Edith Stein – Geschichte einer Ankunft - Klaus-Rüdiger Mai - E-Book

Edith Stein – Geschichte einer Ankunft E-Book

Klaus-Rüdiger Mai

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Beschreibung

Zum 80. Todestag: Die Biografie einer außergewöhnlichen Frau

Der Historiker Klaus-Rüdiger Mai nähert sich dem Facettenreichtum der zu Unrecht im Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen stehenden Edith Stein. Bewusst schreibt er keine Hagiografie, sondern erzählt mitreißend den Roman des Lebens dieser außergewöhnlichen Frau - dem Wildfang der Moderne.

Am 9.8.2022 jährt sich der Todestag von Edith Stein zum achtzigsten Mal. Edith Stein starb als geborene Jüdin und konvertierte Christin im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Für ihren unermüdlichen Einsatz, Juden- und Christentum zu versöhnen, wurde sie als Teresia Benedicta vom Kreuz 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen.

Edith Stein war jedoch nicht nur Ordensfrau, sondern Intellektuelle. Sie studierte Philosophie, Geschichte, Germanistik und Psychologie in Göttingen und Freiburg, promovierte bei Edmund Husserl und trug - unter anderem als dessen Assistentin - maßgeblich zur modernen Philosophiegeschichte bei. Gleichwohl wurde ihr die Habilitation gleich vier Mal verweigert. Ihre Habilitationsschrift, in der sie sich auf brillante Weise mit Thomas von Aquin, Husserl und Martin Heidegger auseinandersetzt, konnte erst post mortem nach dem Krieg veröffentlicht werden. Ihre Suche nach dem Sinn des Seins, ihr starker Wille, ihr Engagement für Philosophie und Frauenrechte können uns heute als Blaupause dienen, den eigenen Weg, trotz enormer Widerstände, weiter zu verfolgen.

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Der Historiker Klaus-Rüdiger Mai nähert sich dem Facettenreichtum der zu Unrecht im Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen stehenden Edith Stein. Bewusst schreibt er keine Hagiografie, sondern erzählt mitreißend den Roman des Lebens dieser außergewöhnlichen Frau – dem Wildfang der Moderne.

Am 9. August 2022 jährt sich der Todestag von Edith Stein zum achtzigsten Mal. Sie starb als geborene Jüdin und konvertierte Christin im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Für ihren unermüdlichen Einsatz, Juden- und Christentum zu versöhnen, wurde sie als Teresia Benedicta vom Kreuz 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen.

Edith Stein war jedoch nicht nur Ordensfrau, sondern Intellektuelle. Sie studierte Philosophie, Geschichte, Germanistik und Psychologie in Göttingen und Freiburg, promovierte bei Edmund Husserl und trug – unter anderem als dessen Assistentin – maßgeblich zur modernen Philosophiegeschichte bei. Gleichwohl wurde ihr die Habilitation gleich vier Mal verweigert. Ihre Habilitationsschrift, in der sie sich auf brillante Weise mit Thomas von Aquin, Husserl und Martin Heidegger auseinandersetzt, konnte erst post mortem nach dem Krieg veröffentlicht werden. Ihre Suche nach dem Sinn des Seins, ihr starker Wille, ihr Engagement für Philosophie und Frauenrechte können uns heute als Blaupause dienen, den eigenen Weg, trotz enormer Widerstände, weiter zu verfolgen. 

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Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: akg-images

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-27555-6V003

www.koesel.de

»Gott ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht.«

Buch der 24 Philosophen, XXI. These

»So wird der Sinn der Welt als der Sinn entschlüsselt, den ich der Welt gebe, aber dieser Sinn wird als objektiver erlebt, ich entdecke ihn, sonst wäre er nicht der Sinn, den die Welt für mich hat.«

François Lyotard Die Phänomenologie

»Jedenfalls ist das Leben viel zu kompliziert, als dass man ihm mit einem so klug durchdachten Weltverbesserungsplan zu Leibe rücken und ihm nun endgültig und eindeutig vorschreiben könnte, wie es zu gehen hat.«

Edith Stein

Inhaltsverzeichnis

1. »Bei ›Fräulein Stein‹ muss ich mir überlegen, was das für ein Ding ist.«

2. Ur-Szenen

3. Edith im Kosmos der Familie

4. Pflock und Meer

5. Die Suffragette

6. Der Aufbruch

7. Eine Spanne Jugend

8. Die phänomenologische Wende

9. In Göttingen

10. Der Krieg

11. Studium und Kriegsdienst

12. Beim Meister

13. Von der Philosophie in die Politik

14. Die Ankunft

15. Abschied von der Wissenschaft?

16. Die große Entdeckung

17. Abschied von der Mutter

18. Aus der Welt in die Welt

19. »Komm, wir gehen für unser Volk«

20. Nachwort

Literaturangaben,Sigle,Anmerkungen

1.

»Bei ›Fräulein Stein‹ muss ich mirüberlegen, was das für ein Ding ist.«

»Je länger dieser Sommer 1933 dauerte, umso unwirklicher wurde alles. Die Dinge verloren mehr und mehr ihr volles Gewicht, verwandelten sich in skurrile Träume…«1, schrieb Sebastian Haffner 1938 im Rückblick. Es war der Sommer, in dem Edith Stein, sechzehn Jahre älter als Haffner, aber nicht weniger preußisch als er, das letzte Mal ihre Heimat und ihre Mutter besuchte. Aus Sicht Edith Steins war es vor allem ihr letzter Sommer als Edith Stein. Es ist das Jahr, in dem sich das Schicksal Deutschlands, aber auch Edith Steins Bestimmung entscheiden sollte.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die große Transformation, die von den Nationalsozialisten angestrebt wurde, nannten sie pompös nationale oder nationalsozialistische Revolution. Doch das falsche Pathos und der Begriffsbombast übertönte nur die Zerstörung der Kultur, erwies sich bei näherem Hinhören nur als Tosen der Wellen des Irrationalismus, wie sie von Zeit zu Zeit in der Geschichte die menschliche Vernunft unter sich begraben. Diese tiefgreifenden, radikalen Veränderungen zwangen auch Edith Stein, Lebensentscheidungen zu treffen. Was sich vor ihren Augen ereignete, war kein schlichter Regierungswechsel, sondern der 1918 eingeleitete und sich nun vollziehende Zusammenbruch der Kultur und der Gesellschaft in Deutschland.

Durch das Ermächtigungsgesetz, dem auch das katholische Zentrum zustimmte, wurde Hitler zu einem scheindemokratischen Diktator, die Schlägerbanden der SA zur Hilfspolizei gemacht, der Terror gegen Andersdenkende eröffnet und die Juden diskriminiert und an Leib und Leben bedroht. Deutschland versank in einem Paroxysmus des Hasses. Am 1. April 1933 organisierten die Nationalsozialisten den ersten Boykott jüdischer Geschäfte, wenig später wurde Unrecht unter dem demagogischen Titel »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« kodifiziert, das unter anderem vorschrieb, jüdische Beamte, sofern sie nicht Kriegsteilnehmer waren, in den sofortigen Ruhestand zu versetzen. Als Edith Steins erster Philosophielehrer, Richard Hönigswald, inzwischen weithin geschätzter Ordinarius in München, aufgrund dieses Gesetzes, wie es euphemistisch hieß, in »den Ruhestand versetzt« werden sollte, protestieren seine Kollegen der Philosophischen Fakultät I, außerdem 13 ordentliche Professoren verschiedener Universitäten, zudem zwei italienische Gelehrte, deren einer der ehemalige faschistische Erziehungsminister Italiens Giovanni Gentile war. Erst drei Negativgutachten, eines von ihnen wurde von Martin Heidegger verfasst, gaben der verunsicherten bayerischen Staatsregierung die Grundlage zur Abberufung Hönigswalds. Heidegger, der Edith Stein in der Assistenz Husserls 1918 nachgefolgt war, denunzierte den Kollegen: »Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes Bewusstsein überhaupt und dieses schliesslich verdünnt zu einer allgemein logischen Weltvernunft. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut … Es kommt aber hinzu, dass nun gerade Hönigswald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht. Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaftlichkeit erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat. Ich muss auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen, der nur darin seine Erklärung findet, dass das katholische System solche Leute, die scheinbar weltanschaulich indifferent sind, mit Vorliebe bevorzugt, weil sie gegenüber den eigenen Bestrebungen ungefährlich und in der bekannten Weise ›objektiv-liberal‹ sind.«2 Nicht nur, dass Heidegger den Katholizismus als seine Herkunft denunzierte, der Philosoph argumentierte im Grunde wie diejenigen, die den Philosophen Sokrates, der angeblich die Jugend verdarb, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt hatten. Für seinen Lehrer Edmund Husserl tat der Rektor Heidegger nichts, auch ignorierte er ihn nach 1933, da Husserl jüdischer Herkunft war. Nicht nur für Edmund Husserl begann 1933 die Zeit der Isolation, der Ausgrenzung, der Herabwürdigung. Auch der erfolgreiche Holzhandel der Mutter seiner ehemaligen Assistentin wurde durch Boykott ruiniert und in ihrem großen Haus standen Wohnungen leer, für die Auguste Stein keinen Mieter fand. In einem Brief an die Freundin Hedwig Conrad-Martius schrieb Edith Stein am 5. April 1933 die bedrückenden Worte: »Meine Lieben in Breslau sind natürlich sehr erregt und bedrückt. An unserem Geschäft macht es leider seit langem keinen Unterschied, ob es geöffnet ist oder nicht. Auch mein Schwager erwartet täglich seine Entlassung (Oberarzt an der Universitätshautklinik). Kuznitzky hat seine Stellung als Chef der Hautstation eines städtischen Krankenhauses bereits verloren. Jeder Brief enthält neue schlimme Nachrichten.«3 Die Verhältnisse in Deutschland verdüsterten sich.

