Echt zauberhaft - Terry Pratchett - E-Book

Echt zauberhaft E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Ein KLASSIKER von Terry Pratchett erstmals in neuer Übersetzung und Gestaltung.

In Hunghung, der Hauptstadt des achatenen Reiches, herrscht Chaos. Der tyrannische Kaiser liegt im Sterben, und Großwesir Lord Hong will an die Macht. Eine Gruppe Widerstandskämpfer setzt heimlich einen Hilferuf in Richtung Unsichtbarer Universität ab: Nur der Große Zaubberer könne noch helfen. In Ankh-Morpork ist man ratlos. Wer ist der Große Zaubberer? Da niemand der Universitätszauberer Kopf und Kragen riskieren will, einigt man sich auf den armen Rincewind, der mittels magischen Beamstrahls prompt nach Hunghung befördert wird. Um dort an der Seite von Cohen dem Barbar Revolution und Roter Armee tüchtig Beine zu machen ...

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Seitenzahl: 536

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Terry Pratchett

Echt zauberhaft

Ein Scheibenwelt-Roman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Gerald Jung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Interesting Times« bei Victor Gollancz Ltd., London. Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 1997 im Wilhelm Goldmann Verlag auf Deutsch erschienenen Romans.

Copyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 1994 by Terry und Lyn Pratchett

Discworld® is a trademark registered by Terry Pratchett

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1997

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: buxdesign, München Umschlagmotiv: © Sebastian Wunnicke

Redaktion: Uta Rupprecht

Th · Herstellung: Str.

Satz: Uhl +Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14765-5 V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Es gibt eine Verwünschung, die folgendermaßen lautet:

Mögest du in interessanten Zeiten leben.

Rincewind watete durchs flache Wasser und schlug mit einem scharfkantigen Stein eine Kokosnuss auf, die er in einem passenderweise im Schatten gelegenen Gezeitentümpel gekühlt hatte. Dann setzte er sie an die Lippen.

Ein Schatten fiel über ihn.

»Äh … hallo?«, sagte der Schatten.

Wenn man lange genug an den Erzkanzler hinredete, drangen womöglich doch ein paar Einzelheiten zu ihm durch.

»Sie wollen mir also weismachen«, sagte Ridcully schließlich, »dass dieser Rincewind von so gut wie jeder Armee auf dieser Welt gejagt wurde und dass das Leben ihn wie eine Erbse auf einer Trommel herumspringen lässt und dass er wahrscheinlich der einzige Zauberer ist, der etwas über das Achatene Reich weiß, und auch das nur, weil er früher mal mit …«, er warf einen kurzen Blick auf seine Notizen, »›mit einem sonderbaren kleinen Mann mit Brille befreundet war‹, der von dort stammte und ihm dieses komische Dings mit den Beinen geschenkt hat, von dem Sie alle immer wieder reden? Und dass er außerdem die Landessprache spricht. Stimmt das so weit?«

»Ganz recht, Erzkanzler. Nennen Sie mich einen Idioten, wenn Sie wollen«, sagte der Dekan, »aber warum sollte irgendjemand diesen Kerl haben wollen?«

Ridcully musterte abermals seine Notizen. »Dann haben Sie sich also doch dazu entschlossen zu gehen?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht …«

»Mein lieber Dekan, offensichtlich haben Sie noch nicht erkannt«, sagte er und setzte ein äußerst fröhliches Grinsen auf, »dass wir hier so etwas wie einen gemeinsamen Nenner suchen. Der Bursche ist ein Überlebenskünstler. Er hat Talent. Finden Sie ihn. Und bringen Sie ihn her. Egal woher. Vermutlich steckt der arme Kerl gerade in einer ganz grässlichen Klemme.«

Die Kokosnuss blieb dort, wo sie war, nur Rincewinds Augen wanderten wie irre hin und her.

