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Mutig, mutiger, Sophie Scholl: Neue Einsichten in das Leben einer Galionsfigur der Weißen Rose Gerade einmal 21 Jahre ist sie jung, als Sophie Scholl gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Scholl am 22. Februar 1943 hingerichtet wird. Ihr unerschrockener Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist bis heute Vorbild für Jugendliche und Erwachsene rund um den Globus. Zum 80. Todestag der Geschwister Scholl erscheint nun eine aufwändig recherchierte Biografie von Klaus-Rüdiger Mai, die emotional berührt. Anhand von Protokollen, Tagebüchern oder ihrem Briefwechsel mit Fritz Hartnagel zeichnet er wichtige Stationen im Leben einer mutigen Frau nach, die stets das Richtige tun wollte. - Ein Inbegriff von Zivilcourage: Die neue Sophie Scholl-Biografie zum 80. Todestag einer Ikone - Erst BDM-Mitglied, dann aktiver Widerstand gegen Hitler: Was bewegte Sophie Scholl zur Umkehr? - Über die Verführung der Jugend im Nationalsozialismus: Ein erkenntnisreicher Essay - Exzellent recherchiert und mit spannenden neuen Erkenntnissen zur Geschichte des Widerstands - Vom beliebten Autor zahlreicher historischer Biografien und Romane, Hans-Rüdiger Mai "Sag nicht, es ist fürs Vaterland." Sophie Scholls Weg in die Widerstandsgruppe Weiße Rose In jungen Jahren galt Sophie Scholl als glühende Anhängerin des Nationalsozialismus, war engagiertes Mitglied im Bund deutscher Mädel. Schon früh begeisterte sie sich für die Aufbruchstimmung, die sie in der Person Adolf Hitlers verkörpert sah. Nach und nach jedoch wurden ihr die schrecklichen Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie bewusst. Beseelt vom Gedanken der Wiedergutmachung wandte sie sich in ihrer Studienzeit der Weißen Rose zu. Behutsam zeichnet Mai den Gesinnungswandel von Sophie Scholl nach und setzt einer starken Frau der Widerstandsbewegung ein bewegendes Denkmal.
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„Siehst du:
einer muss anfangen,
Mut zu haben.
Ich weiß es endlich:
wenn ich Gelegenheit hätte,
Hitler zu erschießen,
so müßte ich es tun,
auch als Mädchen.“
Susanne Hirzel über Sophie Scholl in einem Brief an Ricarda Huch
KLAUS-RÜDIGER MAI
Sophie Scholls Weg in den Widerstand
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eISBN 978-3-98790-902-3
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Prolog „Sie war wie ein feuriger wilder Junge“
I. Vom Zauber des Nationalsozialismus
1. Der Verlust des Paradieses der Kindheit
2. Jugend hat Heimweh nach der Zukunft
3. „Unsre Fahne flattert uns voran“
II. Was es heißt, jung zu sein
1. Auf der Suche nach dem wirklichen Leben
2. Wir sind eine kleine verlorene Schar
3. Der Riss in der Ideologie
III. Ich würde Hitler erschießen
1. Wann beginnt Widerstand?
2. „Wer Heinrich Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht“
3. „Sag nicht, es ist fürs Vaterland“
4. „Gesegnet seien die Narren“
5. Im Widerstand
Verzeichnis der benutzten Literatur
Anmerkungen
„Denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und in der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen „Aaah!“ Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland?“
Jack Kerouac, „On the road“
„Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nicht begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland.“
Sophie Scholl an Fritz Hartnagel,
Ulm am 5. September 1939
„Für die Märtyrer der Freiheit. – Aus unserer Mitte sind böse, brutale und gewissenlose Menschen hervorgegangen, die Deutschland entehrt und Deutschlands Untergang herbeigeführt haben. Sie beherrschten das deutsche Volk mit einem so klug gesicherten Schreckensregiment, daß nur Heldenmütige den Versuch, es zu stürzen, wagen konnten. So tapfere Menschen gab es eine große Zahl unter uns. […] Sie sind dennoch nicht umsonst gestorben. Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichtes, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben. Sie sind das Element, in dem der Geist wächst, das Herz rein wird. […] Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Lebensbilder dieser für uns Gestorbenen aufzuzeichnen und in einem Gedenkbuch zu sammeln, damit das deutsche Volk daran einen Schatz besitze, der es mitten im Elend noch reich macht.“
Ricarda Huch
in den Hessischen Nachrichten am 4. Mai 1946
Jugend und Idealismus können sich zu einer explosiven Mischung verbinden – und Jugend ohne Ideale zu einem Tod vor dem Tod. Wie soll sich Jugend also finden? Diese Frage stellt sich zu allen Zeiten und harrt ihrer gültigen Beantwortung, weil es letztlich keine Antwort darauf gibt.
