Angela Merkel - Klaus-Rüdiger Mai - E-Book

Angela Merkel E-Book

Klaus-Rüdiger Mai

0,0

Beschreibung

Die Liebe zur Macht: Das Erbe der Kanzlerin "Frau Merkel führte Deutschland wie in einer Scheinwelt und ließ es ein ausgedehntes geopolitisches und wirtschaftliches Nickerchen genießen, aus dem es noch erwachen musss." Economist, 24. Oktober 2024 Angela Merkel hat Deutschland entpolitisiert. Politik in diesen Zeiten ist die Wahrnehmung von Interessen, nicht von Werten. Verantwortliche Politiker und Wirtschaftslenker von Volkswirtschaften, die eng mit der deutschen verbunden sind, tritt der kalte Angstschweiß auf die Stirn, wenn sie auf die Daten der größten Volkswirtschaft Europas schauen. Sie fürchten, mit in den Abgrund gerissen zu werden. All die Missstände, mit denen wir heute zu kämpfen haben – die desaströse Energiewende, die Abhängigkeit von Russland, die verfehlte Migrationspolitik, den Abbau von Demokratie, Freiheit, die Einschränkung der Bürgerrechte, das Leben von der Substanz ohne Werterhaltung, den Zusammenbruch des Gesundheitswesens, der öffentlichen Sicherheit und der Infrastruktur –, ihre Ursache liegt in der viel zu langen Kanzlerschaft Frau Merkels. Sie hinterließ ein niedergehendes und tief gespaltenes Land. Nach Merkels Ausstieg aus der Politik wurden ihre Fehler unter großem Propagandaaufwand in Heldentaten umgemünzt – Klaus-Rüdiger Mai setzt in seiner kritischen Biografie der Ex-Kanzlerin Fakten gegen Legenden und widmet sich der Frage: Warum handelte Angela Merkel, wie sie handelte? Dabei geht es ihm nicht um die Dämonisierung eines Menschen, nicht um Verschwörungstheorie oder das Walten dunkler Mächte, sondern um eine kühle und glasklare historische Analyse. Vor allem aber geht es um die große Leidenschaft der Angela Merkel: ihre Liebe zur Macht und darum, diese zu durchschauen und zu entzaubern. Denn erst wenn Deutschland seine innere Merkel überwunden hat, wird es wieder gesunden und zu seiner einstigen Stärke und Zukunftsfähigkeit zurückkehren können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 534

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



EUROPAVERLAG

Klaus-Rüdiger Mai

ANGELA MERKEL

Zwischen Legende undWirklichkeit

Eine kritische Biografie

INHALT

ERSTER TEIL: DIE KANZLERIN

1. UNTER MASKEN – POLITIKER OHNE GESCHICHTE

2. MERKELS ANGSTKOMMUNIKATION

3. DIE RACHE AN DER CDU GENIESST MERKEL KALT

4. DER PARTEITAG, DER DER DAMNATIO MEMORIAE VERFIEL

5. MERKELS IRRLICHTERN UND ISOLATION

6. ANGELA MERKEL ALS REFORMERIN

7. HEIMLICHKEIT OHNE GEHEIMNIS

8. »EGAL, WO MAN ANGELA HINSETZT: SIE WILL IMMER DIE NUMMER EINS SEIN.«

9. SEI IMMER DABEI, ABER FALLE NIEMALS AUF – DIE STUDIENJAHRE

10. MIT BLICK AUF DIE AKADEMIE?

11. GERÜCHTE, MUTMASSUNGEN, SPEKULATIONEN

12. »SIE PROMOVIERTE SCHON SEIT EINIGEN JAHREN LUSTLOS VOR SICH HIN«

13. AUF DER GERONTOLOGISCHEN STATION

14. MERKELS WENDE

ZWEITER TEIL: VOM WERDEN DER KANZLERIN

15. WIE MAN ANGELA MERKEL WIRD

16. IN DER AFD

17. DIE ATOMMINISTERIN

18. VERLIEBT INS KLIMA

19. DIE NIEDERLAGE DER CDU WIRD ZU MERKELS SIEG

20. KAMMERSPIELE DER MACHT

21. VATERMORD

22. ANGELA ALLEIN ZU HAUSE

23. AUF DEM SPRUNG INS BUNDESKANZLERAMT

24. DER SIEG IN DER NIEDERLAGE

DRITTER TEIL: KANZLERIN DER SPALTUNG

25. MERKELS STAATSBONAPARTISMUS HEISST GROSSE TRANSFORMATION

26. WAS IST MERKELS GROSSE TRANSFORMATION?

27. MERKEL VERWANDELT DIE KRISEN IN DEUTSCHLANDS KRISE

28. VIER SARGNÄGEL FÜR DEUTSCHLAND:

29. VIER SARGNÄGEL FÜR DEUTSCHLAND:

30. VIER SARGNÄGEL FÜR DEUTSCHLAND:

31. VIER SARGNÄGEL FÜR DEUTSCHLAND:

LITERATURVERZEICHNIS

ZITATIONSNACHWEIS

»Ich wollte immer wissen, was auf mich zukommt, auch wenn das womöglich ein wenig auf Kosten der Spontaneität gegangen ist. Mein Leben zu strukturieren und Chaos zu vermeiden, war mir wichtiger.«

Angela Merkel

»Sed quis custodiet ipsos custodes?«

(»Wer aber soll die Wächter selbst bewachen?«)

Juvenal

ERSTER TEIL: DIE KANZLERIN

»Ich weiß, wie dramatisch schon jetzt die Einschränkungen sind: keine Veranstaltungen mehr, keine Messen, keine Konzerte und vorerst auch keine Schule mehr, keine Universität, kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz. Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen. Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.«

Angela Merkel 2020

1. UNTER MASKEN – POLITIKER OHNE GESCHICHTE

Es dürfte nicht verfehlt sein, in Angela Merkel einen neuen Politikertyp zu sehen, der sich grundsätzlich von den vorigen, den Brandts, Schmidts, Kohls und Genschers unterscheidet. Diesen Politikertyp könnte man Politiker ohne Geschichte nennen – oder einfacher den postdemokratischen Politikertyp. Sein Einschätzungs- und Erkenntnishorizont endet an der Wölbung der Blase, in der er vollständig lebt, geradezu interniert ist, einer Blase aus Politik, Finanzindustrie, Klimakomplex, Medien und Kultur, deren Bewohner die Zugbrücken zum Volk, das sie beherrschen und belehren und von dem sie leben, hochgezogen haben, weil sie sich für die Elite, im Grunde im spätfeudalen Sinne für eine absolut herrschende Aristokratie halten. Wie für die Aristokratie des Ancien Regime Christentum und Glauben nur noch Leerformeln waren, die man ständig zur Selbstrechtfertigung benutzte, so sind es für die postdemokratischen Politiker die zur Phrase verflüchtigten Begriffe Demokratie und Freiheit. Die US-amerikanische Marxistin Nancy Fraser definierte die Herrschaft dieser spätwestlichen Eliten mit Blick auf die USA so: »Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ›neuer sozialer Bewegungen‹ (Feminismus, Antirassismus, LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ›symbolischer‹ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.).« Aus ihrer Sicht führte die neoliberale Politik Clintons und Obamas »zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse aller Arbeitnehmer, besonders aber der Beschäftigten in der industriellen Produktion.« Zur gesellschaftsauflösenden Ausweitung der Minderheitenrechte stellte sie fest, dass dieses neue Establishment die Emanzipation gleichsetzt »mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der ›Begabten‹ unter den Frauen, Minderheiten und Homosexuellen« und dass es »die The-winner-takes-it-all-Hierarchie nicht mehr abschaffen« will.1 Diese Blase bewirkt nicht die Erweiterung des Wissens und der Erkenntnisse, sondern die Verstärkung eigener Urteile, vor allem Vorurteile. Der Wirklichkeitsverlust wird durch Propaganda, Delegitimierung, Marginalisierung und Repression ersetzt. Unter dem Deckmantel, die Demokratie verteidigen zu wollen, wird die Demokratie eingeschränkt, weil für die Eliten Demokratie nicht Herrschaft des Volkes, sondern absolute Herrschaft der Eliten, also Oligarchie, bedeutet. Die »wehrhafte Demokratie« ist in Wahrheit nur die verwehrte Demokratie. Was das konkret bedeutet, wird am Beispiel Angela Merkels einsichtig, die sich im Laufe ihrer Karriere im Allgemeinen, aber im Besonderen in der Ära ihrer Kanzlerschaften zur postdemokratischen Politikerin entwickelte und damit dem Zeitgeist Rechnung trug. Man darf nicht vergessen, dass mit dem Historikerstreit Mitte der Achtzigerjahre linke, linksliberale und immer stärker postmodernistische Intellektuelle, Journalisten und Künstler die Meinungshoheit und die Diskursherrschaft in der Öffentlichkeit errungen hatten. Der postdemokratische Politikertyp gehört nicht den produktiven, sondern den destruktiven Zeiten an; es ist der Politikertyp, der, weil er aus dem Vollen schöpfen kann, das Volle ausschöpft.

Einmal mehr, aber an unvermuteter Stelle in geradezu gespenstischer Atmosphäre wurde für alle, die es sehen wollten, Deutschlands Spaltung deutlich: am 2. Dezember 2021 im Scheinwerferlicht des Großen Zapfenstreichs im Bendlerblock, als die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Dorothea Merkel verabschiedet wurde. Zwar empfanden beim Großen Zapfenstreich für die scheidende Bundeskanzlerin die Deutschen noch gemeinsam eine große Freude, doch die einen, weil Angela Merkel zum Abschied geehrt, und die anderen, weil Angela Merkel endlich verabschiedet wurde, darüber, dass nun diese Kanzlerschaft – für manche zwölf Jahre zu spät – endete, die jene deutsche Konsensdemokratie zur Oligarchie der Alternativlosigkeit umformte.