Drei Gestalten betraten sein Gesichtsfeld. Sie waren eindeutig weiblich. Sie waren sogar überdeutlich weiblich. Sie hatten nicht allzu viel an und sahen aus, als kämen sie frisch vom Friseur und wären nicht soeben dem großen Kriegskanu entstiegen, mit dem sie gerade die Lagune durchpaddelt hatten. Aber so ergeht es einem oft beim Anblick wunderschöner Amazonenkriegerinnen.

Ein schmales Rinnsal Kokosnussmilch tröpfelte aus Rincewinds Bart.

Die Anführerin strich sich die lange blonde Mähne aus dem Gesicht und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

»Ich weiß, dass es sich einigermaßen unwahrscheinlich anhört«, sagte sie, »aber meine Schwestern und ich sind Abgesandte eines bislang unentdeckten Stammes, dessen Mannsvolk kürzlich von einer ungewöhnlichen und so schnell wirkenden wie tödlichen Seuche dahingerafft wurde. Seitdem suchen wir alle Inseln nach einem Mann ab, der uns dabei hilft, unseren Stamm vor dem Aussterben zu bewahren.«

»Wie viel wiegt er wohl, was meinen Sie?«

Rincewind hob die Augenbrauen. Die Frau senkte scheu den Blick.

»Du fragst dich vielleicht, warum wir alle blond und hellhäutig sind, wo doch alle anderen Inselbewohner hier dunkel sind«, sagte sie. »Also, das ist wohl einfach nur so eine genetische Besonderheit.«

»Vielleicht fünfundfünfzig, höchstens sechzig Kilogramm. Leg noch ein oder zwei Pfund von dem Kram auf den Haufen. Haben Sie … ähm … ES schon irgendwo aufgespürt?«

»Diese ganze Sache geht garantiert schief, Stibbons, ich weiß es genau.«

»Er ist nur sechshundert Meilen weg, und wir wissen, wo wir sind, und er ist auf der richtigen Hälfte der Scheibe. Jedenfalls haben wir alles mit Hex ausgerechnet, von daher kann eigentlich gar nichts schiefgehen.«

»Schon, aber hat schon jemand das … dieses … Sie wissen schon … mit den, äh, Füßen … gesehen?«

Rincewind wackelte mit den Augenbrauen. Seiner Kehle entrang sich ein seltsames Würgen.

»Ich kann’s … nirgendwo sehen. Wäre es möglich, dass nicht alle meine Kristallkugel anhauchen?«

»Wenn du mit uns kommst, versprechen wir dir natürlich … irdische und sinnliche Genüsse, von denen du bisher nur geträumt hast … wenn überhaupt …«

»Also gut. Wir zählen bis drei …«

Die Kokosnuss fiel runter. Rincewind schluckte. In seinen Augen lag ein hungriger, verträumter Blick.

»Kann ich sie auch zerstampft haben?«, fragte er.

»JETZT!«

Zuerst spürte er einen Druck. Die Welt öffnete sich direkt vor Rincewind und saugte ihn auf.

Dann dehnte sie sich, wurde immer dünner, und es machte Sploing.

Eine vor lauter Geschwindigkeit schlierige Wolke huschte an ihm vorbei. Als er sich traute, die Augen wieder aufzumachen, erkannte er vor sich in weiter Ferne einen winzigen schwarzen Punkt.

Der Punkt wurde größer.

Dann löste er sich auf und wurde zu einem kompakten Schwarm höchst unterschiedlicher Gegenstände. Rincewind sah mehrere schwere Bratpfannen, einen großen Kerzenleuchter, etliche Backsteine, einen Sessel und ein riesiges Puddingförmchen in der Form eines Schlosses.

Sie erwischten ihn nacheinander, wobei das Puddingförmchen einen lustigen Ton von sich gab, als es an seinem Kopf abprallte. Dann wirbelte es hinter ihm davon.

Als Nächstes sah er vor sich ein Oktagramm. Ein mit Kreide gemaltes Oktagramm. Er knallte voll hinein.

Ridcully sah nach unten.