Auch ist die Geschichte der Jugend eine Geschichte des Missbrauchs von Jugend, die durch ihre Empathie für Ideale verführt wird, immer und immer wieder, vom Kinderkreuzzug über Savonarolas Kinderpolizei, über die Langemark-Generation bis hin zur „Letzten Generation“. Doch dem Missbrauch steht auch die unbedingte Widerständigkeit von Jugend entgegen, wie man sie bei den „Edelweißpiraten“ oder in der „Weißen Rose“ oder in der „Belter-Gruppe“ beobachten kann. Lässt sich Jugend also im Rahmen einer Staatsideologie ausnutzen und instrumentalisieren oder widersteht sie der Mehrheitsmeinung und findet sie im Beharren auf Individualität und Kultur zu sich? – Den letztgenannten Weg sind Sophie Scholl und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willy Graf gegangen. In einer Zeit, in der Ödön von Horváth den Roman „Jugend ohne Gott“ schrieb, in der sich Menschen vergotteten, taten sie etwas Unerhörtes: Sie suchten Gott, weil sie in Gott Heimat und die Möglichkeit eines sinnvollen und erfüllten Lebens zu finden hofften.
Zu allen Zeiten leuchten die Geschichten menschlichen Widerstands in der Erinnerung der Menschen – im überindividuellen Gedächtnis. Zu keiner Zeit büßen sie an Bedeutung und Aktualität ein, sie rühren im klassischen Sinn an das Erhabene. Und sind auf ihre eigene Art Liebesgeschichten, denn es findet sich dort kein Widerstand, wo zuvor keine Liebe existiert. Vielleicht beginnt sogar aller Widerstand mit Liebe.
Im Sommer 1946 entdeckt die Cellistin Susanne Hirzel in der Zeitung den Aufruf von Ricarda Huch, ihr Zeugnisse deutscher Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten zu schicken. Nachdem sie sich mit Sophies Schwester, Inge Scholl, in Verbindung gesetzt hat, beantwortet Susanne Hirzel den Aufruf der bekannten Schriftstellerin in einem langen wie informativen Brief, in dem es über Susanne und Sophie heißt:
„Wir waren Freundinnen. Durch ihren Tod ist sie mir ein heiliges Vorbild geworden. Wir lernten uns mit 14 Jahren im Jungmädelbund kennen. Sie war wie ein feuriger wilder Junge, trug die dunkelbraunen glatten Haare im Herrenschnitt und hatte mit Vorliebe eine blaue Fischerbluse oder eine Winterbluse ihres Bruders an. Sie war lebhaft, keck, mit heller klarer Stimme, kühn in unsern wilden Spielen und von einer göttlichen Schlamperei.“
Und einige Seiten später berichtet Susanne Hirzel:
„Im Januar 43 besuchte sie mich in Stuttgart und erzählte mir vom Münchner Kreis, sie würden unter anderem Flugblätter drucken. ‚Siehst du: einer muss anfangen, Mut zu haben. Ich weiß es endlich: wenn ich Gelegenheit hätte, Hitler zu erschießen, so müßte ich es tun, auch als Mädchen.‘“1
Sophie Scholls Weg ist ein erstaunlicher, womöglich, wie man es heute ausdrücken würde, eine Radikalisierung: von der Jungmädelführerin (die es im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) bis zur Gruppenführerin bringt und damit in Ulm zur Vorgesetzten von einhundert Mädchen) zur Widerstandskämpferin, die nicht davor zurückschrecken würde, Hitler eigenhändig zu erschießen. Doch wenn man sich mit dem Leben und dem Denken von Sophie Scholl beschäftigt, mit ihrem kurzen, doch ereignisreichen Dasein in dieser Welt, dann verfehlt der Begriff Radikalisierung die intellektuelle Entwicklung Sophie Scholls – auch wenn an der Ernsthaftigkeit, mehr noch an der Verwirklichungsbereitschaft dieser Drohung nicht zu zweifeln ist.
