Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Filmaufnahmen im Kloster Eberbach! Ecki Winterstein dreht ein Dokudrama in der ehemaligen Zisterzienserabtei im Rheingau. Als ein Mord geschieht, bittet der Regisseur Norma Tann um Hilfe, um die Dreharbeiten ohne Verzögerung fortsetzen zu können. Die Spur des Mörders führt die Wiesbadener Privatdetektivin zurück in das Jahr 1985. Denn während das Kloster als Schauplatz des späteren Kinowelterfolgs „Der Name der Rose“ diente, kam es zu einem rätselhaften Vorfall …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 311
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Susanne Kronenberg
Mord im Kloster Eberbach
Norma Tanns neunter Fall
Im falschen FilmDas Rheingauer Kloster Eberbach, berühmt für seinen Weinbau, ist seit den 1980er-Jahren weltbekannt als einzigartiger Schauplatz des Kinoerfolgs „Der Name der Rose“. Bei einer Vorführung des Mittelalter-Thrillers in der Eberbacher Basilika trifft die Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann auf Ecki Winterstein. Der Regisseur will einen Abschnitt der wechselvollen Klostergeschichte in einem Dokudrama aufleben lassen: Im 19. Jahrhundert diente die ehemalige Zisterzienserabtei als Heil- und Pflegeanstalt für psychisch Kranke. Doch während der Filmaufnahmen rüttelt ein Mord das Drehteam auf. Normas ehemalige Kollegen, die Kommissare Milano und Wolfert, verfolgen die Spuren der Verdächtigen. Als Ecki Winterstein Norma um Unterstützung bittet, stößt sie auf ein mysteriöses Ereignis. Im Winter 1985, während der Dreharbeiten zu „Der Name der Rose“, verschwand eine junge Frau aus dem Kloster. Tage später wurde sie gefunden. Sie schien unverletzt, ihre Sprache jedoch hatte sie für immer verloren …
Susanne Kronenberg, in Hameln geboren und im Taunus heimisch, findet die Inspiration für ihre Romane in ihrer Wahlheimat. In ihrem neusten Kriminalroman führt sie ihre Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann in das berühmte Kloster Eberbach im Rheingau, der mit seiner anheimelnden Landschaft und historischen Bedeutung eine wunderbare Heimat für diesen Krimi bildet. Neben Kriminalromanen veröffentlichte die Autorin zahlreiche Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien sowie Jugendbücher, Fachbücher und Bücher zu regionalen Themen. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt sie Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des „Syndikats“ und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe „Dostojewskis Erben“.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung/E_Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Jareck / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6768-4
Kloster EberbachMittwoch, der 15. September
»Ist jemand gestorben? Ihr zieht Gesichter wie auf einer Beerdigung!«
Für einen Moment wandten sich alle Blicke dem Neuankömmling zu, der sich lächelnd umsah und die Aufmerksamkeit aufzusaugen schien. Auch Norma ließ sich in seinen Bann ziehen. Bisher kannte sie Sören I. Wahler nur aus den Abendprogrammen des Fernsehens, in denen er bevorzugt als Koryphäe der Wissenschaften oder Chefarzt zu erleben war. Aalglatte Manager und abgebrühte Rechtsanwälte verkörperte er ebenso überzeugend. Erfolgsverwöhnte Männer, die sich nicht mit Selbstzweifeln belasteten, schienen ihm auf den Leib geschrieben zu sein.
Mit seiner flapsigen Bemerkung hatte der Schauspieler die trübe Stimmung auf den Punkt gebracht. Tuschelnd und mit bedrückten Mienen standen die Gäste in Grüppchen beieinander, obwohl der Grund ihres Zusammentreffens alles andere als Anlass zu Trübsinn gab. Ecki Winterstein, ein renommierter Fernsehregisseur, hatte zum Empfang nach Eberbach eingeladen – ins Mönchsrefektorium des Klosters – und würdigte damit stilsicher den Start der Dreharbeiten für sein jüngstes Projekt. Unter der mit barockem Zierwerk üppig bestückten Stuckdecke, die den einstigen Speisesaal der Zisterzienser überspannte, schienen sich die zwei Dutzend Personen zu verlieren. Wie Sören I. Wahler mochten es vor allem Schauspieler und Schauspielerinnen, aber auch andere Mitwirkende im Drehteam sowie Freunde und Geschäftspartner des Regisseurs sein, vermutete Norma. Alle waren ihr fremd bis auf Timon und Lutz, in deren Begleitung sie gekommen war. Seit Lutz Tann im Ruhestand war und seinen Verlag eher als Liebhaberei denn als Geschäft betrieb, gönnte er sich den Luxus, auch Bücher mit unpopulären Themen herauszugeben. Das Manuskript, das ihm Ecki Winterstein ans Herz gelegt hatte, fiel in diese Kategorie. Der Regisseur hatte sich ausgiebig mit der Historie der Psychiatrie beschäftigt, um darüber ein Dokudrama für das Fernsehen zu drehen. In einer Kombination von dokumentarischen Elementen und Spielszenen sollte eine außergewöhnliche Ära Eberbachs im 19. Jahrhundert lebendig werden: bahnbrechende Jahrzehnte, in denen das säkularisierte Kloster als »Irrenanstalt« und später als Heilanstalt Psychiatriegeschichte geschrieben hatte. Das »Buch zum Film«, die Biografie des ersten Direktors der Eberbacher Heil- und Pflegeanstalt, sollte das Projekt vervollkommnen. Mit der Einladung zu diesem Empfang wollte Winterstein seinem Verleger danken.
Als Norma sich umschaute, entdeckte sie Timon und Lutz beim Studium der Weinflaschen, die auf einem Tisch zum Ausschank bereitstanden. Das intensive Betrachten der Etiketten sollte den Männern wohl die Zeit vertreiben. Bisher waren alle Gläser leer geblieben, und kein Gast traute sich, Hand an die Häppchen auf dem Buffet zu legen. Norma konnte niemanden entdecken, der Anstalten gemacht hätte, das Wort zu ergreifen und den Empfang offiziell zu eröffnen. Alle schienen angespannt auf den Regisseur zu warten. Sie bemerkte eine Frau, die nervös an der Fensterreihe entlangstrich und dabei abwechselnd auf ihr Mobiltelefon sah oder erwartungsvoll zum angrenzenden Klosterhof hinausstarrte.
