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Ein vermeintlich harmloser Auftrag führt die Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann nach Bad Schwalbach. Sie wurde engagiert, um als Bloggerin über die Hessische Landesgartenschau zu berichten. Doch als eine verweste Männerleiche auftaucht, wird aus dem anfänglichen Spaß tödlicher Ernst. Nicht weit vom Fundort der Leiche entfernt, wurde vor Jahren eine Fernsehmoderatorin ermordet. Vom Täter fehlt bis heute jede Spur. Norma beginnt auf eigene Faust zu ermitteln - und bald darauf gibt es ein weiteres Opfer.
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Seitenzahl: 286
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Susanne Kronenberg
Rosentot
Norma Tanns siebter Fall
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Hundswut (2017), Totengruft (2014), Edelsüß (2012), Kunstgriff (2010),
Rheingrund (2008), Weinrache (2007), Kultopfer (2006),
Flammenpferd (2005), Pferdemörder (2005)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ReinerSand
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Flurstück_Auf_der_Platte-Elisabethentempel_04.JPG
ISBN 978-3-8392-5670-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Silvan?«, hauchte Jolanda Bruck atemlos. »Ist das nicht … Silvan?«
Zaudernd streckte sie die Hand aus und wies mit zitternden Fingerspitzen auf den verwesten, weitgehend skelettierten Körper. Er ruhte auf dem Bauch, wie der Länge nach hingeschlagen, und war umhüllt von textilen Überbleibseln.
»Silvan? Unmöglich!«, flüsterte Florenz an ihrer Seite, ohne den Blick vom Toten abzuwenden. »Silvan ist in Neuseeland.«
Norma trat einen Schritt näher heran. Die zerschlissenen Reste eines Radlertrikots schimmerten in verblasstem Neongelb durch das rotbraune Laub, das beim Verrücken der Baumstämme, unter denen der Leichnam begraben gewesen war, auf ihn herabgerieselt war. Die dürren Beine steckten zwischen dunklen Fetzen, die wohl mal Teil einer Hose gewesen waren. Die aus Sportschuhen herausragenden Knöchel schimmerten weiß: blitzblank abgenagt von emsigen Waldbewohnern. Am großflächig freigelegten Schädel hafteten wenige kurze Haare. Der Rücken des Toten war bizarr eingedellt. Als hätte ihm die umstürzende Buche das Rückgrat zerschmettert.
»Wer ist Silvan?«, fragte Norma behutsam.
»Silvan Morgenthaler, unser Beikoch«, erwiderte Jolanda und drehte sich weg, wohl um sich vor dem erbarmungswürdigen Anblick zu schützen. »Das trug er immer beim Radfahren: ein gelbes Trikot und eine schwarze Hose! Bestimmt auch an dem Abend, als der Tornado losbrach!«
»Silvan ist seit vier Jahren in Neuseeland!«, wiederholte Florenz beharrlich. »Ein gelbes Trikot haben viele. Silvan trug immer einen Helm, so ein silberfarbenes Teil. Da liegt kein Helm!«
Jolanda warf einen weiteren furchtsamen Blick auf die verstörende Entdeckung. »Du hast recht! Aber sieh nur, die Schuhe! So hellblau wie seine und mit chinesischen Schriftzeichen. Er hatte sie im Internet ersteigert und war so stolz darauf.«
Auch Norma schaute noch genauer hin. Die aufgenähten Zeichen waren deutlich zu erkennen. An den Sohlen befanden sich Einsätze für Klickpedale. Kein Schuhwerk, mit dem man freiwillig zu einem längeren Fußmarsch aufbrach. Wo mochte das Fahrrad geblieben sein?
An ihrer Seite regte sich die Bürgermeisterin Elisabeth Behrensen, die schwer atmend ausgeharrt hatte, und flüsterte angespannt: »Nicht zu fassen, noch ein Toter! Ganz in der Nähe wurde vor vier Jahren eine Frau getötet. Eine bekannte Fernsehmoderatorin!«
»Rose Schwertmann«, antwortete Norma, die sich gut an die Tat erinnerte, die im Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus große Beachtung gefunden hatte. Die Prominente war während eines Tornados im Bad Schwalbacher Wald brutal ermordet worden. Norma war damals zwar nicht mehr im Polizeidienst gewesen, hatte aber alle Berichte aufmerksam verfolgt.
Ein rätselhaftes Verbrechen, das bislang nicht aufgeklärt werden konnte.
Bei frühsommerlichem Wetter war eine Gruppe von Vertretern der Stadt und des Teams der Landesgartenschau, sowie Sponsoren und interessierte Bürgerinnen und Bürger ganz in der Nähe auf einem Parkplatz zusammengekommen. Anlass des Treffens war ein neuer Waldlehrpfad, der nun pünktlich zum Start der Hessischen Landesgartenschau, die in Bad Schwalbach stattfand, eröffnet werden sollte. Auch Norma hatte sich deswegen in den Bad Schwalbacher Wald aufgemacht. Als die Bürgermeisterin, eine füllige, warmherzig wirkende Mittfünfzigerin, die Anwesenden begrüßte, lenkte der durchdringende Ruf eines Greifvogels Normas Blick nach oben. Im wolkenbetupften Himmel schraubten sich zwei Rotmilane wie schwerelos in die Höhe. Als sie sich wieder den Umstehenden zuwandte, bemerkte sie ein Lächeln auf vielen Gesichtern. Elisabeth Behrensens Worte über das Unglück, das auch Chancen berge, passten zweifellos auch auf die Greifvögel und ihren Jagderfolg im vom Wald befreiten Areal. Vor vier Jahren hatte der Tornado ein kilometerlanges Band der Zerstörung bis hinunter in die Stadt geschlagen, die sich in trügerischer Sicherheit zwischen den steilen Taunushängen behaglich eingerichtet hatte. Wie verloren wand sich nun die Straße mit dem historischen Namen »Reitallee« durch den Windbruchhang, passierte nach einer Haarnadelkurve das Café Platte und streifte ein Stück weiter oberhalb den Waldparkplatz mit der Besucherschar. Von hier aus überschaute man die, wie Norma schätzte, gut vier Fußballfelder umfassende Fläche, auf der kaum ein Baum stehen geblieben war. Der neue Rundweg, die Tornado-Spur, zog sich auf frisch angelegten Pfaden und Brücken über den Berghang. Wer gute Augen hatte, erkannte tief unten zwischen Häusern und Straßen zwei grüne Täler, die sich wie die gespreizten Finger des Victoryzeichens dem Wald entgegenstreckten: die Hauptschauplätze der Hessischen Landesgartenschau, deren feierliche Eröffnung Norma vor zwei Tagen miterlebt hatte. Die Zeremonie an diesem Tag, hier oben im Wald, lief deutlich geruhsamer und bescheidener ab.