Der komplette Zusammenbruch der Kultur, des Rechts und der Demokratie vollzog sich gründlich und so schnell, weil die Staatsorgane zuvor ihre Legitimität selbst infrage gestellt hatten. Das böse Wort von der Honoratiorenrepublik machte die Runde. Vor dem Hintergrund der als alte, ergraute, dekadente Honoratiorenrepublik geschmähten Republik vermarkteten sich die Nationalsozialisten geschickt als revolutionär, modern, dynamisch, jung, als Hoffnung und Aufbruch und vor allem als diejenigen, die Deutschlands Demütigung beenden werden. Eine Regierung kann zwar gestürzt werden, aber niemand vermag die Organe des Staates zu delegitimieren – außer die Organe des Staates selbst. Grundlegende Veränderungen in Verfassung und Wesen des Staates treten nur ein, wenn zuvor die Organe des Staates sich selbst delegitimiert haben, wenn in der Hauptsache zwei äußerst komplexe und häufig ineinander verschränkte Prozesse stattfinden: Den Organen des Staates, wozu in der Demokratie Parlament, Regierung und Justiz zählen, misslingt erstens der Interessenausgleich zwischen wesentlichen Gruppen der Gesellschaft und zweitens die Staatsorgane setzen ihre eigene Legitimität außer Kraft, indem sie das Recht nicht mehr achten, aus dem sie ihre Vollmacht herleiten. Das alles ereignete sich zwischen 1929 und 1933, in der Notverordnungszeit in Deutschland, die eingeleitet wurde durch die famose Idee der SPD, ihren eigenen Reichskanzler zu demontieren. Es ist – aus welchen Gründen auch immer – zuallererst die Regierung, die den common sense praktisch aufkündigt und gewollt oder ungewollt signalisiert, dass nun alles möglich ist. Ab diesem Zeitpunkt ist dann auch alles möglich.

Nach dem Preußenschlag, dem Schlag gegen den Föderalismus, der in Deutschland traditionell zur Gewaltenteilung gehört, der Entmachtung der demokratisch gewählten Regierung des Landes Preußen durch den Reichspräsidenten per Notverordnung am 20. Juli 1932, durch den die legale Regierung des Freistaates Preußen durch den Reichskanzler Franz von Papen (Zentrum) als Reichskommissar ersetzt wurde, und überhaupt nach drei Jahren Notverordnungen war die Zeit 1933 für das Ermächtigungsgesetz reif. Ab dem 30. Januar 1933 wurde dann sukzessive und mit erstaunlich schnellem Tempo die Republik aufgelöst. Der Zeitzeuge Curzio Malaparte schrieb schon 1932 in seinem hellsichtigen Buch Technik des Staatsstreiches, dass für Hitler die »Eroberung des Staates … nur durch die Eroberung des Reichstages vorstellbar« ist4, weil er weiß, dass »er sich auf diese Weise Sympathien immer größerer Wählermassen sichert und für sein politisches Programm die Zustimmung der großen Mehrheit des Kleinbürgertums gewinnt, die er braucht, um die gefährliche Rolle des Catilina aufzugeben und die ungefährliche eines plebiszitären Diktators zu übernehmen.«5 Das erinnert an den Ausspruch, der Wladimir Lenin zugeschrieben wird: »Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!« Malaparte vermutete, dass die Erringung politischer Macht in Deutschland nur über die Gewinnung des juste milieus erfolgt. Alles hatte ordentlich zu geschehen, auch das Ende der Ordnung. Die Figur des »plebiszitären Diktators« ist eine interessante, besonders in Deutschland beliebte, politische Figur. Malaparte wagte 1931 einen Blick in die Zukunft, der sich bestätigen sollte: »Wie alle Diktatoren liebt Hitler nur die, die er verachten kann. Sein Ehrgeiz ist, eines Tages das ganze deutsche Volk im Namen der Freiheit, des Ruhms und der Macht Deutschlands zu verderben, demütigen und knechten zu können.«6 Wie schleichend der Vorgang in den beginnenden Dreißigerjahren, wie der vollständige Zusammenbruch sowohl der politischen Linken, als auch des bürgerlichen Lagers vor sich ging, schilderte der junge Raimund Pretzel 1938 im Rückblick im englischen Exil. Der Journalist, der unter dem Pseudonym Sebastian Haffner berühmt werden sollte, schrieb in seinem posthum veröffentlichen Buch Geschichte eines Deutschen: »Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: der Semi-Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur. Wer sich der Mühe unterziehen würde, die Regierungszeit Brünings eingehend zu studieren, würde hier schon alle die Elemente vorgebildet finden, die diese Regierungsweise im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen machen, was sie eigentlich bekämpfen soll: die Entmutigung der eigenen Anhänger; die Aushöhlung der eigenen Position; die Gewöhnung an die Unfreiheit; die ideelle Wehrlosigkeit gegen die feindliche Propaganda; die Abgabe der Initiative an den Gegner; und schließlich das Versagen in dem Augenblick, wo alles sich zu einer nackten Machtfrage zuspitzt.«7 »Was es nicht mehr gab, war Lebensfreude, Liebenswürdigkeit, Harmlosigkeit, Wohlwollen, Verständnis, Gutwilligkeit, Großzügigkeit und Humor. Es gab auch kaum mehr gute Bücher, und sicher keine Leute mehr, die sich dafür interessierten. Die Luft in Deutschland war rapide stickig geworden.«8 Für die Juden jedoch war die »Luft in Deutschland« nicht nur stickig, sondern vergiftet. Haffner hatte den teuflischen Trick beschrieben, mit dem die Nationalsozialisten die »Judenfrage« zum Thema machten – und damit die Diskussion des eigentlichen Themas, die Kriminalität des Antisemitismus, verhinderten: »Ein Trick, der den Nazis seither auch in vielen anderen ›Fragen‹ und in internationalem Maßstab geglückt ist: Indem sie irgend jemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, dass nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d.h. in Frage gestellt wurde. Jeder fühlte sich auf einmal berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum besten zu geben.«9