Die Frau, eine sportliche Erscheinung Ende 50 oder darüber, taxierte Norma mit intensivem Blick. »Mein Name ist Nelly Nebelsiek. Sie sind Frau Tann, nicht wahr?«
»Wir kennen uns?«, wunderte sich Norma.
»Nicht persönlich, aber wer sollten Sie sonst sein?«, meinte Nelly Nebelsiek lächelnd. »Sie und Ihre beiden Begleiter sind die einzigen Personen in diesem Raum, deren Gesichter ich zum ersten Mal sehe. Ihre Namen sind mir bekannt, weil ich die Einladungen verschickt habe. Der heutige Abend sollte ein wunderbarer Auftakt für unsere Zeit in Eberbach werden. Und nun diese Katastrophe!«
»Was ist denn passiert?«
»Unser Hauptdarsteller fällt aus! Er hatte gestern einen Unfall«, entgegnete Nelly Nebelsiek unverblümt. »Ecki telefoniert sich die Finger wund. Er ist auf 180. Wo findet man von heute auf morgen einen passablen Ersatz?« Sie brach mit einem schicksalsergebenen Seufzer ab.
»Darf ich fragen, was Ihre Aufgabe in der Filmproduktion ist?«
»Oh, ich fungiere je nach Bedarf als Sekretärin, Laufbursche und Seelentrösterin. Ecki nennt mich die ›Mutter der Kompanie‹, und das triff den Nagel auf den Kopf. Vor allem bin ich als ›Wilhelmine‹ engagiert. Ich bin Schauspielerin.« Wieder fühlte Norma sich aufmerksam gemustert. »Ich werde oft fürs Fernsehen besetzt. Vielleicht haben Sie mich gelegentlich in einer Familienserie gesehen?«
Es hatte nebensächlich klingen sollen, aber der Stolz war klar herauszuhören gewesen. Nelly nannte mehrere Titel, mit denen Norma nichts anfangen konnte. Falls ihr die Darstellerin jemals auf dem Bildschirm begegnet sein sollte, hatte dieser Auftritt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Im Gegensatz zu der jungen Frau, die mit baumelnden Beinen auf einem Tisch hockte. Ihr Anblick erschien Norma in all seiner Lässigkeit bezaubernd. Die Schauspielerin wirkte im echten Leben ebenso hinreißend wie in den beiden Kinofilmen, denen Marielle Dyckerborn ihren Ruf als Talent mit großartiger Zukunft zu verdanken hatte. Nach dem Hype, der einige Jahre zurücklag, war die Nachwuchskünstlerin allerdings von den Medien vergessen worden. Norma dachte mit Begeisterung an die Filme zurück und hätte Marielle liebend gern angesprochen. Ob das gelingen würde? Zwei Männer und eine Frau mittleren Alters, deren Gesichter in Norma keinerlei Fernsehszenen-Erinnerung weckten, bildeten wie heimliche Verschwörer einen Halbkreis um die Schauspielerin. Waren sie Fans? Oder gehörten sie zu den Leuten des Drehteams, die im Hintergrund agierten? Für Kamera, Licht und Ton oder weitere Aufgaben, die eine Filmproduktion neben Schauspiel und Regie bereithielt?
Nelly entschuldigte sich, um erneut ihr Handy zu checken. Der Regisseur blieb abgetaucht. Mittlerweile hatten die Gäste die Geduld verloren und machten sich eigenmächtig und ohne eine offizielle Eröffnung über Getränke und Snacks her. Norma fing Timons Blick auf. Er stand am Fenster und unterhielt sich mit dem Schauspieler Sören I. Wahler. Norma füllte sich ein Glas mit einem Eberbach Riesling und schlenderte zu den Männern hinüber.
»Darf ich?«, fragte Timon und nippte an Normas Wein. Sie hakte sich bei ihm ein.
Erstaunlich, wie hager der Schauspieler von Angesicht zu Angesicht wirkte. Von einem Künstler seines Formats hätte Norma entschieden mehr körperliche Präsenz erwartet. Eine frappierende Diskrepanz zwischen Bildschirmpersönlichkeit und tatsächlicher Erscheinung.
»Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, Herr Wahler«, sagte Norma. »Was ist Ihre Rolle im geplanten Film?«
»Ich spiele einen Arzt. Und eure Jobs im Drehteam?«
Norma wehrte ab. »Oh, nein! Das ist ein Missverständnis. Mit dem Filmgeschäft haben wir beide nichts am Hut. Lutz Tann hat uns hierher mitgenommen. Er ist Verleger und wird ein Buch von Ecki Winterstein herausgeben.« Sie deutete mit einem Nicken hinüber zu Lutz, der in ein Gespräch mit Nelly Nebelsiek vertieft war.
»Nachher gehen wir zur Filmvorführung in die Basilika«, ergänzte Timon. Norma ahnte, dass er vor allem deswegen mitgekommen war. Auf Small Talk mit Promis legte er eher weniger Wert. »›Der Name der Rose‹ am Originalschauplatz! Das wollte ich schon lange erleben.«
Sören I. Wahler warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die klobig wirkte und für Normas Geschmack mit viel zu viel Gold ausgestattet war. »Etwas Zeit bleibt uns noch. Um 18 Uhr fängt es an. Ich bin ein großer Fan und kann den Film immer wieder sehen. Hätte ich nur als mittelalterlicher Mönch mitspielen können!«
»Wohl eher als mittelalterliches Kind«, bemerkte Norma schmunzelnd. »Es ist fast 40 Jahre her, dass Umberto Ecos Roman hier in Eberbach verfilmt wurde.«
Der Kinohit war bereits ein Klassiker gewesen, als sie ihn vor langer Zeit zum ersten Mal gesehen hatte. Trotzdem erinnerte sie sich genau an die mönchische Detektivgeschichte, die der Regisseur Jean-Jacques Annaud detailgetreu und beklemmend ins Bild gesetzt hatte. Der Roman selbst war ihr allerdings als weitaus vielschichtiger erschienen als der Film.
»Mit dem genialen Sean Connery als franziskanischer Meisterdetektiv«, schwärmte der Schauspieler. »Was für ein Typ!«
»Wofür steht das ›I‹ in Ihrem Namen?«, fragte Timon unvermittelt.
»Wie bitte? Ach so. Immanuel«, antwortete er zerstreut, als wäre er mit seinen Gedanken woanders. »Ob Ecki sich beruhigt hat?«
»Ich habe gehört, der Hauptdarsteller ist ausgefallen«, sagte Norma.