Die Bundeskanzlerin aus der CDU hatte die erstaunliche Leistung vollbracht, die beste Politikerin zu werden, die die Grünen jemals besaßen. Mit diesem Verdienst wird sie in die Geschichte eingehen, dass sie die einzige Bundeskanzlerin für die Grünen war. Wie es dazu kam, was das mit Deutschland macht, vor allem aber weshalb das in Deutschland möglich war, erzählen die folgenden Seiten. Weil Angela Merkel die Legende über sich verbreiten ließ, dass sie die Dinge vom Ende her bedenkt – womit sie sich zielsicher mit Gott verwechselte, denn nur der kennt im Voraus das Ende und kann es folglich von dort aus bedenken –, soll auch die Geschichte der Angela Merkel vom Ende her berichtet werden.

An diesem kalten Dezemberabend stand die scheidende Bundeskanzlerin gegen 19.30 Uhr jedenfalls vor dem Rednerpult, hinter ihr die erleuchtete Kulisse des dräuenden Bendlerblocks, vor ihr das Publikum in weiter Corona-Entfernung. Sucht man nach Adjektiven, um die Atmosphäre zu beschreiben, so lauten sie alt, frostig, düster, verloren, gespenstisch. Es sind Bilder großer Einsamkeit. Der Nachwelt werden die Bilddokumente von diesem Großen Zapfenstreich erhalten bleiben, doch er wird sich von seinen Vorgängern unterscheiden und spätere Generationen in seinem dunklen und etwas unheimlichen Atavismus befremden. Was Angela Merkel vor sich sah, könnte man mit dem von der modernen französischen Philosophie aus der chinesischen Geschichte gekaperten Begriff der Mandarine beschreiben. Die Politikprominenz, die 200 Gäste, unter ihnen der Bundespräsident, dem sie zum Amt verholfen hat, ihr designierter Nachfolger, der Bundesfinanzminister Olaf Scholz, die 52 Bundesminister ihrer Amtszeiten, Bundestagsabgeordnete, Vertreter ausländischer Regierungen, die Einwohner der Berliner Politik-Blase – alle saßen gehorsam unter Masken wie in einem drittklassigen Splattermovie auf ihren Bänken.

In der Pandemie-Diktatur fand Merkels Herrschaft ihre reinste Form. Noch galten Merkels Pandemie-Vorschriften, deshalb fand die Zeremonie »unter schärfster Beachtung der geltenden Regularien« statt.2 Man gewinnt den Eindruck, dass Angela Merkel das Corona-Regelwerk als Gesamtkunstwerk empfand.

Merkel mochte keinen Widerspruch; sie wusste zwar, dass er zum politischen Geschäft gehört, doch wo sie ihn verhindern konnte, da tat sie es. Das Kreative, das das Chaotische, das Offene voraussetzt, lag ihr nun mal nicht. Ihr Verständnis von Demokratie und Pluralität drückte das Wort Alternativlosigkeit aus. Ob Angela Merkel an Gott glaubt, weiß man nicht, aber dass sie der Göttin TINA (There Is No Alternative) als Hohepriesterin diente, darf als gewiss gelten. Wenn Angela Merkel für die Ironie der Geschichte empfänglich wäre, würde sie den Doppelsinn empfinden, der darin liegt, dass ihre Amtszeit unter Masken endete, wo doch ihr Leben unter dem Zeichen der Maske und unter Maskierungen verlief. Nichts wäre verfehlter, als in ihrem Umgang mit Masken eine Lust, ein Spiel, eine Selbstmystifikation zu sehen, sondern die Maskerade besaß eindeutig Schutzfunktion: Sie sollte die Wahrheit verstecken, die sie vermutlich selbst nicht einmal kennt. Deshalb dürfte der Slogan, unter den Angela Merkel ihren Wahlkampf 2017 stellte: »Sie kennen mich«, weiter von der Wahrheit entfernt sein als der Stern mit der Bezeichnung ULAS J0015+01, der sich 900000 Lichtjahre von der Erde jenseits der Magellanschen Wolken befindet und im Jahr 2014 entdeckt wurde, ein halbes Jahr nachdem Merkel ihre dritte Kanzlerschaft angetreten hatte. Wie auf einem anderen Stern hätte sie sich damals gefühlt, völlig losgelöst von der Erde, wenn ihr sehnlicher Wunsch, mit Trittins Grünen zu regieren, im Jahr 2013 in Erfüllung gegangen wäre. Vielleicht wären dann die Grünen früher entzaubert worden, vielleicht wäre auch Merkels letzte Maske wenn schon nicht vom Gesicht gefallen, so doch zumindest verrutscht – und den Deutschen vieles erspart geblieben. Doch das bleibt müßige Spekulation. Angela Merkel bemühte sich redlich, auch ohne die Grünen dennoch grün zu regieren. Warum sie das tat, wird zu ergründen sein.

Niemand mit Ausnahme ihres Mannes, Joachim Sauer, und ihrer Büroleiterin Beate Baumann kennt Angela Merkel, die eine Meisterschaft im Verstecken und Verbergen besitzt. Verstecken und Verbergen gehört zu ihrem Naturell, und man kann das nur zum Teil mit ihrer Kindheit und Jugend in der DDR erklären, vielleicht sogar zum kleinsten Teil. Dem Geheimnis Angela Merkels kommt man jedenfalls nicht auf die Schliche, wenn man allzu sehr nach der DDR in ihrem Leben fragt, denn dort beginnt das Reich der hübschen Geschichtchen, die nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie die gängigen Klischees erfüllen. So behauptete der westdeutsche Journalist Ralph Bollmann von der Frankfurter Allgemeinen nach der Bundestagswahl 2017, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel »im Osten auch deshalb so viel Hass auf sich zieht, weil sie ihren Landsleuten den Spiegel vorhält: Seht her, wer sich anstrengt, der schafft es auch.«3 Nur im Osten sieht kaum einer Angela Merkel als Ostdeutsche, jedenfalls viele Ostdeutsche nicht. Und zu fragen ist, was sie denn nun eigentlich »geschafft« hat?

Vielleicht würde Angela Merkel die Ironie der Geschichte verstehen, den Witz, dass sie ihre politische Karriere mit einer für alle sichtbaren Maske beendet, wo doch die Maskierung erst ihre politische Karriere ermöglichte, wenn sie nicht selbst Teil dieser Ironie wäre. Selbst in den letzten ihr noch verbleibenden Amtstagen im Herbst 2021 kämpft die Pastorentochter für nichts anderes so sehr als für die Aufrechterhaltung ihrer Pandemie-Ordnung, an die sie wohl stärker glaubte als an das Evangelium, wenn das Evangelium für sie überhaupt einen religiösen Wert besitzt, denn: »Ein Mensch wird nicht dadurch gläubig, dass er im Pfarrhaus aufwächst«, sagte Merkel über Merkel.4

Noch am Vormittag ihres Großen Zapfenstreiches hatte sie deshalb in dem von ihr geschaffenen Gremium, das aus gutem Grund im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, in der Konferenz der Ministerpräsidenten, beraten, wie ihr so mühsam aufgerichtetes Corona-Regime in die Zukunft verlängert werden kann. Die Konferenz der Ministerpräsidenten sollte ihr helfen, am Bundestag und am Bundesrat vorbei zu regieren. Fast möchte man sogar meinen, dass ihr dieser Termin wichtiger dünkte als der Große Zapfenstreich. Der Ausnahmezustand ihrer Pandemie-Diktatur ermöglichte ihr, ohne Widerspruch regieren zu können. Der Staatsrechtler Carl Schmitt meinte einmal, dass derjenige souverän sei, der über den Ausnahmezustand entscheidet.5 Über den Ausnahmezustand, zumindest über dessen faktische Einführung durch die Lockdowns und über dessen faktische Latenz durch das Infektionsschutzgesetz, hatte Angela Merkel entschieden, gegen die Freiheit und die Rechte der Bürger. Doch beherrschte sie den Ausnahmezustand auch? Oder hatte sie einfach nur mithilfe der Medien die Gesellschaft gespalten, getreu des römischen Grundsatzes divide et impera, um ihn aufrechtzuerhalten?

