Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Grit Blancke und ihre Freundin Marlies Hebisch führen ein Frauenhaus in Wiesbaden-Biebrich. Bei Umbauarbeiten erleiden sie einen Schock: Hinter der Wandverkleidung kommt eine mumifizierte Leiche zutage. Der Mann starb offenbar einen grausamen Tod. Grit, die sich um den Ruf des Frauenhauses sorgt, zieht die Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann hinzu. Deren Ermittlungen führen weit in die Vergangenheit, ins Kriegsjahr 1918, und zur Biebricherin Toni Sender, der Politikerin und Kriegsgegnerin.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 288
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Susanne Kronenberg
Totengruft
Norma Tanns fünfter Fall
Besessen Norma Tann kann zurzeit keinen neuen Fall gebrauchen. Fest entschlossen, sich endlich um ihre persönlichen Probleme zu kümmern, beginnt sie eine Therapie bei der renommierten Psychologin Marlies Hebisch. Diese betreibt gemeinsam mit der Sozialpädagogin Grit Blancke einen Zufluchtsort für traumatisierte Frauen: das Dr.-Hahlbrock-Haus in Wiesbaden. Benannt wurde es nach dem Mediziner Dr. Eberhard Hahlbrock, Grits verstorbenem Großvater. Als bei Bauarbeiten im Frauenhaus eine mumifizierte Leiche entdeckt wird, steckt Norma plötzlich doch mitten in einer schier aussichtslosen Ermittlung. Offenbar wurde der Mann auf erbarmungslose Weise ermordet. Erste Hinweise führen zurück in das Jahr 1918. Revolution liegt in der Luft, und die unerschrockene Biebricherin Toni Sender zählt zu den führenden Köpfen der Aufständischen. Gehörte der Tote auch dazu? Und warum musste er sterben?
Susanne Kronenberg, in Hameln geboren und im Taunus heimisch, findet die Inspiration für ihre Romane in ihrer Wahlheimat. In ihrem neusten Kriminalroman führt sie ihre Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann in das berühmte Kloster Eberbach im Rheingau, der mit seiner anheimelnden Landschaft und historischen Bedeutung eine wunderbare Heimat für diesen Krimi bildet. Neben Kriminalromanen veröffentlichte die Autorin zahlreiche Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien sowie Jugendbücher, Fachbücher und Bücher zu regionalen Themen. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt sie Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des „Syndikats“ und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe „Dostojewskis Erben“.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © cmfotoworks – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4348-0
»Erst viele Jahre später, als ich bereits auf eigenen Füßen stand, hatte ich ein Auge für die Schönheit der hügeligen Rheinufer und den Zauber jenes alten Parks des früheren Herzogs von Nassau.«
Toni Sender
Montag, der 7. Oktober
Der Schock verschlug allen die Sprache. Grit Blancke presste sich die Hände vors Gesicht und schielte wie ein Kind zwischen den aufgefächerten Fingern hindurch. Marlies Hebisch schlang die Arme um den Oberkörper und schüttelte fassungslos den Kopf. Der junge Handwerker hielt Zange und Akkuschrauber mit beiden Händen umklammert: Sein Werkzeug, mit dem er die Wandtafel neben dem Kamin abgenommen hatte, ohne die geringste Vorstellung, was dahinter zutage kommen sollte. Lauernd wie eine Katze das Mauseloch beäugte er die freigelegte halbhohe Nische.
Marlies Hebisch rührte sich als Erste. Abrupt straffte sie den Rücken, als sei sie sich in diesem Augenblick ihrer Verantwortung gegenüber einer Patientin bewusst geworden.
Sie ließ die Arme sinken und wandte sich fürsorglich Norma zu, die sich abwartend im Hintergrund hielt. »Sie sollten sich damit nicht belasten, Frau Tann! Gehen Sie besser hinaus!«
»Keine Sorge«, murmelte Norma und rückte, von dem Anblick wie elektrisiert, zwei Schritte näher an die Nische heran. »Sie wissen doch: Tötungsdelikte gehörten in meinem vorigen Leben zum Tagesgeschäft.«
»Mord!«, hauchte Grit Blancke und riss die Hände vom kreideweißen Gesicht.
Der Handwerker grinste nervös. »Das glaubt mir kein Schwein!« Er legte das Werkzeug auf den Dielenboden und fischte ein Smartphone aus der Brusttasche. Schussbereit hielt er es in die Höhe.
Norma stoppte sein Vorhaben. »Kein Foto! Lassen Sie den Unsinn!«
Widerwillig nahm der junge Mann das Gerät herunter.
Grit Blancke konnte den Blick nicht von der Nische nehmen. »Was für eine Katastrophe! Ein Mord im Dr.-Hahlbrock-Haus!«
Sie wirkte ebenso enttäuscht wie geschockt. Norma dachte an den Stolz und die Begeisterung, mit der Grit Blancke sie, die fremde Besucherin, zu einem Rundgang eingeladen hatte. Die imposante Gründerzeitvilla, die sich mit zwei barocken Türmen schmückte, diente seit einiger Zeit als Zufluchtsstätte für Frauen, die Gewalt erlebt hatten. Das soziale Projekt trug den Namen des einstigen Besitzers der Villa, des Biebricher Mediziners Dr. Eberhard Hahlbrock. Bei den Biebrichern war das Gebäude auch unter seinem ureigenen Namen ›Villa Ophélie‹ bekannt.