»Präzise formuliert: runtergefallen. Vom Gaul!« Sören schien sich über sein Wortspiel zu amüsieren.
»Ist der Mann schwer verletzt?«
Er winkte beruhigend ab. »Halb so wild. Wolfgang Bastiani hat sich den Ellenbogen gebrochen.«
»Der Name sagt mir nichts«, räumte Norma offen ein. Auch Timon konnte nichts mit ihm anfangen.
»Ihr kennt ihn, sofern ihr Liebesromanzen mögt«, vermutete Sören. »So wird Bastiani von den Sendern am liebsten besetzt. Im Grunde ist er ein beachtlicher Bühnenschauspieler. Sonst hätte Ecki ihn nicht engagiert. Aber mit Gipsarm am Set? Undenkbar. Jeder Tag ohne Dreh kostet unseren Regisseur ein kleines Vermögen, denn er ist zugleich der Produzent. Die Stimmung ist am Boden, weil Eckis Laune im Keller ist. Kennt ihr Ecki?« Bei aller Freundlichkeit hatte sein Blick etwas Lauerndes. Norma wusste nicht recht, was sie von Sören I. Wahler halten sollte.
Als sie und Timon verneinten, fügte er mit einem listigen Grinsen hinzu: »Stellt euch einen Mann vor, der wie im Wahn ausrastet. Habt ihr? Dann verdoppelt eure Vorstellung. Ecki ist ein Choleriker, wie er im Buche steht.«
»Die Leute haben Angst vor seinen Tobsuchtsanfällen«, schloss Norma aus seinen Worten.
»Oder vor Ecki persönlich«, meinte Sören knapp. »Sucht euch was aus.«
Glaubte man seinem dominanten Lächeln, schien Sören I. Wahler weder Tod noch Teufel zu fürchten.
Als Ecki Winterstein endlich eintraf, wiesen die Platten des Buffets großräumige Lücken auf. Die Anspannung der Gäste hatte sich gelöst, was Norma den süffigen Eberbacher Sekten und Weinen zugutehielt. Unruhige Blicke wurden in der Sorge gewechselt, den Start des Films zu versäumen. Die Vorführungen des Meisterwerks zählten auch deswegen zu den besonderen Anlässen, weil sie nur an wenigen Terminen im September stattfanden. Sie gehörten zu den Highlights im Jahresprogramm des Klosters. Wo sonst könnten ein realer Ort und der cineastische Schauplatz so miteinander verschmelzen wie in der Eberbacher Basilika, die damals Drehort gewesen war und sich an diesem Abend in einen Kinosaal verwandelte?
Ob sich Wintersteins Empfang und die derzeitige Filmvorführung zufällig oder gezielt ineinanderfügten, könnte nur der Regisseur erklären. Kein Zweifel bestand daran, dass ihn die Absage seines Hauptdarstellers am Nachmittag in einen furiosen Wutausbruch getrieben hatte, wie Norma aus den Gesprächen im Mönchsrefektorium heraushörte. Aufgrund dieser Vorbereitung sorgte Wintersteins Erscheinen auch bei ihr für eine misstrauische Habachtstellung. Norma war auf einen explosiven Hitzkopf gefasst, einen wahren Wüterich. Stattdessen gab sich der Regisseur unerwartet gelassen, wenn nicht sogar heiter, als er den pompösen Barockschrank ansteuerte, der die Stirnseite des Saals beherrschte. Winterstein war von schmaler Gestalt und scheute sich offensichtlich nicht, mittels der durchgängig schwarzen Kleidung – Jeans, Hemd, Schuhe –, den tiefdunklen Haaren, die ihm gekringelt in den Nacken fielen, sowie einer schwarzen Hornbrille bis ins Detail das Klischee des intellektuellen Künstlers zu verkörpern. Mit charmanten Worten bat er um Aufmerksamkeit und dankte den Anwesenden für ihr geduldiges Ausharren.
»Gibt sich sanft wie ein Lämmchen, aber Achtung. Der liebe Ecki ist und bleibt unberechenbar«, warnte Sören flüsternd.
Nach einem Intermezzo mit den Kollegen war er zu Norma und Timon zurückgekehrt. Auch Lutz hatte sich von Nelly Nebelsiek losgeeist und war zu ihnen gestoßen.
Um Aufmerksamkeit heischend, hob Winterstein die Arme wie ein Prediger. »Kinder, ich will mich kurzhalten, damit wir die Filmvorführung nicht verpassen. Ich muss euch nicht erklären, wie glücklich ich bin, an diesem außergewöhnlichen Ort drehen zu dürfen. Und ich wünschte, ich hätte das Kloster viel früher kennengelernt und nicht erst im Rahmen meiner Recherchen zur Psychiatrie. Nun zu dem Problem, das mich den gesamten Tag in Atem gehalten hat. Weil Wolfgang Bastiani die gesamte Produktion gefährdet und uns im Stich gelassen hat …«
»Es war ein Unfall und bestimmt keine Absicht!«
Auf Sörens empörten Einwurf folgte lediglich ein Stirnrunzeln des Regisseurs. In scheinbar unbeirrbarer Gelassenheit wiederholte er: »Weil Bastiani uns im Stich gelassen hat, blieb mir nichts anderes übrig, als mich ans Telefon zu hängen und zu quatschen, als ginge es um mein Leben. Was glaubt ihr, wen konnte ich engagieren?« In die Frage hatte er eine enthusiastische Begeisterung gelegt. Schweigend ließ er die Arme sinken und schaute auffordernd in die Runde.
»Nicht doch, Ecki«, flötete Marielle Dyckerborn mit kindischer Theatralik. »Sag bloß, du hast einen Ersatz aufgetrieben?«
»Wer ist es? Raus mit der Sprache, Ecki!« Die rauchige Stimme in ihrem Rücken gehörte Nelly Nebelsiek, erkannte Norma, ohne sich umzusehen.
»Kinder«, schnurrte Winterstein entzückt und klatschte in die Hände, als applaudierte er sich selbst. »Der Fisch, den ich an Land gezogen habe, gehört zu den richtig fetten Hechten.«
»Nun sag schon, Ecki«, bat die Frau, die Marielle bisher nicht von der Seite gewichen war. Sie mochte um die 40 sein, war von kompakter Statur und hatte die hellbraunen Locken zu einem wirren Knoten zusammengerafft.