»Ein bisschen weniger als sechzig Kilo würde ich sagen«, murmelte er. »Aber egal … gut gemacht, meine Herren.«

Die zerzauste Vogelscheuche in der Mitte des Kreises erhob sich mit wackligen Beinen und klopfte ein oder zwei kleine Flammen auf ihrer Kleidung aus. Dann sah sie sich benommen um und sagte: »Hehehe?«

»Kann sein, dass er ein bisschen desorientiert ist«, fuhr der Erzkanzler fort. »Über sechshundert Meilen in zwei Sekunden, immerhin. Wir sollten ihn nicht erschrecken.«

»So wie Schlafwandler, meinen Sie?«, erkundigte sich der Oberste Hirte.

»Wieso Schlafwandler?«

»Wenn man Schlafwandler weckt, fallen ihnen die Beine ab. Hat meine Großmutter immer behauptet.«

»Sind wir überhaupt sicher, dass es Rincewind ist?«, fragte der Dekan.

»Selbstverständlich ist es Rincewind«, antwortete der Oberste Hirte. »Wir haben ihn doch stundenlang gesucht.«

»Es könnte ebenso gut irgendeine gefährliche okkulte Kreatur sein«, brummte der Dekan uneinsichtig.

»Mit so einem Hut?«

Es war ein spitzer Hut. In gewisser Hinsicht. Ein Spitzhut wie aus einer Art Cargo-Kult, angefertigt aus gespaltenem Bambus und Kokosnussblättern, in der Hoffnung, vorüberziehende Zaubrigkeit anzulocken. Auf dem Hut bildeten mit Gras befestigte Muscheln das Wort ZAUBBERER.

Der Hutträger sah durch die Zauberer hindurch und sprang, wie von einer plötzlichen Eingebung erfasst, mit einem Satz aus dem Oktagramm und marschierte auf die Tür des Saales zu.

Die Zauberer folgten ihm misstrauisch.

»Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll. Wie oft hat sie so etwas denn selbst gesehen?«

»Keine Ahnung. Das hat sie nicht gesagt.«

»Der Quästor schlafwandelt fast jede Nacht.«

»Wirklich? Sehr verlockend …«

Rincewind, falls die Kreatur tatsächlich so hieß, marschierte hinaus auf den Hiergibt’salles-Platz.

Der Platz war belebt, die Luft flimmerte über den Feuerstellen der Kastanien- und Kartoffelverkäufer, und überall waren die üblichen Rufe und Schreie von Alt-Ankh-Morpork zu hören.7

Die Gestalt machte sich an einen dürren Mann in einem riesigen Paletot heran, der einen breiten Bauchladen um den Hals hängen hatte. Der Bauchladen war mit einem kleinen Ölfeuer ausgestattet, auf dem etwas brutzelte.

Der Möglicherweise-Rincewind packte den Rand des Tabletts.

»Hast … du … Kartoffeln?«, knurrte er.

»Kartoffeln? Nö, Meister. Aber ich hab Würstchen im Brötchen.«

Der Möglicherweise-Rincewind erstarrte. Dann brach er in Tränen aus.

»Würstchen im Brööööötchen«, jaulte er. »Das gute alte Würstchen im Bröööötchen! Gib mir ein Würstchen im Bröööötchen!«

Er schnappte sich drei davon direkt vom Bauchladen und versuchte, sie alle drei auf einmal zu essen.

»Ach du grüne Neune!«, entfuhr es Ridcully.

Die Gestalt rannte ausgelassen hüpfend davon, wobei ihr unablässig Brötchenkrümel und schweinefleischähnliche Bröckchen aus dem ungekämmten Bart rieselten.

»Ich habe noch nie gesehen, dass jemand drei von Ruin-Schnappers Würstchen im Brötchen gegessen hat und hinterher so glücklich aussah«, sagte der Oberste Hirte.

»Ich habe noch nie gesehen, wie jemand drei von Ruin-Schnappers Würstchen im Brötchen gegessen hat und hinterher noch aufrecht gehen konnte«, sagte der Dekan.

»Ich hab noch nie gesehen, wie jemand irgendwas von Schnapper gegessen und ohne zu zahlen davongekommen ist«, sagte der Dozent für neue Runen.

