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Wiesbaden. Die Staatsanwältin Angela Bennefeld wird tot aus dem Schiersteiner Hafen geborgen. Alles sieht wie ein Unfall aus, doch ihre Stiefmutter glaubt nicht daran und bittet Privatdetektivin Norma Tann um Hilfe. Norma rekonstruiert Angelas letzten Abend. Sie stößt auf Unterlagen über den Glykolwein-Skandal im Jahr 1985, der für viele Winzer das Aus bedeutete. Immer mehr Einzelheiten aus Angelas Vergangenheit bringt die Privatdetektivin ans Licht: Angelas Mörder gerät in Bedrängnis - und Norma in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 317
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Susanne Kronenberg
Edelsüß
Norma Tanns vierter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,
Sonntag, der 10. Juli
Verflixt! Benni hatte ein Messer! Ein Springmesser. Blitzschnell schoss die Klinge heraus.
»Lass mich in Ruhe, Schlampe!«, stammelte er. »Ich hab’ nix mit euch zu schaffen!«
Norma ging drei Schritte zurück. Vom Schiersteiner Hafen wehte Popmusik herüber. In die Klänge hinein zählte der Sprecher das nächste Rennen an. Mit dem Startschuss setzten die Trommelschläge ein, dumpf und rhythmisch. Die Trommler steigerten sich zu einem ungezügelten Stakkato, angefeuert von den Zuschauern rund um das Hafenbecken. Für einen Moment wünschte sie sich hinüber an den Kai, mitten in den Kreis friedfertiger Hafenfestbesucher.
»Ich mach dich fertig, Schlampe!«, fauchte der Junge und stach mit dem Messer Löcher in die Luft.
Er war betrunken. Jedoch nicht besoffen genug, um ausnahmslos daneben zu treffen. Sie wagte einen flinken Blick über die Schulter. Die Leute hoch oben auf der Fußgängerbrücke, die den Kanal zwischen Hafenbecken und Rhein überspannte, hatten nur Augen für die Endrunde der Drachenbootrennen und bekamen nichts mit von dem kleinen Drama, das sich darunter auf der abgelegenen Rheinwiese abspielte. Zum Glück hielt sich das Mädchen ein Stück abseits. Stocksteif drückte Chrissi den kleinen Lennox an sich.
Dessen Vater glotzte hinüber und brüllte: »Mach dich weg, du Schlampe!«
Norma blieb ruhig. »Der Kleine ist Ihr Sohn, Benni.«
Sein Blick wurde unstet und wanderte hin und her zwischen ihr und dem Mädchen. »Der is’ nich’ von mir! Den will se mir anhängen. Die Schlampe treibt’s mit jedem!«
Ziemlich sparsam, seine Wortwahl. Gern hätte sie ihm ein paar Nettigkeiten um die Ohren gepfeffert. Ihre Geduld ging dem Ende zu. Selbst schuld! Warum hatte sie sich auf den Streit eingelassen, der ihr nichts außer Ärger einbringen würde? Chrissi war zu ihr gekommen, weil Benni sich vor der Verantwortung drückte. Offensichtlich hatte sich Normas Großzügigkeit unter jungen, alleinerziehenden Müttern herumgesprochen. Auch Chrissi hatte sie ihre Hilfe nicht abschlagen wollen, zumal sich das Mädchen gewissenhaft und liebevoll um den Kleinen kümmerte. Chrissi lebte von Hartz IV und hätte sich niemals eine Privatdetektivin leisten können. Den jungen Vater hatte Norma schnell aufgetrieben. Als ehemalige Kriminalhauptkommissarin hatte sie gute Kontakte zum Wiesbadener Polizeipräsidium. Dort war Benni kein unbeschriebenes Blatt. Einbrüche in Kioske und Autoaufbrüche standen in seiner Akte. Dass er gewalttätig werden könnte, hatte niemand vorhergesagt. Auch nicht der Bewährungshelfer, der ihm Arbeit bei einem Rheingauer Winzer vermitteln konnte. Am Freitag hatte sie Benni zum Feierabend abgefangen. Im nüchternen Zustand hatte er sich halbwegs besonnen und einsichtig gegeben und das Treffen selbst vorgeschlagen. Am Sonntag sei Hafenfest in Schierstein, da könne man ja mal miteinander reden. Nachdem Norma ihn mit Chrissis Hilfe zwischen Achterbahn und Verkaufsständen an einer Bierbude aufgestöbert hatte, waren alle drei zum Rheinufer gegangen, um abseits vom Trubel ungestört zu sein.