Die Suche nach ihrer Psychotherapeutin hatte Norma hergeführt. Einer von Normas Klienten, dem sie das Honorar gestundet hatte, war unverhofft mit einem Geldumschlag vorbeigekommen. Da sie ihrerseits die ersten Therapiesitzungen begleichen musste, wollte sie sich den Weg zur Bank ersparen und das Geld ohne den Umweg über ihr Konto direkt an Marlies Hebisch weiterreichen. Die therapeutische Praxis lag in der Nähe der Oranier-Gedächtnis-Kirche und war damit nur einen Katzensprung von ihrem Büro entfernt. Als sie die Psychologin dort nicht antraf, wanderte Norma zum Rhein hinunter und spazierte die Promenade entlang. Ihr neues Ziel war das Dr.-Hahlbrock-Haus, das in Sichtweite des Rheinufers lag. Vielleicht war die Psychologin dort anzutreffen. Sie war die Erste Vorsitzende des Fördervereins, der die Einrichtung unterstützte, und hatte sich in Wiesbaden dank ihrer fantasievollen Spendenaktionen einen Namen gemacht.
Ein mannshoher Gitterzaun schirmte das Villengrundstück zur Straße ab. Norma klingelte am Tor und musste eine Weile warten, bis ihr von einem Mädchen geöffnet wurde. Die junge Frau mochte um die 18 sein. In den bunten Klamotten, die sie wie eine Rüstung in mehreren Lagen übereinander trug, und den dunklen Haaren um das Feengesicht wirkte sie so verletzlich und schutzbedürftig, dass Norma sich unwillkürlich fragte, welche Traumata das Mädchen in die Villa getrieben haben mochten.
Marlies Hebisch sei im Haus, lautete die genuschelte Auskunft des Mädchens. Norma stieg die herrschaftlichen Stufen zur Haustür hinauf, die einladend offen stand und mitten hinein in eine Baustelle führte. Zwar hatten die Wände des Treppenhauses einen frischen, farbigen Anstrich erhalten, der Fußboden der Diele jedoch bestand aus blankem Estrich. Marlies Hebisch war ins Gespräch mit einer jüngeren Frau vertieft. Sie waren ein ungleiches Paar: Die groß gewachsene, sportlich trainierte Frau Dr. und ihre feingliedrige Kontrahentin. Was die mentale Stärke betraf, schienen beide Frauen ebenbürtig zu sein und weit davon entfernt, sich über die Auswahl der Bodenfliesen einigen zu können. In ihre Diskussion versunken, nahmen sie Norma nicht zur Kenntnis und rückten mit zweifelnden Mienen die Musterstücke auf dem Boden umher.
Spontan wies Norma auf eine dunkel marmorierte Platte. »Diese Farbe passt wunderbar zu den Wänden.«
Die jüngere Frau lächelte erfreut, warf Marlies Hebisch einen verschmitzten Blick zu und reichte Norma die Hand. »Diese Fliese ist mein Favorit. Herzlichen Dank für die Unterstützung. Mein Name ist Grit Blancke. Bisweilen bilde ich mir ein, hier die Hausherrin zu sein.«
Marlies Hebisch schmunzelte und drohte: »Über die Fliesen reden wir noch einmal.«
Norma stellte sich vor.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Grit Blancke freundlich.
Marlies Hebisch kam Norma zuvor. »Frau Tann möchte sicherlich zu mir.«
Auch Grit ließ Norma nicht zu Wort kommen. »Eine Klientin von dir, verstehe. Offensichtlich eine Dame mit Geschmack, nicht wahr?«
Grit wandte sich an Norma. »Ich könnte eine Pause gebrauchen. Möchten Sie vielleicht das Haus besichtigen?«
Norma, die sich gern von Häusern mit Geschichte faszinieren ließ, stimmte erfreut zu. »Darf ich vorher etwas loswerden? Das Honorar, wie ausgemacht.«
Marlies Hebisch nahm den Umschlag entgegen. »Sehen Sie sich nur um, Frau Tann. Ich gehe so lange nach oben und schaue Florian auf die Finger. Er wohnt in der Nachbarschaft und packt bei allem Handwerklichen mit an.«
Norma spähte die Treppe hinauf. Aus der ersten Etage kamen klopfende Geräusche.
Im Obergeschoss würde eine kostbare Wandvertäfelung abgebaut, erklärte Grit Blancke und verbarg ihre Vorfreude nicht. »Das Holz soll in einer Schreinerei aufgearbeitet werden. Wenn alles fertig ist, haben wir einen traumhaft schönen Saal für unsere Ruhestunden und Meditationen. Aber bleiben wir zunächst hier unten. Kommen Sie mit!«
Vor vier Jahren hatte Grit Blancke die Villa Ophélie von ihren verstorbenen Eltern geerbt. Als Sozialpädagogin wollte sie etwas Sinnvolles tun und hatte innerhalb weniger Monate das Projekt für traumatisierte Frauen auf die Beine gestellt, erfuhr Norma beim Rundgang durch das Erdgeschoss. Hier lagen neben der Küche, zwei Bädern und einem Hauswirtschaftsraum auch die Wohnräume.
»Ohne Marlies hätte ich das niemals geschafft«, bekannte die junge Hausherrin. Das Gemeinschaftswerk sei für sie beide ein Gewinn. »Marlies arbeitet seit vielen Jahren mit Gewaltopfern. Sie wünschte sich so sehr einen Ort wie diesen. Ein Haus, in dem die Frauen eine Weile zur Ruhe kommen können. Dieses Unternehmen liegt ihr ebenso am Herzen wie mir.«
»Werden die Frauen, die hier wohnen, akut bedroht?«, fragte Norma bei einem Blick in ein unbewohntes Schlafzimmer, das trotz der bescheidenen Einrichtung durch die heiteren Farben einladend wirkte.
Grit zog die Tür wieder zu. »Wir sind kein Frauenhaus im eigentlichen Sinn. Aber es kann vorkommen, leider. Verena, eine unserer Bewohnerinnen, muss sich sehr vor ihrem Exfreund in Acht nehmen. Die meisten Frauen tragen das Gewalterlebnis als Erinnerung in sich, nicht selten seit ihrer Kindheit. Wenn alte Wunden aufbrechen, kann das sehr schmerzhaft sein.«
Mit alten Wunden kannte Norma sich aus. Sie wechselte das Thema. »Wann wurde die Villa gebaut?«
Ophélie sei eine betagte, aber rüstige Dame aus dem Jahr 1885 und seitdem durchgehend im Besitz der Familie, erzählte Grit und führte Norma über eine Treppe hinab in den ebenerdigen Anbau, in dem Eberhard Hahlbrock eine Arztpraxis eröffnet hatte. Mitten im Ersten Weltkrieg.