Winterstein warf ihr eine Kusshand zu. »Vor allem du darfst dich freuen, meine liebe Wenke. Deine Kamera wird eines der bedeutendsten Bühnengesichter Deutschlands und Frankreichs einfangen.«
»Du nimmst mich auf den Arm«, entgegnete Wenke misstrauisch, als wäre sie von ihrem Regisseur allerhand nervige Spielchen gewöhnt.
Winterstein schaute lachend in die Runde. »Kinder, es ist unglaublich, aber wahr: Die Rolle des Direktor Lindpaintner wird gespielt von …« Er legte eine Kunstpause ein. »Roman Bonheur!«
Wenke schüttelte stumm den Lockenkopf. Marielle kreischte auf wie ein Teenager. Bravorufe wurden laut. Norma stimmte in den begeisterten Applaus ein. Endlich ein Name, der auch sie aufhorchen ließ. Was für ein Coup!
Roman Bonheur, der gefeierte Bühnenstar, gab dem Kloster Eberbach die Ehre.
Die freudige Aufregung hielt an, bis es höchste Zeit wurde für den gemeinsamen Aufbruch. Norma folgte Timon und Lutz aus dem Mönchsrefektorium in den Großen Klosterhof. Timon trug die geräumige Reisetasche, auf deren Mitnahme Lutz bei der Abfahrt bestanden hatte, ohne ein Wort über den Inhalt zu verlieren. Neugierig fragte sich Norma, was ihr ehemaliger Schwiegervater darin verstaut haben mochte. Lutz hatte schelmisch gelächelt und sehr geheimnisvoll getan.
An die tausend Sitzplätze bot die ehemalige Klosterkirche. Einer der vier Eingänge in die Basilika führte durch die Klostergasse, deren Zugang im Klosterhof lag. Unter einem Torbogen befand sich die Kartenkontrolle. Das fröhliche Plaudern der Menschen in der Schlange ließ eine entspannte Vorfreude erkennen. Noch bewahrten die Mauern des Cabinetkellers, der eine Seite des Klosterhofs schloss, die Wärme des hochsommerlichen Septembertages. Die Abendsonne ließ den roten Sandstein der Fensterlaibungen leuchten. Mit der Dämmerung würde die Kälte der frühen Herbstnacht heranziehen, weshalb die meisten Besucherinnen und Besucher mit winterlicher Kleidung ausgestattet waren. Nicht wenige hatten eine Wolldecke mitgebracht. Norma hatte ebenfalls vorgesorgt, sich für Jeans, einen leichten Pullover und eine Jacke entschieden, die sie bislang über dem Arm trug.
Lutz eilte voran. Norma und Timon blieben an seiner Seite. Am Ende der Warteschlange stießen sie auf Ecki Winterstein.
Er habe auf Lutz gewartet, meinte der Regisseur, und bat um Verzeihung, weil er nicht früher die Zeit für seinen Verleger und dessen Begleitung gefunden habe. »Schade, dass wir vorhin nicht miteinander reden konnten. Wie gesagt, ich musste mich um die Umbesetzung kümmern.«
Lutz äußerte Verständnis für die besonderen Umstände. »Dafür haben Sie Roman Bonheur für Ihr Projekt gewonnen. Meinen Glückwunsch!«
»Was für eine Erleichterung und Freude«, begeisterte sich Winterstein. »Roman kennt meine bisherigen Dokudramen. Man sieht sie ja auf verschiedenen Sendern. Er ist ein großer Bewunderer meiner Arbeit.« Das Entzücken ließ seine Stimme beben.
Umsichtig, wie es seine Art war, machte Lutz den Regisseur mit seiner Begleitung bekannt. »Norma Tann, Privatdetektivin aus Biebrich, und ihr Lebensgefährte Dr. Timon Frywaldt.«
»Offen gesagt, Sie sind die erste Privatdetektivin, der ich persönlich begegne«, räumte Winterstein ein und fragte, an Timon gewandt: »Und Ihre Profession, Dr. Frywaldt?«
»Ich bin auch eine Art Ermittler«, entgegnete Timon vergnügt.
»Wo sind die anderen Mitglieder Ihres Teams?«, fragte Norma, die weder Sören I. Wahler noch Nelly Nebelsiek oder Marielle Dyckerborn in der Menge entdecken konnte.
Seine Crew würde durch das Mönchsdormitorium in die Kirche geschleust, erklärte Winterstein. »Dort gibt es eine Treppe, von der aus man direkt in die Kirche gelangt, damals der kürzeste Weg für die Zisterzienser zu ihrem nächtlichen Gebet. Was glauben Sie, was hier los wäre, wenn die Leute Marielle oder Sören entdecken würden? Vor lauter Selfies mit den Stars gäbe es kein Durchkommen.«
Die Bedenken konnte Norma nachvollziehen. »Wann erwarten Sie Roman Bonheur in Eberbach?«
Wintersteins Mundwinkel zogen sich erneut zu einem breiten Lächeln auseinander. »Roman ist bereits auf dem Weg in den Rheingau. Ich habe ihn auf seinem französischen Landgut erreicht. Wir können den Dreh wie geplant starten.«
»Vielen Dank für die Karten, Herr Winterstein«, sagte Lutz und fasste in die Innenseite seines Sakkos.
Er zog drei Tickets heraus, von denen er zwei an Norma und Timon weiterreichte. Schritt für Schritt rückten sie an den doppelbögigen Durchgang heran. Lutz machte eine launige Bemerkung darüber, dass Winterstein sich das Gedränge ersparen und wie seine Leute den Zugang über den Schlafsaal hätte nehmen können, wäre er nicht so höflich gewesen, seinen Verleger zu begrüßen. Winterstein schaute zerknirscht, als triebe ihn derselbe Gedanke um.