2. MERKELS ANGSTKOMMUNIKATION

Den Ausnahmezustand schuf Angela Merkel nicht allein dadurch, dass sie neue Gesetze erließ und Anordnungen traf, sondern auch dadurch, dass sie ihre mäandernde Politik als alternativlos und damit sich selbst als unfehlbar erklärte. Der merkelsche Ausnahmezustand zeichnete sich durch die Entfernung der Freiheit aus dem Alltag der Menschen und aus dem öffentlichen Diskurs und durch die Beugung des Rechts aus, wie sie es in ihrer Fernsehansprache vom 18. März 2020 verkündete: »Keine Veranstaltungen mehr, keine Messen, keine Konzerte und vorerst auch keine Schule mehr, keine Universität, kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz. Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen. Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.6 Hemmungslos wurde der erste Satz des Artikels 2 Absatz 2 des Grundgesetzes »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« gegen den zweiten Satz des gleichen Absatzes: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich« ausgespielt, um sich schließlich gleisnerisch auf den letzten Satz des Absatzes zu berufen: »In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«7 Damit stellte die Bundeskanzlerin den Geist und den Zweck des Grundgesetzes auf den Kopf und verkehrte dessen Bestimmung als Abwehrrecht der Bürger gegen den übergriffigen Staat ins Gegenteil, indem es nun als Rechtfertigung der Übergriffigkeit des Staates gegen seine Bürger praktisch herhalten sollte. An diesem Tag wurde sie zur Bundeskanzlerin des übergriffigen Staates. Politik sollte nicht mehr Dienstleistung für die Bürger sein, wie sie so oft betonte hatte, sondern die Bürger wurden Dienstleister der Politik; sie hatten ihr zu dienen. Kritiker wurden von Merkels Helfern in den Medien, in der Kultur und in den teils staatsfinanzierten NGOs mit dem exzessiven Gebrauch des argumentum ad hominem marginalisiert, sozial und politisch geächtet und, wo es ging, ihrer Existenzgrundlage beraubt. Das Verfahren, das Angela Merkel den Einwohnern der Berliner Blase hinterließ, ist so primitiv wie wirkungsvoll. Zerstört man das Ansehen des Kritikers, unterstellt man ihm die niedersten Motive, macht man ihm zum bösen oder schlechten Menschen, enthebt man sich der Pflicht, sich mit den Argumenten des Kritikers auseinanderzusetzen, denn so der Kurzschluss der Gesinnungsethiker, von einem bösen Menschen können nur böse Argumente kommen. Wer böse ist, will Böses, auch wenn er Gutes tut, wie der Gute Gutes will, auch wenn er Böses hervorbringt. Diesen Gesinnungsmanichäismus erhob Angela Merkel, wie man noch sehen wird, aus zwei Gründen seit Fukushima zum Prinzip ihrer Herrschaft und vervollkommnete es in ihrer langen Kanzlerzeit. Damit zerstörte sie jedoch zugleich die Grundlage des öffentlichen Diskurses und kürzte die Geschäftsordnung der Demokratie ein, die auf Meinungsfreiheit beruht, da sie ihren Kurs alternativlos definierte und es demzufolge nur eine Meinung geben durfte, da ja keine Alternativen existieren. Oder wie die Autorin Carolin Emcke – auch eine gläubige Etatistin wie Merkel – 2024 auf der re:publica formulierte: »Ich würde wirklich dazu aufrufen, dass niemand, der eingeladen wird, in einer Rahmung, die Pro und Kontra heißt, teilzunehmen, ich würde wirklich inständig darum bitten, das ist einfach, es muss, es muss aufhören, wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen, ja, es wird uns beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, gleichermaßen vernünftige einander widersprechende Positionen – das ist mit Verlaub einfach Bullshit.« Emcke ist fest davon überzeugt, dass Pro und Kontra eine »Form von Selbstverdummung« sei. Deshalb besteht sie darauf: »Nein wir müssen es abschaffen.«8 Zu der Forderung, den Meinungsstreit, das Pro und Kontra als Grundlage von Demokratie und übrigens auch von Wissenschaft abzuschaffen, dazu hätte der Chor der Diktatoren aus der Geschichte frenetisch applaudiert. Emckes grüne, Emckes postmoderne Welt hatte George Orwell bereits in dem hellsichtigen Roman »1984« gültig für alle Zeit beschrieben. Doch auch Angela Merkel verabscheute »Diskussionsorgien« und »warnte vor einem Rückfall bei nachlassender Disziplin«.9, 10 Emcke wurde zu einer von Merkels Propagandistinnen in der Pandemie, denn wo Unfreiheit ins Werk gesetzt wurde, war sie nicht fern.11 Über Kritik echauffierte sie sich, weil sie in ihr einen Angriff auf die Eliten sehen wollte, in die sie sich ganz gern eingereiht sah. In einer monströsen Geschichtsvergessenheit verglich sie auf dem Parteitag der Grünen 2021 die im Holocaust verfolgten Juden mit den kritisierten »Klimaforschern«: »Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen und die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.«12

An Emcke kann man studieren, wie Merkels Pandemie-Propaganda bei ihren Aktivisten zur Paranoia führte. Denn in Wahrheit wurden nicht »die Virologinnen« verfolgt, sondern die Kritiker entrechtet und die friedlichen Demonstranten brutal niedergeknüppelt. Der Kampf gegen die Freiheit, für die weitest mögliche Einschränkung der Freiheit bildet zumindest einen der roten Fäden, die sich durch Angela Merkels Amtszeiten zogen und die, je länger sie im Amt war, desto stärker an Intensität zunahmen. Beifall bekam sie dafür von den illiberalen Propagandisten in den Medien, vom grünen und postmodernen Establishment. Im Angriff auf die Freiheit, die Angela Merkel wohl nie geschätzt und nie verstanden hatte, weil zur Freiheit immer ein erfrischendes und produktives Element von Anarchie, Kreativität, Unplanbarkeit, Aufrichtigkeit, Maskenlosigkeit gehört, etwas Mutwilliges, auch die Lust am Risiko der eigenen Preisgabe, die ihr deshalb als nicht hilfreich, als hinderlich, gerade als Zumutung vorkam, besteht ein wichtiger Teil ihres Vermächtnisses, der noch heute die deutsche Gesellschaft lähmt. Gerade ins Amt als Familienministerin gekommen, gab Angela Merkel 1991 Günter Gaus ein aufschlussreiches Interview, in dem sie ihre Abneigung, ihr »tiefes Misstrauen zu basisdemokratischen Gruppierungen« ausdrückte, bei denen sie sich nicht wohlfühlte, weil sie glaubt, »dass man in der politischen Arbeit auch zum Machbaren kommen muss und nicht zu lange sich im eigenen Diskutieren verlieben sollte«. In dem von ihrer Seite außerordentlich kontrolliert geführten Interview entfährt ihr dann doch als verunglückter Scherz ein Geständnis aus der Tiefe ihrer Psyche, das seine Dimension erst im Nachhinein enthüllt: »Vielleicht habe ich da ein autoritäres Verhalten in mir.« Gaus, erfahren in Interviews, fragt genau dort nach: »Sie haben möglicherweise ein autoritäres Bedürfnis, ein Bedürfnis, autoritär zu sein …« Merkel begreift sofort den Fehler, der ihr unterlaufen ist, und relativiert: »Nach einer gewissen Strukturiertheit der Arbeit, die aber dann was mit Autorität zu tun hat.« Festzuhalten bleibt aber, dass »Strukturiertheit« für Merkel nur das freundliche Synonym für Autoritarismus in einer allerdings nicht ideologischen, sondern technokratischen, solipsistischen Welt ist. Merkel ist nach meiner Beobachtung vollkommen ichbezogen. Zu dieser Zeit formuliert sie ihr Politikverständnis noch so: »Ich glaube, dass Politiker so eine Art Dienstleistung zu erbringen haben, und die Dienstleistung besteht darin, dass man bestimmte Probleme löst.« Politiker als Dienstleister? Wirklich für den Bürger? Wäre es so, bliebe Merkels Handeln ab Herbst 2015 unerklärlich. Doch Merkel wurde nicht von Zweifeln geplagt und von Skrupeln gepeinigt, nie, denn: »… jede Problemlösung birgt in sich den Fehler – und mit dem muss man dann auch leben.«13

Vollkommen fehlt in der Betrachtung der wichtigste Aspekt, denn nicht man muss mit dem Fehler leben, sondern die Bürger, zuallererst und zuallerletzt. Dieses Fehlen von Empathie in Merkels solipsistischem Zirkel ihrer Persönlichkeit belegt ihre flapsige Äußerung vor der Bundestagsfraktion der Union am 22. September 2015, als sie auf die Massenmigration, die sie unvorsichtigerweise wie der berühmte Skifahrer in Schäubles Gleichnis ausgelöst hatte, angesprochen wird: »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da.«14 Mit Fehlern muss man – also die anderen – leben, Merkel ist das völlig »egal«. Verheerend war das Zitat, das Merkels mediale Hilfstruppen später abzuschwächen versuchten, weil es einen Blick in Merkels Denken zuließ, und das beglaubigt wurde von dem Statement der jungen Angela Merkel im Interview mit Günter Gaus. In Merkels Corona-Regime nahmen die Grundsätze von Merkels Politikverständnis, das »autoritäre Verhalten«, die Rolle als Präsidialkanzlerin Gestalt an. In ihrer Rede beim Großen Zapfenstreich hastete sie fünf obligatorische Sätze routiniert durch, die nur die üblichen Floskeln der Dankbarkeit und der Demut beinhalteten, ehe sie endlich bei ihrem Thema anlangte, und ihr Thema hieß zwar Corona, aber Corona stellte nur eine Chiffre dar für die dauerhafte Einschränkung der Freiheit zugunsten des allmächtigen Staates, der »Strukturiertheit der Arbeit, die aber dann was mit Autorität zu tun hat«: »Besonders möchte ich deshalb zu Beginn auch an die denken, die sich zeitgleich mit all ihrer Kraft der vierten Welle der Pandemie entgegenstemmen, die alles geben, um Leben zu retten und zu schützen: die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger in den Krankenhäusern, die Impfteams, die helfenden Hände in der Bundeswehr und in den Hilfsorganisationen. Ihnen allen gebühren mein und unser aller besonderer Dank und höchste Anerkennung.«15 Statt Dank und Anerkennung erlebten aber die Ärzte und Ärztinnen, die Pfleger und Pflegerinnen, die sich nicht impfen ließen, vom Merkel-Staat nur Repressionen, Druck und Verunglimpfung. Viele von ihnen stimmten der Impfung gezwungenermaßen nur zu, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Statt Dank und Anerkennung erlebten die 72 Bundeswehrsoldaten, die ebenfalls die Impfung verweigerten, nur die unehrenhafte Entlassung. Statt Merkels Dank verurteilte ein deutsches Gericht den Oberfeldwebel Alexander Bittner, Vater von drei Kindern und Alleinverdiener, zu einer Geldstrafe von 2500 Euro wegen Gehorsamsverweigerung, weil er sich weigerte, sich impfen zu lassen. Da Bittner die Strafe, die er nicht akzeptiert, nicht bezahlen will, soll er nun für ein halbes Jahr eingekerkert werden.16 Der Oberstabsgefreite Max Windisch wurde vom Dienst suspendiert, weil er sich ebenfalls weigerte, sich impfen zu lassen. Ihm droht rückwirkend die unehrenhafte Entlassung. Tritt das ein, müsste der Oberstabsgefreite bis zu 25000 Euro zurückzahlen.17