Es ist der Versuch von Jugend, zu sich zu kommen. Doch wo Jugend zur Knüppelgarde einer herrschenden Ideologie wird, ist sie niemals bei sich. So viel steht fest, die Bereitschaft, Adolf Hitler mit eigenen Händen zu töten, ist keine Prahlerei, kein monströses Zeugnis eines Hasses, der sich übersteigert, weil er sich nicht äußern kann. Vielmehr resultiert sie aus der tiefen Einsicht in die Notwendigkeit, gar in die Pflicht, die, ergäbe sich für Sophie Scholl die Möglichkeit, sie auch zu erfüllen habe.
Sie würde diese Pflicht erfüllen. So viel bleibt sicher. Auch wenn sie sich im Laufe der Zeit immer stärker in die katholische Philosophie begibt, wirkt in ihr als unbewusstes protestantisches Erbe ihrer Mutter dennoch Kants kategorischer Imperativ. Selbst wenn sie vermutlich Immanuel Kant nie gelesen hat und sie womöglich beeinflusst von ihrem Bruder Hans, der wiederum sehr stark von Theodor Haecker gedanklich abhängt, Kant verabscheut, so findet sich der Grundimpuls der Abwendung von der nationalsozialistischen Ideologie in Kants Vorstellung vom mündigen Bürger. Dort, wo Otl Aicher und Theodor Haecker widerstehen, gehen Sophie und Hans Scholl über sie hinweg, weiter – zum Widerstand über, zum Kampf, getrieben von dem urprotestantischen Impuls, den Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms so formulierte: „Das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.“2
Doch Sophie muss nicht die Schriften Immanuel Kants, nicht die „Metaphysik der Sitten“, nicht die „Kritik der praktischen Vernunft“, nicht die „Kritik der Urteilskraft“ und auch nicht den kleinen, epochemachenden Aufsatz „Was ist Aufklärung“ gelesen haben. Dessen Denken, Einsichten und Forderungen erreichen sie dennoch – und zwar über den im Elternhaus verehrten Friedrich Schiller. Zu dieser Zeit wird im deutschen Bürgertum, besonders im liberalen, Schiller wie kein Zweiter verehrt. Goethe auch, aber vor allem Schiller. Der Cocktail aus Heroismus, Liberalität, Philosophie und Ästhetik überwältigt, wie er in Versen zum Ausdruck kommt, die zu geflügelten Sätzen, ja zu Weltanschauungen werden: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ und „Der Starke ist am mächtigsten allein“. Für die Philosophin Edith Stein, die 1891 im gleichen Jahr wie Sophies Vater, Robert Scholl, geboren worden ist, gilt Schiller als der wichtigste Dichter ihrer Jugend, dem sie ein ganzes Leben lang die Treue halten wird.
So haben auch die Eltern Scholl im Tagebuch, das sie der ältesten Tochter, Inge, zum 16. Geburtstag am 11. August 1933 schenken, einen Vers von Schiller aus dem lyrischen Spiel „Die Huldigung der Künste“ geradezu leitmotivisch zitiert: „Wisset, ein erhabener Sinn/Legt das Große in das Leben,/Und er sucht es nicht darin.“3 Schiller hatte einst, buchstäblich in letzter Minute, seinem Freund Goethe mit dem lyrischen Spiel aus der Bredouille geholfen. Goethe oblag es nämlich, ein kleines Huldigungsspiel auf den Brettern des Weimarer Theaters zu geben – zu Ehren der russischen Großfürstin Maria Paulowna, der Tochter Zar Pauls I., die den Weimarer Erbprinz Karl August geheiratet hatte. Das lyrische Spiel, das dank Schiller unter großem Zeitdruck in nur vier Tagen entstand, wurde am 12. November 1804 auf dem Hoftheater zu Weimar aufgeführt und handelte im Grunde davon, wie die Weimarer der russischen Fürstin helfen könnten, in der Fremde heimisch zu werden. „Lehrt uns sie binden,/O, lehret uns, ihr wohlgefällig zu sein!“ Die Antwort, wodurch die Fremde an das neue Vaterland gebunden wird, lautet Liebe und Kunst, denn „Alles Glück wird nur durch uns vollendet.“ Die einzelnen Künste geben sich als Allegorien zu erkennen, um gemeinsam am Ende zu verkünden: „Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben/Erhebt sich, wirkend erst das Leben.“
Bereits hier wird der Verweis auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ unüberhörbar, denn dort heißt es: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.“4 Und: „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles Andere klein ist.“5 Unüberlesbar warnt der Vers davor, sich dem, was sich als Großes betitelt, anzuschließen, das sich selbst vergottet und sich selbst vergotten muss, weil es fern von Gott ist, nämlich dem Nationalsozialismus.