Endlich gelangten sie durch ein Eisentor in den länglichen Innenhof, der auf das Seitenschiff der Basilika zuführte. Gemächlich ging es im Menschenstrom voran, was Lutz die Gelegenheit gab, sein Wissen über die angrenzenden Gebäude an Norma und Timon weiterzugeben. Historisch interessiert, wie er war, hielt er sich häufig im Kloster auf und lud Geschäftspartner und auswärtige Gäste liebend gern zu Rundgängen ein. Von früheren Besichtigungen kannte auch Norma den hohen Steinbau, der sich rechter Hand erstreckte. Sie erinnerte sich an die riesigen historischen Weinkeltern, die im ehemaligen Laienrefektorium, dem Speisesaal der Laienbrüder, ausgestellt waren. Der Fachwerkbau auf der linken Seite hatte einst die Klosterbibliothek beherbergt. Mächtige Holzpfosten trugen den darunterliegenden Säulengang. Während Norma sich auf die Basilika zubewegte, fiel ihr ein dunkles Blatt Papier auf, das an einem dieser Pfeiler hing. Was darauf abgebildet war, ließ sich aus ihrer Position nicht deuten. Sie ging dicht hinter Winterstein und hatte Timon und Lutz aus den Augen verloren. Die Menschen rundherum zeigten sich bestens gelaunt und erwartungsfroh. Handys wurden gezückt und zum Fotografieren hoch über die Köpfe gehalten. Angeregt tauschte man Erinnerungen über denkwürdige Filmszenen aus. Der tote Mönch im von Schweineblut überquellenden Bottich. Die Folterqualen des Ketzers Salvatore. Die unverwechselbaren, wenn nicht sogar entstellten Gesichter der Klosterbrüder. Und natürlich Sean Connery als unvergleichlicher William von Baskerville!
Die wenigsten Zuschauer schienen »Der Name der Rose« erstmals zu sehen. Normas Vorfreude wuchs mit jedem Trippelschritt, der sie näher an die Kirchenfassade heranführte. Auch der großgewachsene Mann vor ihr, dessen kahler Hinterkopf über die Menge hinwegragte, schien es kaum erwarten zu können. Ungeduldig reckte er den Hals, der dürr war wie der eines gerupften Huhns und im überweiten Kragen seines Karohemds steckte. Der Mann schaute hin und her, als könnte sich an den Seiten ein schnellerer Weg auftun. Dabei wurde sein Blick von irgendetwas gefesselt, denn er stoppte jäh in seiner Bewegung. Angespannt hielt er den kahlen Schädel nach links gewandt. Interessierte ihn der ans Holz gespickte Zettel? Norma war weit genug aufgerückt, um darauf eine Kohlezeichnung zu erkennen: mit reichlich Schwarz und offensichtlich von geübter Hand aufs Papier gebracht. Auch Winterstein schien die Zeichnung bemerkt zu haben. Oder warum sonst sollte er so abrupt stehen bleiben, dass Norma ihm in die Hacken trat. Ihre Entschuldigung schien er nicht einmal wahrzunehmen. Auf Zehenspitzen linste er über die Köpfe hinweg zum Säulengang hinüber.
»He, ihr da vorn! Weitergehen!«, beschwerte sich eine Frau.
Etliche Aufforderungen, den Weg freizugeben, wurden laut. Der Kahlkopf setzte sich in Bewegung. Norma wurde gegen Winterstein geschoben, was diesen zwang, dem großgewachsenen Mann zu folgen. Vor ihnen tauchte die Glatze im Menschenstrom nach unten ab, denn der Eingang in die Basilika lag einige Treppenstufen unterhalb des Niveaus der Klostergasse. In der monumentalen Halle verteilte sich die Menge. Winterstein eilte auf der Suche nach seiner Truppe davon. Norma hob den Kopf und betrachtete die himmelwärts strebenden Pfeiler und die anmutigen Bögen zwischen den Deckengewölben. Bei jedem Besuch fühlte sie sich aufs Neue innig berührt von der schlichten Erhabenheit des dreischiffigen Kirchenbaus. Ein steinerner Altar, eine Reihe verwitterter Grabplatten, ein gotisches Wandrelief: Es gab nur wenige Details, die das Auge von der vollendeten Symmetrie der Säulenreihen hätten ablenken können. Seit die Abtei Eberbach zu Beginn des 19. Jahrhunderts säkularisiert worden war, fanden in der ehemaligen Klosterkirche nur zu besonderen Anlässen Gottesdienste statt. Stattdessen folgten die Menschen häufiger ihrem Ruf als einzigartige Spielstätte für klassische Konzerte und besondere Events wie an diesem Abend.
»Denk nur, vor 800 Jahren hat es hier kaum anders ausgesehen«, raunte Timon in Normas Ohr.
Rasch füllten sich die langen Stuhlreihen. Jacken wurden angezogen und Wolldecken über den Knien ausgebreitet. Lutz steuerte drei freie Plätze an. Kaum hatte Norma sich zwischen ihm und Timon niedergelassen, spürte sie die Kälte, die ihr die Hosenbeine hinaufkroch. Das würde ein frostiger Abend werden. Oder doch nicht? Mit einem wissenden Lächeln lüftete Lutz das Geheimnis der Reisetasche und brachte drei bunte Plaids zum Vorschein. Die ersten Takte der Filmmusik setzten ein. Das Gemurmel ringsum ebbte ab.
Das Filmvergnügen begann.
Der Film endete mit einer bombastischen Feuersbrunst. Da Norma, Lutz und Timon in einer der hinteren Reihen gesessen hatten, gehörten sie nun zu den Ersten, die in die Klostergasse zurückkehrten. Sie waren noch nicht an der Treppe angelangt, als ihnen Hilferufe entgegenschallten. Endlich erreichten sie die oberen Stufen. Die Aufregung draußen schien enorm zu sein.
»Hilfe, hierher! Helfen Sie dem Mann!«
»Schnell, das ist ein Notfall!«
Laute Stimmen tönten aus dem Säulengang. Zwischen den Holzpfosten drängten sich die Menschen zusammen. Timon schlängelte sich, nachdrücklich um Durchlass bittend, zwischen den Umstehenden hindurch. Norma folgte ihm auf dem Fuß, bis sich beide durchgezwängt hatten. Mehrere Personen hatten die hilfreiche Idee, den Bereich mit ihren Handytaschenlampen auszuleuchten. Auf den Steinplatten zwischen ihnen befand sich ein Mann. Er war von kräftiger Statur und lag mit seitlich ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Auf den zweiten Blick wurde Norma klar, dass sie ihn kannte. Das nackte Haupt, das karierte Hemd. Unwillkürlich spähte sie zu der Holzsäule hinüber, konnte aus ihrer Perspektive leider nicht feststellen, ob die Zeichnung, die den Kahlköpfigen augenscheinlich gefesselt hatte, noch an ihrem Platz hing. Außerdem gab es jetzt Wichtigeres zu tun, als sich Gedanken über ein Stück Papier zu machen. Der Mann verharrte regungslos auf dem Pflaster. Vor seinem Kopf kniete eine Frau. Sie schien kaum älter als 30 und strahlte eine professionelle Nervenstärke aus, die darauf schließen ließ, dass sie keine Angehörige war. Die Handgriffe, mit denen sie sich am Hals des Liegenden zu schaffen machte, wirkten ebenso geübt wie umsichtig. Timon ging neben dem Mann in die Hocke. Norma kauerte sich auf die andere Seite. Im Zwielicht schimmerte das Gesicht des Fremden ungesund bläulich, und den Augen fehlte jeder Glanz.