So sieht Merkels Respekt aus. So geht Merkel-Deutschland mit seinen Soldaten um. Merkel schwieg in ihrer Rede auch über die Alten, die einen einsamen Tod starben, ohne Angehörige, ohne Kinder und ohne Enkel irgendwo in einem Zimmer, irgendwo in einem Pflegeheim, weil die Bundeskanzlerin sich gegen die Wirklichkeit verbarrikadiert hatte und im Herbst der Matriarchin nur Leute wie Drosten, wie Buyx, wie Brinkmann, wie Bude etwas galten. Sie alle haben eine immense Schuld auf sich geladen, aber am meisten die gelernte Physikerin im Bundeskanzleramt, der die Naturwissenschaften fremd zu sein scheinen, denn offensichtlich spielt für sie die Falsifikation als Methode der Naturwissenschaft keine nennenswerte Rolle. Weil Angela Merkel nach meiner Beobachtung nicht Angst um Deutschland hatte, wie sie vorgab, sondern einzig und allein von einer fast panischen Versagensangst erfüllt zu sein schien, starben Menschen nach einem fleißigen Leben einsam. Alte, Kranke konnten ihre Angehörigen nicht sehen; Menschen, die allein in ihren Zimmern in den Pflegeheimen lebten, starben sogar ohne geistlichen Beistand, weil Angela Merkel wohl Angst hatte, als Versagerin dazustehen, nicht mit der Note 1, sondern mit der Note 5 vom Platz zu gehen. Zu Hilfe eilte ihr der damalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der evangelische Theologe Peter Dabrock, der in einem ZEIT-Gespräch kaltschnäuzig befand: »Menschen sterben oft auch allein im Operationssaal.«18 Es ging bei Merkel nicht um die Sache, sondern um Macht und Machterhalt. »Die wahre Merkel«, sagte einer, der sie gut kannte, »die gibt es immer nur in Abhängigkeit von bestimmten Situationen.«19 Denn was sollte sonst der Kompass in wechselnden Situationen sein? In Merkels kurzer Rede standen demzufolge nicht Deutschlands Zukunft, nicht Deutschlands Freiheit, sondern Deutschlands Ängste, Deutschlands Ältlichkeit, Deutschlands Verzagtheit, Deutschlands totalitäre Sehnsucht im Mittelpunkt. Merkel war sich der Ironie der Geschichte nicht bewusst, als sie im Vortrag dennoch ganz bei sich selbst ankam, als sie die Pandemie, die Ängste vor einer vierten Welle beschwor. Sie hatte im Verlauf der Klimaapokalypse die Vorteile der Angstkommunikation entdeckt und in ihren Pandemie-Maßnahmen weiterentwickelt. Auch in ihrer Rede zum Großen Zapfenstreich wurde deutlich: Die Bundeskanzlerin kann nicht von der Pandemie und die Pandemie nicht von der Bundekanzlerin lassen. Die Franzosen nennen das eine idée fixe. Die RKI-Files belegen, was man damals schon mehr als ahnte, dass es die Politik, dass es Merkels Regierung war, die darüber entschied, was die Experten verkünden sollten,20 und vor allem, dass Angela Merkel nur Leute akzeptierte und »Experten« nannte, die ihre politischen Entscheidungen mit einem scheinwissenschaftlichen Kleidchen versahen, die ideologiebasierte Vorgaben durch den Jargon der Wissenschaftlichkeit als alternativlos erscheinen ließen.

Zu diesen Experten zählt auch der Soziologe Heinz Bude. Im Jahr 2020 gehört er zu denen, die das berüchtigte Corona-Strategiepapier des Innenministeriums erarbeitet hatten. Er redet, wenn er redet, als Insider. Es wird später die Frage zu beantworten sein, ab wann Angela Merkel die Pandemie und die Angstkommunikation entdeckte, das Schüren von Hysterien als Mittel zur »Großen Transformation« – und was sie unter Großer Transformation verstand, denn von der Transformation sprach Merkel bereits am 23. Januar 2020 in Davos, noch bevor Corona Deutschland erreichte und damals die Warnungen vor der Epidemie als rechte Schwurbelei und Verschwörungstheorien abgetan wurden: »Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind. Wir haben ja eine zweite Riesentransformation zu bewältigen. Und wir hoffen, dass sich die Transformation zur CO2-Emissionsfreiheit mit der Digitalisierung verstärken wird und die Digitalisierung das erleichtern kann.«21

Dass es nicht um Demokratie, sondern um Macht, um Deutungshoheit, um die Monopolisierung der Meinungen, ja um Diktatur ging, verdeutlichte Bude in dem Text »Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie«. Von Anfang an »war aber auch klar«, so Bude, »dass eine Politik des Zugriffs auf das Verhalten der Einzelnen starker Rechtfertigungen bedarf. Mit Gramsci gesprochen: Es ging darum, Zwänge zu verordnen und Zustimmung zu gewinnen und dabei die Deutungshoheit in der Hand zu behalten.«22

Einen Staat, der auf das Verhalten der Einzelnen zugreifen will, nennt man gewöhnlich eine Diktatur. Deutungshoheit ist der zentrale Begriff all derer, die ein totalitäres Weltbild vertreten oder tief verborgen im Herzen mit sich tragen. Deutungshoheit ist der Gegenbegriff zur Aufklärung, zur Meinungsfreiheit, weil Deutungshoheit bedeutet, dass man jede andere Deutung mit den Hoheitsmitteln, die einem zur Verfügung stehen – in diesem Fall mit denen des Staates und der Staatsmedien – unterbindet. Bude plädierte in einem Interview dafür, dass »Impfgegner« »fühlbar Nachteile haben müssen«.23 Wenn sich Bude auf Gramsci berief, wusste er, was er tat, dann folgte er dem Erfinder des postdemokratischen Staates, in dem die Demokratie durch den Aktivismus der aus Steuergeldern finanzierten NGOs ersetzt wird und eine Gemeinwohldemokratie oder genauer eine Gemeinwohldiktatur entsteht. Was heute unter dem Geflecht der NGOs verstanden wird, fasste Gramsci noch als »Klasse«. »Eine Klasse, die sich selbst als geeignet setzt, die ganze Gesellschaft zu assimilieren, und die zugleich wirklich fähig ist, diesen Prozess hervorzubringen, führt diese Auffassung vom Staat und vom Recht zur Vollendung, bis sie schließlich das Ende des Staates und Rechts konzipiert, insofern sie überflüssig geworden sind, weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben und von der Zivilgesellschaft aufgesogen worden sind.«24 Ein Staat jedoch, »der von der Zivilgesellschaft aufgesogen« wird, ist kein Rechtsstaat mehr, und freiheitlich ist er ohnehin nicht, weil die Freiheit des Einzelnen den imaginierten Bedürfnissen einer abstrakten Gemeinschaft zu weichen hat. Die Abstraktion der Gemeinschaft und deren laboriertes Gemeinwohl ist nur eine Mystifikation der Herrschaft einer postdemokratischen Elite.

Das Recht wird »überflüssig«, weil es von der Gesinnung ersetzt wird, das ist genau das, was wir erleben. Und genau das setzte die Bundeskanzlerin seit 2015 und in ihrer Pandemie-Ordnung ins Werk, das Überflüssigmachen des Rechts durch die Entscheidungen der Exekutive, die die Judikative »aufsaugt«. Auch wenn Angela Merkel Antonio Gramsci vermutlich nicht gelesen hatte, weil sie bisher kaum öffentlich mit einem größeren Interesse an Gesellschaftstheorie und Geschichte auf sich aufmerksam gemacht hatte, handelte sie in diesem Sinne, weil es der »Zeitgeist« vorgab. Der Zeitgeist war Gramsci – und so adaptierte Merkel Antonio Gramsci, den italienischen Kommunisten – über den fluiden Zeitgeist. Man kann einer Regierung, man kann Angela Merkel nicht vorwerfen, dass sie angesichts einer Bedrohung unbekannter Dimension, als die Corona anfangs erschien, zunächst ratlos war; man darf sie nur darin bestärken, Experten anzuhören. Doch was man ihr vorwerfen muss, ist, sich nicht alle Experten angehört, nicht unterschiedliche Meinungen zur Kenntnis genommen zu haben. Im Gegenteil: Die Bundeskanzlerin hatte von vornherein Leute wie Christian Drosten, Alena Buyx und Heinz Bude favorisiert – Experten, die versuchten, Merkels »autoritärem Verhalten«, der »Strukturiertheit der Arbeit, die aber dann was mit Autorität zu tun hat«, ein objektives Gepräge zu geben, Experten, die wie Merkel »Diskussionsorgien«25 ablehnten und den härtesten Maßnahmen einen wie Wissenschaft aussehenden Anstrich verliehen. Das ist keine Polemik, sondern nichts anderes hat Heinz Bude während einer Diskussion an der Universität Graz 2024 im Rückblick zugegeben: »Wir haben gesagt, wir mussten, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist. Und das war diese Formel ›Flatten the curve‹, dass wir gesagt haben ›Wie können wir die Leute überzeugen, mitzutun?‹ Wir sagen denen, es sieht so nach Wissenschaft aus, ne? Man sagt, ›wenn ihr, wenn ihr schön diszipliniert seid, könnt ihr die Kurve verändern‹.« Und genau das hat Angela Merkel verkündet – und wurde davon vom postmodernen und grünextremen Establishment gefeiert. Wenn ihr Untertanen brav seid und alle mitmacht, was ich euch sage, dann wird alles gut. Und viele haben mitgemacht – und nichts wurde gut.