Glückselig tanzte die Gestalt über den ganzen Platz, Tränen strömten ihr übers Gesicht. Die kreiselnden Tanzbewegungen führten sie auch am Eingang einer Gasse vorbei, aus der plötzlich eine kleinere Gestalt auftauchte und ihr mit etwas Mühe kräftig auf den Hinterkopf schlug.

Der Würstchenesser ging in die Knie und sagte zur Welt im Allgemeinen: »Aua!«

»Neinneinneinneinneinneinneinnein!!«

Ein ziemlich alter Mann trat aus der Gasse und nahm dem jungen Mann den Totschläger aus den unsicheren Händen, während das Opfer stöhnend vor ihnen kniete.

»Ich finde, du solltest dich bei dem armen Herrn entschuldigen«, sagte der ältere Mann. »Was soll er denn von uns denken? Er hat es dir wirklich mehr als leicht gemacht, und was hat er jetzt davon? Ich meine, was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Murmelmurmel, Herr Boggis«, sagte der Junge und musterte betreten seine Schuhspitzen.

»Wie bitte? Ich kann dich nicht verstehen?«

»Knaller mit gestrecktem Arm, Herr Boggis.«

»Das soll ein Knaller mit gestrecktem Arm gewesen sein? Das nennst du einen Knaller mit gestrecktem Arm? Ein Knaller mit gestrecktem Arm, im Ernst? Das hier – entschuldigen Sie, werter Herr, wir helfen Ihnen gleich wieder auf, tut mir echt leid, das Ganze – das hier ist ein Knaller mit gestrecktem Arm …«

»Aua!«, schrie das Opfer, gefolgt von einem – was alle Beteiligten sehr überraschte – lauten »Hahahaha!«

»Du hast Folgendes gemacht – tut mir leid, dass wir Sie noch mal belästigen müssen, mein Guter, es dauert nicht mehr lange –, ich zeig’s dir, du hast nämlich das hier gemacht …«

»Aua! Hahahaha!«

»Also, habt ihr das gesehen, ihr Flitzpiepen, habt ihr’s euch genau angesehen? Kommt schon, kommt näher ran …«

Ein halbes Dutzend weiterer Jugendlicher kam aus der finsteren Gasse geschlurft und stellte sich in einem zerlumpten Halbkreis um Herrn Boggis, seinen glücklosen Schüler und das benommen hin und her wankende Opfer auf. Der Überfallene gab dumpfe Laute von sich, die sich wie »Umpf-Umpf« anhörten, dabei schien sich der Mann aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer noch ungemein zu amüsieren.

»Also noch mal«, sagte Herr Boggis mit der gewichtigen Miene des erfahrenen Handwerkers, der seine Kunst an die undankbare Nachwelt weitergibt, »wenn man einen Kunden aus einer der üblichen finsteren Gassen heraus belästigt, geht man korrekterweise so vor … Ach hallo, Herr Ridcully, hab gar nicht gesehen, dass Sie dort stehen.«

Der Erzkanzler nickte freundlich zurück.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Boggis. Nachwuchsausbildung für die Diebesgilde?«

Boggis verdrehte die Augen.

»Ich weiß nicht, was die heutzutage in der Schule lernen«, sagte er, »wahrscheinlich den ganzen Tag nichts als Lesen und Schreiben. Als ich jung war, hat man uns in der Schule wenigstens noch was Vernünftiges beigebracht. Tja … he, Sperling, hör sofort auf zu kichern, du bist jetzt dran … wenn wir vielleicht noch einmal probieren dürften, der Herr?«

»Aua!«

»Neinneinneinneinneinnein! Das kriegt ja meine alte Großmutter besser hin! Jetzt schau mal genau hin, du stellst dich ordentlich hinter ihn, legst ihm zur besseren Kontrolle eine Hand auf die Schulter, siehst du, so … und jetzt du … ja … und dann ganz lässig aus dem Handgelenk …«

»Aua!«

»Gut, ist jetzt jemandem aufgefallen, was er falsch gemacht hat?«

Nur die Zauberer sahen, wie der Geschlagene heimlich davonkroch, während Herr Boggis die hohe Kunst des Hinterkopfschlags an Wilkins demonstrierte.