»Dr. Hahlbrock war mein Großvater«, fügte Grit stolz hinzu.
Norma wiederholte staunend: »Dr. Hahlbrock, der hier vor 100 Jahren praktiziert hat, war Ihr Großvater?«
Grit lächelte verständnisvoll. »Der Zeitabstand irritiert viele. Die Erklärung ist einfach. Mein Großvater Eberhard hat sehr spät geheiratet und ist mit 61 noch Vater geworden. 1946 kam meine Mutter auf die Welt. Ich bin 1981 geboren. 1970 ist er ist gestorben, mit 85 Jahren. Bis ins letzte Lebensjahr hat er praktiziert. Ich hätte ihn so gern persönlich erlebt.« Ihr Großvater, dieser große Menschenfreund, fügte sie schwärmerisch hinzu, sei äußerst beliebt und als Mediziner hochgeachtet gewesen, und sie wolle in seinem Sinn weiterarbeiten.
Der enge, lange Flur und die aneinandergereihten Zimmer spiegelten den ursprünglichen Zweck als Arztpraxis wider. Hier lag auch Grits Büro, eine schmale Kammer mit Schreibtisch, auf dem sich Aktenordner und Papierstapel türmten. Nebenan befanden sich eine Teeküche und ein winziges Schlafzimmer. Das ›Notzimmer‹ für überzählige Gäste, wie Grit entschuldigend anmerkte.
Zwei letzte Türen ließ sie ungeöffnet. »Dort wohne ich, aber das geht nicht länger. Ich will im Garten ein Holzhaus bauen, damit ich endlich mehr Platz für mich habe. Die Verwaltungsräume kommen auch in den Neubau. Wenn es nur endlich losgehen könnte!«
»Woran hakt es?«
Grit zog eine Grimasse. »Am lieben Nachbarn! Ein Querulant, der alles aufbietet, um uns auszubremsen. Aber ich lasse mir meine Pläne nicht kaputtmachen. Nicht den Neubau und auch nicht die Umbauten in der Villa. Aus dem Anbau machen wir eine Wohnung für Frauen mit Kindern.«
Sie verließen besagten Anbau und kehrten in die Villa zurück. Ein paar Stufen führten hinauf in die Diele.
Grit deutete einladend auf die Treppe in den ersten Stock. »Ich zeige Ihnen unser zukünftiges Prunkstück, auch wenn es dort im Augenblick drunter und drüber geht.«
Ihr harmloses Geplauder wurde barsch unterbrochen. Grit nahm zwei Stufen auf einmal. Norma folgte nicht weniger sportlich. Der Hilfeschrei der Psychologin hatte keinen Zweifel daran gelassen: Dort oben war etwas höchst Beunruhigendes im Gange.
Seit der grausigen Entdeckung waren keine fünf Minuten vergangen. Der Junge im Blaumann trat von einem Bein aufs andere. Die aufgesetzte Coolness war dahin. Ihm stand die Bestürzung ins Gesicht geschrieben. Arglos hatte er mit der gebotenen Sorgfalt eine Tafel nach der anderen abgeschraubt. Als er die letzte neben dem Kamin entfernt hatte, war die brusthohe Nische zum Vorschein gekommen. Und darin der Tote, oder genauer: was von ihm übrig geblieben war.
Grit hatte also mit dem Erbe nicht nur eine altehrwürdige Villa, sondern unversehens diesen seltsamen Gast bekommen.
»Ob es Mord war? Keine Ahnung bei dem Zustand. Der Mann muss seit Jahrzehnten tot sein«, vermutete Norma.
Sie ließ sich auf die Knie nieder und rutschte ein Stück näher an den mumifizierten Leichnam heran. Die zusammengesunkene Gestalt nahm beinahe die komplette Nische ein. Der verschrumpelte Körper wurde von einem staubigen, dunklen Anzug umhüllt. Stoppelige Haare bedeckten das mumifizierte Haupt. Die leeren Augenhöhlen und der Knebel zwischen den gelben Zahnreihen gaben dem Schädel einen Ausdruck zwischen Entsetzen und Hoffnungslosigkeit.
Norma wandte den Blick ab.
»Um Himmels willen, Frau Tann!«, rief Marlies Hebisch, um ihre Contenance ringend. »Was machen wir nun damit?«
Norma richtete sich auf. »Erst einmal verlassen wir alle den Raum!«
Die Aufforderung ging an die Psychologin sowie Grit und den Jungen, der widerstrebend Folge leistete, weil es ihm, wie Norma vermutete, nicht mehr gelingen würde, ein schauriges Mumienfoto auf Facebook zu posten. Norma zog die Tür von außen zu.
Die farbenfroh gekleidete junge Frau, die Norma am Tor empfangen hatte, tänzelte aus einem Zimmer heraus. Sie summte eine Melodie und schlenkerte im Takt mit einem leeren Becher. Als sie das verstörte Grüppchen auf dem Flur bemerkte, stutzte sie. »Ist was passiert? Ihr seht wie versteinert aus. Was ist los, Flori?«
»Ich habe etwas entdeckt«, stotterte der junge Handwerker.
»Sag schon, Flori!«, forderte das Mädchen.
»Warte, Florian!«, warf Grit ein. »Wir reden unten darüber.«
Marlies übernahm das Wort: »Franzi, wir treffen uns im Aufenthaltsraum. Ruf die anderen dazu. Und bitte sofort!«
Das Mädchen zog eine Grimasse. »Was soll der Stress?«
»Bitte, Franzi. Es ist wichtig!«
»Okaaay … Will mir sowieso ’nen Latte holen.« In Trippelschritten bewegte sie sich auf die Treppe zu. Florian glotzte ihr verliebt hinterher.