»Es gab einen Vaterschaftstest, Benni. Das Ergebnis haben Sie anerkannt. Sie erinnern sich?«
»Die Schlampe will mich reinlegen!«
Er warf das Messer von einer Hand in die andere und demonstrierte eine, gemessen am Alkoholpegel, beachtliche Fingerfertigkeit.
Norma griff in die Hosentasche und schleuderte ihr Handy in Chrissis Richtung. »Bleib, wo du bist! Ruf die Polizei!«
Weil sie nicht wusste, wie viel sie von dem Mädchen erwarten durfte, sagte sie ihr die Nummer des Notrufs. Das hätte sie sich sparen können.
Chrissi ignorierte die Bitte, kümmerte sich nicht um das Telefon, sondern tastete sich Schritt für Schritt heran. »Mach keinen Scheiß, Benni! Du bist auf Bewährung. Riskier’ nicht deinen Job!«
So naiv war sie gar nicht, die Chrissi! Im Knast kein Job. Ohne Job kein Lohn. Ohne Lohn kein Cent Unterhalt. Norma konnte nicht auf Chrissis Beistand bauen. Sie musste allein klarkommen. Benni präsentierte ungerührt seine Messerakrobatik. Der Wind trug die Trommelschläge des nächsten Rennens heran. Von der Dyckerhoff-Brücke kam begeistertes Klatschten. Norma stand der Schweiß auf der Stirn. Die Sonne knallte ihr ins Gesicht. Lennox meldete sich zu Wort. Maunzend wie eine junge Katze zappelte er in den Armen der Mutter, die Mühe hatte, ihn festzuhalten. Dann brüllte er los. Das Sirenengeheul seines Sohnes irritierte Benni. Die Waffe glitt ihm aus den verschwitzten Händen, und als er das Messer aus dem Gras fischen wollte, war Norma mit einem Satz über ihm. Ihr kräftiger Stoß und der Alkohol in seinen Adern brachten den Jungen ins Straucheln. Auf dem Boden liegend schlug er um sich. Norma holte zum zweiten Mal aus, trat ihn in die Seite und warf sich auf ihn. Mit geübtem Griff drehte sie ihm den Arm auf den Rücken und presste ein Knie in sein Kreuz, bis er aufhörte, sich zu wehren.
»Wie viel Geld hast du bei dir?«
Er gab ein empörtes Glucksen von sich, hielt aber still, als Norma ihren Griff verstärkte, und murmelte etwas von »Hosentasche«. Das Mädchen setzte den brüllenden Lennox ins Gras, was ihn auf der Stelle verstummen ließ, und zog Bennis Geldbörse aus der Jeans.
Ihr kleiner Sohn schaute neugierig zu, als sie die Scheine zählte und das Ergebnis verkündete: »Wahnsinn! 125 Euro! Woher hat der so viel Kohle?«
»Das steckst du dir ein!«, forderte Norma das Mädchen auf.
Chrissi nahm ihren Rucksack herunter und schob das Geld in ein Seitenfach. Sie untersuchte das Portemonnaie. »Da sind jede Menge Münzen drin.«
»Das Kleingeld behält er. Schreib ihm eine Quittung. Mit Datum und Summe.«
»Worauf denn?«
»Auf was du findest. Hast du einen Stift?«
Chrissi wühlte im Rucksack, bis sie einen Kugelschreiber fand, und bekritzelte einen abgestempelten Busfahrschein.