Der Mann kam wacklig auf die Beine und wankte wie jemand, den man hypnotisiert hatte, weiter die Straße entlang.

»Er weint«, sagte der Dekan.

»Wundert mich nicht«, erwiderte der Erzkanzler. »Aber warum grinst er dabei die ganze Zeit?«

»Das wird ja immer ülkiger«, sagte der Oberste Hirte.

Der angeschlagene und womöglich vergiftete Überfallene wankte zur Universität zurück, und die Zauberer folgten ihm.

»Sie meinen bestimmt ›immer ulkiger‹, aber auch dann ergibt es nicht viel Sinn.«

Die Gestalt passierte das Eingangstor, eilte aber diesmal mit ruckartigen Sprüngen direkt in die Bibliothek.

Der Bibliothekar erwartete ihn bereits und hielt feixend, wie nur ein Orang-Utan feixen kann, den ramponierten Hut in der Hand.

»Erstaunlich«, sagte Ridcully. »Dann stimmt es also wirklich! Ein Zauberer lässt seinen Hut niemals im Stich!«

Die Gestalt schnappte sich den Hut, klopfte ein paar Spinnen heraus, warf das traurige Blätterarrangement beiseite und setzte sich den Hut auf.

Rincewind blinzelte die verdutzten Professoren und Dozenten an. Zum ersten Mal ging hinter seinen Augen ein Licht an, als hätten ihn bis jetzt lediglich seine Reflexe angetrieben.

»Ähm … was hab ich gerade gegessen?«

»Drei von Herrn Schnappers überaus köstlichen Würstchen«, antwortete Ridcully. »Wobei … wenn ich ›köstlich‹ sage, meine ich natürlich die typischen Schnapper-Würstchen, Sie wissen schon.«

»Verstehe. Und wer hat mich gerade geschlagen?«

»Lehrlinge der Diebesgilde bei der praktischen Ausbildung.«

Rincewind blinzelte wieder. »Ich bin in Ankh-Morpork, oder?«

»Stimmt.«

»Hab ich mir doch gleich gedacht.« Rincewind blinzelte noch mal ganz langsam. »Na, dann bin ich wohl wieder zu Hause«, sagte er, während er bereits vornüberkippte.

Lord Hong ließ einen Drachen steigen. Drachensteigenlassen beherrschte er perfekt.

Lord Hong beherrschte alles perfekt. Seine Aquarelle waren perfekt. Seine Gedichte waren perfekt. Wenn er Papier faltete, saß jeder Falz perfekt. Fantasievoll, originell und über jeden Zweifel erhaben – perfekt. Lord Hong hatte schon vor langer Zeit aufgehört, der Perfektion hinterherzujagen, er hatte sie längst eingefangen und in einem Kerker angekettet.

Lord Hong war sechsundzwanzig Jahre alt, schlank und gutaussehend. Er trug eine sehr kleine, sehr runde Nickelbrille. Wenn die Leute ihn beschreiben sollten, benutzten sie oft die Wörter »glatt« oder auch »gelackt«.8 An die Spitze einer der einflussreichsten Familien des Reiches war er durch unermüdlichen Einsatz, unbeirrbare Konzentration auf seine geistigen Kräfte und sechs tadellos ausgeführte Morde gelangt. Der letzte war der an seinem Vater gewesen, der mit der glücklichen Gewissheit starb, dass sein Sohn eine uralte Familientradition fortführte. Die wichtigsten Adelsfamilien verehrten ihre Ahnen und fanden nichts dabei, deren Anzahl auch vor der Zeit zu vergrößern.

Jetzt stürzte sein Drachen, sein schwarzer Drachen mit den zwei großen Augen, steil aus dem Himmel herab. Unnötig zu erwähnen, dass er den Winkel perfekt berechnet hatte. Die mit Leim und zermahlenem Glas bestrichene Drachenschnur zerschnitt die Schnüre seiner Mitbewerber, woraufhin ihre Drachen trudelnd zu Boden fielen.