Robert und Lina Scholl spüren, dass sie ihre Kinder an das System verlieren, und stellen Schillers Freiheitspathos gegen den Fanatismus der Hitlerbewegung. Es geht eben nicht darum, sich anzupassen, einem vermeintlich Großen zu dienen, im Leben etwas zu suchen, sondern sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, es zu gestalten, Großes in sein Leben zu bringen und nicht, sich dem vermeintlich Großen anzuschließen und ihm hinterher- und mitzulaufen. Es geht um das Ich, um das Individuum. Doch als sie dem Tagebuch dieses Motto verleihen, ahnen weder die Eltern noch die Kinder, als Inge diesen Vers den Geschwistern laut vorliest, dass dieser sich auf nicht zu erwartende Weise bewahrheiten wird. Denn was die Scholl-Kinder im Leben erblicken, ist nur das, was sich unendlich bemüht, groß zu sein: die humorlose, dafür umso grausamere Operette des Nationalsozialismus, dessen Talmiglanz auch die Scholl-Kinder zunächst erliegen, weil Jugend nach Gemeinschaft sucht.
Von der begeisterten BDM-Führerin und Hitler-Verehrerin zur Widerstandskämpferin und, wenn es gefordert würde, zur Attentäterin führte für Sophie Scholl gewiss kein gerader, sondern ein, wenn auch kurzer, mäandernder Weg.
Heute wie für kommende Zeiten – für das Verständnis der braunen und der roten Diktatur in Deutschland wie auch für die Immunisierung gegen jegliche totalitäre Versuchung, in welchen Farben sie auch ihre Verlockungen ausbreitet, – ist es von höchster Bedeutung zu verstehen, wie Indoktrination funktioniert. Und von nicht geringerem Interesse ist, wie die Befreiung aus eben dieser, wie die De-Indoktrination gelingt. Denn es ist leichter, sich in einem falschen Glauben wiederzufinden, als dessen Falschheit zu entdecken und wieder herauszufinden. Von beidem, mehr aber noch vom zweiten, handelt dieser Essay.
Anfang und Ende dieses Prozesses haben als Mittelpunkt immer das Ich, in diesem Fall Sophie Scholls Ich. Und die Geschichte lehrt uns mit einer Fülle an Beispielen: Wer vom Ich zum Wir will, befindet sich auf dem Weg in die Diktatur. Der Weg aber vom Wir zum Ich führt hinaus.
Die Bibel gilt gemeinhin als das Buch der Bücher, unter anderem, weil sich in ihr alle Geschichten als Archetypen und als Paradigmen finden: diejenigen, die geschehen sind, wie auch diejenigen, die noch geschehen werden. Am Anfang der Geschichte der Menschen steht der Verlust des Paradieses, zum ersten Mal in der Bibel erzählt, und seitdem immer wieder zu anderen Zeiten und mit anderem Personal traktiert. Auch Erwachsenwerden findet oft als Verlust des Paradieses der Kindheit statt.