Carolin Emcke appellierte 2021: »Es ist vermutlich einer dieser historischen Momente, an die sich die meisten erinnern und von denen wir später werden erzählen können, mit wem gemeinsam wir sie erlebt haben: die Rede von Angela Merkel zu Beginn der Pandemie, am 18. März 2020, als die Bundeskanzlerin uns, die Bürgerinnen und Bürger, wie nie zuvor ansprach. Sie erklärte, was für eine dramatische Krise uns als Gemeinschaft erfasst habe, wie fragil und dynamisch alles Regierungshandeln sei, wie revidierbar alle Annahmen, wie lernfähig sich die Demokratie erweisen müsse.« Wer aber sollte der Lehrer sein, der Pauker der Demokratie? Merkel? Und wer belehrt dann die Lehrenden? »Wer aber soll die Wächter selbst bewachen?« (»Sed quis custodiet ipsos custodes?«), wie Juvenal schon fragte?26

Emcke bat geradezu ihre Kanzlerin um eine »Ansprache, die den wachsenden Unmut adressiert und kanalisiert in eine gemeinschaftliche Aufgabe, die alle auch als ihre begreifen«.27 Großartig, sie kannte keine Parteien mehr, sondern nur noch Corona-Gefährdete, die zur Ameise im Corona-Ameisenstaat werden sollen. Gemeinnutz sollte über Eigennutz stehen. Inniger konnte man nicht um eine Diktatur betteln. Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie Merkels Traum, als Präsidialkanzlerin ohne Diskussionsorgien durchzuregieren, sich mit den totalitären Sehnsüchten eines postmodernen und grünextremen Milieus verband und verbündete, das in den Medien, in der Bildung und in der Kultur längst die Deutungshoheit gekapert hatte und jeden cancelte, der nicht ihren weitgehend illiberalen und irrationalen Gesinnungskomplex mit den verpflichtenden Dogmen sogenannter »Vielfalt« und »Diversität« übernahm. Bude verriet, dass diejenigen, die sich stets auf »die Wissenschaft« beriefen, in der Pandemie demagogische Methoden nutzten, die nur »so nach Wissenschaft« aussehen sollten, aber keine waren. »Das haben wir geklaut von einem Wissenschaftsjournalisten, haben wir nicht selber erfunden«, gesteht Bude weiter: »Aber wir fanden das irgendwie toll, dass man so, also dass man so ein quasi Wissenschaftsargument«28 hat. Interessant daran ist, dass Merkels Corona-Politik eine seltsame Dialektik entfesselte, die mit ihrer Unfähigkeit zur Freiheit hin zusammenhängt, denn ihre Corona-Politik lief von Anfang an darauf hinaus, Kritik an ihrer Politik zu delegitimieren, zu desavouieren und zu verleumden. Wer gegen Merkel stritt, stritt gegen die Wissenschaft, ja, lästerte die Wissenschaft. Merkel übernahm Trittins Verschwörungstheorie vom »Rechtsruck der Gesellschaft«29 und entwickelte sie mithilfe williger Medien und williger Akademiker weiter, indem sie nun jede Kritik an ihren Maßnahmen, jeden Verweis auf die Bürgerrechte und auf die Freiheit als »Rechtspopulismus« verketzern ließ. »Follow the Science« wurde zum Glaubensbefehl an etwas, das nur so nach Wissenschaft aussah, aber es nicht war.

In ihrer Abschiedsrede zum Großen Zapfenstreich behauptete Merkel: »Unsere Demokratie lebt von der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung und zur Selbstkorrektur.« Doch Selbstkorrektur fand bei Angela Merkel nicht statt, »kritische Auseinandersetzung« auch nicht. Mit ihren Fehlern, die nun mal zur Problemlösung dazugehörten, mussten die anderen, die Bürger dieses Landes leben. Merkel hasste »Diskussionsorgien«. Besonders wenn jemand begründete Kritik übte, wurde er, damit niemand gezwungen war, sich mit dessen Inhalten auseinanderzusetzen, als Verschwörungstheoretiker, als Wissenschaftsleugner, als Rechtspopulist, als Querdenker und als Schwurbler diffamiert. Wem man nicht das Argument nehmen kann, dem nimmt man die Ehre. Für Merkels Generalsekretär Peter Tauber waren Kritiker nur »diese dunklen Gestalten«, die »wieder in die Löcher verschwinden sollen, aus denen sie kamen«.30 Dieses Bild dürfte darauf hinweisen, dass Merkels Generalsekretär Kritiker als Schaben sah. Eines vermochte man in den Worten von Merkels Generalsekretär nicht im Mindesten zu finden: Merkels Wunsch nach »kritischer Auseinandersetzung«, von dem, wie Merkel richtig sagte, die Demokratie »lebt«. Auch Merkels Bundespräsident Steinmeier fand, dass Corona-Leugner den »vergifteten Stachel in unsere Demokratie treiben wollen«31, auch die ARD behauptete ganz im Geiste merkelscher »kritischer Auseinandersetzung«, dass Impfgegner »Verfassungsfeinde« wären, die »den demokratischen Staat ablehnen und für rationale Argumente nicht mehr zugänglich«32 seien, nur dass es ARD und ZDF waren, die einen mit rationalen Argumenten geführten Meinungsstreit bis heute nicht und übrigens immer weniger zulassen. Merkels Buyx forderte sogar: »Jede Dosis muss in einen Arm.«33 Das klang nach dem deutschen Endsieg über das Virus. Die offiziellen Äußerungen in der Zeit von Merkels Pandemie-Diktatur erfüllten linguistisch die Kriterien einer Lingua Quarti Imperii, wie sie der Romanist Victor Klemperer in der Auseinandersetzung mit der Entstehung der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland erforschen wollte.34

Ungewollt beschrieb der ZEIT-Redakteur Christian Vooren die Techniken von Merkels Pandemie-Politik, die er auch frenetisch forderte: »Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. Einer, der die Gesellschaft spaltet. Wenn davon die Rede ist, entsteht schnell ein Zerrbild im Kopf, als würde das Land in zwei gleich große Teile zerfallen. Doch so ist es nicht. Richtig und tief eingeschlagen, trennt er den gefährlichen vom gefährdeten Teil der Gesellschaft. Sicher, es ist nicht ganz leicht, den Spaltpunkt exakt zu treffen. Liegt er zu weit außerhalb, können die Extreme weiter wachsen. Liegt er zu weit innerhalb, gehen legitime kritische Stimmen verloren.« Es gibt also legitime, staatstreue Kritik und illegitime Kritik, Dissidenz. Mit der ZEIT als oberste Inquisitionsbehörde, als Suprema, die über die Legitimität und Illegitimität von Kritik entschied? »Man wird diese Grenze immer wieder neu austarieren müssen. Ein Anfang wäre ja schon, alles nicht Faktenbasierte, Unwissenschaftliche und Staatsfeindliche auszuschließen.« »Unwissenschaftlich« wird mit »staatsfeindlich« und »staatsfeindlich« mit »unwissenschaftlich« gleichgesetzt. Waren diejenigen, die dem »Flaten the curve«-Mantra folgten, Staatsfeinde, denn Bude hatte ja zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Mittel zur Verhaltensänderung nicht Wissenschaft war, sondern nur nach Wissenschaft aussah? War Angela Merkel nach der Logik des ZEIT-Journalisten also eine Staatsfeindin? Vooren fährt im Sound, in der Wortwahl, im Stil einer Lingua Quarti Imperii fort: »Falschbehauptungen sind keine Meinung, Hetze ist keine berechtigte Sorge. Wer das nicht begreift, gehört auf die andere Seite. Dann ist Spaltung nicht das Problem, sondern Teil einer Lösung. Denn nur wenn Ruhe ist vor diesem Geschrei, lässt sich geduldig reden mit denen, die nah an der Kante stehen.«35 Demokratischer Diskurs als »Geschrei«? Wer hatte sich wann noch mal in Deutschland dieser Sprache bedient? Merkels Virologin Melanie Brinkmann forderte, von Merkels Wohlwollen angespornt: »Wir müssen verhindern, dass sich Menschen bei der Arbeit treffen. Anders gesagt: Wir müssen noch mal richtig dolle draufhauen.« Das gilt aus ihrer Warte auch für die Schulen. »Wo Menschen in Kontakt kommen, kommt es zu Infektionen.«36

Hätte es nicht einer Bundeskanzlerin angestanden, wenn das vom Bundespräsidenten der Berliner Blase schon nicht zu erwarten war, zur Mäßigung aufzurufen, für den »steten Ausgleich der Interessen« zu sorgen? Stattdessen heizte sie selbst diese mediale, politische und gesellschaftliche Jagd- und Lynchstimmung an, weil Merkel sich nicht von unabhängigen Wissenschaftlern beraten ließ, sondern Leute mit Professorentitel benutzte, um ihre politische Linie so aussehen zu lassen, als entspräche sie dem Stand der Wissenschaften. Hätte die Bundeskanzlerin nicht auch eine Bundeskanzlerin der Ungeimpften sein müssen? Wäre es nicht die Aufgabe der Bundeskanzlerin gewesen, den »Respekt voreinander« anzumahnen, über den sie in ihrer Abschiedsrede sprach, der aber nur für sie und nur für die Regierung, nicht aber für die Andersdenkenden, die Kritiker, die wirkliche Opposition galt?

Heute sieht man die Impfungen kritisch. Schon damals ahnte man, dass der Impfstoff nicht im Mindesten erprobt war, dass viele Behauptungen sich als leer erweisen und Menschen an den Folgen der Impfung leiden würden. »Ganz besonders die vergangenen zwei Jahre der Pandemie haben wie in einem Brennglas gezeigt, von welch großer Bedeutung das Vertrauen in Politik, Wissenschaft und den gesellschaftlichen Diskurs ist, aber auch, wie fragil das sein kann«, behauptete am Abend des Zapfenstreichs Angela Merkel in ihrer Rede. Und dokumentierte damit nur, dass sie die Demokratie nicht verstanden hatte, denn Demokratie lebt nicht vom Vertrauen in die Politik, sondern vom Misstrauen, vom kritischen Nachfragen der Bürger, von »Diskussionsorgien«. Nur Diktaturen fordern »Vertrauen« ein. Die gelernte Physikerin sollte eigentlich wissen, dass Wissenschaft keine Kirche ist, in der man vor den von ihr approbierten »Experten« gläubig zu knien hat, sondern dass Wissenshaft davon lebt, dass immer wieder Thesen und Ergebnisse infrage gestellt werden, um die Natur noch besser zu verstehen, dass nicht Vertrauen, sondern Skepsis den Fortschritt hervorbringt. Doch die Physikerin liebte die Physik nicht allzu sehr, die Grundlagenforschung, in der sie tätig war, schon gar nicht, wie sie Günter Gaus gestand. Sie hatte sich mit der Arbeit an ihrer Dissertation gequält.