»Hast du Papiertaschentücher dabei?«, fragte Norma.
Das Mädchen zog ein Päckchen aus dem Rucksack.
»Nimm das Messer damit hoch«, befahl Norma. »Aber fass es nicht mit den Fingern an, hörst du?«
Als Chrissi das Messer in die Taschentücher gewickelt hatte, lockerte Norma den Griff. »Ich lasse dich jetzt los, Benni. Ab sofort zahlst du jeden Monat! Chrissi hält mich auf dem Laufenden. Wenn du unsere Vereinbarung brichst, gibt es eine Anzeige wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Hast du das kapiert?«
Täuschte sie sich oder weinte der Junge? Tatsächlich, der coole Schlampenhasser jammerte wie ein Schulkind. Das Messer habe ihn einen halben Monatslohn gekostet, hörte sie aus dem Schluchzen heraus. Ob er es nicht behalten dürfe.
»Das bleibt bei mir als Beweismittel. Deine Fingerabdrücke sind darauf. Ich lasse dich jetzt los, und du benimmst dich, verstanden?«
Wie benommen rappelte er sich auf. Norma übernahm das Messer, und Chrissi hob ihren Sohn hoch. Benni starrte das Kind an, der Kleine bestaunte den ihm fremden Mann.
»Du bist ein solcher Idiot, Benni«, sagte Chrissi liebevoll.
Benni antwortete nicht, glotzte weiterhin stumm auf das Kind.
Vom Fuß der Brücke kam ein Mann angerannt. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Was ist los? Kann ich helfen?«
Dienstag, der 12. Juli
Sie erwachte mit den nebulösen Bildern eines Traums, in dem Benni sich auf sie geworfen und ihr die Luft abgedrückt hatte. Die Last auf dem Bauch entpuppte sich als Kater, der die Krallen in die Bettdecke schlug. Sie vergrub die Finger im stahlgrauen Fell und hörte seinem Schnurren zu, bis sie sich zu ihrem täglichen Yogaprogramm aufraffte und die Matte vor dem Bett ausrollte. Jeden Morgen der Kampf gegen die Bequemlichkeit. Leopold robbte zur Bettkante vor und angelte, gnädigerweise mit eingezogenen Krallen, nach ihren Waden, solange sie rücklings die Beine zur Zimmerdecke streckte. So richtig wollten die Asanas heute nicht gelingen. Sie fühlte sich angeschlagen, und die Blutergüsse an Schultern und Oberarmen schmerzten. In der Morgensonne, die hell und freundlich durchs Dachfenster leuchtete, erschien ihr die Auseinandersetzung eher peinlich. Wenigstens hatte Chrissi ihr Geld bekommen.