Grit wandte sich an Norma: »Könnten Sie nicht die Polizei anrufen? Sie kennen sich aus. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte. Etwa: ›Hallo, kommen Sie mal vorbei! Ich hab da eine Mumie im Obergeschoss.‹?« Sie verzog verunsichert das Gesicht und schien den Tränen nahe.
»Das übernehme ich«, versprach Norma.
Grit schien erleichtert, bedankte sich und ging nach unten.
Marlies nahm sich den Jungen vor. »Du machst Feierabend, Florian. Deine Entdeckung behältst du vorerst für dich. Kein Facebook, kein Twitter, verstanden?«
Der Junge murmelte etwas Zustimmendes und folgte dem Mädchen sowie Grit nach unten.
Norma blieben Zweifel. »Denken Sie, er hält sich dran?«
»Genauso fest glaube ich an den Weihnachtsmann. Es war ein Versuch. Die Polizei …« Die Psychologin brach zögernd ab.
»Ja?«
Marlies setzte erneut an: »Die Polizei in der Villa Ophélie – der Gedanke macht mir Bauchschmerzen! Manche der Bewohnerinnen haben schlechte Erfahrungen mit Polizisten gemacht. Hier. Im Ausland. Wo auch immer. Uniformierte im Haus – das würde ich den Frauen lieber ersparen.«
Zuständig war zunächst das 5. Polizeirevier, das seinen Sitz im ehemaligen Biebricher Rathaus hatte und innerhalb weniger Minuten einen Wagen schicken konnte. Nichts lag Norma ferner, als traumatisierte Frauen aufzuschrecken.
»Ich könnte zwei frühere Kollegen aus dem Polizeipräsidium anrufen«, schlug sie vor. »Sie kommen in Zivil, ganz diskret. Was danach aufgefahren wird, liegt allerdings in deren Ermessen.«
»Damit wäre mir sehr geholfen«, sagte Marlies. »Darf ich Sie eine Weile allein lassen?«
Sie folgte den anderen ins Erdgeschoss. Norma blieb in der Nähe der Tür und holte ihr Telefon hervor. Das Polizeipräsidium Westhessen, Normas ehemaliger Arbeitsplatz, lag auf der Strecke zwischen Biebrich und dem Wiesbadener Zentrum. Es war in einem ehemaligen Krankenhaus der US-Armee untergebracht. Weder Dirk Wolfert noch Luigi Milano wären begeistert über einen jahrealten Leichnam, der nichts als Fragen und verstaubte Spuren erwarten ließ. Die beiden Kriminalhauptkommissare hatten mit aktuellen Tötungsdelikten genug um die Ohren, was Milanos Laune grundsätzlich nicht guttat. Norma wollte sich deshalb mit ihrer heiklen Bitte lieber an den umgänglicheren Wolfert wenden. Doch der erste Anruf galt Timon Frywaldt, der als Wissenschaftler für das Hessische Landeskriminalamt arbeitete. Sie erreichte ihn in seinem Labor. Das LKA befand sich in Sichtweite des Polizeipräsidiums. Von dort bis nach Biebrich brauchte man mit dem Wagen kaum fünf Minuten.
»Bitte komm so schnell wie möglich ins Dr.-Hahlbrock-Haus!«
»Geht es um Leben und Tod?«, fragte er scherzhaft.
»Um Letzteres«, erklärte sie knapp. Ihr ginge es gut, fügte sie hinzu.
Er wollte sich sofort auf den Weg machen.
Dann war Wolfert an der Reihe. Er begrüßte sie erfreut. Ihm lag etwas an ihr, obwohl ihre Beziehung nie über den Status einer guten kollegialen Freundschaft hinausgewachsen war. Ab und zu gingen sie gemeinsam essen und plauderten über alte Zeiten. Bisweilen schloss sich Milano diesen Treffen an.
In wenigen Sätzen schilderte sie Wolfert die Entdeckung. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und fragte, als sie geendet hatte: »Wieso hast du nicht die Kollegen der Schutzpolizei gerufen?«
»Die hätten euch sowieso angefordert. Schließlich gehören Tötungsdelikte in euer Kommissariat.«
»Ich kann frühestens in einer Stunde«, erklärte Wolfert ungeduldig. »Wir ermitteln grade in einem Raubüberfall beim Hauptbahnhof. Die Zeugen haben einen Rothaarigen, Typ Student, beobachtet. Wir konnten einen Verdächtigen fassen und haben zu einer Gegenüberstellung geladen. Ich muss dir nicht erklären, welcher Aufwand nötig ist, um eine Gruppe abgemagerter Rotschöpfe aufzutreiben. Wenn ich die Jungs jetzt nach Hause schicke, wird das nie was.«
»Und Luigi?«
»Den brauche ich hier«, knurrte Wolfert. »Ich schicke die Kollegen der Schutzpolizei.«
»Musst du nicht, Dirk! Ich warte auf euch. Glaub mir, bei dem Toten kommt es auf eine Stunde nicht an.«
Wolfert schnaufte ins Telefon. »Verstehe! Das nennt man Zeit rausschinden. Damit du auf eigene Faust herumschnüffeln kannst.«
Wie gut er sie kannte.