Es ist sehr einfach: Dort, wo in Politik, Wissenschaft und im gesellschaftlichen Diskurs Vertrauen eingefordert wird, dort existieren kein gesellschaftlicher Diskurs und keine Wissenschaft. Merkel behauptete in ihrer Rede: Die Demokratie »lebt von Solidarität und Vertrauen, im Übrigen auch von dem Vertrauen in Fakten und davon, dass überall da, wo wissenschaftliche Erkenntnis geleugnet und Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet werden, Widerspruch laut werden muss«. So laut wie vom ZEIT-Autor Vooren? Fakten aber benötigen kein Vertrauen, sie verlangen nach Überprüfung. Auch hier ist ihr Bild wieder schief. Man würdigt die Fakten nur, indem man sie überprüft. So widerspricht der Grundsatz der Wissenschaft Merkels Vorstellung einer opportunistischen Wissenschaftskirche, die Politik nur »ein quasi Wissenschaftsargument« umhängt, um »Folgebereitschaft herzustellen«.37 Der Grundsatz der Wissenschaft lautet: De omnibus dubitandum est – alles muss bezweifelt werden. Wissenschaftliche Erkenntnis kann man übrigens auch nicht leugnen, man kann sie kritisieren, man kann sie bestätigen oder aber widerlegen. Es geht nicht um die Quantität, sondern um die Qualität, nicht um die Lautstärke, denn die Sprache der Vernunft ist leise.

Wer entscheidet darüber, was Hass und was Verschwörungstheorie ist und was nicht? Angela Merkel? Oder die Hofwissenschaftler und Hofpublizisten des neuen Versailles mitten in Berlin? Aber wie ging Angela Merkel mit diesem Vertrauen um? Von Eitelkeit verführt, berichtete der Soziologe Heinz Bude, wie die Bundeskanzlerin, wie die Regierung den »gesellschaftlichen Diskurs« führte: »Und man wird Zwang ausüben müssen auf Leute, die sagen, ich habe aber andere Informationen ... Und zwar legitimen Zwang. Wir werden mit Situationen vermehrt zu tun haben in der Zukunft. Solche Art von Krisen, die individuelle Verhaltensveränderungen verlangen, wenn man den Krisen als Gesellschaft in kollektiver Handlungsfähigkeit standhalten will. Und das ist das entscheidende Argument. Können wir das überhaupt in einer modernen liberalen Gesellschaft? Geht das eigentlich?« Geht Demokratie noch, fragte Bude. Benötigen wie nicht die Postdemokratie, die nur ein hübscherer Ausdruck für den etwas in Verruf geratenen Begriff Diktatur ist: »Und muss man da nicht hinterrücks ganz furchtbare Dinge wie Angstkommunikation, also sozialpsychologische Dinge benutzen, um solche Arten von Folgebereitschaften zur Veränderung von individuellem Verhalten vorzunehmen?«38 Genau das hatte man getan, genau das hatte die Regierung Merkel »hinterrücks« forciert, nämlich »ganz furchtbare Dinge wie Angstkommunikation«, um »Folgebereitschaft« herzustellen. Der alte verpönte Ausdruck für »Folgebereitschaft« lautet Kadavergehorsam. Heinz Bude deckte ungewollt Merkels Motivation auf, indem er von »starken Rechtfertigungen« sprach, die man benötigt, wenn man in das Leben von Millionen Menschen eingreifen will, wenn man Zwänge verordnet und dabei entschlossen ist, »die Deutungshoheit in der Hand zu behalten«. Kritik an Merkels Corona-Maßnahmen wurde von Anfang an nicht inhaltlich und sachlich begegnet, sondern die Kritiker wurden als »Covidioten«, als »Verschwörungstheoretiker«, als »Schwurbler«, als »Hetzer«, als »Rechte«, als »Querdenker« und als »Wissenschaftsleugner« unter Anwendung des argumentum ad hominem verleumdet und teils auch sozial hingerichtet oder an mediale Schandpfähle gebunden. Bude versuchte, die Kritik an der Corona-Politik als Zunahme »von Rechtspopulismus, wenn nicht gar Systemskepsis oder sogar Systemfeindschaft in allen westlichen Gesellschaften« zu sehen. Doch Bude bemühte den nur allzu bekannten Kollektivismus, über den schon Elias Canetti, Hannah Arendt und Walter Eucken alles geschrieben hatten. Der Kritiker wurde, ganz gleich, wie links er war, zum Rechten, wenn er es wagte, Kritik zu üben. Nicht der Pandemie, sondern der Pandemie-Diktatur galt Merkels Aufmerksamkeit. Sie hatte für sich das Mittel entdeckt und perfektioniert, mit Ängsten und dem Schüren von Hysterien Politik zu machen.

Schon 2021 dachte ein Jurist, begeistert von Merkels Ausnahmezustand, auf dem Verfassungsblog im Sinne Merkels darüber nach, wie man diesen Ausnahmezustand so verlängern konnte, dass er schließlich die Demokratie ersetzen würde. Der Jurist Thomas Schomerus forderte: »Der Kampf gegen das Virus kann eine Vorbildwirkung für die Bekämpfung der globalen Erwärmung haben.« Klimanotstand und Pandemienotstand können in seinen – und nicht nur in seinen – Sätzen bequem mittels »suchen und ersetzen« ausgetauscht, die immer gleichen Freiheitsaufhebungen mit aktuellen Begründungen versehen werden. »Im Angesicht der tödlichen Gefahr«, schrieb Schomerus weiter, »nimmt die Bevölkerung in einem beispiellosen Akt der Solidarität massivste Grundrechtseinschränkungen in Kauf. [...] Diese werden ohne großes Murren hingenommen.« Folgerichtig fragt er: »Warum geht in der Coronakrise, was in der Klimakrise versagt bleibt?« Warum nimmt der Bürger nicht »massivste Grundrechtseinschränkungen« für die »Bekämpfung der globalen Erwärmung« hin? Warum nicht vom Corona-Lockdown zum Klima-Lockdown? Wozu benötigt das Volk überhaupt Grundrechte? Wenn die Regierung Merkel alles besser weiß, wozu sich der Mühe populismusanfälliger Wahlen unterziehen? Der belgische Historiker David van Reybrouck hatte bereits nachgefragt, ob »Wahlen […] nicht vielleicht doch eine altmodische Methode sind«, weil die Bürger nicht »ihre beste Seite an den Tag« legen, »wenn sie (…) hinter dem geschlossenen Vorhang der Wahlkabine wichtige Entscheidungen … treffen«. In ihrem Buch Covid 19. Der große Umbruch schrieben Klaus Schwab und Thierry Malleret: »Viele von uns fragen sich, wann sich die Dinge wieder normalisieren werden. Die kurze Antwort lautet: niemals. Nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor. Die Normalität in dem Sinne, wie wir sie kannten, ist zu Bruch gegangen, und die Coronavirus-Pandemie stellt einen grundlegenden Wendepunkt auf unserem globalen Kurs dar. Einige Analysten sprechen von einem Scheideweg, andere von einer tiefen Krise ›biblischen‹ Ausmaßes, das Ergebnis ist jedoch gleich: Die Welt, wie wir sie in den ersten Monaten des Jahres 2020 kannten, gibt es nicht mehr, sie hat sich im Kontext der Pandemie aufgelöst.«39 Das allerdings stimmte nicht, sie hatte sich nicht aufgelöst, sondern sie wurde aufgelöst, in Deutschland durch Angela Merkel und der Großen Koalition, zu der informell die Grünen gehörten, denen es wie immer nicht diktatorisch genug zugehen konnte. In Schwabs Davos sprach Angela Merkel kurz vor Corona von der Großen Transformation. Im SWR verkündete, durchdrungen von Merkels Forderung nach Respekt, der Chefredakteur Rainald Becker: »All diesen Spinnern und Coronakritikern sei gesagt: Es wird keine Normalität mehr geben wie vorher.«40 Schließlich so Merkel in Davos: »Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen …«41 In Davos brachte Merkel ihre Missachtung für das normale Leben der Menschen, der Familien, der Väter und Mütter und Kinder zum Ausdruck, indem sie dieses Leben verächtlich als Angewohnheit bezeichnete, bei dem häufig das pejorative »schlecht« mitschwingt, eine schlechte Angewohnheit, die man sich abgewöhnen muss. Es überrascht deshalb nicht, dass die scheidende Bundeskanzlerin in ihrer Abschiedsrede die neue Welt des dauerhaften Ausnahmezustandes feierte, die sie nach Kräften miterschaffen hatte. Ob Klimakrise, ob Coronakrise, ob Finanzkrise: Irgendeine Krise ist schließlich immer.