Der Kater hatte sich längst über das Dach davongestohlen, als sie nach dem Frühstück hinunter ins Büro gehen wollte. Auf der mittleren Etage fielen ihr Evas Pflanzen ein, die einen Schuss Wasser vertragen könnten. Ihre Vermieterin Eva Vogtländer, eine Lehrerin, verbrachte wie jeden Sommer die Ferien bei ihrem Kölner Freund, und Norma hatte sich angeboten, den Kater und das Grünzeug zu versorgen. Leopold fühlte sich bei ihr ebenso zu Hause wie bei seiner Besitzerin, und die Pflanzen gaben sich mit wenig Aufmerksamkeit zufrieden. Sie flitzte nach oben, um den Schlüssel zu holen. Die Grünlilie im Bad ließ die Blätter hängen, aber Norma wusste aus Erfahrung, wie schnell sich das Gewächs berappeln konnte. Nach der Trennung von ihrem Mann Arthur war sie in dieses Haus gezogen. Sie mochte den unscheinbaren Altbau, und sie liebte das Leben in Biebrich, diesem lebendigen Wiesbadener Stadtteil, der bis ans Rheinufer heranreicht. Von der Haustür ins Büro waren es nur fünf Schritte entlang der Fassade. An den improvisierten Arbeitsraum im ehemaligen Blumenladen erinnerte nichts mehr, seit sie die Wände in einem satten Terrakottaton gestrichen und die abgenutzten Regale gegen neue Möbel getauscht hatte. Aktenordner und Papiere standen und lagen nicht mehr offen herum, sondern waren hinter Schranktüren verschwunden, die ihr halfen, Ordnung zu halten. Für die Klienten gab es eine nette Sitzecke am Fenster. Einmal entschlossen, hatte sie sich aufgemacht und an einem einzigen Samstag sämtliche Möbel ausgewählt. Nur die Suche nach der Jalousie, die neugierige Blicke durch die Schaufensterscheibe verhindern sollte, hatte sich als langwierig und scheinbar aussichtslos erwiesen, bis sie schließlich in einem Biebricher Laden einen apart gemusterten Lamellenvorhang entdeckte. Nun war sie sehr zufrieden mit dem Ergebnis, das genügend Seriosität ausstrahlte, um den Klienten wie ihr selbst den Eindruck zu vermitteln, Norma Tann habe sich als Private Ermittlerin etabliert.
Ihr derzeitiger Auftraggeber war ein Wiesbadener Versicherungsdetektiv, für den sie das Internet nach Adressen durchstöberte. Eine stupide Schreibtischarbeit mit dem Vorzug, passabel bezahlt zu werden. Norma steckte mitten in den Recherchen, als sich durch die Jalousie die Silhouette einer Limousine abzeichnete. Sie stand auf und öffnete die Tür. Auf der Gasse wartete Lutz Tann, Arthurs Vater. Arthurs Tod hatte ihre Freundschaft vertieft. Seit Weihnachten ließ Lutz sich von der fixen Idee treiben, die 100 Jahre alte Villa der Familie zu verkaufen und aus dem Wiesbadener Nerotal wegzuziehen. Ein neues Domizil am Rhein schwebte ihm vor; vielleicht in Schierstein oder einem Winzerort im Rheingau. Der Landstrich am Rhein mit seinen wunderschönen Orten und geschichtsträchtigen Städtchen begann unmittelbar hinter Wiesbadens westlicher Stadtgrenze. In den vergangenen Wochen hatten sie gemeinsam mehrere Häuser besichtigt. Das Traumhaus ließ bisher auf sich warten. Norma war von den Plänen weniger überzeugt. Lutz liebte seine Gewohnheiten. Frühmorgens spazierte er durch die Taunusstraße in die Innenstadt und frühstückte im ›Maldaner‹ oder einem anderen Lieblingscafé, um sich danach um den Verlag zu kümmern. Für den Rückweg nahm er sich gern die Zeit für einen Umweg und schlenderte über die Wilhelmstraße und am Kurhaus entlang. Sie war sicher, das wäre nichts für ihn: Täglich mit dem Bus, dem Taxi oder dem eigenen Wagen in die Stadt zu fahren. Sein Daimler, ein Oldtimer, ins Heute gerettet aus dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, schonte sich die meiste Zeit in der Garage und kam nur zu besonderen Ausfahrten ans Tageslicht. Dieser Vormittag bot offenbar eine solche Gelegenheit.
Galant zog Lutz die Beifahrertür auf. »Zum Weingut Adebar, Madame!«
»Adebar wie Storch?«, wunderte sie sich.
»Vermutlich hat man es nach all den Störchen benannt.«
»Demnach geht es nach Schierstein?«
Das einstige Winzer- und Fischerstädtchen war bekannt für die wachsende Zahl an Storchenpaaren, die dort jeden Sommer brüteten und ihre Küken aufzogen.