Der leichte Wind trug die helle Stimme der Bürgermeisterin davon. »… würdigen wir heute die Eröffnung der Tornado-Spur … Abenteuerpfad … Lehrpfad … über das Sturmholz hinweg und hindurch … die enorme Kraft der Natur, aber auch die Energie des Neubeginns … wie schön, zeitgleich mit der Landesgartenschau auch diese Attraktion …«
Norma verlor den Faden, hing ihren Gedanken nach. Mal kleiner, mal größer waren ihre Zweifel an ihrem derzeitigen Auftrag. Aus einer Laune heraus hatte sie sich dafür beworben, einen Internet-Blog über die Landesgartenschau zu führen, und damit prompt Gertraud Meering, die Initiatorin dieses Vorhabens, für sich eingenommen. Die alte Dame war von ihrer Enkelin darauf gebracht worden, einen Blog zur Gartenschau ins Leben zu rufen. Die gebürtige Bad Schwalbacherin war hingerissen von der Vorstellung, eine wahrhaftige Privatdetektivin zu engagieren. Norma sollte das Geschehen rund um die Landesausstellung mit detektivischem Spürsinn erkunden und mit subjektivem Blick kommentieren. Alle 14 Tage würde der Schreiber wechseln, und Norma war die Erste in der Reihe. Überrascht von der schnellen Zusage hatte sie kalte Füße bekommen. Doch ihren Einwand, sie wohne am Rhein in Wiesbaden-Biebrich und kenne sich im Taunus kaum aus, hatte die Sponsorin unbekümmert vom Tisch gewischt und sich auch von Normas Bedenken nicht beirren lassen, sie könne nur im Polizeijargon schreiben. Norma sollte ganz ungezwungen über das berichten, was ihr auffiel, und dabei kein Blatt vor den Mund nehmen. Ein Bild, das Norma hinsichtlich der Gartenschau amüsierte. So willigte sie schließlich ein und stimmte auch der einzigen Bedingung zu: in Bad Schwalbach zu wohnen, um dicht am Geschehen zu sein. Zeitgleich mit der Eröffnung der Landesausstellung war sie ins Hotel zum Pharao gezogen, das von einem jungen Bad Schwalbacher Ehepaar, Jolanda und Florenz Bruck, geführt wurde. Die jungen Hoteliers hatten sie sehr herzlich in Empfang genommen. Am ersten Abend waren sie, nach einigen Gläsern Rheingauer Wein, zum Du übergegangen.
Norma fing einen gelangweilten Blick Jolanda Brucks auf, die als finanzielle Unterstützerin der Tornado-Spur an der Eröffnungsfeier teilnahm. Ihr Mann Florenz trieb sich im Schatten der Bäume herum, die der Windhose getrotzt hatten. Allmählich schien die Bürgermeisterin zum Ende ihrer Ansprache zu finden. Ihre Stimme gegen den Wind erhebend dankte sie dem Förster, der mit einer Sommergrippe im Bett lag, und wünschte ihm aus der Ferne gute Besserung. Der Lehrpfad, der sich über Treppen und Bohlenwege auf einem 800 Meter langen Rundkurs durch Wald und Windbruch zog, sei nur dank der gemeinsamen Anstrengungen von Stadtverwaltung, Forstamt, dem Team der Landesgartenschau und vielen privaten Spendern möglich geworden.
Während freundlicher Applaus erklang, schlängelte Norma sich zu Elisabeth Behrensen durch, die sie als »offizielle LGS-Bloggerin« herzlich willkommen hieß und nach nettem kurzem Plausch zur gegenseitigen Vorstellung ringsherum weiterreichte. Höfliches Nachfragen, gepflegter Small Talk. So pudelwohl Norma sich inmitten der Natur fühlte – Empfänge im Wald lagen ihr weniger.
Was habe ich mir mit dem Blog nur eingehandelt?, ärgerte sie sich aufs Neue und schnappte sich zur Ablenkung ein Sektglas von dem ausladenden Tablett, das Lilly, eine Mitarbeiterin des Hotels der Brucks, geschickt durch die Menge balancierte. Abgesehen von bunten Blumenbildern war Normas Ausbeute an Fotos und Texten zum Thema Landesgartenschau bisher überschaubar. Also nutzte sie die Gelegenheit, stellte das halb geleerte Glas zurück und fotografierte das aus wuchtigen Balken gezimmerte Tor, das Zugang zur Tornado-Spur bot. Mittlerweile unterhielt sich die Bürgermeisterin mit einem jungen Mann, der sich als Journalist des Aar-Boten vorgestellt hatte. Norma fing Satzfetzen auf, in denen Elisabeth Behrensen von dem gelungenen Start der Landesgartenschau schwärmte,als das Dröhnen eines PS-starken Motors jede weitere Unterhaltung unmöglich machte. Ursache des Lärms war, wie sich gleich darauf zeigte, ein gewaltiges Forstfahrzeug, das sich seinen Weg durch den Wald bahnte. Wie ein ausgehungertes Tier richtete es seinen langen Greifarm auf einen Berg mächtiger verrottender Baumstämme aus, die sich wie von einem Riesen umgeknickt und durcheinandergewirbelt in Sichtweite des Parkplatzes auftürmten. Die Umstehenden schraken zusammen. Elisabeth Behrensen breitete die Arme aus, als wollte sie ihre Gäste vor dem Koloss schützen.