In dieser albtraumhaften Situation reiste Edith Stein im Sommer 1933 nach Breslau, um ihre Familie über ihren weiteren Lebensweg in Kenntnis zu setzen und im gewissen Sinn Abschied zu nehmen. Stärkung in ihrem Entschluss bedurfte Edith Stein nicht, dazu war sie sich nur zu sicher, welche Wendung sie ihrem Schicksal verleihen würde, aber um die große Entschiedenheit, ihn umzusetzen, rang sie, wozu vor allem und zuallererst gehörte, ihre Familie, vor allem ihre Mutter über die völlige Veränderung ihres Lebens zu informieren. Fast schon auf dem Weg nach Breslau schrieb sie daher der Oberin des Ursulinenklosters in Dorsten, Petra Agnes Brüning, in deren Kloster sie das Weihnachtsfest 1932 verlebt hatte und der sie seitdem freundschaftlich verbunden blieb: »Meine Mutter beginnt zu ahnen und zu fürchten. Ich empfehle dies dringlichste Anliegen erneut Ihrem Gebet.«10 Im Juni hatte sie bereits der Dominikanerin Callista Kopf, die sie seinerzeit in Sankt Magdalena auf das Abitur vorbereitet hatte und die inzwischen in München studierte, geschrieben: »Es kommt dafür etwas viel Schöneres. Was, das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ich bitte Sie aber, die nächsten Wochen und Monate besonders für mich zu beten und auch für meine Angehörigen, vor allem für meine Mutter.«11 Seitdem sie den Entschluss gefasst hatte, schwebte sie in der frohen, fast naiven, kindlichen Erwartung eines neuen Lebens – und den Schmerzen des Abschieds. Nur wenige Vertraute wussten, worum es sich handelte, wozu sich Edith Stein durchgerungen hatte, doch bat sie diese um strengste Diskretion, anderen machte sie, wie Callista Kopf, Andeutungen. Sie ersuchte sie, ohne ihr den Grund zu nennen, »in den nächsten Wochen und Monaten ganz besonders für mich zu beten«12. Der Hilfe ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius, die eingeweiht war, versicherte sie sich noch einmal im Brief: »Und über die schweren Monate in Breslau werden Sie mir mit ihrem Gebet helfen, nicht wahr.«13 Das alles klingt sowohl nach Entschlossenheit, aber auch nach dem Wissen darum, dass sie denen, die sie am meisten liebte, die größte Pein in noch dazu bedrängter Zeit zumuten würde, an erster und schlimmster Stelle der dreiundachtzigjährigen Mutter. Die Umsetzung ihres Entschlusses erforderte eine geradezu rabiate Rücksichtslosigkeit, die ihr eigentlich fremd war. Andererseits folgte sie stets dem, was sie für richtig erkannt hatte, kompromisslos. Hatte Christus nicht gesagt: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert … Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.« (Mt 10,37–38)? Dankbar hatte sie inmitten dieser Gefühlsstürme deshalb auch die Einladung ihres »Patenkindes« angenommen, das Hochfest »Assumptio Beatae Mariae Virginis« (Aufnahme der seligen Jungfrau Maria oder Maria Himmelfahrt) am 15. August 1933 in der bedeutenden Benediktinerabtei Maria Laach zu feiern, versprach doch diese Feier an diesem spirituell bedeutsamen Ort Erbauung und innere Sammlung im Gebet. Bei dem Patenkind handelte es sich um Hedwig Spiegel, die sich vierzehn Tage zuvor, und zwar am 1. August 1933, als Erwachsene im Kapitelzimmer des Kölner Doms hatte katholisch taufen lassen, wofür Edith Stein Patin stand. Bei Hedwig Spiegel in Köln-Lindenthal unweit des Karmeliterklosters übernachtete Edith Stein in jenen Jahren, wenn sie Köln besuchte.

Das Bild des Christus in der Ostapsis der Abteikirche von Maria Laach, in dessen Gesichtszüge sich die Erfahrungen des Menschenlebens, der Nöte und der Sorgen und des Verständnis für die Schwachheit des Menschen, seine unausweichliche Sündhaftigkeit eingezeichnet hatten, dürfte Edith Stein beim Eintritt durch das Westportal zunächst erschüttert und dann zuversichtlich gestimmt haben. Das Christus-Mosaik aus der Beuroner Schule, das seinerzeit von Kaiser Wilhelm II. gestiftet worden war, beherrscht den Altarraum und auch das Kirchenschiff, weil der Christus der neuen liturgischen Bewegung mit den ausgebreiteten Armen alle, die eintraten, aufnahm. Während die rechte Hand segnete, hielt die linke Hand ein aufgeschlagenes Buch, in dem weithin die Worte aus Johannes 14,6 zu lesen waren: »Ego sum via et veritas et vita«, also: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«.14 Und Edith Stein – versiert im Katholizismus und in der lateinischen Sprache – wusste, dass der Text weiter lautete: »… nemo venit ad Patrem nisi per me«, »niemand kommt zum Vater außer durch mich«. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die fromm im jüdischen Glauben lebte, führte sie der Weg zu Gott nicht einfach zu Gott, sondern nur über Christus. Man hätte diesen Christus, der so sehr auch Mensch war, für den Philosophieprofessor aller Philosophieprofessoren, für den Meister alle Meister halten können, für die Wahrheit an und für sich und für uns. Nach Wahrheit glaubte sie, wie nach nichts anderem auf der Welt zu suchen, nur lässt sich nicht sagen, ob sie mehr noch als nach der Wahrheit sich nach Liebe umtat.

Von Maria Laach aus schrieb sie jedenfalls der befreundeten Dominikanerin Dr. Agnella Stadtmüller – vielleicht im Klostergarten, dessen Foto die Postkarte zierte, oder im Atrium, Paradies genannt: »Pax! Liebe Schwester, mein Patenkind schenkt mir dieses herrliche Fest in Maria Laach. Heute Abend fahre ich nach Breslau weiter.«15 Das klingt nach einem neuen Kapitel, nach einem neuen Akt.

Die Bahnfahrt jedenfalls ging quer durch Deutschland und durch die Nacht. Sie liebte es, den Nachtzug zu nehmen, um Zeit zu sparen. Anderntags, am 16. August, kam sie in ihrer Geburtsstadt Breslau an. Entschlossen und mit Bangen näherte sie sich dem Haus in der Michaelisstraße 38. Doch zunächst holte sie ihre acht Jahre ältere Schwester Rosa, die den Haushalt führte, vom Breslauer Bahnhof ab, der sie sich anvertrauten konnte, weil sie wusste, dass Rosa »innerlich längst zur Kirche gehörte«16. Dennoch überraschte der Entschluss in seiner Endgültigkeit sogar Rosa. Die Schwestern vereinbarten strengstes Stillschweigen, denn Edith muss unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Mutter von einem Dritten von der Entscheidung ihrer Tochter erfuhr.

Seit dem die junge Studentin 1913 zum Studium von der Friedrich Wilhelms Universität zu Breslau an die Georg-August-Universität nach Göttingen gewechselt war, weilte sie eigentlich nur noch zu Besuch, zu längerem oder kürzerem Aufenthalt im Haus ihrer Mutter, im Anwesen der Steins, einem prächtigen, stuckverkleideten Gebäude mit drei Etagen und einem von einem schmiedeeisernen Zaun eingehegten Gärtchen, ein komfortables Gebäude, das eigentlich in einer Arbeitergegend lag und so durch seinen soliden Prunk inmitten der schlichteren Häuser herausstach. Seit dem Wechsel des Studienortes lebte Edith Stein in Göttingen, in Freiburg, in Speyer, in Münster und in Köln. Doch dieser Besuch würde der schwerste sein, viel schwerer noch als der im Jahr 1921, als sie ihrer Mutter eröffnete, aus dem Judentum zum Katholizismus konvertiert zu sein. Für Auguste Stein, der unumschränkten Herrin des Familienclans und frommen Jüdin war es ein harter Schlag, dass ausgerechnet ihre Lieblingstochter, auf die sie doch immer wegen ihrer Gelehrsamkeit so stolz war, mit der jüdischen Religion brach. Doch die Wogen glätteten sich mit der Zeit, man sprach nicht mehr darüber, das Leben ging schließlich weiter und es änderte sich im Verkehr zwischen Mutter und Tochter letztlich nichts.

Diesmal jedoch standen die Dinge vollkommen anders. Edith Stein hatte sich im Lauf des Jahres 1933 dazu entschlossen, Karmelitin zu werden und in den Kölner Karmel einzutreten. Seit dem 30. April 1933 stand der Entschluss für sie fest. Sie hatte am Abend dieses Tages ihrem geistlichen Führer, dem Erzabt von Beuron Raphael Walzer OSB, geschrieben und ihn um seine Zustimmung gebeten. Einer früheren Schülerin und späteren Lehrerin am Seminar von Sankt Magdalena in Speyer teilte sie am 7. Mai 1933 geheimnisvoll zwar, jedoch voll konkreter Gewissheit mit: »Der Herr weiß, was er mit mir vorhat.«17