Er schaute schwärmerisch. »Ich sehe mich schon mit Undine in einem der hübschen Restaurants am Hafen sitzen. Und mit dir natürlich.«
Er stutzte und musterte ihre langen Blusenärmeln, ohne die blauen Flecken darunter zu erahnen. »So warm angezogen bei der Hitze? Du hast dich hoffentlich nicht erkältet?«
»Alles in Ordnung«, entgegnete sie unbekümmert. »Eigentlich müsste ich arbeiten.«
»Das Exposé klingt viel versprechend. Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest, Norma.«
Der Versicherungsauftrag konnte eine Stunde warten. Sie sperrte das Büro ab. Im Wagen roch es nach Holzwachs und Lederpflegemittel. Sie sank mit einer gewissen Ehrfurcht auf den Sitz nieder.
»Willst du vom Verleger zum Winzer umschulen?«, fragte sie scherzhaft, als Lutz eingestiegen war.
Er lächelte versonnen. »Reizen würde es mich. Aber ich Schreibtischtäter im Weinberg? Die armen Reben! Abgesehen davon geht es nur um die Gebäude. Die Weinberge wurden Mitte der 1980er-Jahre verpachtet. Zu der Zeit, als viele Winzer aufgeben mussten.«
»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Na, der Glykolskandal im Jahr 1985. Nachdem die Panscherei aufgeflogen war, wollte niemand mehr deutschen Wein kaufen. Was auch die ehrbaren Winzer schwer getroffen hat. Weißt du nicht mehr? Zum Wohl, Glykol! So hieß es damals.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass meine Heimat die norddeutsche Tiefebene ist? 1985 war ich zu jung für Wein und wusste soeben, dass es rote und weiße Trauben gibt.«
Sie war ein echtes Nordlicht, aufgewachsen in einem niedersächsischen Dorf an der Weser. Ihren Polizeidienst hatte sie in Bremen begonnen. Bei einer Schulung im Bundeskriminalamt verliebte sie sich in die Stadt Wiesbaden und ließ sich nach Hessen versetzen. So lautete die offizielle Version, die nicht geschwindelt war. Tatsächlich nahmen die Stadt und das Umland, der Rheingau und der Taunus, Norma auf Anhieb für sich ein. Das Beste am Umzug jedoch waren die 430 Kilometer, die sie fortan von Hauptkommissar Jan Petersen trennten, der ersten und schlimmsten Liebe ihres Lebens. Bei einem der ersten Wiesbadener Einsätze war sie Arthur begegnet, als in dessen Kunst- und Antiquitätengeschäft in der Taunusstraße eingebrochen worden war.
Lutz gab sich ebenfalls Erinnerungen hin. »Ein guter Freund von mir, ein angesehener Winzer, hat sich nach dem Weinskandal mit einem Jagdgewehr erschossen. In seinem Weinkeller. Weil er das Familienweingut nicht retten konnte.«
Norma legte den Gurt an. »Stichwort Familie! Du bist also fest entschlossen, die Villa Tann aufzugeben? Den ehrwürdigen Sitz der Verlegerdynastie Tann?«
Lutz ließ den Wagen an und schaute in den Außenspiegel. »Was nützt mir ein Familiensitz ohne Familie? Arthur, mein Sohn und Erbe, ist tot. Und du willst die Villa nicht übernehmen. Ich müsste so viel Geld hineinstecken. Fenster, Heizung, Elektrik. Und das für ein Haus, das mich traurig macht.«
Der Motor schnurrte los wie Leopold. Lutz steuerte den Daimler durch die Biebricher Gassen und bog in die Rheingaustraße ab, die den Blick auf den Strom freigab und auf das grüne Band der Rettbergsaue. Rechter Hand kam die filigrane Fassade des Biebricher Schlosses in Sicht. Die Sandsteinfiguren auf dem Dach der Rotunde erhoben sich in einen wolkenlosen blauen Himmel.
