jahre jünger als ich. Wir haben uns über ihre Kinder und den Beruf ihres Mannes Bodo kennengelernt und verstehen uns sehr gut. Die Kinder Paul und Pauline haben am selben Tag Geburtstag und sind gleich alt. Das ist insofern nichts Besonderes, verschafft jedoch Bodo Anerkennung und Respekt unter der Bauernschaft, regional und überregional. Als Vater von Zwillingen hat er es bezüglich seines Berufs zu einer gewissen Qualifikation gebracht. Er arbeitet für den Rinderzuchtverband und führt in vielen Milchkuhbetrieben die künstliche Besamung durch. Viele vermuten, dass Bodos private Fruchtbarkeit auf Kenntnisse zurückzuführen ist, die er besonderem Fleiß und entsprechender Zielstrebigkeit während seiner Berufsausbildung zum Besamungstechniker zu verdanken hat.
Ich berichte Sigrun und Sigurfried davon, dass die ganze Familie Herbert einen aufregenden Jahreswechsel hatte. Eine Geschichte, die ebenso viel Jammer wie Komik in sich birgt. Da sie ein gutes Ende gefunden hat, kann man sich unbesorgt und ruhigen Gewissens für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden, darüber leise zu lachen oder hierbei laut zu weinen.
Vor mehr als einem halben Jahr, zwischen Weihnachten und Silvester, kam Elke in unsere Sprechstunde und stellte einen Korb auf den Tisch, aus Weide geflochten, zum Transportieren von Katzen oder Kaninchen. Ich mag diese Dinger nicht. Manchmal sind die Passagiere unkooperativ und lassen sich nicht dazu bewegen, dem Shuttle zu entsteigen. Meistens ist die Öffnung viel zu klein. Dann gibt es Stress für die Tiere und das Personal, wobei es auch zu Verletzungen kommen kann. In dem Korb befand sich eine komische Kreatur. Ich konnte erst nicht erkennen, was es sein sollte, doch als Elke die Baumwollwindel etwas zur Seite zog, kam ein Graupapagei zum Vorschein. Er war in einem furchtbaren Zustand, sah aus wie ein gerupftes Huhn, bekam die Augen kaum auf und verlor bei jedem Atemzug das Gleichgewicht. Ich sah Elke fragend an.
Sie begann zu erzählen, dass sie dabei war, den Bauchspeck für den Grünkohl anzubraten, als sie durch das Küchenfenster sah, wie ihr neunmalkluger Schwiegersohn mithilfe einer Anstellleiter und Paulines Unterstützung das gegenüberliegende Garagendach erklimmen wollte, um die Dachrinne zu enteisen. Die Leiter drohte zur Seite zu kippen, und Pauline konnte sie ohne Unterstützung nicht länger halten. Elke ließ alles fallen und eilte zur Rettung. Indessen schmurgelte der Bauchspeck mit Vollgas weiter. Der ungeplanten Aktion folgte eine sofortige Auseinandersetzung mit Daniel, dass er nichts tun solle, was er nicht könne und worum ihn niemand gebeten habe, was alles noch unnötig in die Länge zog. Paulines Einmischen zu Daniels Verteidigung machte es auch nicht besser. Als Elke ins Haus zurückkehrte, sah sie die Bescherung. Die ganze Bude war blau, restlos blau, und bedingt durch die amerikanische Küchenanordnung zog sich der Qualm zum Schneiden dicht bis in den letzten Winkel des Wohnzimmers. Mittendrin saß Amadeus und pfiff aus dem letzten Loch.
Auf der Stelle fuhr die ganze Familie mit ihm in die Uniklinik, wo er auf eine schwere Rauchvergiftung behandelt wurde. Anfangs besserten sich die Symptome, doch nun ging es ihm wieder schlechter. Elke hatte die Hoffnung, dass mir ein paar Zaubertricks einfallen würden. Aber sowohl Zauberkunst als auch Psychologie sind leider nicht Bestandteile des Tierarztstudiums. Ich gab Amadeus ein starkes Kreislaufmittel und schickte Elke wieder mit ihm in die Uniklinik. Von Bodo erfuhr ich, dass der Vogel überlebt hat und die Rechnung für seine Behandlung rund 2.900 Euro betrug.
Aber es gab noch ein Nachspiel. Bodo erzählte mir amüsiert, wie Daniel dicke Backen machte und sich um Kopf und Kragen redete, indem er jugendlich leichtsinnig äußerte, dass man für das Geld vier neue Graupapageien bekommen hätte.Außerdem stünden bei Amadeus nun wirklich schon ein paar Kilometer auf der Uhr, und er sei nicht mehr so frisch.