Grit hatte zwei Becher – getöpfert und mit fröhlichem Dekor – nach oben getragen und sich umgehend wieder davongemacht. Der duftende Kaffee kühlte unbeachtet auf der Fensterbank ab. Norma hockte vor der Nische am Boden und betrachtete den traurigen Fund. Zusammengekauert saß die Gestalt an der Wand. Der Rücken lehnte sich gegen den Schornstein, der die Nische begrenzte. Die Beine waren eng an den Körper herangezogen. Um die Waden war eine dicke Kordel gewickelt, deren Schlingen neben dem verdorrten Fleisch herabhingen. Die Lederschuhe, denen die Bezeichnung ›abgetragen‹ geschmeichelt hätte, stießen gegen die linke Nischenwand. Auf ihnen lag, wie hinterhergeworfen, eine durchlöcherte Schiebermütze. Im Jackenstoff der dem Raum zugewandten Schulter zeichnete sich eine eckige Kerbe ab: Der Abdruck jener Holzlatte, mit der die Wandtafel verschraubt gewesen war. Viel Raum war dem Toten in seinem seltsamen Grab nicht geblieben.
Norma rümpfte die Nase. Die Nische roch muffig nach uraltem Staub. »Das muss damals fürchterlich gestunken haben.«
»Irgendwann nicht mehr«, sagte Timon lakonisch. Er kniete neben ihr. Der dunkle Zopf glitt ihm über die Schulter, als er sich vorbeugte. »Sieh dir den Schädel an!«
Am Kopf war die Verwesung am weitesten vorangeschritten. Normas Blick strich über die ausgedörrten Augenhöhlen, sie musterte den spitzknochigen Nasenrest und konzentrierte sich auf den Stoffstreifen, der Ober- und Unterkiefer trennte, sich straff zwischen den Backenzähnen hindurchzog und im Nacken verknotet war. Ein Stoffstreifen mit einem Karomuster wie bei einem Küchentuch.
Sie schluckte gegen den Kloß im Hals an. »War er tot, bevor man ihn in die Nische steckte?«
Timons Schulterzucken hatte etwas Fatalistisches. »Warum sollte man einen Toten knebeln und verschnüren? Sieh nur, auch seine Handgelenke sind zusammengebunden.«
Sie rutschte vor und lugte hinter den Rücken des Toten. Die Enden der Handfesseln reichten bis zum Boden herab. Die Schnur erinnerte sie an die Gardinenkordeln in der Wohnstube ihrer Großmutter.
»Irgendwie hätte er sich bemerkbar machen können. Klopfen. Treten.«
»Sofern es jemand hören wollte.«
Norma schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich will mir das gar nicht vorstellen.«
»Schluss mit den Mutmaßungen«, verkündete Timon entschlossen. »Sobald ich die Mumie untersucht habe, wissen wir mehr. Vorausgesetzt, ich bekomme sie auf den Tisch und nicht die Frankfurter.«
Er stand in ehrgeiziger Konkurrenz zu den Medizinern der Frankfurter Rechtsmedizin. Zum Glück hatte er einen guten Draht zum Wiesbadener Polizeipräsidium. Wenn es erforderlich war, wurde das LKA in die Ermittlungen einbezogen. Daher kannte er auch die Hauptkommissare Wolfert und Milano.
»Wann wollten Dirk und Luigi hier sein?«, fragte Timon.
»Dirk hat mich vorhin angerufen. Eine Viertelstunde wird es noch dauern. Was meinst du: Seit wann ist der Mann tot?«
»Norma! Soll ich schon wieder spekulieren?«
»Also gut, nächste Frage: Ob er Papiere bei sich hat? Einen Ausweis, oder so?«
»Sind wir bei einem Quiz?«
Sie schenkte ihm ein konspiratives Lächeln. »Wer sagt, dass wir raten müssen?«
»Du willst doch nicht den polizeilichen Ermittlungen vorgreifen?«
Sie wies mit dem Kinn zur Fensterbank. »Dein Kaffee wird nicht wärmer.«
Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Während er am Fenster stand und seinen Kaffee trank, durchsuchte sie die Außentaschen des Sakkos. Nichts. Mehr Überwindung kostete es sie, den Jackenkragen anzuheben und nach der Innentasche zu tasten. Ihre Fingerspitzen berührten Papier und ein Stück festen Karton. Sie zog beides heraus.
Timon beobachtete sie mit dem Becher in der Hand. »Und?«
Sie betrachtete ihren Fund. »Das Schwarz-Weiß-Porträt einer jungen Frau und ein Briefumschlag.«
»Lass mal sehen!«
»Ach, mit einem Mal?«
Sie ging zu ihm und hielt ihre Entdeckung ins Tageslicht. Die vergilbte Fotografie im Postkartenformat war in einem Atelier entstanden. Die Frau mochte Mitte bis Ende 20 sein. Ihr volles, dunkles Haar fiel wohl frisiert bis über die Ohrläppchen und umrahmte in weichen Wellen die Stirn. Der schmale Mund war zu einem leichten Lächeln geöffnet. Der gescheite Blick der großen, schwärzlichen Augen ließ den Betrachter unbeachtet und war in die Ferne gerichtet. Um den Hals trug die Unbekannte eine dezente Perlenkette, die ihre aparte Erscheinung unterstrich. Lichtreflexe in den Pupillen und auf dem Haar ließen das Bild lebendig wirken. Der Fotograf hatte sich auf sein Handwerk verstanden.
»Hübsch, die junge Dame«, urteilte Timon. »Hat sie einen Namen?«
Norma drehte die Karte herum. Die Rückseite war in Druckbuchstaben mit Bleistift beschrieben. »Nur ein Datum und eine Adresse: ›Freitag, der 29. November, Biebrich, Obere Kasernenstraße Nr. 6‹.«
»Vielleicht war sie seine Frau? Oder die Verlobte? Die Geliebte?«
Norma lächelte. »Wer spekuliert hier?«
Sie legte das Foto auf die Fensterbank und nahm sich den Brief vor. Der aufgeschlitzte Umschlag war mit schwarzer Tinte beschrieben. Eine geschwungene, antiquierte Schrift, die nur mit Anstrengung zu entziffern war. Die unscheinbare, rotbraune Briefmarke zeigte ein altmodisches Frauenporträt.