Lutz deutete auf die Ablage vor dem Beifahrersitz. »Sieh dir das Exposé an! Das Weingut Adebar, das hat was!«
Norma blätterte in den Unterlagen. »Stimmt, das Weingut hat was. Und zwar einen beträchtlichen Investitionsbedarf! Soweit ich das als Laie beurteilen kann.«
»Noch nichts kaputtsaniert, meint der Makler. Das Anwesen gehört einer älteren Dame, einer Winzerwitwe. Offenbar hat der einzige Sohn kein Interesse daran.«
Sie kurbelte die Scheibe hinunter und schnupperte in den Fahrtwind hinein. »Wie viele Jahre willst du auf einer Baustelle leben, Lutz?«
Mit knapp 60 sei er gewiss nicht zu alt für einen Neustart, erklärte er mit vorsichtiger Empörung und tuckerte in einer Bierruhe voran, die den nachfolgenden Fahrern den Schweiß auf die Stirn treiben musste.
»Die Villa Tann hieße konservieren. Das Weingut ist Aufbruch«, fügte er pathetisch hinzu.
»Was meint eigentlich Undine zu deinen Umzugsplänen?«
Seine Lebensgefährtin Undine Abendstern wohnte in einem Jugendstilhaus im Wiesbadener Dichterviertel. Norma konnte sich nicht vorstellen, dass die überkandidelte Galeristin ihre schicke Altbauwohnung verlassen würde, um an den Rhein zu ziehen.
Er zuckte ergeben mit den Schultern, beide Hände sicher am Lenkrad. »Ihr ist es gleich, wo ich wohne. Wir treffen uns sowieso meistens bei ihr. Sie will nicht mit mir zusammenziehen, selbst dann nicht, wenn Nina nach Paris gehen sollte.«
Hinsichtlich ihrer Extravaganz schenkten sich Mutter und Tochter nicht viel. Das Modestudium in Frankreich war Ninas Lebenstraum, und Undines Trauer über den Auszug der kapriziösen Tochter würde sich in Grenzen halten, vermutete Norma. Die Launen der Galeristin verlangten Lutz einigen Langmut ab. Was der ansonsten gescheite Verleger wie eine Naturgewalt abwetterte.
Die vier Kilometer entlang des Rheins zwischen Biebrich und Schierstein waren schnell zurückgelegt. Sie erreichten eine Seitengasse. Sorgsam auf genügend Abstand zum sich herandrängenden Mauerwerk bedacht, stoppte Lutz den Wagen vor einem mannshohen Holztor, dem ein neuer Anstrich gutgetan hätte. Wie aus dem Nichts war ein junger Mann zur Stelle und drückte die Flügel auf. Er winkte den Oldtimer hinein und zupfte nervös an seiner feuerroten Krawatte, einem Signalfleck inmitten des Anzuggraus.
Er empfing sie mit Handschlag und einer angedeuteten Verbeugung. »Philipp Faber vom Maklerbüro ›Traumhaus am Rhein‹. Bitte, schauen Sie sich um!«
Norma nahm ihn beim Wort. Zauberhaft, dachte sie. Sofern man sich nicht von dem heruntergekommenen Zustand abschrecken ließ. Eingeschossige Fachwerkbauten, vermutlich die Wirtschaftsgebäude, umschlossen einen geräumigen Innenhof. An der Stirnseite prangte ein Steinhaus: dreistöckig, mit hohem, spitzem Giebel und symmetrisch angeordneten Fenstern. Der doppelläufige Treppenaufgang verlieh dem Haus ein herrschaftliches Erscheinungsbild, das der von Säulen umrahmte Hauseingang verstärkte. Man brauchte allerdings ein gehöriges Quantum an Vorstellungskraft, um die vergrauten Außenwände und den bröckelnden Putz schön zu finden. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Schatten am Himmel wahr und erspähte im Aufschauen einen riesigen Vogel, der ohne einen Flügelschlag über den Innenhof segelte.