Die Zuschauer applaudierten höflich. Im Allgemeinen war es ratsam, Lord Hong zu applaudieren.

Er reichte die Schnur an einen Diener weiter, verneigte sich knapp vor den anderen Drachenfliegern und begab sich mit großen Schritten zu seinem Zelt.

Dort angekommen setzte er sich hin und musterte seinen Besucher. »Also?«, sagte er.

»Wir haben die Botschaft abgeschickt, hoher Herr«, erwiderte der Besucher. »Niemand hat uns gesehen.«

»Von wegen«, sagte Lord Hong. »Zwanzig Leute haben euch gesehen. Kannst du dir vorstellen, wie schwer es einem Wächter fällt, geradeaus zu blicken und nichts zu sehen, wenn überall Leute herumschleichen und einander zuflüstern, gefälligst leise zu sein? Ehrlich gesagt scheinen deine Leute nicht so recht vom revolutionären Geist erfasst zu sein. Was ist denn mit deiner Hand?«

»Der Albatros hat mich gebissen.«

Lord Hong lächelte. Er musste daran denken, dass der Vogel den Besucher womöglich mit einer Sardelle verwechselt hatte. Und das nicht ohne Grund, denn er hatte so einen vage fischigen Ausdruck um die Augen.

»Ich verstehe nicht, hoher Herr«, sagte der Besucher, dessen Name Zwei Feuerkraut lautete.

»Gut.«

»Aber sie glauben an den Großen Zaubberer, und ihr wollt, dass er hierherkommt?«

»Allerdings. Ich habe so meine … Leute in« – Lord Hong versuchte sich an den fremdländischen Silben – »Ankh-Morpork. Denjenigen, der sich lächerlicherweise Großer Zaubberer nennt, gibt es wirklich. Aber ich kann dir verraten, dass er dort für seine Unfähigkeit, Feigheit und Willensschwäche bekannt ist. Sie sind schon beinahe sprichwörtlich. Von daher bin ich der Auffassung, dass die Rote Armee ihren Anführer bekommen sollte. Damit dürfte ihre … Moral gehoben werden.« Er lächelte wieder. »Das nennt man Politik«, sagte er.

»Aah.«

»Geh jetzt.«

Während sein Besucher sich entfernte, griff Lord Hong nach einem Buch. Aber es war eigentlich kein richtiges Buch, sondern eher eine Sammlung einzelner Blätter, die von einer Schnur zusammengehalten wurden. Der Text war mit der Hand geschrieben.

Er hatte ihn schon sehr oft gelesen, amüsierte sich aber jedes Mal wieder, in erster Linie deshalb, weil sich der Autor bei so vielen Dingen irrte.

Jetzt riss er jedes Mal, nachdem er eine Seite gelesen hatte, das Blatt heraus und faltete es, während er die nächste Seite las, sorgfältig zu einer Chrysantheme.

»Großer Zauberer, ha!«, sagte er laut vor sich hin. »Von wegen großer Zauberer!«

Rincewind wachte auf. Die saubere Bettwäsche und die Tatsache, dass niemand »Durchsucht seine Taschen!« sagte, verbuchte er als vielversprechenden Anfang.

Er hielt die Augen geschlossen, nur für den Fall, dass jemand in der Nähe war, der ihm das Leben schwermachen würde, sobald er bemerkte, dass Rincewind bei sich war.

Stimmen. Mehrere ältere Männer stritten sich.

»Ihr habt es immer noch nicht kapiert. Er wird die Sache überleben. Ihr erzählt mir doch die ganze Zeit, dass er alle möglichen Abenteuer durchgemacht hat und immer noch am Leben ist!«

»Wie meinen Sie das? Er hat überall Narben!«

»Genau das meine ich, mein guter Dekan. Und die meisten hat er auf dem Rücken. Er lässt alle Gefahren hinter sich. Jemand DA OBEN muss ihm wohlgesonnen sein.«

Rincewind erschauderte. Er hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass jemand da oben etwas mit ihm anstellte, aber dass der ihm wohlgesonnen war, hätte er wohl zuallerletzt vermutet.