Mit der Gemeinschaft der Unbeschuhten Karmelitinnen (Ordo Carmelitarum Discalceatorum) hatte sich Edith Stein eine der strengsten und asketischsten Gemeinschaften ausgesucht. Die Karmeliten führen sich auf den Propheten des Alten Testaments, Elia, zurück, der auf dem Berg Karmel in der Nähe von Haifa mit seinen Schülern im 9. Jahrhundert vor Christus gelebt und unablässig Gott gesucht haben soll. Nach jüdischer Tradition starb Elia nicht, sondern wurde lediglich zu Gott entrückt und wird am Ende der Zeiten zurückkehren. So heißt es im Buch Maleachi (Mal 3, 21–25): »Und ihr werdet die Ungesetzlichen zertreten, denn sie werden Staub unter euren Füßen sein an dem Tag, den ich schaffen werde, spricht der Herr, der Allesherrscher. Und siehe, ich sende euch Elia den Thesbiter, ehe der große und leuchtende Tag kommt, der wiederherstellen wird das Herz des Vaters für den Sohn und das Herz des Menschen für seinen Nächsten, auf das ich nicht komme und die Erde völlig zerschlage.« Die Juden stellen noch heute am Pessach-Fest einen gefüllten Becher für Elia auf den Tisch, damit er zurückkehre und die Erlösung bringe. Von Elia ist der Satz überliefert: »Der Herr der Heerscharen lebt, Gott Israels, und ich stehe vor seinem Angesicht« (1. Kön 17,1). Es ist zumindest nachdenkenswert, dass sich Edith Stein nicht einen Orden aussuchte, der sich auf die eine oder andere Weise mit einem christlichen Heiligen verband, sondern den Orden, der sich auf einen alttestamentarischen Propheten zurückführte, eines mystischen Gottessuchers. Elia ist vielleicht wie kein zweiter eine Brücke zwischen Judentum und Christentum. In frühchristlicher Zeit siedelten sich Eremiten auf dem Berg an. Während der Kreuzzüge bevölkerten im späten 12. Jahrhundert religiöse Schwärmer aus den christlichen Ländern Europas unter Führung des französischen Kreuzfahrers Berthold den Karmel, die in der Nachfolge Christi strenge Askese in größter Armut hielten. Große Bedeutung für die Spiritualität der Karmeliter besitzt die Jungfrau Maria. »Eine marianische Kirche, deren Fundamente von den Eremiten gefunden wurden, war für sie (die Kreuzfahrer – der Verf.) der äußere Anlass, sich ausdrücklich an Maria zu orientieren. Von ihr aus konnten sie erkennen, wie es möglich ist, sich ganz der Wirklichkeit Gottes zu öffnen und in ewiger Einheit mit Ihm zu leben. Sie sahen in Maria ihre ›Schutzpatronin‹, die erste in ihren Reihen; sie nannten sie ›Schwester‹, nannten sich bald ›Brüder Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel‹ und erzählten sich gegenseitig die Legende, dass Maria nach Pfingsten auf den Karmel gehetzt und in ihren Orden eingetreten sei. Wie Maria und mit Maria in Gott zu IHNEN findet – das ist das grundlegende Merkmal der karmelitischen Spiritualität.«18

Die Mönchsregel wurde von dem Patriarchen von Jerusalem, Albert, formuliert und von Papst Honorius III. 1226 approbiert. Unter der monarchischen Leitung des Abtes waren die Mönche verpflichtet, in getrennten Zellen in Gehorsam, Keuschheit, Armut, im Schweigen, im Gebet und im Fasten zu leben. Untereinander trafen sie sich nur zu den Messen und den wöchentlichen Schuldkapiteln.19 In der Mönchsregel hieß es: »Jeder einzelne soll in seiner Zelle oder in ihrer Nähe bleiben, Tag und Nacht das Wort des Herrn meditierend und im Gebet wachend, es sei denn, er ist mit anderen, wohlbegründeten Tätigkeiten beschäftigt.«20 Reformiert und zu neuer Observanz geführt wurde der Orden in Spanien durch Teresa von Ávila und ihrem Schüler Johannes vom Kreuz. Fortan teilte sich der Orden in eine gemäßigte und eine observante Richtung, in die beschuhten und die unbeschuhten Karmeliter. In der Praxis hieß das für Edith Stein, die sich für die observante, für die strenge Richtung entschieden hatte, dass jeder Kontakt mit der Außenwelt durch die Oberin kontrolliert, dass Briefe von ihr und an sie gelesen wurden und dass sie das Kloster nicht verlassen durfte. Jede Entscheidung über sich hatte sie der Mutter Oberin vorzulegen. Besuche wurden nur im Sprechzimmer empfangen und reden durfte sie mit ihren Besuchern nur durch ein Gitter.

Grosso modo bedeutete die Entscheidung für diesen Orden den endgültigen Abschied von ihrer Familie. In einem der letzten Briefe an Roman Ingarden im Mai 1934 erklärt sie dem früheren Freund apodiktisch: »Es ist nun 3 Wochen her, dass für Edith Stein das Sterbeglöckchen geläutet hat. Statt dessen gibt es jetzt die Schwester Teresia Benedicta a Cruce. Das ist etwas lang für den täglichen Gebrauch, und so wird sie gewöhnlich Schwester Benedicta genannt. Sie trägt einen braunen Habit und einen weißen Novizenschleier, bei feierlichen Chordienst einen weißen Mantel.«21 Sie wusste, dass der Freund aus Studientagen ihren Entschluss missbilligte, wie er bereits ihre Konversion kritisiert hatte. Noch durch das scherzhafte Reden über sich in der dritten Person wird die Unsicherheit ihm gegenüber und das Ringen um die eigene Mitte, um ihre neue Mitte deutlich. Noch ist sie nicht die Schwester Benedicta, noch ist Benedicta ein recht fremdes Ding, das sie bewegt, eine Schöpfung von ihr, eine Kunstfigur, die nur durch Spiritualität zum Leben erwacht. Dahinter steht der große mystische Gedanke, ganz leer zu werden, um Platz für Gott in sich zu schaffen. Sie musste werden, was sie war.

Da sich Roman Ingarden, der immer noch mit Edith Stein korrespondierte und sich als Philosoph nicht an den neuen Namen – und an alles, was damit im Zusammenhang stand –, gewöhnen wollte und konnte, sie weiterhin mit ›Fräulein Stein‹ ansprach, entgegnete sie ihm etwas unwillig: »Könnten Sie sich wohl entschließen, mich ›Schwester Benedicta‹ zu nennen, wie ich es jetzt gewöhnt bin? Bei ›Fräulein Stein‹ muss ich mir überlegen, was das für ein Ding ist.«22 Er konnte nicht. Der Briefwechsel endete. Nur ein Brief aus Anlass von Husserls Tod ist noch überliefert. Sie hatte selbst Roman Ingarden hinter sich gelassen, den Mann, den sie so aussichtslos geliebt hatte.

Doch noch war es nicht so weit. Noch war Edith Stein mit ihrer Schwerster Rosa auf dem Weg zum Haus in der Michaelisstraße, zu ihrer Mutter, zu ihrer großen Familie. Dorthin, wo ihre Geschichte begann. Genau genommen fing ihre Geschichte allerdings nicht in dem stattlichen Anwesen der Familie, sondern in einer sehr beengten Breslauer Mietswohnung in der Kohlenstraße an, in der sie als jüngstes Kind eines überschuldeten Holzhändlers geboren worden war, bevor der wirtschaftliche Erfolg des inzwischen von ihrer Mutter geführten Unternehmens den Erwerb des Hauses in der Michaelisstraße und den Umzug ermöglichte.

Edith Stein würde mit ihrem Beschluss nicht mit der Tür ins Haus fallen, darin war sie sich sicher. Die 83-jährige Frau litt ohnehin schon unter dem Zusammenbruch von all dem, was ihr Leben ausmachte: unter dem Untergang bürgerlichen Lebens, den Demütigungen, den Herabsetzungen, dem Verlust von allem, was für sie in dem Wort Preußen zusammengefasst war. Bei allem, was sie in ihrem langen Leben erlebt hatte, ging es ihr nicht in den Sinn, dass es »so schlechte Menschen geben könne«.23 Etwas für die Matriarchin Schwerwiegendes kam dann auch noch hinzu. Ihre Tochter Erna, Frauenärztin, unterhielt im Pattere ihre Praxis, doch da Juden keine »Arier« behandeln durften, blieben nun die Patienten aus. Ihre und auch Ediths Freundin aus Studientagen, Lilly Berg-Platau, wanderte mit ihrem Mann und ihren Familie nach Palästina aus. Da sie in einem vornehmlich von Juden bewohnten Viertel lebte, übernahm Erna Wohnung, Praxis und den jüdischen Patientenstamm von Lilly und zog mit der Familie und der Praxis aus dem Stein’schen Anwesen aus. Das allein schon war für die alte Matriarchin ein schwerer Schlag.