Ein älterer Mann an Normas Seite deutete auf das Sturmholz und meinte bedauernd: »Was für ein Jammer, die uralten Bäume! Das war ein Naturdenkmal, eine außergewöhnliche Gruppe von Blutbuchen. Vor vier Jahren hat die Windhose die dicken Buchen wie Streichhölzer umgefegt.«
»Weshalb hat man das Holz nicht längst abgeräumt?«, fragte sie verwundert.
»Die Verwüstungen waren immens«, erklärte er. »Mit den Folgen des Tornados sind die Waldarbeiter immer noch beschäftigt. Zuerst wurden die Bäume entfernt, die eine Gefahr darstellten oder die Wege versperrten. Bei diesem Windbruch bestand offenbar kein Grund zur Eile.«
Florenz Bruck fühlte sich offensichtlich zum Handeln berufen und spurtete dem Monstrum entgegen.
Beide Arme protestierend über dem Kopf schwenkend brüllte er: »Stopp! Sofort anhalten!«
Tatsächlich drehte die Monstermaschine bei und kam knapp vor Florenz zum Stehen. Der Motorenlärm verstummte. Die Bürgermeisterin schritt, ein beschwichtigendes Lächeln auf den Lippen, auf die Kontrahenten zu. Die Gästeschar, unter ihnen Norma, folgte interessiert. Die Tür der Fahrerkabine flog auf.
»Ich habe einen Auftrag«, rief der Fahrer, sichtlich unbeeindruckt von dem Aufgebot, und musterte Florenz von seiner hohen Position aus mit stoischer Miene.
»Du störst eine Feier! Verschwinde!«, rief Florenz und reckte drohend die Faust.
»Bitte, bitte, Herr Bruck!«, wandte sich Elisabeth Behrensen mäßigend an den Hotelier und bat den Fahrer: »Kommen Sie bitte später wieder.«
»Ich bin für hier und heute beauftragt«, antwortete der Mann in der Kabine unbeirrt und deutete auf das Sturmholz. »Der Haufen wird jetzt abgebaut. Später wird es teuer.«
»Da ist etwas schiefgelaufen«, flötete die Bürgermeisterin. »Der Förster ist erkrankt, womöglich wusste sein Stellvertreter nicht …«
»Ist mir schnurzegal!«, fiel ihr der Fahrer ins Wort. »Mein Auftrag ist, wie er ist.«
»Zieh Leine!«, fauchte Florenz, der sich unter der offenen Kabinentür aufgebaut hatte.
»Bitte, bitte, meine Herren!«, rief die Bürgermeisterin, die zu befürchten schien, dass der Fahrer nicht nachgeben würde. »Wo ist das Problem? Wir feiern den Start des Tornado-Lehrpfads, und was könnte in diesen Rahmen besser passen als die praktische Demonstration einer Forstmaschine? Machen Sie Ihren Job, junger Mann! Wir sind Ihr Publikum!«
Pragmatisch ist sie, das muss man ihr lassen, dachte Norma anerkennend.
Mit ohrenbetäubendem Wummern sprang der Motor an, und das Gefährt rollte erneut auf den Sturmholzstapel zu. Der Greifarm setzte sich in Bewegung, verbiss sich in den oberen mannsdicken Buchenstamm, hob ihn an und legte ihn mit kraftvollem Schlenker seitlich auf freierem Gelände ab. Stamm um Stamm schmolz der wilde Turm dahin, während am Rand der Parkfläche ein geordneter Stapel heranwuchs. Der Großteil der Gäste stahl sich davon, doch einige blieben, darunter die Bürgermeisterin, und beobachteten interessiert die Präzision der kraftvollen Maschine.
Der Mann in der Fahrerkabine beherrschte sein Fahrzeug wie im Schlaf und arbeitete konzentriert und flink. Schon hob der letzte Stamm mit einer verdorrten Krone vom Boden ab, als Norma überrascht blinzelte. Was war das? Dieser gelbe Farbfleck, der durch das Laub schimmerte? Neugierig trat sie näher heran. Während sich der gewaltige Wurzelteller noch auf das Erdreich stützte, schwebte der Stamm, von der Greifkralle gehalten, in die Höhe und gab den Blick frei auf das, was der umstürzende Baum damals unter sich begraben hatte. Aus seiner Perspektive konnte der Fahrer, dessen Blickfeld durch den Baumstamm eingeschränkt war, nicht erkennen, was Norma aufgefallen war.
Erst nachdem sie sich mit rudernden Armen bemerkbar gemacht hatte, stellte er den Motor aus und öffnete mit zorniger Miene die Kabinentür. »Was soll das schon wieder?«
»Lassen Sie den Stamm, wo er ist!«, befahl Norma entschieden. »Bewegen Sie nichts!«
»Was gibt’s?«, fragte die Bürgermeisterin verwundert und rückte, gefolgt von der Gruppe, dichter an den freigelegten Waldboden heran. Im Nu drängten sich alle Anwesenden um den Buchenstamm herum.