»Auf der Marke steht ›Deutsches Reich‹. Schade, der Stempel ist kaum zu erkennen. Er endet mit ›furt‹. Für Frankfurt vielleicht. Das Datum ist verwischt. Es könnte … ja, möglicherweise heißt das ›November 1918‹. Das müssen sich die Kriminaltechniker vornehmen. Wie kann man nur so verschnörkelt schreiben! Kannst du die Adresse lesen?«
Timon legte die hohe Stirn in Falten. »Das sieht nach deutscher Kurrentschrift aus. Dass hier kein Schönschreiber am Werk war, macht es nicht leichter.«
Norma buchstabierte sich durch die Anschrift. »Das könnte Emil heißen. Ja, Emil … Grun… Emil Grundke aus Frankfurt am Main. Bendergasse.« Sie schaute auf und sagte feierlich: »Unser Toter hat einen Namen.«
»Falls der Brief an ihn gerichtet war«, wandte Timon nüchtern ein.
Der Absender stand, von Wassertropfen verwischt, auf der Umschlagrückseite. Norma rätselte eine Weile, bis sie sich halbwegs sicher war und vorlas: »Liesel Paschke, Metzgerei Winterstett, Bad Homburg, Louisenstraße. Ohne Garantie meinerseits.«
»Lass uns den Brief ansehen!«, forderte Timon erwartungsvoll.
Sie zog das Papier heraus, faltete es auf und strich es auf der Fensterbank glatt. Das Blatt war in derselben Handschrift in sehr engen Zeilen beschrieben. Auf den ersten Blick nichts als Hieroglyphen. Bevor sie die ersten Wörter entziffern konnte, waren draußen im Flur Stimmen zu hören. Sie flitzte los, um Brief und Foto wieder ihrem Besitzer anzuvertrauen. Kaum hatte sie das Sakko glatt gestrichen, flog die Tür auf. Ein Schwergewicht in Jeans und einem Hemd wie ein Zelt eroberte den Tatort. Ihm folgte der magere, akkurat gekleidete Kollege.
Luigi Milano und Dirk Wolfert waren am Zug.
Eine gute Stunde später war die Nische ausgeräumt und blankgefegt, als hätte es den Toten darin niemals gegeben. Die Beamten der Spurensicherung waren bereits wieder abgezogen. Die Mumie befand sich – zu Timons Zufriedenheit – auf dem Weg in sein Labor. Die Kommissare hatten seiner Bitte entsprochen in der Annahme, dass es der Staatsanwaltschaft eins sein würde, ob die Mumie bei der Rechtsmedizin in Frankfurt oder beim LKA landete. Vonseiten der Behörden wäre mit mäßigem bis gar keinem Interesse zu rechnen, sollte die Leiche tatsächlich so alt sein wie die ersten Hinweise vermuten ließen.
Timon war noch geblieben und hielt sich in der Nähe der Nische bei Wolfert und Milano auf. Die Männer sprachen leise miteinander. Selbst Milano verzichtete auf das übliche Gepolter. Auf dem Flur war kein Laut zu hören, und weder Grit noch Marlies ließen sich blicken.
Norma stand am Fenster und schaute in den Garten hinaus. Auf dem Rasen reihten sich drei Liegestühle aneinander, als wollten sie an den Sommer erinnern und so den Herbst aufhalten, der bereits das Laub der Bäume verfärbte. Ihre Gedanken waren bei dem Toten, bei seinen letzten Lebensstunden. Als die Leiche geborgen wurde, war Timon gräulicher Staub aufgefallen, der sich unter den abgebrochenen Nägeln festgesetzt hatte. Womöglich Partikel vom Putz in der Nische? Letzte Zweifel daran beseitigten die Kratzspuren an der Wand in Höhe der gefesselten Hände: Das Zeugnis eines erfolglosen Befreiungsversuchs. Der Mann war am Leben und bei Sinnen gewesen, als das Verlies verschlossen wurde. Bei lebendigem Leib eingetäfelt!
Wolfert schaute sich zu Norma um und rückte die dunkle Hornbrille zurecht, ohne die er so verloren wäre wie ein Bergmann ohne Lampe. »Das geht einem an Nieren! Es gibt nur einen Trost: Sein Mörder schmort längst in der Hölle.«
»Sofern es die Hölle gibt, ist er dort bestens aufgehoben«, stimmte sie ihm zu. »Verhaften und verurteilen kann ihn auf Erden niemand mehr.«
»Wir geben zwar alle Fakten an die Staatsanwaltschaft weiter, aber sobald gesichert ist, dass unser Mann tatsächlich vor gut 100 Jahren zu Tode kam, landet der Fall bei den Akten. Schon jetzt sieht alles danach aus.«
»Dann wird auch für dich keine weitere Arbeit anfallen, Timon«, brummte Milano und kratzte sich am Doppelkinn. »Ein ungeklärter Mord aus dem letzten Jahrhundert ist kein Fall fürs LKA.«
»Ich bleibe dran«, widersprach Timon. »Und wenn das mein Feierabendjob wird. Wissenschaftlich ist die Mumie hochinteressant. Quasi ein Glücksfall für die Forschung«, erklärte er nicht ohne Enthusiasmus. »Wann bekommt man schon einen Körper in einem solchen Zustand auf den Seziertisch? Luftgetrocknet am Kamin«, meinte er lax und fügte respektvoller hinzu: »Was könnte ich sonst für den armen Teufel tun, als wenigstens Licht in die Umstände seines Todes zu bringen?«
Wolfert richtete den Blick auffordernd auf Norma. »Wie wahr! Eine gründliche Ermittlung hätte er verdient nach diesem grausamen Ende.«
»Was schaust du mich an?«, erwiderte sie verblüfft.