Edith würde zuerst mit ihrer Lieblingsschwester Erna sprechen, dann würde sie, um sich ihrer Mutter zu offenbaren, eine günstige Situation abpassen, doch zuvor würde sie ein Projekt verfolgen, das angesichts der politischen Umstände für sie an Bedeutung gewann. Es galt eine Welt festzuhalten, die zerstört werden sollte, die Welt der preußischen Juden, die genauso sehr Preußen wie Juden waren. Bereits vor Jahren hatte ein Ordensmann und Priester Edith Stein im Gespräch dazu aufgefordert, aufzuschreiben, was sie als »Kind einer jüdischen Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt« hatte, weil »Außenstehende so wenig über diese Tatsachen wüssten«.24 Sie hatte diese Anregung zwar positiv aufgenommen, auch in ihrem Herzen verwahrt, allein es gab immer Wichtigeres zu tun, als sich einem so privaten Projekt zu widmen. Doch nun hatten die neuen Machthaber in ihrem Bestreben, alles und jeden gleichzuschalten, begonnen, in das privateste Refugium des Einzelnen mit grellem Scheinwerfer hineinzuleuchten, weil sie wussten, dass eben das Private das Residuum und der Quell der Freiheit ist. Deshalb hatten sie das Private vergemeinschaftet und zur politischen Tatsache erklärt. Und über das Politische entschied die Partei oder der in ihren Diensten stehende Staat. Die totale Indoktrination begann bei der Jugend, deshalb blickte sie in ihrem Vorwort besonders auf die Jugend, die »heute von frühester Kindheit an im Rassenhass erzogen wird« und von jeder Information über die Wirklichkeit jüdischen Lebens »abgeschnitten« wird.25 Hitler formulierte später, im Jahr 1938 in Reichenberg wie zur Bestätigung, seine Vorstellung von der totalen Überwachung und Indoktrination der Jugend: »Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben und Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.«26

Vom Standpunkt der Freiheit der Bürger, ihrer Freiheitsrechte als Menschen hingegen hat der Staat nicht über die Religion seiner Bürger zu entscheiden, er hat sie auch nicht nach Kriterien des Geschlechts, der Sexualität, des Alters oder der Ethnie einzuteilen. Ganz anders totalitäre Herrschaft, zu deren Bedingtheit dieserart Einteilungsrechte gehören. Der große Satz, den man in Preußen verinnerlicht und den Friedrich der Große geäußert hatte, lautete: »Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.« Und Lessing ließ seinen Nathan im gleichnamigen Stück sagen:

»Es eifre jeder seiner unbestochnen

Von Vorurteilen freien Liebe nach!«.27

Doch die Zeit der Bürgerlichkeit, der Freiheit und der Toleranz endete abrupt mit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten. »Die letzten Monate haben die deutschen Juden aus der ruhigen Selbstverständlichkeit des Daseins herausgerissen«28, resümierte Edith Stein in Breslau. Noch von außen beschrieb sie im sachlichen Ton, dem man aber die Erregung in seiner ganzen Unterkühltheit anmerkt, dass die deutschen Juden dadurch »gezwungen worden« wären, »über sich selbst, ihr Wesen und ihr Schicksal, nachzudenken«. Die Zeitereignisse hätten die »Judenfrage« vielen aufgedrängt, auch denen, die »jenseits der Parteien« standen. Die Grammatik der Sätze ist verstörend, in ihrem passivischen und zugleich zwingenden Duktus verraten sie sowohl eine Unausweichlichkeit als auch eine komplizierte Zugehörigkeit, ein Dazugehören und doch nicht Dazugehören, von der Herkunft noch, von der Religion nicht mehr.

Viele deutsche Juden, zumal in Preußen, verstanden sich als Deutsche, viele hatten die jüdische Religion abgelegt – und waren in Preußen oftmals Protestanten geworden, zumal seit Immanuel Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft der Protestantismus als Vernunftsreligion gelten durfte – und für diejenigen, die weniger Ratio und mehr Emotio wünschten, stand Friedrich Schleiermachers Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern zur Verfügung. Mit dieser kantianischen Konsequenz des Protestantismus und ihrer Hinwendung zum Thomismus hängt nicht zuletzt die Konversion Edith Steins in den Katholizismus, statt in den Protestantismus zusammen, zu dem ihr Lehrer Husserl übergetreten war. Denn Edith Steins spirituelle Entwicklung ist von ihrer philosophischen stark beeinflusst.

Dass sich die Juden als Deutsche sahen, viele von ihnen die Religion für eine Privatsache hielten, sich assimilierten und so viel zur deutschen Kultur beitrugen, sie zu einem Gutteil erst »deutsch« machten, wurde nun mit einem Mal sogar staatlich infrage gestellt, von einem Staat freilich, der nach einem Wort von Augustinus zu einer »großen Räuberbande« wurde. In der heraufziehenden Zeit der Verfolgung besannen sich nolens volens die Juden auf ihre Religion, auf ihre Bräuche. Edith Steins Nichte, Susanne M. Batzdorff, »Susel« genannt, 1933 zwölf Jahre alt, erinnerte sich Jahrzehnte später: »Selbst diejenigen Juden, die sich früher ihres Judentums kaum bewusst gewesen waren, klammerten sich nun aneinander, um Stärke und Trost im Zusammenhalt mit ihren Leidensgefährten zu finden.«29

In dieser Situation hoffte Edith Stein, dass »in allen Schichten des deutschen Volkes« sich Menschen finden, die aufgrund persönlicher Erfahrungen als Angestellte, als Nachbarn, als Schul- und Studiengefährten sich dagegen empören, die Juden zu einem »Pariadasein verurteilt« zu sehen.30 Weil aber vielen anderen diese Erfahrungen fehlen und die Jugend »von frühester Kindheit an im Rassenhass erzogen wird«, sah sie es als die Verpflichtung derjenigen an, die im Judentum groß geworden waren, Zeugnis abzulegen. Weder hatte sie vor, eine Apologie des Judentums zu verfassen, noch die Idee des Judentums gegen ihre Verfälscher zu verteidigen, noch den Gehalt der jüdischen Religion und die jüdische Geschichte darzulegen, ihr ging es darum, die persönlichen Erfahrungen, das Private, das Menschliche aufzurufen und allen vor Augen zu führen, dem Versuch der Nationalsozialisten, jüdischen Menschen die Würde zu nehmen und sie zu entmenschlichen, dadurch zu begegnen, dass sie durch das Erzählen der Geschichte ihrer Familie Juden als das darstellte, was sie sind: Menschen, Väter, Mütter, Töchter und Söhne, Brüder und Schwestern, Deutsche, Preußen.31

Da sie ihre Mutter, obwohl hoch in Jahren stehend, als gute Erzählerin kannte, hatte sie sich vorgenommen, die Zeit in Breslau zu nutzen, um sie zu befragen. In diesen Tagen entsteht der erste Teil ihrer Erinnerungen. Die Arbeit an dem Manuskript setzte Edith Stein im Kloster bis 1935 fort, doch dann brach die Arbeit ab. In der Geschichte ihrer Familie und ihres Lebens kam Edith Stein bis zum 4. August 1916, bis zum Tag nach dem Rigorosum. Der Historiker freut sich so sehr über jede Quelle, wie er gleichfalls heftig bedauert, dass ihm nicht mehr zur Verfügung steht. Doch wurden die Lebenserinnerungen von Edith Stein noch nicht gründlich genug, das heißt historisch-kritisch ausgewertet, wurde das Manuskript zu sehr als wahrheitsgemäßer Bericht und zu wenig in seiner Sprachform als Text analysiert, zu wenig die Situation, in der sich Edith Stein an Menschen und Ereignisse erinnert, zu wenig der Aspekt der Rechtfertigung in Rechnung gestellt, denn das Bild der Mutter gibt zum einen die beherrschende Stellung der Matriarchin im Familienkosmos der Steins wieder, zum andern antwortet das Bild der Mutter auf die grundlegende Erfahrung des im Rückblick verlorenen Paradieses und ist nicht zuletzt von den Schuldgefühlen der Tochter der Mutter gegenüber inspiriert.

Im Text sieht sich Edith Stein als Lieblingstochter der Mutter, deren Pläne von der Mutter, mochte sie auch auf noch so »brotlose« Künste zielen, immer großzügig unterstützt wurden. Dass ausgerechnet ihre »Lieblingstochter« ihr die schlimmste Enttäuschung bereitete und ihr den schlimmsten Schmerz zufügen würde, bekommt geradezu Züge einer griechischen Tragödie, weil die Protagonisten nicht anders handeln können, als sie handeln müssen. Der Konflikt ist unauflösbar und weit mehr als ein privater, er ist objektiv und aus Sicht der Verfasserin auch nicht mit gutem Willen zu beenden. Das galt es in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, mit der Mutter zu verarbeiten. Und Edith Stein arbeitete im Text unbewusst an der Bewältigung der Schuld, indem sie das Bild der Mutter überhöhte, sie zu einer Heiligen erhob. Die kompromisslose Suche nach der Wahrheit wurde zu einer Version der Wahrheit und die Version der Wahrheit hatte in eidetischer Reduktion die Gerechtigkeit eingeklammert. Sie interessierte sich nicht dafür, wie sich bestimmte Episoden aus anderer Perspektive darstellten, so wie sie auch keinen anderen Standpunkt einnahm, sondern den ihren zu vervollkommnen suchte. Wie viele, sehr selbstbewusst wirkende Menschen, besaß sie ein »Ich-Problem«, was sie gut versteckte, aber Teil, vielleicht sogar notwendiger Teil, ihrer – auch spirituellen – Begabung war.