Der Fahrer kletterte aus der Kabine und eilte dazu. »Was zum Teufel fällt euch ein?«
In dem Augenblick kippte das Tablett in Lillys Händen nach vorn, und die Gläser schlugen klirrend auf dem Waldboden auf.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie angesichts des Toten bereits beisammenstanden. Vermutlich waren nur wenige Minuten vergangen, seit der Greifarm das seltsame Grab freigelegt hatte. Die Zeit schien sich zu dehnen. Norma fühlte sich zum Handeln gedrängt und hätte am liebsten sofort den Fundort abgesperrt und den Polizeinotruf gewählt. Aber welchen Grund zur Eile hätte es geben sollen nach all den Jahren, die der Radfahrer von den Stämmen verborgen hier gelegen hatte? Außerdem war sie keine Polizistin mehr. So zähmte sie ihre Ungeduld und wartete auf eine Reaktion der Bürgermeisterin.
Sichtlich um Fassung ringend murmelte Elisabeth Behrensen: »Vor vier Jahren hat der Tornado für Verwüstung gesorgt. Meines Wissens war in Bad Schwalbach danach niemand verschollen.«
»Das muss Silvan sein«, beharrte Jolanda unbeirrt.
Sie schien ihren Mann überzeugt zu haben, der zustimmend nickte und erklärte, sein Koch hätte für den Tag des Tornados einen Flug nach Auckland gebucht. »Silvan hatte gekündigt. New Zealand forever, das war sein großer Traum. Deswegen hat ihn niemand vermisst.«
Die Bürgermeisterin grub in der Jackentasche nach dem Telefon und ließ sich über ihr Büro mit der Bad Schwalbacher Polizei verbinden. Norma kannte die örtliche Polizeistation in der Emser Straße von ihren früheren Einsätzen als Hauptkommissarin beim Polizeipräsidium Westhessen, das sich in Wiesbaden befand und dessen Einzugsgebiet bis in den Untertaunus reichte. Während die Anwesenden – je nach Temperament aufgeregt diskutierend oder betroffen schweigend – auf die Polizei warteten, hielt Norma die allzu Neugierigen davon ab, den Fundort zu betreten, und zugleich den Forstarbeiter in Schach, der, wichtige Folgetermine vorgebend, am liebsten samt seiner Monstermaschine abgerückt wäre. Sie war erleichtert, als endlich zwei Streifenwagen anrückten und sie die Verantwortung an vier Polizisten, drei Männer und eine Frau, abgeben konnte, die ihr allesamt unbekannt waren.
Die Tatortgruppe aus Wiesbaden sei unterwegs, um die Leiche zu bergen und die Spuren zu sichern, die nach der langen Zeit noch zu finden seien, erklärte einer von ihnen, ein älterer, besonnen wirkender Mann, der sich als Hauptkommissar Jost Henrich Färber vorstellte. Dass eine ehemalige Kommissarin den Landesgartenschaublog betreute, war ihm nicht entgangen. Der Aar-Bote hatte in mehreren Artikeln darüber berichtet.
»Sie gehörten doch früher der Mordkommission an, nicht wahr?«, fragte Färber in kollegialem Tonfall. »Was sagen Sie? Hier auf dem Parkplatz wurde während des Tornados die Moderatorin ermordet. Und nun dieser Tote, offensichtlich mitten im Sturm von Bäumen erschlagen. Das kann doch kein Zufall sein?« Er schaute sie erwartungsvoll an.
Norma gab sich zurückhaltend. »Der Frage wird sicherlich eine Sonderkommission nachgehen.«
»Ich darf mich auf Ihre Diskretion verlassen, Frau Tann?«, bat er mit höflichem Lächeln. »Kein Satz über das hier im Internet, solange nichts freigegeben ist?«
»Selbstverständlich, Sie haben mein Wort.«
Fast war sie gekränkt, weil er überhaupt gefragt hatte. Färber dankte ihr und wandte sich dem Forstarbeiter zu, der unter polizeilicher Anleitung die Arbeit fortsetzte und den letzten Stamm mit der gebotenen Umsicht beiseiterückte. Währenddessen hatten Färbers Kollegen damit begonnen, den Fundort großflächig mit rot-weißem Band abzusperren. Norma ging zu dem Grüppchen, das auf dem Parkplatz darauf wartete, der Polizistin die Personalien zu diktieren. Wer entlassen war, stieg in seinen Wagen und verschwand. Bald donnerte auch die Forstmaschine so lautstark davon, wie sie gekommen war. Schließlich waren neben Norma und den Polizisten nur noch die Bürgermeisterin, die Leute vom Hotel und der junge Journalist übrig geblieben, der mit brennenden Wangen um die Uniformierten herumstrich.
Elisabeth Behrensen versuchte Jolanda zu trösten, die mit versteinerter Miene am Hotel-Jeep lehnte, während Florenz um den Wagen herumtigerte und dabei Lilly in den Weg geriet, die sich umständlich mit dem Einräumen der Sektflaschen beschäftigte, als bräuchte sie diese Ablenkung. Die zerbrochenen Gläser hatte sie oder jemand anders bereits aufgelesen. Ein offener, mit Scherben gefüllter Karton stand im Kofferraum.
Grob kickte Florenz mit dem Wanderstiefel gegen einen Reifen. »Die Landesgartenschau ist die Chance für uns. Endlich ist das Pharao für Wochen ausgebucht. Und jetzt dieses Unglück! Das könnte die Gäste verschrecken!«
Die Bürgermeisterin bemühte sich, ihn zu beruhigen. »Mein lieber Herr Bruck, dieser arme Teufel mag einen dunklen Schatten auf die Stadt werfen. Aber den Erfolg der LGS wird seine Entdeckung wohl kaum beeinträchtigen.«
Florenz’ Antwort war ein argwöhnischer Blick, bevor er angriffslustig auf Norma zusteuerte. »Was wirst du in deinen Blog schreiben? Todesspur Tornado? Schaurige Spektakel-Spur?«
Lilly brach in ein hysterisches Kichern aus.