Noch im Februar 2021 hatte Angela Merkel einen Aufruf mit Ursula von der Leyen, António Guterres, Charles Michel, Emmanuel Macron und dem Präsidenten des Senegal Macky Sall verfasst, der den Ausnahmezustand zur neuen Realität zu verklären versuchte. Das Redaktions Netzwerk Deutschland (RND) berichtete darüber: »Die Corona-Pandemie bietet nach Meinung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und anderen internationalen Spitzenpolitikern die Chance für eine Neuordnung der Weltpolitik.« Einer Ordnung ohne Demokratie, die Ordnung einer EU- oder Eliten-Oligarchie. So wie es Schomerus auf dem Verfassungs-Blog gefordert hatte. »»Die Welt wird nach Corona eine andere sein«, heißt es in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und andere Blätter. Die jetzige Krise biete auch Gelegenheit, »durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen – eine Ordnung, die auf Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit beruht«. Auch das Problem des Klimawandels könne nur global gelöst werden.42

An diesem Abend im Bendler-Block aber, nachdem Dr. Angela Dorothea Merkel ihre Rede gehalten hatte, setzte sie sich auf einen extra ausbedungenen Sessel, der wie ein Thron wirkte, um sich den Großen Zapfenstreich anzuhören und anzusehen. Ausgerechnet der Mann, der sie gefördert und den sie eiskalt abserviert hatte, hatte den Großen Zapfenstreich, der bis dahin den scheidenden Bundespräsidenten vorbehalten war, auch als Abschiedszeremonie für die Bundeskanzler der Republik eingeführt, nämlich Helmut Kohl. Angela Merkel wünschte sich drei Lieder, die man psychologisch deuten kann, wenn man will, und zwar den DDR-Hit »Du hast den Farbfilm vergessen«, mit dem Nina Hagen berühmt wurde, Hildegard Knefs Ballade »Für mich soll’s rote Rosen regnen« und den Choral »Großer Gott, wir loben dich«. Aber möglicherweise wurden diese Lieder auch deshalb so ausgesucht, damit sie psychologisch gedeutet werden sollten. Sie wusste um die Symbolik der Auswahl. Angela Merkel startete an diesem Tag ihre letzte Mission: ihre Rolle für die Nachwelt zu ordnen. Letztlich stellte die Auswahl der Lieder eine Ouvertüre dar für das, was nach dem Zapfenstreich begann, was Merkel als Aufgabe für sich nach der Kanzlerschaft sah. Wenig überraschend und wie alle Kanzler wollte sie nun ihr Bild in der Geschichte vorgeben. Es wird vermutlich Angela Merkels letzter Kampf sein, ein Kampf, den sie nicht gewinnen wird, was sie aber nicht weiß, nicht wissen kann, weil der Bundeskanzlerin a. D. historisches Denken, weil ihr letztlich die Eigenart von Geschichte wohl fremd ist.

Man kann Regierungschefs auch danach einteilen, ob sie ein Verständnis für die Geschichte besaßen, nicht im antiquarischen Sinne, sondern als Analyse von Gesellschaft im Rückblick verstanden, oder ob ihre Fähigkeiten eher in den verschiedenen Arten des Voluntarismus bestanden hatten. Winston Churchill und Helmut Kohl, der Mann, dem Angela Merkel den Aufstieg zur Macht zu verdanken hatte – was er am Ende seines Lebens tief bereuen sollte –, besaßen dieses ausgeprägte Verständnis für Geschichte, Helmut Schmidt ebenfalls, auch Viktor Orbán. Angela Merkel hingegen blieb dieses Verständnis fremd. Es heißt, sie habe sehr gern historische Werke gelesen, Bücher über Geschichte. Das mag sein, nur merkte man es nicht.

Ein hohes politisches Amt innezuhaben, Geschichte zu beeinflussen, nicht zu gestalten, nicht zu machen, denn niemand gestaltet, niemand macht Geschichte, schließt die Konsequenz ein, sich eines Tages auch vor der Geschichte verantworten zu müssen. Angela Merkel dürfte der Gedanke, sich zu rechtfertigen, nicht beschäftigen, weil eine Verantwortung für etwas anderes als für sich selbst, nämlich für ein Land, zu tragen ihr m. E. nicht in den Sinn kommt. Ihre erste und letzte Frage bei allen häufig sehr spät, zuweilen zu spät getroffenen Entscheidungen lautet, welche Konsequenzen hat die Entscheidung für mich, für meine Existenz, für meine Karriere, für mein Ansehen? Nicht Werte, nicht Traditionen, nicht die Analyse historischer Notwendigkeiten leiteten sie, sondern die Komplizenschaft mit dem Zeitgeist, der sich für sie im Geist der Medien erschöpfte, denn sie glaubte daran, dass man nicht gegen den Zeitgeist regieren könne, ohne jemals in Rechnung gestellt zu haben, dass Zeitgeist gleich Zeit minus Geist ist. Und Zeit vergeht. Die Aufgabe besteht stets darin, der Zeit etwas entgegenzustellen. Eine historische Chance wie die deutsche Wiedervereinigung hätte sie vermerkelt, den »Mantel der Geschichte« hätte sie vorbeirauschen sehen. Fehler vermag sie nicht einzugestehen, Gründe, weshalb man nicht anders handeln konnte, finden sich immer. Im Gründe-suchen und im Gründe-finden besteht das Geschäft derer, die sich die Wahrheit nicht eingestehen wollen.

Die wichtigste Aufgabe, die Angela Merkel unbedingt noch erfüllen will, besteht deshalb in der Hybris, ihren Platz in der Geschichte selbst zu bestimmen. Ihre größte schauspielerische Leistung glückte ihr in der Rolle der Bescheidenen, der Bodenständigen, der Unprätentiösen. Carl Einstein sprach einmal von den Dilettanten des Wunders, Angela Merkel ist im Gegensatz zu Helmut Kohl eine Dilettantin der Geschichte. Sie hat sie praktisch immer verachtet. Nun wird die Geschichte sie verachten. Den Mantel der Geschichte hielt sie stets für einen Mummenschanz aus böser, reaktionärer Vorzeit. Nun muss sie ohne ihn auskommen und steht deshalb da wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern. Dabei vermochten nicht einmal die drei deutschen Kaiser zwischen 1871 und 1918 so durchzuregieren, wie es Angela Merkel seit 2015 möglich war. Was hat sie aus dieser Chance gemacht? Hat sie sich mit den klügsten Fachleuten des Landes beraten, unvoreingenommen auch mit Blick auf eigene Entscheidungen alles auf den Prüfstand gestellt und ein Konzept für Deutschlands Aufstieg 2.0 entwickelt und durchgesetzt, wozu sie die Macht besaß? Daran wird die Geschichte sie messen, danach muss eine Biografie fragen, will sie nicht Hagiografie sein.

Angela Merkel hinterlässt ein Land, in dem aufgrund ihrer Politik des Ausspielens, ihres Hanges zu Verschwörungstheorien, die von den Medien willig transportiert werden, sich die Freunde mit den Freunden, die Eltern mit den Kindern und die Geschwister mit den Geschwistern entzweiten, ein Land, das tief in sich gespalten ist und mit sich im Krieg lebt. Man kann 700 Seiten, man kann sogar 1000 Seiten verfassen, ja selbst wenn man eine ganze Bibliothek schüfe, bliebe die Geschichte dennoch ungerührt. Geschichte ist nie das, was gewollt, sondern stets das, was gefunden wird – und zwar von der Nachwelt. Es wird auf den folgenden Seiten natürlich um Angela Merkel gehen, aber vor allem um Deutschland, denn die Frage lautet nicht so sehr, was befähigte Angela Merkel zu ihrer außergewöhnlichen Karriere, sondern vielmehr, wieso konnte Angela Merkel in Deutschland diese Karriere machen.

3. DIE RACHE AN DER CDU GENIESST MERKEL KALT

Die Frage, weshalb Angela Merkel zur CDU, zu der Partei, der sie alles zu verdanken hat, eine solch tiefe Distanz zu haben scheint, trifft den inneren Wesenskern ihrer Politik. Die Antwortet lautet, dass sie, wenn sie in den Spiegel der CDU schaut, eine Politikerin erblickt, von der sie nicht glaubt, sie wirklich zu sein. Vielleicht fühlte es sich an, wie in einem fremden Leben, wie in einer falschen Partei zu sein, wie einige empfinden, in einem falschen Körper leben zu müssen. Andererseits dürfte die CDU mehr Merkel sein, als selbst sie es wahrhaben möchte, und darin besteht der tiefere Grund der Abneigung. Sieht man das Wirken politischer Chamäleons wie Markus Söder, Daniel Günther, Hendrik Wüst und Michael Kretschmer, versteht man sogar Merkels Abneigung. Skurril daran ist nur, dass Angela Merkel im Grunde den Prototyp einer neuen Politikergeneration darstellt, der nur eine Überzeugung besitzt, nämlich die eigene Karriere voranzutreiben, sich hierfür in den Fächern Taktik und Intrige unablässig schult und stets das Bündnis mit den Medien sucht. Nicht, was das Land braucht, steht für diesen Typ im Mittelpunkt seines Wirkens, sondern das, was er benötigt, um voranzukommen. Dabei ist es ihm gleichgültig, wessen Parolen er gerade benutzt, die er als seine eigenen ausgibt. Als Mittel zum Zweck sieht dieser Politikertyp die Medien, vor allem die Mainstreammedien. Im Bestreben, sich diese Medien für die eigene Karriere dienstbar zu machen, weil sie aus Sicht dieses Politikertyps sein Bild in der Öffentlichkeit bestimmen, gerät er zugleich in die Abhängigkeit dieser Medien. Mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin verschwand auch die Distanz zwischen Mainstreammedien und Politik völlig, und es bildete sich, was man gemeinhin die »Berliner Blase« nennt: ein Interessenverbund aus Politik, Medien, Lobbyisten, die völlig abgehoben und unbeeindruckt von den Problemen des Landes, den Wünschen der Bürger und überhaupt der Realität leben. Jede Kritik am Brandmauer-Kombinat, was nur ein anderes Wort für die Berliner Blase ist, wird in die rechte Ecke gestellt – und »rechts« ist ein Schmuddel-Etikett, das denjenigen, der als »rechts« markiert wurde, in die Nähe des Nationalsozialismus rückt. Im Ergebnis wird das allerdings dazu führen, dass einerseits die politische Auseinandersetzung radikalisiert wird und andererseits der Holocaust und der Nationalsozialismus verharmlost werden, was durch die sachfremde Inflation der Begrifflichkeit geschieht. Indem die Bewohner der Berliner Blase immer weniger in der Lage sind, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, oder die Wirklichkeit ihrer Blase mit der Wirklichkeit des Landes verwechseln, entfernen sie sich von der Wahrnehmung der Bürger und verdeutlichen dadurch nur, dass Politik und Medien, dass die Politiker unterschiedlicher Parteien sogar einander näher sind als ihren Bürgern. Man sollte die soziologische Konsequenz der Abgehobenheit der Berliner Blase als neues Versailles und ihrer Bewohner, die sich unterbewusst selbst als neue Aristokratie sehen und bewusst von den Bürgern als neue Aristokratie wahrgenommen werden, nicht unterschätzen. Alle Bundeskanzler vor Angela Merkel prägte die Geschichte weit mehr, während Angela Merkel nachhaltiger von ihrer familiären Situation, von ihrem Vater geformt wurde. Sie hatte nicht die Ochsentour durch die Gremien der Partei bis in die Spitzenfunktionen durchgemacht, sondern stieg gleich in hoher Funktion ein. Sie lernte das wiedervereinigte Deutschland nie kennen, die Ängste und Nöte der vielen Ostdeutschen, die neu anfangen mussten, deren Leben infrage gestellt wurde, die über Arbeitslosigkeit und ABM-Maßnahmen fundamental von vorn zu beginnen hatten, ehemals gestandene Leute, die nicht auf ein über Jahre und Jahrzehnte gewachsenes Vermögen zurückgreifen konnten. Nach der ersten und letzten freien Volkskammerwahl wurde Merkel im April 1990 stellvertretende Regierungssprecherin der Regierung der DDR. Auch nach der Wiedervereinigung wurde für Merkel gesorgt, sie wurde im Herbst 1990 Ministerialrätin (A 16) im Bundespresse- und Informationsamt (BPA) und schließlich im Dezember 1990 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und bald darauf Bundesministerin für Frauen und Jugend. Im Dezember 1991 machte Helmut Kohl sie dann zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU. Ihren Aufstieg verdankte sie ihrem Vater, Lothar de Maizière und schließlich Helmut Kohl.