Es mag Zufall sein, dass sie die Arbeit an der Stelle abbrach, an der langsam die Hinwendung zum katholischen Glauben, zur Konversion hin erzählt wurde. Genauso gut mochten aber auch textimmanente Gründe vorliegen, weil die Verfasserin spürte, dass sie in diesem Stil Kommendes nicht mehr darstellen können würde. Wie sollte auch der ursprüngliche Plan, »aufzuschreiben«, was sie als »Kind einer jüdischen Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt« hat, aufgehen, wenn ihre Erfahrungen im Verlassen des Judentums, in die Konversion münden würden? Unter der Hand wurde nämlich aus der Geschichte jüdischen Lebens die Geschichte Edith Steins. 1935 enden die Notizen, 1937 schrieb sie an Roman Ingarden, dass sie überlegen müsse, was das Fräulein Stein für ein Ding sei. Indem sie immer mehr zur Schwester Teresia Benedicta a Cruce wurde, erübrigte sich die Lebensbeschreibung von Edith Stein. Allenfalls als Geschichte einer Konversion war sie noch von Interesse. Deshalb nahm Edith Stein später ihre Lebensgeschichte als Geschichte einer Konversion wieder auf, diesmal aber als Philosophin und Karmelitin, und das sowohl in objektivierender als auch in höchst subjektiver Form, verarbeitet in ihrem philosophischen Hauptwerk Endliches und ewiges Sein. Ein Aufstieg zum Sinn von Sein, und – ebenfalls höchst subjektiv – in ihrem letzten Text unter dem Titel Kreuzeswissenschaft.

Es existiert aber noch ein zweiter Grund für den Abbruch, der auch erklärt, weshalb sie ihre Geschichte als philosophische Autobiografie in Endliches und ewiges Sein gleichsam im Genre transponierend und als sehr persönlich gehaltene Meditation über die Konversion in der Kreuzeswissenschaft fortsetzt: Sie benötigte Abstand als vollzogenen Abschied. Die Autobiografie beginnt mit einem in seiner Einfachheit und Offenheit genialen Satz: »Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist im Jahr 1815 geboren.« 1815 ist übrigens auch das Jahr, in dem Napoleon endgültig besiegt und nach Sankt Helena verbannt worden war. Entscheidend für den Ausgang der Schlacht bei Waterloo war übrigens das Eingreifen des Schlesiers Blücher. Drei Jahre zuvor, 1812, wurde den Juden in Preußen als Teil der Stein-Hardenberg’schen Reformen das volle Bürgerrecht zuerkannt. In diesem Jahr erhielten auch die Steins und die Courants das preußische Bürgerrecht. Salomon Courant wurde also schon als preußischer Bürger geboren. Der Text setzte aus verständlichen Gründen mit der Geburt des Vaters der Mutter und nicht mit der Geburt des Vaters des Vaters ein und stellte damit von Anfang an die genealogische Linie, die Herkunft klar.

Doch diese romanhafte, sehr epische Eröffnung wird nicht weitergeführt, sie verliert an Tempo, zählt auf, statt zu gestalten. Edith Stein wird sich in der Beschreibung ihrer Geschwister und deren Ehepartner nicht von der Sicht der Mutter freimachen. Mit ihr beginnt der Text, nicht mit ihrem Großvater, sondern mit dem »Vater meiner Mutter«. Die Mutter ist der Orientierungspunkt, der Polarstern des familiären Kosmos, einer Ordnung, die Edith Stein in ihrer Erzählung ausmalt, aber auch nicht die Risse und Brüche als stete Bedrohung des Kosmos verschweigt. Was aber im autobiografischen Manuskript fassbar wird, ist eine Grunderfahrung, die auch die Art des Bewertens und Philosophierens bestimmt, das Ideal der Ordnung, des Kosmos der Familie, und das Bewusstsein um die Gefährdung dieser Ordnung, die zu einem großen Teil aus der Ordnung selbst kommt. In dieser Sehnsucht nach einer unangefochtenen und sinnvollen Ordnung liegt auch ein Grund für die Konversion, aufzugehen in der sinnvollen Ordnung der Catholica im Allgemeinen, und im Besonderen für den Entschluss, im Kloster zu leben – und zwar in einer der strengsten Kongregationen.

Im Sommer 1933 liegen also in den nächsten Tagen und Wochen, bis zum 12. Oktober, zwei große Aufgaben vor Edith Stein: ihre Mutter zu interviewen, den Anfang der Geschichte ihrer Familie niederzuschreiben und von ihrer Mutter für immer Abschied zu nehmen, sich ihr nähern, um zu gehen, zu hören, um etwas mitzunehmen. Sie wird ihr erklären müssen, dass für die weltliche Person Edith Stein das »Sterbeglöckchen« klingen wird. Daran, dass Edith Stein beschlossen hatte, ihre bürgerliche Existenz als Edith Stein zu beenden, um ein neues, dem Herrn geweihtes Leben als Braut Christi, als Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz zu beginnen, mag abgesehen von der äußeren Situation auch der Wunsch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, sich der eigenen Geschichte zu stellen, um sie abschließen zu können.

Zufall oder nicht, ist es dennoch nicht unwichtig, dass Edith Stein ausgerechnet in der Zeit in Breslau weilt, in der das jüdische Neujahrsfest (20. bis 22. September 1933) und der höchste jüdische Feiertag, das Versöhnungsfest, der Yom Kippur (29. bis 30. September 1933) gefeiert werden, um ihrer frommen, jüdischen Mutter ihren Entschluss mitzuteilen.

2.

Ur-Szenen

Geboren wurde Edith Stein im Jahr 1891 nicht in dem komfortablen Haus in der Michaelisstraße, sondern in einer kleinen, äußerst beengten Mietwohnung in der Kohlenstraße, in der außer den Eltern acht Kinder Platz finden mussten. Das Jahr ihrer Geburt war auch das Jahr, in dem Thomas Alva Edison das Patent für den 35-mm-Film erhielt, im Deutschen Reich die Rentenversicherung eingeführt wurde, die Sozialdemokratie das Erfurter Programm annahm und Papst Leo X. die Sozialenzyklika Rerum novarum erließ. Außerdem erschien Selma Lagerlöffs erster Roman unter dem Titel Gösta Berling, 1909 verlieh die Schwedische Akademie ihr als erster Frau den Nobelpreis für Literatur. Im gleichen Jahr wie Edith Stein wurden der Dichter Johannes R. Becher, der Ökonom Walter Eucken und der sozialistische Theoretiker Antonio Gramsci, die Maler Max Ernst und Otto Dix geboren. Hugo Ball, dessen Buch Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, das nach seiner dadaistischen Periode entstand, für Edith Stein wichtig werden sollte, feierte in diesem Jahr seinen fünften Geburtstag, wie auch die Dichter Georg Heym und Franz Kafka ihren achten. Außerdem setzte die Rezeption des Werkes von Friedrich Nietzsche ein, der seit seinem Zusammenbruch am 3. Januar 1889 in Turin in geistiger Umnachtung lebte.

Auf den Tag ihrer Geburt, auf den 12. Oktober, fiel im Jahr 1891 der Yom Kippur, der ein beweglicher Feiertag ist und in diesem Jahr vom Sonntag, den 11. Oktober, bis zum Montag, den 12. Oktober, begangen wurde. Insofern konnte Edith Stein im wahrsten Sinne als Sonntagskind gelten, kam sie doch zum höchsten Fest der Juden, am Yom Kippur(Versöhnungsfest), auf die Welt. Ihre fromme Mutter hatte darin immer eine besondere Fügung gesehen.

Yom Kippur gilt als ein Tag vollständiger Ruhe, ein Tag der Versöhnung mit Gott und mit allen Mitmenschen, wozu Reue und Buße gehören. Das Jahr beginnt mit Rosch ha-Schana im Monat Tischri (September/Oktober). Dieses zweitägige Neujahrsfest stellt Besinnung, Rechenschaft und das Gebet für eine schöne Zukunft in den Mittelpunkt. Es leitet die Hohen Feiertage ein. In zehn Tagen der Buße und der Sühne denkt man über das alte Jahr nach, versucht, begangenes Unrecht wiedergutzumachen und nach Aussöhnung mit denjenigen zu suchen, mit denen man sich zerstritten oder die man nicht gut behandelt hat. Das fünfundzwanzigstündige Fasten im Anschluss daran dient der Reinigung von Körper und Geist und leitet zum Yom Kippur, dem Versöhnungsfest, hinüber.