Der Makler hob den Arm und zeigte in die Richtung, in der der Vogel verschwunden war. »Die Störche haben auf dem Scheunenfirst ein Nest gebaut. Keine Sorge, das stört überhaupt nicht«, fügte er hastig hinzu.
»Mich ganz bestimmt nicht«, wiegelte Lutz die Bedenken des jungen Mannes ab. »Aus welchem Jahr stammt das Haus?«
»Das Wohnhaus wurde 1884 im klassizistischen Stil gebaut«, erklärte Faber textsicher. »Außergewöhnlich für ein Weingut dieser Größe. Ein echter Schatz der Architektur. Warten Sie nur, bis Sie das Haus von innen sehen, Herr Tann!«
Norma deutete auf ein Fachwerkhäuschen, das, umrahmt von Wirtschaftsgebäuden, dem Haupthaus gegenüberlag und sich mit properer Fassade und einem heilen Dach schmückte.
»Da sehen Sie, was sich aus der Bausubstanz machen lässt«, begeisterte sich der Makler.
»Das wäre wunderbar, Norma!«, rief Lutz spontan. »Ein kleines Haus für dich allein.«
Die Gesichtsfarbe des Maklers machte schlagartig dem Rot der Krawatte Konkurrenz. »Ja, ähm… hat man Ihnen das im Büro nicht gesagt, Herr Tann?«
Lutz fuhr herum. »Bitte, was hätte man mir sagen sollen?«
Fabers Wangenrot wechselte ins Purpur. »Ähm … das Fachwerkhaus ist aus dem Ensemble ausgeschlossen. Es gehört … jemand anders.«
Damit war es raus! Der junge Mann lächelte erleichtert.
Lutz dagegen erblasste, ein Zeichen, dass er ungehalten wurde, was selten vorkam. »Soll das heißen, ich müsste mir den Innenhof mit einem weiteren Hausbesitzer teilen?«
»Mit einer Dame vom Gericht«, versuchte der Makler zu retten, was zu retten war. »Eine Staatsanwältin. Eine Frau Doktor. Alleinstehend. Sehr, sehr ruhig.«
Kaum ausgesprochen, erhob sich im Innern des Häuschens ein Wutgeheul. Hinter der verglasten Haustür sprang ein braun-weißes Bündel wie ein Ball auf und ab und wollte sich gar nicht beruhigen.
»Ein Jack-Russell-Terrier«, murmelte der Makler. »Ein entzückendes kleines Wesen. Ich weiß gar nicht, was er heute hat.«
Norma biss sich auf die Lippen. Das war eindeutig nicht Philipp Fabers Tag.
Lutz richtete einen strengen Blick auf den jungen Mann. »Herr Faber! Ob Dame oder nicht. Ob mit oder ohne Doktor, Hund oder Katze: Was kümmert mich das? Ich wünsche ein Haus ohne Mitbesitzer.«
»Möglicherweise wäre Frau Dr. Bennefeld vielleicht bereit zu verkaufen«, wandte der Makler hoffnungsvoll ein.
Ein ›eventuell‹ hätte der Satz noch verkraftet, dachte Norma belustigt.
Lutz schien nicht im Geringsten amüsiert. »Klären Sie das! Wir fahren, Norma!«
Sie nickte Faber, der glühte wie ein romantischer Sonnenuntergang, aufmunternd zu und folgte Lutz zum Wagen. Sie waren noch nicht am Parkplatz angelangt, als sich die Haustür des Haupthauses auftat. Eine Frau, nicht ganz so jung wie die saloppe Jeans und die feuerrote Frisur auf den ersten Blick vermuten ließen, stieg mit leichtem Schritt die Stufen hinunter. Ein weibliches Wesen unbeachtet zu lassen, wäre Lutz niemals in den Sinn gekommen. Er machte auf der Stelle kehrt. Faber schöpfte neue Hoffnung und stellte die Frau als Henriette Medzig vor, die Besitzerin des Anwesens.