»Das ist nicht komisch! Es geht auch um deinen Job, wenn der Umsatz einbricht!«, brüllte Florenz, was Lilly schlagartig verstummen ließ.
Das Schicksal seines früheren Kochs schien ihn nicht groß zu kümmern, nahm Norma befremdet zur Kenntnis. Auch falls er seinem Angestellten die Kündigung verübelt hatte oder es aus einem anderen Grund zum Streit gekommen war, hätte sie trotzdem mehr Anteilnahme erwartet.
Mit scharfer Stimme mischte sie sich ein. »Vor allem geht es um eines: Hier ist ein Mensch gestorben. Jemand, der eine Familie hatte. Allein deswegen werde ich nichts anderes schreiben, als das, was die Pressestelle der Polizei vorgibt. Und ich bin sicher, der junge Mann von der Zeitung wird es genauso handhaben.« Damit wandte sie sich dem Reporter zu, der unsicher näher gekommen war, nachdem ihm die Polizistin barsch untersagt hatte, Fotos vom Fundort zu machen.
»Geht klar«, antwortete der Reporter, um Lässigkeit bemüht, obwohl er von dem Geschehen sichtlich eingeschüchtert war.
Wie ein Spürhund folgte er anschließend Florenz und Jolanda, die ein Stück auf den Fundort zugegangen und vor dem Absperrband stehen geblieben waren. Die Bürgermeisterin trat ein paar Schritte abseits, um ungestört zu telefonieren.
Lilly hatte endlich alle Sektflaschen im Jeep verstaut. Nun schlug sie die Hecktür zu und wandte sich mit einer Frage an Norma: »Wie findet man heraus, ob der Tote Silvan ist?«
»Über einen Zahnabgleich geht das schnell, wenn entsprechende Vergleichsdaten vorliegen. Vielleicht hat er auch etwas bei sich, was ihn identifiziert, zum Beispiel seinen Führerschein. Wie gut haben Sie Silvan gekannt?«
»Vor fünf Jahren haben die Brucks das Pharao wiedereröffnet«, sagte Lilly. »Silvan und ich haben zur selben Zeit angefangen: er in der Küche und ich im Service. Wir haben uns gut verstanden. Im Jahr darauf wollte er schon wieder weg. In Neuseeland suchte man gute Köche. Die große, weite Welt, Sie wissen schon! Sein Flug ging an dem Sonntagabend, als der Tornado losbrach. Am selben Nachmittag wollte Silvan eine letzte Runde auf dem Mountainbike drehen. Er mochte den Wald so sehr.« Mit verlegenem Lächeln beendete sie den kurzen Bericht.
Wie alt mochte sie sein? Mitte 20, schätzte Norma. »Hat er sich seitdem nicht mal gemeldet?«
»Bei mir nicht«, antwortete Lilly mit belegter Stimme. »Silvan ist ein netter Typ. Aber er gehört zu den Leuten, die alles hinter sich lassen können. Die nur nach vorn schauen und nie zurück.«
»Und seine Familie?«
Lilly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass die Eltern hier in Bad Schwalbach wohnen. Geschwister hat er nicht.«
»Eine Freundin?«
»Keine Ahnung«, murmelte sie ausweichend. »Grauenhaft … vom Baum erschlagen.«
»Auch wenn es auf den ersten Blick danach aussieht«, wandte Norma ein, »muss sich das erst noch herausstellen. Die Experten werden die Todesumstände im Detail untersuchen.«
»Wie furchtbar, falls das wirklich Silvan ist«, überlegte Lilly flüsternd. »Wie oft ich an ihn denke! Ich male mir aus, was er macht und wie es ihm geht. Dass er in einem Spitzenrestaurant arbeitet und in der Freizeit in den Bergen wandert. Das war immer sein Traum.« Sie schaute auf und bekannte offen: »Ich war schlimm verliebt, ich dummes Huhn. Dabei war sonnenklar, es würde nichts aus uns werden.«
Norma nahm die zarte Person genauer in Augenschein. Sie war auf natürliche Art hübsch und frei von Affektiertheit. »Warum seid ihr kein Paar geworden?«
»Ich war nicht sein Typ.« Lilly hob resigniert die Schultern. »Und wie geht es jetzt weiter?«
Das Prozedere war jahrelang Alltag für Norma gewesen. »Spezialisten der Polizei werden den Fundort auf Spuren und Hinweise untersuchen und den Toten mitnehmen«, fasste sie das aufwendige Vorgehen in einem Satz zusammen.
»Was passiert mit ihm?«
»Der Tote wird nach Frankfurt ins Zentrum der Rechtsmedizin gebracht. Leider.«
»Wieso leider?«, wunderte sich Lilly.
»Käme er nach Wiesbaden ins Hessische Landeskriminalamt, dann hätten wir früher Gewissheit, ob es Silvan ist.«
»Wieso?«
»Mein Freund arbeitet beim LKA.«
Unklare Todesfälle sind sein Fachgebiet, hätte sie hinzufügen können, unterließ es aber wohlweislich. Manche machten sich falsche Vorstellungen beim Gedanken an einen Wissenschaftler, der mit großer Passion Leichen untersuchte. Sie selbst konnte gut damit umgehen. Timon sah sich als Anwalt der Opfer, und das Mindeste, was er für sie tun konnte, war seiner Meinung nach, zur Aufklärung ihres Schicksals beizutragen.
Das Wiesbadener Team rückte mit Blaulicht und mehreren Einsatzwagen an. Kaum waren diese auf dem Parkplatz zum Stehen gekommen, breitete sich eine professionelle Geschäftigkeit im Wald aus – angetrieben und kommandiert von einem groß gewachsenen Mann in Zivil. Als er Norma erspähte, eilte er ihr mit ausgreifenden Schritten entgegen. Sein herrischer Blick versprach nichts Gutes, und Norma stöhnte unwillkürlich auf.
Ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Bastian Riebler!
Wegen des Maifeiertags war das Zentrum der Rechtsmedizin in Frankfurt knapp besetzt, und zudem fehlte krankheitsbedingt Personal. Man hatte das Hessische Landeskriminalamt in Wiesbaden um Unterstützung gebeten, und so war der Tote wider Erwarten doch auf dem Seziertisch des Mediziners und Biologen Dr. Dr. Timon Frywaldt gelandet, wie Norma am frühen Vormittag von ihm selbst durch einen Anruf erfahren hatte. Ihm war klar, wie brennend es sie interessierte, schließlich hatte sie ihm am vergangenen Abend in allen Einzelheiten geschildert, wie es zu der Entdeckung gekommen war. Timon hatte für sie gekocht, vorerst eine der letzten Gelegenheiten zum gemeinsamen Essen. Am Donnerstag wollte er Wiesbaden für drei Wochen den Rücken kehren und in die USA fliegen. Norma wusste, sie würde ihn sehr vermissen. Sie waren ein Paar, auch wenn sie in getrennten Wohnungen lebten, was ihrer Beziehung gutzutun schien. Sein Ziel war ein hochkarätiger Kongress über forensische Anthropologie, der in New Orleans stattfinden sollte. Für Timon, den Spezialisten für Spurensicherung und Tötungsdelikte, weit mehr als eine berufliche Fortbildung – eher eine Herzensangelegenheit. So fieberte er seit Monaten auf die Reise hin. Komm mit, hatte er sie gebeten. Nimm dir Urlaub! Sie hatte tatsächlich darüber nachgedacht – und den Vorschlag mit der Begründung verworfen, ihm bliebe doch sowieso kaum Zeit für gemeinsame touristische Ausflüge. Was nicht der wirkliche Grund war. In Wahrheit fürchtete sie, schlafende Dämonen zu wecken. Seit Kolumbien war sie nicht mehr geflogen. Obwohl sie die Panikattacken überwunden hatte, traute sie dem Frieden nicht und fühlte sich für eine lange Flugreise noch nicht gewappnet. Falls sie einen Anfall bekäme, bräuchte sie frische Luft und Platz um sich herum.
Während sie am frühen Nachmittag mit wachsender Ungeduld auf seine Nachricht wartete, nutzte sie die Zeit, um vor dem Weinbrunnen Kommentare für den Blog einzufangen. In der Frühlingssonne, die den weißen Brunnenpavillon erstrahlen ließ und die Frühblüher in den Rabatten zum Leuchten brachte, standen ihr gut gelaunte Besucher bereitwillig Rede und Antwort. Allmählich gewann sie Gefallen an ihrer Rolle als Reporterin und hatte soeben das Foto eines jungen Paares geschossen, das ihr ausgelassen ins Bild winkte, als das Smartphone Timons SMS anzeigte: Kommst du? Um 15 Uhr im Labor. Luigi und Dirk sind dabei.
Die Hauptkommissare Luigi Milano und Dirk Wolfert also, ihre Ex-Kollegen aus der Mordkommission. Am liebsten hätte sie Timon postwendend angerufen, hielt sich aber zurück. Er hätte sicher selbst zum Telefon gegriffen, stünde er nicht unter Zeitdruck. So sammelte sie fleißig weiteres Fotomaterial. Im Restaurant am Kurweiher bestellte sie einen Salat und machte sich nach einem Cappuccino auf den Weg. Die Autofahrt führte sie über eine kurvenreiche Straße, entlang der im schmalen Bett dahinplätschernden Aar und zum Taunussteiner Ortsteil Bleidenstadt, bevor sie den Taunuskamm an seiner niedrigsten Stelle, der Eisernen Hand, überquerte. Danach ging es bergab nach Wiesbaden. Eine halbe Stunde später parkte sie den Kombi in einer Seitenstraße des Behördenviertels, in dessen farblose Betonarchitektur sich neben den Finanzämtern, Sozialbehörden und dem Verfassungsschutz auch ihr Ziel, das Landeskriminalamt, einfügte. Ihre frühere Arbeitsstelle, das Polizeipräsidium Westhessen, lag nur einen Katzensprung entfernt in einem lang gezogenen Gebäudekomplex, dem ehemaligen Militärkrankenhaus der Amerikaner. Und damit eigentlich nah genug, um den Weg zu Fuß zurückzulegen. Doch die Hauptkommissare hatten offensichtlich das Auto bevorzugt, denn Norma entdeckte Milanos Wagen, als sie über den Parkplatz spazierte. Sie blieb abwartend stehen. Der Kommissar zwängte seine Masse ins Freie, und das allein schien ihn schon ins Schwitzen zu bringen. Auf der Beifahrerseite entstieg Dirk Wolfert dem Wagen. Wie immer akkurat gekleidet in Sakko und dunkler Hose, strebte er mit zum Gruß erhobener Hand auf sie zu. »Norma, wie schön, dich zu sehen! Auch wenn der Anlass wenig erfreulich ist.«
Milano stopfte sich das Hemd in die Jeans und stapfte mit schweren Schritten heran. »Volltreffer, Frau Schnüfflerin!«, brummte er anstelle einer Begrüßung. »Gehst zum Blümchenzählen in das Kurstädtchen, und was passiert? Du stolperst gleich über eine Leiche!«
Einmal im Monat traf sie sich mit ihm und Wolfert zum Essen, und beim letzten Mal hatte er seinen Spott über ihr ausgegossen. Von der Privatschnüfflerin zur digitalen Schreiberline: Ob sie das nötig habe? Ob ihr die Kundschaft ausgegangen sei?