Zum Neujahr wird nach jüdischem Glauben über die Menschen entschieden, die in drei Gruppen eingeteilt werden: die ganz Schlechten, die ganz Frommen und dazwischen die meisten Menschen, die weder ganz gut, noch ganz schlecht sind, sondern eben durchschnittlich. Das Urteil über die Schlechten und über die Frommen wird sofort gefällt, denn hier liegen die Dinge völlig klar und eindeutig. Aber die Entscheidungen hinsichtlich der Durchschnittsmenschen werden erst an Yom Kippur getroffen. »Im zentralen Gebet ›Unetane Tokef Keduschat Hajom (Wir wollen die Größe der Heiligkeit des Tages schildern)‹ wird der Tag des Gerichts mit endzeitlichen Motiven, wie dem großen Schofar beschrieben.«32 Das Schofar ist ein Blasinstrument, das aus dem gebogenen Horn eines Widders gefertigt wurde. Gott ist König und Richter und er öffnet das »Buch des Gedenkens«. Das Buch wird von selbst vorgelesen – die Taten der Menschen sprechen für sich selbst. »Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Versöhnungstag besiegelt, wie viele dahinscheiden sollen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben soll, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und wer umherirrt, wer frei von Sorgen und wer voll Schmerzen, wer hoch und wer niedrig, wer reich und wer arm sein soll. Doch Umkehr, Gebet und Wohltun wenden das böse Verhängnis ab.«33

Man kann sich vorstellen, mit welchen Sorgen, mit welchen Hoffnungen und Gebeten die Juden in Deutschland später in den Yom Kippur des Jahres 1933 gegangen sind, wie viele sich in dieser großen Not und Bedrängnis ihrer religiösen Wurzeln besannen. Klaus Samuel Davidowicz schreibt sehr eindringlich über den Yom Kippur: »Hier eröffnet sich dem Menschen eine große Chance: er hat die Zeit zur Umkehr zwischen Neujahr und Versöhnungstag. Umkehr bedeutet zunächst Erkenntnis der Sünde, also einer Überprüfung der Taten, Worte und auch der Gedanken. Dies sollte eigentlich zum Bekenntnis führen – gegenüber Gott oder einem Mitmenschen. ›Übertretungen zwischen einem Menschen und dem Allgegenwärtigen sühnt der Jom Kippur; Übertretungen zwischen einem Menschen und seinem Nächsten sühnt der Jom Kippur nicht, bis er seinen Nächsten besänftigt.‹ (Rosch Haschana 16b)«34 In dem frühen Traktat Bahodesh heißt es beispielsweise: »Wenn jemand ein Verbot übertritt und Umkehr übt, (dann) hat die Umkehr nicht die Kraft zu sühnen, doch schiebt die Umkehr (die Strafe) auf, und der Versöhnungstag sühnt.« Über diesen heißt es: »Denn an diesem Tag entsühnt man euch.«35

Edith Stein erblickte also an dem Tag der Vergebung und am Tag der Entsühnung das Licht der Welt, an dem Tag, an dem den Menschen vergeben wird. So mag es der frommen Mutter auch ein Zeichen der Hoffnung gewesen sein, dass ihre Tochter ausgerechnet an diesem Tag das Licht der Welt sah, das so hell für die Familie Stein nicht strahlte, denn der Holzhandel lief nicht gut und war völlig überschuldet. Dabei war dem Vater das Gewerbe nicht fremd. Siegfried Steins Mutter führte in Gleiwitz als Witwe den Holzhandel ihres Mannes weiter. Als der sechzehnjährige Siegfried Stein die neunjährige Auguste Courant kennenlernte, blieb er mit ihr in brieflicher Verbindung, auch seine Schwestern, offensichtlich wurde früh eine Ehe zwischen Siegfried und Auguste ins Auge gefasst. Ob ein Schadchen beteiligt war, ein jüdischer Heiratsvermittler, darüber schweigen die diskreten Aufzeichnungen der Tochter.

Salomon und Adelheid Courant, Augustes Eltern, hatten in dem schlesischen Ort Lublinitz einen kleinen Kolonialwarenladen eröffnet und mit viel Umsicht, Fleiß und Geschick in enger Zusammenarbeit das Geschäft wirtschaftlich nach oben gebracht. »Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam, die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt, ohne sie zu befragen, hätte Großvater nichts unternommen.«36 Auguste, die von allen nur »Gustel« genannt wurde, war das vierte von fünfzehn Kindern. Als sie das zwölfte Jahr erreichte, wurde sie aus der Schule genommen, um im Haushalt und im Laden zu helfen, während die Söhne der Familie nach Breslau aufs Gymnasium gingen und Kaufleute, Apotheker oder Chemiker wurden. Im jüdischen Religionsunterricht, der in der Schule gegeben wurde, hatte Auguste Stein auch etwas Hebräisch gelernt. Edith Stein berichtet: »Meine Mutter sagt, dass sie mit der größten Begeisterung diesem Unterricht beigewohnt habe. Es sei ihnen immer eingeprägt worden, dass sie jede Religion achten, niemals gegen eine fremde etwas sagen sollten.«37 Zwar hielt man die täglichen Schrift- und Talmudstudien, zu der jeder jüdische Mann eigentlich verpflichtet war, nicht mehr ein, doch die religiösen Vorschriften und Gebräuche wurden »auf strengste beobachtet«.38 Gern hätte Auguste weiter gelernt, doch die wirtschaftlichen Zwänge ließen das nicht zu, zumal für Mädchen, die im Haushalt zu helfen und eines Tages den Haushalt als Ehefrauen zu führen hatten. Geblieben ist eine tiefe Sehnsucht im Herzen nach und eine Hochachtung vor Bildung. Von klein auf war Auguste an Arbeit gewöhnt und strickte mit ihrer Schwester Selma um die Wette. Und so vereinten sich in Auguste Stein ein großer Fleiß, eine klare Vorstellung von der Ordnung der Welt, der Respekt vor Bildung und die Überzeugung, dass Frauen im Berufsleben nicht weniger fähig als Männer waren, dass auch sie über Durchsetzungsstärke und Geschick verfügen konnten. Mutter und Schwiegermutter lebten ihr nichts anderes vor. Das Haus und das Geschäft übernahmen der jüngste Sohn und zwei unverheiratete Schwestern, während Auguste Siegfried Stein heiratete. Das Haus in Lublinitz blieb – auch noch für Edith – der Mittelpunkt der Familie. Wie groß die familiäre Verbundenheit zur Linie der Mutter war, belegt Ediths Erinnerung: »Wir haben als Kinder die Namen dieser 15 Geschwister rhythmisch auswendig gelernt wie in der Religionsstunde die Namen der 12 Söhne Jakobs:

Bianca, Cilla, Jakob, Gustel,

Selma, Siege, Berthold, Mälchen,

David, Mika, Eugen, Emil,

Alfred, Clara, Emma.«39

Mit acht Jahren wurde Auguste nach auswärts geschickt, um einem Onkel, der in Not geraten war, zu helfen. Der geizige Onkel schätzte ihre Hilfe so sehr, dass er ihr ein Geschenk machte. »Mitten im Winter ging sie mit ihm (ihrem Onkel – der Verf.) zum Markt und kassierte das Geld ein, während er verkaufte. Es ist sehr charakteristisch, wie dieser Aufenthalt endete: der Onkel ließ sich im Ärger hinreißen, in hässlichen Ausdrücken von ihren Eltern zu sprechen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie lief heimlich davon und ließ sich von einem Lastwagen nach Hause mitnehmen.«40 Den starken Willen, die Unbeirrbarkeit hatte Edith von der Mutter geerbt.

Mit 21 Jahren wurde Auguste Courant die Ehefrau des 28-jährigen Siegfried Stein. Siegfrieds Schwester Julie beschrieb diesen Tag in ihren Erinnerungen: »Anfang August 1871 heiratete Bruder Siegfried die uns schon früher lieb gewordene Gustel, die als Nichte Onkel Heinrichs und Freundin von Emma und Tina oft in unserem Hause gewesen war und als Schwägerin von uns freudig begrüßt wurde.«41 Offensichtlich bestanden Beziehungen zwischen den Familien Stein und Courant, vielleicht sogar eine Verwandtschaft, wenn Heinrich nicht lediglich ein Nennonkel war. Die Hochzeit wurde, wie es üblich war, von den Eltern der Braut ausgerichtet, sodass die Familie Stein mit dem Pferdewagen von Gleiwitz nach Lublinitz reiste, immerhin eine Strecke von fast 60 Kilometern. Für die Familien Stein und Courant, die ihre preußische Staatsbürgerschaft in hohen Ehren hielten, war das Jahr 1871 überdies ein sehr besonderes Jahr.