»Ich bin Mediziner«, erklärte Timon, an die Frau gewandt. »Ich fürchte, wir sind zu spät?«
»Exitus«, bestätigte sie leise. »Ich war unter den Ersten hier draußen. Obwohl ich Notfallärztin bin, konnte ich nichts tun. Eine Reanimation war nicht möglich.«
»Ich habe ihn im Publikum gesehen«, sagte Norma und ergänzte auf Timons fragenden Blick: »Er war vor mir, bis wir in die Basilika hineingegangen sind.«
Timon beugte sich vor. »Frau Kollegin, was meinen Sie, woran …?«
»Überzeugen Sie sich selbst.«
Nun nahm auch Timon sein Smartphone hervor, aktivierte die Lampenfunktion und lenkte den Lichtschein auf die Kehle des Toten. Auf den Knien robbte Norma ein Stück vor. Um den dürren Vogelhals zog sich eine scharfe Linie, eine eingeschnittene Furche: blutrot, sehr tief. Dies war ein Tatort! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Der plötzliche Tod des Mannes war keinesfalls die Folge eines Herzinfarkts oder einer Erkrankung. Jemand hatte den Kahlköpfigen erdrosselt! Mit den bizarren und schauerlichen Bildern des Mönchskrimis im Kopf erschien ihr die Situation surreal.
Die junge Ärztin zog denselben Schluss. »Das war Mord«, hauchte sie. »In meinem Beruf bekomme ich viel Schlimmes zu sehen. Verstümmelungen, Verbrennungen, Unfallopfer. Aber bisher niemanden, der aufs Brutalste stranguliert wurde.«
Früher waren verstörende Anblicke für Norma beinahe alltäglich gewesen. Über Jahre hatte sie als Kriminalhauptkommissarin in der Wiesbadener Mordkommission gearbeitet. Und auch danach, als Privatdetektivin, war ihr die Konfrontation mit Kapitalverbrechen nicht erspart geblieben. Ob man nicht abstumpfte mit der Zeit, wurde sie des Öfteren gefragt. Dabei war es genau umgekehrt, spürte Norma beim Anblick des Getöteten. Es wurde mit jedem Mordopfer schwerer.
Mit leichter Hand strich Timon der Ärztin über den Arm. »Kommen Sie, alles Weitere ist Sache der Polizei.«
Alle drei erhoben sich. Die junge Frau zog ihre Jacke aus und machte Anstalten, sie dem Toten über das Gesicht zu legen. Norma hielt sie zurück.
»Besser nicht«, warnte sie. »Der Täter hat möglicherweise Spuren auf der Haut und an der Kleidung hinterlassen. Die winzigste Faser könnte wichtig sein.«
»Sie haben recht«, antwortete die Ärztin. »Ich weiß, ich müsste hierbleiben, aber meine Kinder warten.«
»Gehen Sie nur«, sagte Norma. »Ich werde Ihre Adresse an die Polizei weiterleiten. Man kennt mich dort.«
Die Ärztin überließ ihr eine Visitenkarte und verabschiedete sich eilig. Der Tote sorgte für Aufsehen. Dass die Menschen einen angemessenen Abstand respektierten, war Lutz zu verdanken. Mit der ihm eigenen beharrlichen Höflichkeit hielt er die Neugier der Umstehenden im Zaum, bis vier Männer vom Veranstalterteam erschienen und diese Aufgabe übernahmen.
Die Ordnungskräfte waren in Begleitung einer Frau erschienen: eine Mitarbeiterin der Klosterstiftung, wie dem Namensschild an ihrem Blazer zu entnehmen war. Konzentriert lauschte sie in ihr Telefon hinein, um dann laut und deutlich zu antworten. »Ein Mann, soweit ich weiß, er liegt in der Klostergasse. Wie bitte? Ja, die Klostergasse, das ist ein Innenhof. Sie fahren über den Parkplatz geradeaus und an der Vinothek vorbei … Am besten, ich schicke Ihnen jemanden entgegen.«
Sie gab einem der Männer einen Wink, und er eilte davon. Danach wandte sie sich an Timon und Norma, die dem Toten nicht von der Seite gewichen waren.
»Der Krankenwagen ist auf dem Weg. Mein Name ist Katalin Schatzer«, erklärte sie und warf einen erschrockenen Blick auf den Fremden am Boden. »Was ist mit ihm? Er wird doch nicht … Er ist doch nicht … Um Himmels willen, ist er verstorben?«
»Ihm war nicht mehr zu helfen«, erklärte Timon mit ruhiger Stimme.
Katalin Schatzer griff sich bestürzt an den Kopf, fasste sich aber umgehend und forderte ihre Mitarbeiter auf, so rasch wie möglich Stellwände und Handleuchten herbeizuschaffen und den Säulengang abzuschirmen. Während sich die Angestellte den Vorfall von Timon beschreiben ließ, nahm Norma ihr Handy hervor und wählte eine Wiesbadener Telefonnummer: die Verbindung ins Polizeipräsidium Westhessen, der direkte Draht zu ihrem ehemaligen Arbeitsplatz. Als sie nach den Hauptkommissaren Dirk Wolfert und Luigi Milano fragte, hatte sie Glück. Ihre Ex-Kollegen waren für den Spätdienst zuständig. Kurz darauf dröhnte Milanos brummiger Bass in ihr Ohr.
»Wo brennt es?«, fragte er in gewohnter Knurrigkeit. »Habe ich unsere Verabredung verschwitzt? Dann beklage dich bei Dirk. Er koordiniert die Termine und hat mir nichts gesagt.« Seit sie nicht mehr im Polizeidienst war, trafen sie sich gelegentlich zum Abendessen. Die Tischbestellung lag in den Händen des peniblen Dirk Wolfert.