Die Augen, hellblau und übergroß hinter den dicken Gläsern, blinzelten. »Meinen Segen hättest du.«
Milano nickte ernsthaft. »Ich schließe mich sehr gern an, Norma.«
Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Die Kommissare hatten sie in früheren Fällen durchaus unterstützt – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen: Wolfert aus einem Gerechtigkeitsgefühl heraus und weil er seine ehemalige Kollegin einfach gern mochte, während Milano von einem heimlichen Hang zur Anarchie und Spaß an illegalen Spielchen getrieben schien. »Ihr drängt mich, zu ermitteln? In einem 100 Jahre alten Mordfall?«
»Uns beiden sind die Hände gebunden«, erklärte Wolfert beschwichtigend. »Die Polizei ist nicht für Täter zuständig, die man nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann.«
»Warum sollte ich nachforschen?«
Milano verzog den Mund zu einem Lächeln und wirkte, wie es seine Art war, ein bisschen diabolisch dabei. »Weil du längst mittendrin steckst, Norma! Du brennst darauf, zu erfahren, warum der arme Kerl im Wandschrank verschrumpeln musste.«
»Selbst wenn ich mich darauf einlassen würde«, sagte sie, von dem Ansinnen überrumpelt, »einen aussichtsloseren Fall kann es kaum geben.«
»Wenn das jemand schafft, dann du!«, schmeichelte ausgerechnet Milano und verdoppelte damit den Grad ihrer Verwunderung.
Timon strahlte sie an. »Auf meine Hilfe kannst du zählen.«
»Und erste Hinweise gibt es schließlich auch«, fügte Wolfert hinzu. »Der Brief …«
Norma fiel ihm ins Wort. »… von dem einem die Augen weh tun.«
»Es wird sich jemand finden, der ihn entziffern kann. Vergiss das Foto nicht!«
»Das Porträt einer Unbekannten!«, stöhnte Norma.
»Wenn du wissen willst, wer die Dame ist«, warf Milano mit listigem Grinsen ein, »frag einfach Luigi.«
Milano hielt die Plastiktüte in die Höhe, in der das Foto steckte. »Diese Dame heißt, wenn mich nicht alles täuscht, Toni Sender.«
»Toni Sender?«, wiederholte Norma verwundert. Der Name war ihr kürzlich im Wiesbadener Kurier begegnet. Der Artikel hatte von einer Auszeichnung der Stadt Frankfurt berichtet, die alle zwei Jahre verliehen wurde und mit 10.000 Euro dotiert war. Der ›Tony-Sender-Preis‹ förderte Projekte, die sich gegen Benachteiligung und Diskriminierung einsetzten. »Toni Sender war Politikerin. Sie stammte aus Biebrich, nicht wahr?«
Das Geburtsjahr müsste in den 1880er-Jahren liegen, wusste Milano zu berichten und griente selbstzufrieden dank seines Wissensvorsprungs. Wolfert wirkte verdattert. Durch besondere Kenntnisse zu verblüffen, war gewöhnlich sein Part.
»Woher kennst du die Frau, Luigi?«, fragte er pikiert.
Milanos Mundwinkel zogen sich noch breiter auseinander. »Ob ihr es glaubt oder nicht, sogar der Milano hat hin und wieder etwas für Kultur übrig. Vor einiger Zeit gab es eine Ausstellung über Toni Sender. Ich gebe zu, die Frau hat mich schwer beeindruckt.«
»Das aus deinem Mund, Luigi: Ein Lob für eine Feministin!«, stichelte Norma.
»Oh nein«, widersprach er. »Ich will mich nicht als Experte aufspielen. Aber wie ich das verstanden habe, hat Toni Sender sich nicht als Feministin betrachtet, sondern als Sozialistin. Als Friedensaktivistin. Als Politikerin. Als Journalistin. Marlies Hebisch könnte euch bestimmt mehr darüber sagen. Sie hat sich damals als Initiatorin der Ausstellung hervorgetan.«
»Kann das Zufall sein?«, fragte Wolfert skeptisch. »In Gegenwart von Marlies Hebisch wird neben dem Toten ausgerechnet ein Foto der Frau gefunden, über die die Hebisch eine Ausstellung organisiert hat?«
»Aus der Polizeiarbeit kennen wir die irrsinnigsten Zufälle«, meinte Milano. »Es gibt nichts, was es nicht gibt.«
»Abgesehen davon«, warf Norma ein, »gehört die Villa nicht Marlies Hebisch, sondern Grit Blancke. Und was sollte Marlies mit einem Mord verbinden, der vor 100 Jahren begangen wurde?«
Wolfert schaute sie auffordernd an. »Das ist eine spannende Frage!«
»Komm mir nicht wieder mit deiner fixen Idee, ich sollte diesen Fall übernehmen!«
»Hast du etwa kein Blut geleckt, Norma?«, mischte sich Milano ein. »Der Fall trifft vollkommen deinen Geschmack: unendlich verzwickt und wunderbar aussichtslos!«
»Wenigstens nicht gefährlich«, ergänzte Wolfert zuversichtlich. »Der Mörder ist tot und wird dir nicht in die Quere kommen.«
Norma hob die Hände. »Nicht so voreilig, meine Herren! Wer sagt, dass es nicht trotzdem euer Fall ist? Warten wir ab, was die Staatsanwaltschaft beschließt.«
Milano strich sich über den Haarschopf. »Fest steht, es wird ordentlich Wirbel in den Medien geben. Immerhin wurde der Mann lebendig eingekerkert. Presse und Fernsehen werden sich auf dieses gruselige Detail stürzen. Wir müssen mit den Leuten im Haus reden, bevor sich die Reportermeute vor dem Tor versammelt.«
Die Kommissare verklebten Türblatt und Zarge von außen mit einem Polizeisiegel. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, besänftigte Wolfert die aufgeregte Grit. Marlies Hebisch wechselte einige Worte mit Timon. Beide kannten sich seit Langem, und Timon hatte Norma die Therapie bei der Psychologin vermittelt. Er antwortete in beschwichtigendem Ton. Franzi drückte sich mit drei Frauen am Treppenabgang herum.