Im historischen Rückblick hatte man den preußischen Militarismus gern als das Wesentliche an Preußen überbetont, und dabei die Verdienste, die sich Preußen im Rahmen der Toleranz und der Aufklärung erwarb, unterschätzt und übersehen, dass Preußen ein Vernunftsstaat war. Im engen Austausch mit den Aufklärern, mit Immanuel Kant, mit Friedrich Nicolai, mit Gotthold Ephraim Lessing, entwickelte sich die jüdische Aufklärung, die Haskala, durch das Wirken von Moses Mendelssohn und David Friedländer. Im Antimachiavell hatte der Kronprinz Friedrich, der spätere preußische König, 1740 geschrieben: »Es gibt kein Gefühl, das so untrennbar mit unserem Wesen verbunden ist, wie das der Freiheit … denn da wir alle ohne Ketten geboren werden, verlangen wir danach, ohne Zwang zu leben.«42 Schließlich unternahmen die preußischen Reformer um Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und dem Staatskanzler Fürst Karl August von Hardenberg beherzte Schritte zur Emanzipation der Juden. Aus diesem Grund wuchs unter den Juden in Preußen eine große Verbundenheit mit dem Königreich. Im Lebenslauf für die Promotion schrieb Edith Stein 1916 ganz selbstverständlich: »Ich bin preußische Staatsangehörige und Jüdin.«43

Im Hochzeitsjahr von Auguste und Siegfried Stein wurde ein halbes Jahr zuvor, am 18. Januar, im Spiegelsaal von Versailles der preußische König Wilhelm zum Deutschen Kaiser gekrönt. Dieses Datum wurde wiederum mit Rücksicht auf den 18. Januar 1701 gewählt, an dem Tag wurde der Kurfürst Friedrich III. zum König Friedrich I. in Preußen erhoben, mithin das Königreich Preußen gegründet. So recht gefiel es dem Kaiser, der noch mit seiner neuen Rolle fremdelte, nicht, dass die Zeremonie im Spiegelsaal stattfand, denn das Deckengemälde zeigte den Sonnenkönig Ludwig XIV. als Eroberer deutscher Länder. Der nüchterne Wilhelm mochte sich nicht mit dem allegorischen Kontrapunkt, den die Krönung an diesem Ort setzte, anfreunden. Otto von Bismarck, der Architekt der Reichsgründung, hatte damals die Proklamation verlesen: »Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewusstsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. … Uns aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Ordnung.«44 Zu diesem Volk fühlten sich die Steins und die Courants zugehörig.

Die kommenden zehn Jahre mühte sich Siegfried weiter im Holzhandel der Familie Stein. Nach Edith Steins Angaben duldete Siegfrieds Mutter Johanna Stein außer von ihrer Schwiegertochter Auguste, in der sie eine ähnliche Kraft und Dickschädeligkeit ausgemacht haben dürfte wie bei sich selbst, keinen Widerspruch. Als Siegfrieds junger Bruder Leo aus der Art schlug und Schauspieler werden wollte, was Johanna Stein als »Schande« wertete, unterstütze Auguste den jungen Mann und nahm ihn auf, als dessen Mutter ihn der Wohnung verwies. Leo Walter Stein wurde später ein berühmter Lustspiel- und Operettendichter und machte eine erstaunliche Karriere als Schauspieler, Theaterautor, Theaterleiter und Theaterregisseur im Fach der leichten Muse. Nachdem sich Siegfried Stein aus geschäftlichen Gründen mit seiner Mutter überworfen hatte, zog die junge, fünfköpfige Familie 1881 nach Lublinitz und eröffnete dort einen Holzhandel. Doch trotz der Unterstützung der Courants war die Zeit in Lublinitz keine glückliche. Das Geschäft lief nicht, die Familie litt Not und drei Kinder starben, auch an der in diesen Jahren immer wieder auftretenden Scharlachepidemie. Schließlich entschlossen sich die Eheleute 1890, nach Breslau überzusiedeln. Erna war gerade sechs Monate alt, Edith noch nicht geboren. In der Nähe der Kohlenstraße, in der sie eine kleine Wohnung fanden, mieteten sie einen Holzplatz. Doch auch hier kam das Geschäft nicht ins Laufen, obwohl die äußeren Bedingungen günstig waren.

Nach der Reichseinigung boomte Deutschland und auch Breslau. Hans-Georg Gadamer – Schlesier wie Edith Stein, zwar 1900 noch in Marburg geboren, doch die Familie Gadamer zog 1902 in die Hauptstadt Schlesiens, weil der Vater einem Ruf der Breslauer Friedrich Wilhelms Universität als Ordinarius der pharmazeutischen Chemie folgte – sprach in seinen Erinnerungen vom »in Butter und Eiern schwimmenden reichen Schlesien«.45 Breslau wurde zur bedeutenden Metropole des Kaiserreiches. Der Maschinen- und Waggonbau, die Chemie- und Textilindustrie prosperierten, aber auch das universitäre Leben und die Kultur erlebten einen großartigen Aufschwung. Der war verbunden mit moderner Stadtplanung und Architektur. So wurde im Jugendstil um 1900 das Warenhaus »Barasch« errichtet und Hans Poelzig, der in der Architektur zunächst den expressionistischen Stil, dann die Neue Sachlichkeit vorantrieb, erbaute 1914 den Konzertsaal. Rabbiner konnten in Breslau mit der Gründung des Jüdisch-Theologischen Rabbinerseminars der Fraenkelschen Stiftung seit 1854 ausgebildet werden. Zurück ging die Gründung auf den bedeutenden jüdischen Gelehrten Abraham Geiger. Am Seminar lehrten der renommierte Historiker des Judentums Heinrich Graetz, dessen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart immer noch als Standardwerk gilt, und der Vater des Religionsphilosophen Julius Guttmann, Jakob Guttmann. Zu den berühmten Schülern des Seminars gehörte Leo Baeck. Nach Berlin lebte in Breslau die zweitgrößte jüdische Gemeinde im deutschen Kaiserreich. Eine Erhebung um 1905 ergab, dass sich 57,5 Prozent der Bevölkerung zum evangelischen und 36,6 Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekannten. Eine Volkszählung im Jahr 1910 ergab, dass 95,71 Prozent der Einwohner Deutsch als ihre Muttersprache, 2,95 Prozent Polnisch, 0,68 Prozent Tschechisch und 0,67 Prozent Deutsch und Polnisch angaben. Eine Besonderheit stellte das besonders in Oberschlesien gesprochene Wasserpolnisch dar, ein Dialekt, in dem sich Deutsch und Polnisch gemischt hatten.

In dieser aufstrebenden Metropole versuchten Auguste und Siegfried Stein ihr Glück zu machen, doch das Glück blieb aus. Edith Stein berichtet über den entmutigenden Anfang: »Die Hauswirtin war ein zänkisches, altes Weib, das sich alle Mühe gab, meiner Mutter das Leben schwer zu machen. Schwere Nahrungssorgen kamen hinzu; das neue Geschäft war mit Schulden belastet und richtete sich nicht so schnell ein.«46 Die äußerst dezenten Andeutungen geben dennoch eine Ahnung, dass Siegfried Steins Talente wohl nicht im geschäftlichen Bereich lagen, obwohl er sich alle Mühe gab. Nie, versichert Edith Stein, hatte sich Auguste über ihren verstorbenen Mann beklagt, und seit seinem Tod stets schwarze Kleidung getragen.

Eine Erinnerung, ein Ur-Bild geradezu, verdankte Edith Stein einer Erzählung der Mutter: Am Morgen des 10. Juli 1893 verabschiedete sich Siegfried Stein von seiner Frau, die die anderthalbjährige Edith auf dem Arm hielt, weil seine geschäftlichen Wege ihn wieder einmal über Land führten, und wandte sich zum Gehen. Da rief ihn seine kleine Tochter, er machte auf dem Absatz kehrt und verabschiedete sich noch einmal von ihr. »So war ich für sie das letzte Vermächtnis meines Vaters. Ich schlief bei ihr im Zimmer, und wenn sie abends müde aus dem Geschäft heimkam, dann war ihr erster Weg zu mir. Ja, wenn ich krank war, nahm sie sich kaum Zeit, den Mantel abzulegen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und ließ sich das einfache Abendessen dorthin bringen.«47 Ein Briefträger fand den Leichnam Siegfried Steins an einen Baumstamm gelehnt. Ein Hitzeschlag hatte ihn an diesem heißen Tag getötet. Zurück blieb seine Frau mit einem überschuldeten Geschäft und sieben Kindern in einer zu kleinen Wohnung. Die Verwandten rieten, das Geschäft zu verkaufen, eine große Wohnung zu nehmen und vom Vermieten zu leben. Sie zeigten sich bereit, die Familie finanziell zu unterstützen. Doch das kam für Auguste Stein nicht infrage, die über ein großes kaufmännisches Talent verfügte. Fortan führte sie die Geschäfte und brachte das Unternehmen durch harte und geschickte Arbeit nach oben. Freilich, die älteren Kinder mussten mit anpacken, den Haushalt führen und auch die jüngeren beaufsichtigen. Auguste Stein hätte gern auch den älteren Kindern eine akademische Ausbildung ermöglicht, so wie sie ihr versagt geblieben war. Aber es ging nicht anders – und das mag sie gequält haben. Die jüngeren Geschwister, das waren Erna und Edith, deren Altersunterschied nur ein Jahr und acht Monate betrug. Zwischen der nächst älteren Rosa klaffte bereits eine Lücke von sechs Jahren.