»Ich bin bei einem Filmabend im Kloster Eberbach«, erklärte Norma hastig. »Vor der Basilika wurde ein Mann umgebracht!«
»Bei Anruf Mord? Verdammt, Norma! Kannst du nicht einfach einen Diebstahl melden?«
Eilig fasste sie das Geschehen zusammen.
»Timon ist auch vor Ort?«, staunte Milano. »Die Privatdetektivin und der Tatortexperte des LKA Hessen stolpern über ein Mordopfer? Ich glaube, mich laust der Affe.« Seine Stimme nahm einen sachlichen Ton an. »Ihr haltet die Leute vom Tatort fern, ich schicke eine Streife voraus. Du sorgst dafür, dass nicht alles auseinanderläuft. Lass niemanden gehen! Dirk und ich brauchen 20 Minuten bis Eberbach.«
Norma wusste nur zu gut, wie entscheidend die ersten Schritte waren. Sie bat Katalin Schatzer um Unterstützung und machte sich gemeinsam mit Timon daran, Milanos Auftrag in die Tat umzusetzen.
Die gewaltige Gewölbehalle des Laienrefektoriums wurde zum Wartesaal jener Zuschauerinnen und Zuschauer, die Norma und Timon mithilfe des Ordnungspersonals hatten aufhalten können. Allerdings war damit nur knapp ein Viertel des Publikums zurückgeblieben. Alle Übrigen waren durch die anderen Ausgänge ins Freie gelangt und längst auf dem Heimweg. Norma mischte sich unter die Leute, die sich zwischen den gigantischen Weinpressen herumdrückten und sich in Geduld übten. Person für Person wurden Name und Adresse festgehalten. Eine Aufgabe, für die ein halbes Dutzend Schutzpolizisten der Rheingauer Polizeistationen angerückt war. Ausführliche Gespräche mit den Zeugen würden in den kommenden Tagen erfolgen und jede Menge Zeit sowie kriminalistisches Gespür erfordern, wie Norma aus eigener Erfahrung wusste. Als sie nach Ecki Winterstein und den Mitgliedern seines Teams Ausschau hielt, konnte sie keinen von ihnen entdecken. Vermutlich hatte sich der Regisseur seinen Leuten angeschlossen und die Basilika über den uralten Zugang zum Mönchsdormitorium verlassen, was aber kein Problem sein sollte. Die Mitglieder des Drehteams ließen sich leicht ermitteln.
Die Disziplin der Ausharrenden war bemerkenswert. Nörgeleien und Beschwerden blieben weitgehend aus. Im Großen und Ganzen schienen alle aufrichtig betroffen zu sein, dass ein Mensch zu Tode gekommen war, während sie sich mit dem Film vergnügt hatten. Wer über eine Wolldecke verfügte, wärmte sich damit die Schultern. Drei Mädchen in luftigen Sommerkleidern hatten dankbar die Plaids von Lutz entgegengenommen. Nun half er Katalin Schatzer und anderen Mitarbeiterinnen der Klosterstiftung dabei, die Menschen mit Kaffee und Tee zu versorgen.
Auf der Suche nach Timon verließ Norma das Laienrefektorium. Scheinwerfer tauchten die Klostergasse in helles Licht. Eine Polizeifotografin schoss eine Aufnahme nach der anderen. Weiße Kreidestriche auf den Sandsteinplatten kennzeichneten die Lage des Toten, dessen Leichnam bereits auf dem Weg in die Frankfurter Rechtsmedizin war. Rot-weiße Bänder sperrten den Bereich zwischen der Klosterkirche und dem Säulengang ab. Dahinter bewegte sich eine Schar in weiße Overalls gehüllter Gestalten: die Männer und Frauen der Wiesbadener Tatortgruppe. Ein Mann kniete am Boden und setzte ein Nummernschild neben eine Stelle, an der sich möglicherweise eine Spur befand. Der Ablauf war Norma so vertraut, dass ihr das untätige Herumstehen seltsam falsch vorkam. Doch sie hatte getan, was sie tun konnte. Im Schatten eines Pfeilers entdeckte sie Timon, der sich wie sie in die Rolle des Zaungastes fügen musste. Als Mediziner und Biologe arbeitete er an Ermittlungen mit, die in den Kompetenzbereich des hessischen Landeskriminalamts fielen. Verdächtige Todesfälle im Rheingau zu klären, gehörte zum Aufgabenbereich des Polizeipräsidiums Westhessen, das seinen Sitz in Wiesbaden hatte und dessen Einsatzgebiet über die Grenzen der Landeshauptstadt hinausreichte. Milano und Wolfert gehörten seit Jahren zum Ermittlerteam für Tötungsdelikte. Endlich fanden die Kommissare Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Norma und Timon. Über die Verbindung zu Norma bestand zwischen den drei Männern eine gute Bekanntschaft, ja beinahe eine Freundschaft.
Milano strich sich eine Locke aus der Stirn. Lag es am Kunstlicht, oder mischten sich in die dunklen Haare, die ihm über den Kragen reichten, tatsächlich graue Strähnen? »Dein erster Eindruck, Timon. Was mag die Tatwaffe sein? Ein dünner Draht?«
»Dem würde ich zustimmen«, sagte Timon. »Die Kollegen in Frankfurt werden dazu sicher bald Genaueres sagen können.«
»Der Tote machte einen muskulösen Eindruck«, beschrieb Wolfert seine Beobachtung. »Wie jemand, der vor allem im Freien arbeitet. Kein hilfloses Opfer, wie mir scheint.«
»Der Angreifer muss ihn von hinten überwältigt und die Schlinge blitzschnell und mit aller Kraft zugezogen haben«, vermutete Timon. »Auf diese Weise hat selbst ein kräftiger Mann wenig Chancen.«
»Grundsätzlich müssen wir von einem zu allem entschlossenen Täter ausgehen«, knurrte Milano. »Und der ist längst über alle Rheingauer Berge! Wir können nur hoffen, dass jemand aus dem Publikum etwas Entscheidendes beobachtet hat.«
Wolfert wandte sich Norma zu und blinzelte angestrengt hinter seinen starken Brillengläsern. »Du hast vorhin erwähnt, dass dir der Mann vor der Filmvorführung aufgefallen war. In der Menge vor der Basilika. Was genau war da los?«
»Ich hatte eine Zeichnung entdeckt, die an einer Säule hing«, sagte Norma. »DIN-A4-Format. Viel Schwarz, wie mit Kohlestift gemalt. Auch der Glatzköpfige hat sie bemerkt – und er wirkte erschrocken.«
»Der Mann war ein Stück weit vor dir, Norma«, bemerkte Milano misstrauisch. »Wie willst du das beurteilen?«
»Er hat hinübergestarrt, und ich konnte sein Gesicht im Profil sehen. Und seine Körperhaltung. Er war wie versteinert … als wäre das Blatt Papier eine Warnung.« Dieser Gedanke hatte sich gebildet, während sie ihn aussprach.