»Irrtum, Luigi!«, konterte sie nun. »Mit dem Fund habe ich nichts zu tun. Ich war ganz zufällig als Bloggerin dort.«
»Herrje, Norma! Du und bloggen, das ist wie …«
»Wie was, Luigi?«
»Wie Pasta aus der Tüte! Einer guten Ermittlerin einfach unwürdig!«
Sie lachte laut auf. »Hab ich das Wort ›gut‹ gehört? Aus deinem Mund, Luigi? Lass das meine Sorge sein, mein Lieber! Es bringt mir so viel ein wie die öden Versicherungsrecherchen, macht aber zehnmal mehr Spaß. Habt ihr den Toten aus dem Wald übernommen?«
»Die Soko Waldparkplatz wird neu gebildet«, bestätigte Milano mit grummeligem Schnaufen. »Dass wir den Mord an der Moderatorin damals nicht aufklären konnten, fuchst mich bis heute. Womöglich bringt der neue Fall Licht in die alte Sache.«
»Gehört Riebler zum Team?«, fragte Norma und verzog das Gesicht.
Mit breitem Grinsen sagte Milano: »Der Gute hat sich gestern dermaßen ins Zeug gelegt – der Chef wollte ihn nicht ausschließen.«
»Hoffentlich vergeigt Riebler das nicht!«, bemerkte Norma spitz.
Während ihrer Zeit als Polizistin war er einer der wenigen Kollegen gewesen, mit denen sie bei jeder Gelegenheit aneinandergeraten war. Als junger Kommissar hatte er keinen Fauxpas ausgelassen. Jeder Neuling irrte sich mal. Mit Anfängerfehlern konnte sie umgehen. Aber nicht mit dummdreister Arroganz, kindischer Rechthaberei und einer aus geistiger Unbeweglichkeit entspringenden Uneinsichtigkeit. Streitereien, die auch Riebler keinesfalls vergessen haben dürfte. Dass sie gegangen, er aber geblieben war, musste ihm eine ungeheuere Genugtuung verschafft haben. Die gönnerhafte Hochnäsigkeit, mit der er ihr gestern begegnet war, hatte ihren alten Grimm sofort auflodern lassen.
Wolfert meinte mit gerunzelter Stirn: »Immer noch Vorbehalte? Ob du es glaubst oder nicht, Bastian hat eine ganz ordentliche Karriere hingelegt.«
Timon wartete im Foyer auf sie. Er begrüßte die Kommissare mit kräftigem Handschlag und empfing Norma mit einer warmen Umarmung, die sie kräftig erwiderte. Im Gänsemarsch folgten sie ihm in den Obduktionsraum. Norma ging als Letzte. Ihr graute vor dem Leichengeruch, an den sie sich wohl niemals gewöhnen würde. Dort angekommen, steckte Timon seinen langen Zopf im Nacken hoch und streifte einen Kittel über. Wolfert und Milano traten dicht an den Seziertisch heran, Timon positionierte sich ihnen gegenüber. Norma hielt sich abseits im Rücken der Kommissare, angerührt von dem Anblick des weitgehend skelettierten Körpers, der, gesäubert von Stoffresten, Erde und Pflanzenteilen, schutzlos auf dem blanken Metall vor ihnen lag. Nicht bäuchlings wie im Wald, sondern nun auf dem Rücken liegend, hielt der Tote die leeren Augenhöhlen in Richtung der Neonröhren unter der Zimmerdecke gerichtet. Er roch kaum muffiger als nasses Herbstlaub, stellte sie fest, als sie probehalber das in Parfüm getränkte Taschentuch von der Nase nahm.
»Also, Timon, wie ist der Stand der Dinge?«, fragte Wolfert geradeheraus. »Siehst du eine Verbindung zum Mord auf dem Parkplatz vor vier Jahren?«
»Dazu komme ich gleich, beginnen wir mit der Identität des Toten«, begann Timon in nüchternem Wissenschaftlerton und schlug eine Aktenmappe auf. »Wir hatten Glück. Die Anfragen zum Zahnabgleich an die hiesigen Zahnarztpraxen waren kaum rausgegangen, da kam prompt ein positives Ergebnis. Der Mann war zum Zeitpunkt seines Todes 23 Jahre alt, gebürtig und wohnhaft in Bad Schwalbach. Sein Name war Silvan Morgenthaler.«
»Tatsächlich!«, rief Norma.
Wolfert und Milano fuhren herum.
»Soll heißen?«, murrte der dicke Kommissar.
»Seine Kleidung hatte Jolanda Bruck darauf gebracht, es könne ihr Beikoch sein«, erklärte Norma. Sie schilderte Jolandas Reaktion beim Anblick des Toten. »Jolanda und ihr Mann Florenz Bruck führen das Hotel zum Pharao.«
»Wohnst du nicht dort, Norma?«, fragte Wolfert und zeigte sich bestens informiert.
»Die Dame, die den Blog sponsert, bezahlt auch mein Zimmer«, bestätigte sie. »War nicht meine Entscheidung, ist aber in Ordnung.«
Milano kratzte sich am Ohr und brummte: »Merkwürdiger Name für ein Hotel! Warum heißt das so?«
»Keine Ahnung«, antwortete Norma. »Übrigens wollte Silvan am Abend des Tornados angeblich nach Neuseeland abreisen.«
Wolfert entledigte sich seiner Brille, zupfte ein Tüchlein aus der Sakkotasche und wienerte bedächtig die starken Gläser. »Das muss dann am 10. August gewesen sein. Ein Sonntag.«
»Wurde das Mountainbike gefunden?«, fragte Norma. »Unter den Bäumen war es nicht.«
»Vielleicht hat er es woanders zurückgelassen«, mutmaßte Milano. »Später wurde es dann geklaut. Ein gutes Rad bleibt nicht lange irgendwo liegen. Hatte er etwas bei sich? Einen Hausschlüssel zum Beispiel?«
»Da war kein Schlüssel«, sagte Timon.