Sie schüttelte Lutz und Norma die Hand. »Wie schön, dass Sie gekommen sind! Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Hat Herr Faber Sie bereits herumgeführt?«
Der Makler räusperte sich. »Es gibt ein Problem, Frau Medzig. Herr Tann hat Bedenken wegen der Besitzverhältnisse.«
»Haben Sie meinen Sohn getroffen?«, fragte sie.
»Das wird ja immer komplizierter«, zischelte Lutz.
»Es geht um das Haus der Staatsanwältin«, erklärte der Makler und errötete aufs Neue.
»Lassen Sie uns später darüber reden«, schlug Henriette Medzig vor. »Kommen Sie! Zuerst das Haus?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich dem Treppenaufgang zu. Lutz wechselte einen Blick mit Norma, verdrehte die Augen, und beide folgten der Hausherrin in die geräumige Diele, der genügend von der einstigen Pracht geblieben war, um Norma Staunen zu lassen. Doch, musste sie sich im Stillen eingestehen, das Haus hatte etwas! Es passte zu Lutz. Die Instandsetzung vorausgesetzt.
Sie wünsche sich, dass das Weingut in gute Hände komme, erzählte Henriette Medzig während des Rundgangs durch ihre Wohnung in der unteren Etage. Lutz war sehr angetan von der geräumigen Wohnküche.
»Sie sehen selbst«, sagte Henriette Medzig, »hier muss kräftig renoviert werden. Ich bin über 70 und dafür fehlt mir die Energie. Lieber möchte ich in eine hübsche, kleine Wohnung ziehen.«
Sie hatten die Diele wieder erreicht.
Lutz schaute sich nach allen Seiten um. »Das wäre der ideale Ort für meinen Kronleuchter. Und vor den Kamin kommt der lange Esstisch! Genügend Platz für alle meine Freunde.«
Früher hatte er regelmäßig zu großen Gesellschaften eingeladen. Nach Arthurs Tod war es still geworden in der Villa Tann.
Norma deutete auf die elegant geschwungene Treppe ins Obergeschoss. »Können wir hinaufgehen?«
»Ähm«, räusperte sich der Makler. »Das müssen wir aufschieben. Der Bewohner hat die Zimmer abgeschlossen.«
Die Hausherrin entschuldigte sich. »Dort oben wohnt mein Sohn. Er ist nicht gegen den Verkauf, allerdings hat er andere Vorstellungen als ich. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Der Besitz gehört Oliver und mir gemeinsam, und wir werden uns bestimmt einig. Jetzt müssen Sie unbedingt den Weinkeller sehen. Kommen Sie, kommen Sie!«
Der Makler riss die Haustür auf.
Norma hielt Lutz zurück und flüsterte ihm ins Ohr: »Ein Sohn, der sich vermutlich rausklagen lassen wird, und eine Nachbarin, mit der du dich über jeden Geranienkübel einigen musst. Lohnt sich das, Lutz?«
»Das Haus hat Potenzial, daraus könnte man viel machen«, gab er leise zurück. »Was die Umstände betrifft, hast du mit deinen Bedenken recht. Draußen seilen wir uns ab!«
Auf dem Hof bedankte Lutz sich mit der unverbindlichen Bemerkung, für einen ersten Eindruck habe er genug gesehen. Die Hausherrin wollte ihn nicht gehen lassen. Er müsse unbedingt den Keller besichtigen, wiederholte sie. Ihrer herzlichen Einladung konnte er nur mit einem ergebenen Schulterzucken begegnen und folgte dem wieselflink vorauseilenden Makler über den Hof.
Henriette Medzig wartete auf Norma. »Ihr Herr Schwiegervater würde sich hier bestimmt sehr wohlfühlen. Werden Sie zu ihm ziehen?«
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