»Eine Warnung?«, wiederholte Wolfert nachdenklich. »Wenn ja, hat er sie wohl nicht ernst genug genommen. Hast du die Zeichnung ebenfalls gesehen, Timon?«
Timon verneinte. »Leider nicht in diesem Gedränge. Was genau konntest du darauf erkennen, Norma?«
Sie rief sich den Anblick ins Gedächtnis. »Eine Reihe von Tannen, die Spitzen tanzend im Wind. Eine Hütte, davor eine Gestalt. Ein Mensch, geduckt wie ein … wie ein verängstigtes Tier. Irgendwie … gruselig.« Ihr fiel etwas ein. »Winterstein ist die Zeichnung ebenso nicht entgangen.«
»Winterstein?«, stutzte Wolfert.
»Ecki Winterstein, ein Regisseur.« Die Stimme ertönte hinter Norma. Es war Lutz, der die letzten Sätze aufgeschnappt hatte. Von dem Stück Papier habe er vorhin nichts mitbekommen, fügte er an.
Eine Schutzpolizistin näherte sich der kleinen Gruppe um Norma und wedelte mit einem Schreibblock. Sie stellte sich als Leiterin der Rheingauer Einsatzgruppe vor. »Eine Reihe von Zuschauern konnten wir bereits nach Hause schicken. Insgesamt wird es sicher noch ein, zwei Stunden dauern, bis wir von den restlichen die Daten aufgenommen haben. All die Menschen zu ermitteln, die vorher gegangen waren, wird eine Mammutaufgabe. Danke, dass Sie diese Leute aufgehalten haben«, sagte sie, an Norma und Timon gewandt.
»Konnten Sie Angehörige des Toten ausfindig machen?«, fragte Wolfert.
»Offenbar war er allein gekommen, aber wir wissen jetzt seinen Namen«, erklärte die Schutzpolizistin zufrieden. »Ein Kollege kannte ihn, und mehrere Zeugen haben die Identifizierung anhand eines Handyfotos bestätigt. Axel Teubener, ein Rheingauer Winzer.« Sie überreichte Wolfert einen Zettel mit der Adresse.
Milano ließ ein lobendes »Benissimo!« hören. »Wir fahren sofort los. Gibt es noch etwas?«
»Nun, Axel Teubener hat keine Vorführung von ›Der Name der Rose‹ ausgelassen«, sagte die Schutzpolizistin.
»Warum auch nicht?«, meinte Wolfert. »Der Film ist schließlich einer der Filmklassiker schlechthin.«
Norma mischte sich in die Unterhaltung ein. »War er nur ein großer Fan, oder gab es einen besonderen Grund dafür?«
»Er war vor allem Fan der eigenen Schauspielkunst. Teubener hat 1985 als Statist mitgewirkt. Wussten Sie, dass es damals im Rheingau eine Menge Männer mit Tonsur gegeben hat?«, fügte die Schutzpolizistin mit einem belustigten Lächeln hinzu.
»Ich hätte mich auch als Komparse anheuern lassen«, erklärte Wolfert zu Normas Verblüffung.
Nachdem sich die Kommissare für die Informationen bedankt hatten, kehrte die Schutzpolizistin ins Laienrefektorium zurück.
»Lasst uns nach der Zeichnung suchen«, drängte Norma. »Vielleicht stammt sie vom Täter …«
»Oder ist schlicht das Werk eines Hobbymalers«, fiel ihr Milano ins Wort. »Wenn dir das Gekritzel so wichtig erscheint, dann kopiere es.«
»Ich kann nicht zeichnen«, protestierte sie.
»Das kriegst du hin«, entgegnete der Kommissar mit süffisantem Grinsen. »Auf, Dirk! Wir sollten mit den Angehörigen reden, bevor sie auf Facebook von Axel Teubeners Ableben erfahren.«
Absolut uneinsichtig erteilte er Normas Bitte, sie zum Weingut begleiten zu dürfen, eine kompromisslose Abfuhr.
Rheingau Donnerstag, der 16. September
Er taucht tief ab in einen Ozean von Grün, ein vibrierendes Maigrün, wellenschlagend und leuchtend, von der Sonne durchdrungen wie auf einem Gemälde von Claude Monet. Als er die satte Farbe mit gespreizten Fingern auffächert, entdeckt er die Trauben, die prall und von Saft strotzend durch das Weinlaub schimmern. Sich wundernd über die Reife, die ins Frühjahr fällt, schaut er auf Alinas Lachen. Die blitzenden Zähne, die Grübchen, das weiche Kinn. Sie hat die Arme um ihren Bauch geschlungen und flüstert den Namen ihrer ungeborenen Tochter. Wispert und säuselt, ruft und schluchzt, doch er versteht die Worte nicht. Er hört ihre Stimme klar und warm, doch der Name lässt sich nicht fassen, verflüchtigt sich. Alina streckt ihm beide Arme entgegen, er will ihre Hände greifen, aber je näher er ihr kommt, desto schneller weicht sie zurück, wird erbarmungslos hineingezogen ins schwarze Nichts. Er fleht um Hilfe, das Telefon klingelt und klingelt …
Als er aufwachte, klebte ihm der Pyjama am Körper wie eine nasse Fischhaut. Die Bilder des Traums tanzten vor seinen Augen, und der süße Nachklang von Alinas Stimme verlor sich im schrillen Dauergedudel. Mit schwerem Arm griff er nach dem Telefon und schaute auf das Display. Er widerstand dem Impuls, den Anruf wegzudrücken. Das hätte ihm nur einen kurzen Aufschub verschafft.
Eine verunsicherte Stimme traf auf sein Ohr. »Daniel?«