»Die Kollegen haben am Fundort auch keinen entdeckt«, wusste Wolfert.
»Vielleicht ging es Silvan wie mir?«, überlegte Timon laut. »Beim Radfahren würde mich ein Schlüsselbund am Körper stören. Dafür habe ich eine kleine Tasche, die am Rahmen befestigt wird.«
»Ist überhaupt gesichert, dass die Blutbuchen bei dem Tornado umstürzten?«, fragte Norma. »Danach gab es weitere Unwetter, wenn auch nicht von solcher Gewalt.«
»Das hat Riebler bereits überprüft«, antwortete Timon mit einem Blick in die Akte. »Der zuständige Förster war zwei Tage vor dem Tornado in dem Waldstück, um dort Bäume zum Fällen zu markieren. Vor dem 10. August stand die Baumgruppe noch, da ist sich der Mann absolut sicher. Nach dem Tornado war er schockiert, dass es ausgerechnet das Naturdenkmal getroffen hatte. Nah genug rangegangen ist er allerdings nicht und hat deswegen den Toten unter den Stämmen nicht entdeckt.«
»Warum ist Morgenthaler nicht früher gefunden worden?«, fragte Milano. »Warum erst nach vier Jahren?«
»Wenn ihr die Riesenfläche seht, die der Tornado zerstört hat«, sagte Norma, »könnt ihr leicht nachvollziehen, warum die Aufräumarbeiten bis heute nicht erledigt sind.«
»Gehen wir also davon aus, dass er sich auf einer Radtour befand«, fasste Milano zusammen. »Vermutlich hatte er sich nicht rechtzeitig auf den Heimweg gemacht. Im Wald wurde er vom Sturm überrascht und suchte Schutz.«
»Keine gute Idee, ausgerechnet zwischen Bäumen«, fügte Wolfert hinzu und sagte mit skeptischer Miene: »Oder er hat die Frau getötet und lief deswegen in Panik davon. Gibt es dazu erste Erkenntnisse?«
Timon legte die Aktenmappe beiseite. »Sehen wir uns die Fotos an.«
Sie folgten ihm zu einem Schreibtisch mit zwei Bildschirmen. Norma trat an Timons Seite. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke in heimlicher Komplizenschaft. Ich will nicht, dass du abreist, dachte sie mit kindlichem Trotz und im selben Augenblick: Was ist los mit mir? Stelle mich an wie ein Teenager wegen 21 Tagen ohne ihn. Auch deswegen war ihr die Idee verlockend erschienen, für zwei Wochen als Bloggerin in den Taunus zu ziehen. Neue Aufgaben lenkten ab. Wobei ihr nichts ferner gelegen hatte als die Vorstellung, umgehend mit einem Todesfall konfrontiert zu werden.
Timon schaltete einen der Monitore ein und ein Röntgenbild wurde sichtbar. Norma beugte sich zu der Aufnahme herunter, die stark vergrößert den Ausschnitt eines menschlichen Rückens zeigte: eines verwesten Rückens, aus dem wachsbleiche Wirbelknochen herausragten wie eine Gebirgskette in der Atacama-Wüste. Timon griff sich eine lange Pinzette und deutete nacheinander mit deren Spitze auf drei dunkle, viereckige Krater in der Mondlandschaft. »Seht ihr diese Einstiche? Sie stammen nicht von den Bäumen, unter denen er begraben wurde. Das ist auszuschließen.«
»Verflucht, das sieht aus wie …«, brummte Milano.
»… wie von der Spitze eines Walkingstocks!«, vollendete Wolfert den Satz.
»Ihr sagt es!«, stimmte Timon der Vermutung zu und ließ mit einem Tastendruck den zweiten Bildschirm aufleuchten. Er klickte mit dem Mauszeiger auf eine Bilddatei. Das aufploppende Foto zeigte in Großaufnahme die Spitze eines vierkantigen Metallstabs. Auf einem zweiten Bild war ein Wanderstock in voller Länge und mit derselben Spitze zu sehen.
Milano gab ein Knurren von sich. »Da haben wir das Missing Link!«
»Missing Link?«, fragte Norma verwundert, dann kam ihr eine Idee: »Denkst du an eine Verbindung zu Rose Schwertmann?«
»Die zweite Leiche am Waldparkplatz«, bestätigte er.
»Wie starb die Frau überhaupt? In den Medien war damals nichts Konkretes darüber zu lesen. Aus gutem Grund, nehme ich an.«
»Es war Täterwissen, das nicht bekannt werden sollte«, stimmte Wolfert ihr zu. »Wir wollten Verdächtige und mögliche Zeugen nicht durch diese Information beeinflussen. Leider fanden wir keine Zeugen, die zur Tatzeit im Wald gewesen waren. Kein Wunder bei dem Sturm! Den Verdächtigen war nichts nachzuweisen, und die Ermittlungen verliefen im Sande.«
»Aber mir könnt ihr jetzt alles sagen«, verlangte Norma und schaute auffordernd in die Runde. »Also?«
Timon ergriff das Wort. »Es muss zu einem Gerangel gekommen sein, bei dem die Frau rücklings stürzte und mit dem Nacken auf einem dicken Knüppel landete. Der Täter beugte sich über sie und drückte ihr mit roher Gewalt einen Walkingstock gegen die Kehle. Sie starb an einem Genickbruch, verbunden mit einem zerquetschten Kehlkopf.«
»Und sie wurde im Kampf von der Stockspitze verletzt – wie Silvan?«, schlussfolgerte Norma.
»Ihr Oberkörper wies mehrere Einstiche auf. Es kann kein Zufall sein, wenn zwei Menschen zur selben Zeit am selben Ort von einem Walkingstock malträtiert wurden.«
»Wo genau lag die Leiche der Frau?«