»Er ist nicht mal ein ordentlicher Zauberer! Er hatte in keiner Prüfung mehr als zwei Prozent richtig!«

»Ich glaube, er ist wach«, sagte jemand.

Rincewind gab sich geschlagen und schlug die Augen auf. Mehrere bärtige, viel zu rosige Gesichter sahen auf ihn herab.

»Wie fühlen Sie sich, alter Knabe?«, fragte einer der Männer und streckte eine Hand aus. »Ridcully, mein Name. Erzkanzler. Wie geht’s denn so?«

»Es wird alles ganz schrecklich schiefgehen«, sagte Rincewind ohne weitere Umschweife.

»Was meinen Sie damit, mein Freund?«

»Ich weiß es einfach. Es wird alles schrecklich schiefgehen. Etwas Fürchterliches wird passieren. Ich habe dem Frieden von Anfang an nicht getraut.«

»Seht ihr?«, knurrte der Dekan. »Hunderte von kleinen Beinen. Ich hab’s euch gleich gesagt. Aber es wollte ja keiner auf mich hören.«

Rincewind setzte sich auf. »Ihr braucht gar nicht erst nett zu mir zu sein«, sagte er. »Bietet mir keine Weintrauben an. Bis jetzt wollte mir noch nie jemand etwas Gutes tun.« Eine verworrene Erinnerung aus jüngster Zeit schoss ihm durch den Kopf: Bedauern darüber, dass die Kartoffeln, die zu diesem Zeitpunkt sein ganzes Denken beherrscht hatten, mitnichten im gleichen Maße die Gedanken und Absichten der jungen Dame bestimmt hatten. Niemand, der sich so kleidete, das wurde ihm allmählich klar, dachte auch nur im Entferntesten an irgendwelches Wurzelgemüse.

»Na schön«, seufzte er, »und was jetzt?«

»Wie geht es Ihnen?«

Rincewind schüttelte den Kopf. »Das bringt doch nichts«, sagte er. »Ich kann’s nicht leiden, wenn jemand nett zu mir ist, denn das bedeutet, dass gleich etwas Schlimmes passiert. Wollen Sie nicht lieber auf mich einbrüllen?«

Ridcully hatte die Nase voll. »Raus aus dem Bett, du grässlicher kleiner Mann, und dann kommst du auf der Stelle mit, sonst wird es sehr, sehr unangenehm für dich!«

»Ah, schon besser. Da fühle ich mich gleich viel wohler. Jetzt wird ein Schuh draus«, sagte Rincewind niedergeschlagen, schwang die Beine über den Bettrand und erhob sich vorsichtig.

Ridcully blieb auf halbem Weg zur Tür stehen. Dort hatten sich die anderen Zauberer aufgereiht.

»Runen?«

»Ja, Erzkanzler?«, meldete sich der Dozent für neue Runen mit vor Unschuld triefender Stimme.

»Was verstecken Sie da hinter Ihrem Rücken?«

»Wie bitte?«

»Sieht wie ein Werkzeug aus«, sagte Ridcully.

»Ach, das«, erwiderte der Dozent für neue Runen, als wäre ihm der vier Kilo schwere Fäustel, den er in der Hand hielt, gerade erst aufgefallen. »Ja so was, das sieht ja aus wie ein Hammer. Nicht zu fassen! Ein Hammer! Den muss ich wohl … irgendwo mitgenommen haben. Sie wissen schon. Damit nicht immer alles überall rumliegt.«

»Und wenn ich mich nicht sehr täusche«, fuhr Ridcully fort, »versucht der Dekan eine Streitaxt an seinem Körper zu verstecken.«

Hinter dem Professor für unbestimmte Studien ertönte ein leises melodisches Jaulen.