Angela Merkel hatte ihre Partei selbst in der Zeit, als sie Bundekanzlerin und Parteivorsitzende war, spüren und wissen lassen, wie sehr sie die CDU und ihre Funktionäre verachtete. Doch es gehören immer zwei dazu: einer, der verachtet, und einer, der sich verachten lässt. Es fragt sich, ob derjenige, der sich verachten lässt, nicht auch verachtenswert ist. Als im Dezember 2016 der Parteitag in Essen entgegen dem Koalitionsvertrag bei der Doppelstaatsbürgerschaft zur Optionspflicht zurückzukehren beschloss, verdeutlichte die inzwischen grünorthodoxe Präsidialkanzlerin, dass sie sich an die Beschlüsse des Parteitages ihrer Partei nicht gebunden fühlte – und die Funktionäre der Partei nahmen das hin. Sie kuschten. Statt ihre Pflichten als freigewählte Abgeordnete zu erfüllen, standen Bundestagsabgeordnete der CDU, die Hände an der Hosennaht, stramm vor »Mutti«, wie die Frau, die nie Kinder hatte und die sich von ihrem neuen Volk »Mama Merkel« nennen ließ, zu genießen schien, von den Funktionären ihrer Partei, von erwachsenen Frauen und Männern genannt zu werden. Da Angela Merkel wusste, dass sie die Partei noch brauchte, zügelte sie vorerst ihre starke Abneigung, obwohl sie damals schon gern während der Parlamentsdebatten ihre Geringschätzung des Bundestages dadurch demonstrierte, dass sie sich anscheinend lieber auf der letzten freien Bank des Parlaments ein Stelldichein mit Katrin Göring-Eckardt von den Grünen gab, als der Debatte zu lauschen. Was die abgebrochene Theologiestudentin von den Grünen und die wissenschaftsflüchtige Kanzlerin von der CDU einander zu sagen hatten, weiß niemand, doch zum Wohle der CDU war sicher nicht das, was wie in einer informelle Koalition zwischen den Grünen und der Präsidialkanzlerin besprochen wurde – und zum Wohl des Landes erst recht nicht. In der Frage der Massenmigration in die deutschen Sozialsysteme dürften beiden übereingestimmt haben. Katrin Göring-Eckardt jubelte nicht nur: »Jetzt bekommen wir auf einmal Menschen geschenkt«,43 sondern sie präzisierte, dass Merkels Gäste nicht für ihren Lebensunterhalt zu sorgen brauchten, dafür gab es ja genügend deutsche Arbeitnehmer und Steuerzahler: »… weil wir auch Menschen hier brauchen, die in unserem Sozialsystem zu Hause sind und die sich hier auch zu Hause fühlen können?«44 Angela Merkel jedenfalls befand, dass Deutschland so gar nicht mehr ihr Land sei, »wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen …«45 In Not gerieten die Deutschen. Dass eine Bundeskanzlerin dreist und überheblich die Bürger schurigelte, als hätten sie sich von Mutti oder von Mama Merkel eine Gardinenpredigt anzuhören, zeigt, inwieweit es Merkel schon gelungen war, die Grundfesten der Demokratie zu schleifen und die CDU zu einer Truppe von Duracell-Hasen zu machen, wie damals schon bitter gespottet wurde. Leisten konnte sie sich das, weil die Mainstreammedien unisono den Gassenhauer der »Willkommenskultur« jubilierten. Hätten die CDU-Funktionäre ein Fünkchen Ehre im Leib besessen, hätten sie das D in ihrem Parteinamen ernst genommen, hätten sie für die Abwahl dieser Kanzlerin sorgen müssen. Das wäre die einzig richtige Reaktion gewesen, denn der logische Schluss aus Merkels pampiger Ansage lautete doch: Wenn das nicht mehr das Land der Bundeskanzlerin ist, dann ist die Bundeskanzlerin auch nicht mehr die Bundeskanzlerin dieses Landes. Göring-Eckardt hatte recht, als sie sagte: »Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf.«46 Messermorde, Vergewaltigungen durch Merkels Gäste und Baerbocks Passagiere im Tagesrhythmus und Terroranschläge, die sich inzwischen zu einem verdeckten Dschihad entwickeln, sind die Folge aus Merkels Werk und der Grünen Beitrag. Wohl fühlte sich die Präsidialkanzlerin auch, so erzählen es die Bilder, beim Tête-à-Tête mit der Abgeordneten Annalena Baerbock im Bundestag.

Angela Merkel konnte sich die ostentative Abwendung von der eigenen Partei und die deutliche Zuwendung zu den Grünen mühelos leisten. Nur zu gut wusste sie, dass die Mandatsträger der CDU kuschen würden, weil sie darauf setzten, dass Merkel ihnen die Mandate erhalten würde. Deshalb verhindern sie die Aufarbeitung der Merkelzeit im Allgemeinen und die der Pandemie-Diktatur im Besonderen in der Hoffnung, dass man ihre Mitschuld im Laufe der Zeit vergisst. Die Geschichte ist jedoch das berühmte Schaf, das eines Tages das Gras, das über ihre Untaten gewachsen ist, ganz einfach abfrisst.

Der Große Zapfenstreich für die Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde nun auch zum Großen Zapfenstreich Merkels für die CDU, denn die hatte den Farbfilm vergessen. Man könnte die Frage stellen, wann die Entfremdung angefangen hatte? Doch sie hatte nicht irgendwann begonnen, sondern viel wahrscheinlicher ist es, dass ihr die Partei immer fremd blieb. Von Anfang an dürfte Angela Merkel die CDU vor allem als Karrieremaschine betrachtet haben, denn nur aus diesem Grund scheint sie sich 1990 für die CDU entschieden zu haben. Zwar erzählte sie im Interview Günter Gaus 1991, dass sie sich bei den basisdemokratischen Gruppierungen nicht zu Hause fühlte, doch existierten außer dem Neuen Forum und »Demokratie jetzt« noch die SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR, gegründet am 7. Oktober 1989 in Schwante bei Berlin), die LDPD und die NDPD, die später in der FDP aufgingen und als Blockparteien sich nicht von der CDU unterschieden. Unverständlich ist aus dieser Perspektive, weshalb sich dann Merkel nicht für die SDP entschied, eine rein ostdeutsche Gründung, die sich später SPD nannte und mit der West-SPD fusionierte? Basisdemokratisch war die SDP nicht, sondern traditionell demokratisch. Es existiert die Anekdote, dass Angela Merkel sah, dass in der SDP die junge, schön, kluge und beherzte Angelika Barbe sehr aktiv war. Merkels Instinkte sollten ihr signalisiert haben, dass ihr in der SDP der Aufstieg durch Barbe versperrt sein könnte, zumal sie dort mit keinen Förderern rechnen konnte. Eine Anekdote – und sollte sie sich auch nicht ereignet haben, weist sie dennoch auf eine tiefere Wahrheit. Die Wirklichkeit ist oft viel banaler, als große Geschichtsbetrachtungen es zu verklären trachten, denn aufgrund der engen Beziehungen ihres Vaters zur Familie de Maizière, besonders zu Clemens de Maizière, dem Vater von Lothar de Maizière und Onkel von Thomas de Maizière, boten sich in der CDU, die noch dazu einen Mangel an jungen Politikerinnen verzeichnete, die größten Aufstiegschancen.

Wie lange hatte Angela Dorothea Merkel auf diesen Tag gewartet, an dem sie die CDU demütigen und die Partei mit ihren Funktionären ohne Rückgrat das ganze Ausmaß ihrer Verachtung spüren lassen durfte? Niemand weiß, wann dieser Wunsch sich das erste Mal in ihr regte; bekannt ist nur, dass es am 11. April 2024 endlich so weit war. Ausgerechnet der Tagesspiegel