»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Grit von den Kommissaren wissen.
»Bis der Staatsanwalt über den Fall entschieden hat«, erklärte Wolfert geduldig, »darf der Raum nicht genutzt werden. Es wird bestimmt nicht lange dauern. Wie ich das sehe, können Sie das Zimmer bis Ende der Woche wieder betreten und weiterrenovieren.«
Grit rang verzweifelt die Hände. »Das sollte unser Ruhe- und Meditationszimmer werden. Jetzt haben wir plötzlich diese Leiche!«
»Nicht plötzlich«, widersprach Milano mit sanfter Reibeisenstimme. »Wie es aussieht, liegt der Mann seit gut 100 Jahren dort.«
»Ich bin hier aufgewachsen. Das war unser Wohnzimmer. Heißt das, wir haben jahrzehntelang neben einer Leiche gegessen und gelesen und sonntags ›Tatort‹ geguckt?«
Schlagartig wurde sie kreideweiß. Ihre Knie gaben nach, sie sank auf den Boden.
Milano fing ihren Sturz ab. Wolfert kam ihm zu Hilfe. Die Männer brachten Grit in einen stabilen Sitz an der Wand, bevor sie das Feld Marlies überließen, die sich liebevoll um die Freundin kümmerte, die zumindest nicht ohnmächtig geworden war.
Wolfert wechselte einen besorgten Blick mit seinem Kollegen und flüsterte: »Kein guter Zeitpunkt für schaurige Details.«
Norma winkte beide beiseite. »Geht nur! Ich kümmere mich darum.«
Die Kommissare verabschiedeten sich.
Norma wartete, bis die Farbe in Grits Gesicht zurückgekehrt war. »Sie sollten einige Einzelheiten wissen, Frau Blancke. Fühlen Sie sich besser? Können wir reden? Unter vier Augen.«
Grit nickte langsam. »Sofern ich es in den Besprechungsraum schaffe.«
»Ich möchte dabei sein!«, warf Marlies ein. Eine Forderung, keine Bitte.
Gemeinsam halfen sie Grit auf die Beine und stützten sie auf dem kurzen Weg in einen schmalen, in Pastellfarben eingerichteten Raum auf derselben Etage. Dort nahmen sie in der Sitzecke am Fenster Platz.
Grit hatte sich gefasst und wandte sich Norma zu. »Wir wollten über Details reden?«
Norma löste den Blick von der Tapete, deren zartes Babyblau sich auf den Polstern der Stühle wiederholte. »Der Mann hatte ein Foto und einen Brief bei sich. Einen Brief aus dem Jahr 1918. Leider nicht auf Anhieb zu entziffern. Er ist in Kurrent geschrieben.«
»Elfie könnte den Brief bestimmt lesen. Sie hat noch Augen wie ein Luchs. Was ist mit dem Foto?«
»Das Porträt zeigt höchstwahrscheinlich die Politikerin Toni Sender. Ich gehe davon aus, der Name sagt Ihnen etwas?«
Marlies ließ einen spitzen Schrei hören. »Und wie! Toni Sender ist mein Vorbild. Mein Idol sogar. Eine bewundernswerte Persönlichkeit! Ihretwegen ist es mir eine so große Ehre, dass mich die Stadt Frankfurt für den Tony-Sender-Preis nominiert hat. In meiner Funktion als Vorsitzende des Fördervereins für das Dr.-Hahlbrock-Haus.«
»Auch mich hat man für den Preis vorgeschlagen«, erklärte Grit. »Als Besitzerin der Villa Ophélie, die ich uneigennützig für das Projekt zur Verfügung stelle.«
Marlies streifte sie mit einem abschätzigen Blick. »Ja, ja, meine Liebe, das tust du, und wir alle sind dir sehr dankbar dafür. Dennoch habe ich den Förderverein ins Leben gerufen. Ich bin der Förderverein. Ohne mich hätte das Projekt keine Überlebenschance. Das weißt du. Das wissen alle. Deswegen steht der Preis mir zu. Und dabei geht es mir gar nicht um die 10.000 Euro«, fügte sie großspurig hinzu. »Es zählt in erster Linie die Anerkennung.« Sie hatte sich in Rage geredet.
Grit blieb gelassen und nutzte die Atempause ihrer Freundin. »Wir werden sehen, Marlies, wie das Gremium entscheiden wird. Was gibt es noch, Frau Tann? Sie wirkten vorhin so beunruhigt. Was macht Ihnen zu schaffen?«
Norma sammelte sich einen Augenblick, bevor sie von den Fesseln und den Kratzspuren an der Wand berichtete.
Grit erblasste ein weiteres Mal und verbarg das Gesicht in den Händen.
Die Psychologin schaute Norma kopfschüttelnd an. »Habe ich das richtig verstanden? Da stirbt ein Mann auf fürchterlichste Weise, aber die Polizei wird nicht ermitteln?«
»Gegen wen denn? Gegen einen Mörder, der seit Jahrzehnten tot sein muss? Dr. Frywaldt wird die Mumie selbstverständlich noch genau untersuchen, um die vorläufigen Annahmen zu überprüfen«, versicherte Norma.
Marlies rang um Fassung. »Wie um Himmels willen ist Toni in dieses Verbrechen hineingeraten? Eine so integre Frau?«
»Es ist nur ein Foto«, wandte Norma beschwichtigend ein. »Toni Sender muss persönlich gar nichts damit zu tun haben.«
»Das kann ich nur hoffen!«, zischte Marlies und zeigte ein anderes Gesicht als das der langmütigen Therapeutin.
Grit wippte angespannt mit den Füßen. »Wir können nicht weitermachen, als habe es den Mord nicht gegeben. Frau Tann, Sie sind Privatdetektivin. Bitte helfen Sie uns!«