»Und das hörte sich doch glatt wie eine Säge an«, sagte Ridcully. »Ist jemand anwesend, der kein Werkzeug zu verstecken versucht? Aha. Würde sich bitte jemand die Mühe machen, mir zu erklären, was das alles soll?«

»Ha, Sie wissen eben nicht, wie es damals war«, murmelte der Dekan, ohne dem Erzkanzler in die Augen zu sehen. »Da hat sich keiner getraut, irgendjemandem auch nur für fünf Minuten den Rücken zu kehren. Man hörte das Trappeln dieser verdammten Füße und …«

Ridcully ignorierte ihn. Er legte Rincewind einen Arm um die knochige Schulter und führte ihn zum Großen Saal.

»Also, mein guter Rincewind«, sagte er, »ich habe gehört, dass Sie mit der Magie nicht auf sonderlich gutem Fuß stehen.«

»Stimmt genau.«

»Auch keine Prüfungen bestanden und dergleichen?«

»Leider nein.«

»Trotzdem nennt Sie alle Welt Rincewind der Zauberer.«

Rincewind schaute auf seine Schuhspitzen? »Na ja, ich hab hier mal als Assistent des Bibliothekars oder so was gearbeitet …«

»… als Gehilfe eines Affen …«, warf der Dekan ein.

»… und da habe ich dies und das und alles Mögliche gemacht und überall ausgeholfen …«

»Nicht schlecht, hat das jemand gehört? Der Gehilfe eines Affen? Ziemlich schlau, würde ich sagen.«

»Aber Sie sind letztendlich nie dazu berechtigt gewesen, den Titel Zauberer zu führen?«, erkundigte sich Ridcully.

»Streng genommen … eigentlich nicht …«

»Verstehe. Das ist allerdings ein Problem.«

»Dafür habe ich diesen Hut, auf dem das Wort ›Zaubberer‹ draufsteht«, sagte Rincewind hoffnungsvoll.

»Das hilft uns leider nicht weiter. Hm. Wir haben also ein kleines Problem. Mal sehen … Wie lange können Sie die Luft anhalten?«

»Woher soll ich das wissen? Ein paar Minuten. Ist das wichtig?«

»Schon. Nämlich dann, wenn man mit dem Kopf nach unten an einem Pfeiler der Messingbrücke festgenagelt ist, bis die Flut zweimal da war, und anschließend geköpft wird. So lautet leider die gesetzlich vorgesehene Strafe für das unberechtigte Tragen der Berufsbezeichnung ›Zauberer‹. Ich habe extra nachgeschaut. Tut mir wirklich aufrichtig leid, aber so steht’s nun mal geschrieben.«

»Bitte nicht!«

»Tut mir leid. Da führt kein Weg dran vorbei. Sonst stehen wir bald knietief in Leuten mit spitzen Hüten, die eigentlich überhaupt kein Recht dazu haben. Da kann ich nichts machen. So gern ich’s täte. Mir sind die Hände gebunden. Die Statuten besagen nun mal, dass man nur dann Zauberer sein darf, wenn man die Universität auf dem üblichen Weg absolviert hat, oder wenn man der Zauberei im Allgemeinen einen großen Dienst erwiesen hat, und ich fürchte, dass …«

»Könnt ihr mich nicht einfach wieder auf meine Insel schicken? Mir hat es dort sehr gut gefallen. Es war einfach nur langweilig!«

Ridcully schüttelte traurig den Kopf.

»Geht nicht, leider. Das Vergehen wurde über zu viele Jahre hinweg begangen. Und da Sie obendrein keinerlei Prüfungen abgelegt haben und auch«, an dieser Stelle wurde Ridcully ein bisschen lauter, »der Zauberei im Allgemeinen keinen besonderen Dienst erwiesen haben, muss ich wohl oder übel die Brüller9 anweisen, irgendwo ein Seil zu besorgen und …«

»Äh, ich glaube, ich habe schon ein paarmal die Welt gerettet«, unterbrach ihn Rincewind. »Zählt das nicht?«

»Kann das jemand von der Universität bezeugen?«

»Nein, ich glaube nicht.«