Sophie und ihre vier Geschwister empfinden das „kleine Kocherstädtchen, das am Hang des Kochertals gelegen war, im Norden Württembergs, wo man nicht mehr reines Schwäbisch, sondern Hohenloisch-Fränkisch spricht“6, geradezu als Paradies. Die älteren Kinder, Inge und Hans, erblicken zwar noch 1917 und 1918 im württembergischen Ingersheim an der Jagst, das heute zu Crailsheim gehört, das Licht der Welt, doch Elisabeth, genannt Liesl, wird bereits in der Wohnung in dem großen verschatteten Bau, dem Rathaus zu Forchtenberg, im Jahr 1920 geboren. Ein Jahr später kommt dort am 9. Mai 1921 Lina Sofie, die sich später Sophie schreiben wird, zur Welt und 1922 Werner, jüngster Sohn und jüngstes Kind der Scholls. Die fünf Kinder erleben ihre Kindheit in dem „beschaulichen Städtchen im Kochertal“7, das so malerisch gelegen ist, dass der Vater in seinem Amt als Bürgermeister des knapp 900-Seelen-Städtchens einen beharrlichen Kampf für den Eisenbahnanschluss und letztlich für die Ankunft Forchtenbergs im 20. Jahrhundert auszutragen hat. Als Kinder des Bürgermeisters gehören die Scholls zur städtischen Oberschicht und spielen mit den Sprösslingen der Ratsleute, des Arztes, des Apothekers, des Pfarrers. Doch vor allem ist die Familie, bilden die Geschwister eine unerschütterliche Einheit. Die Familie bleibt der geschützte Raum des Lebens, der Freude und der Sicherheit. So ist es kein Zufall, dass als höchstes aller Familienfeste die Scholls Weihnachten besonders ausgiebig feiern. Selbst tiefe und heftige Auseinandersetzungen münden bei ihnen nicht in Zerwürfnissen, der Familienverband hält diese aus.
Während Sophie am 1. Mai 1928 eingeschult wird, besteht Inge Scholl die Aufnahmeprüfung für die Oberrealschule in Künzelsau. Für Sophie bringt beides erste große Veränderungen mit sich. Nicht nur, dass sie von der Kleinkinderschule in die Unterstufe der Volksschule wechselt, ihre Schwester Inge wohnt nun auch unter der Woche bei der Großmutter in Künzelsau, um den beschwerlichen Fahrweg von einer Stunde von Forchtenberg nach Künzelsau zu vermeiden. Die neue Situation verändert für alle das bewährte Familiengefüge: Inge, die sich als Älteste immer verantwortlich für ihre jüngeren Geschwister fühlte, ist nun viel weniger zu Hause. Sie war es, die ihrer jüngsten Schwester das Schwimmen, das Sophie so sehr liebt, beigebracht hat. So konnte Sophie bereits mit sechs Jahren das erste Mal durch den Kocher schwimmen, durch den Fluss, der das Kochertal durchschneidet.
Seit diesem 1. Mai ist für Sophie die Familie nun nicht mehr Tag für Tag zusammen. Doch abgesehen davon, dass der Vater heftige und zähe Kämpfe mit einigen Bürgern der Stadt ausfechtet, gerade um die Modernisierung – beispielsweise den Anschluss an das Schienennetz – durchzusetzen, berührt das Sophie wenig, die nach Herzenslust in der schönen Natur des Kochertals spielen und ihre Wildheit ausleben kann. Später wird sich die Schwester, Inge, wie folgt an Sophies Kinderjahre erinnern:
„Hand in Hand mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Werner unternahm sie die kleinen Streifzüge und Abenteuer in die Welt (…) Dabei wurde sie in ihrem Spielhöschen mit ihrem glänzend glatthaarigen, dunkelbraunen Pagenkopf, dem ebenmäßigen, stolzen Gesichtchen und dem energischen, aufrechten Gang für den Jungen gehalten, während man den von Übermut und Lebenslust sprühenden, bildhübschen, blonden Lockenkopf ihres Brüderchens für das Mädchen hielt (…) Am Fuß des Städtchens zieht sich der stille, blinkende Fluss träumend hin (…) Sophie liebte das Wasser so sehr, wie nur ein Kind es lieben kann, und lernte schon mit sechs Jahren schwimmen. Nie werde ich vergessen, welche stille Siegerseligkeit sie erfüllte, als sie an meiner Seite zum ersten Mal den ganzen, zwanzig Meter breiten Fluss überschwommen hatte und nun strahlend und mit triefenden Haaren an einem der tief herabhängenden Weidenarme geklammert hing.“8
Drei Jahre wird Sophie wie ihre älteren Geschwister Inge, Hans und Elisabeth die dreistufige Volksschule besuchen. Da immer zwei Klassen zu Unter-, Mittel- und Oberstufe zusammengefasst werden, sitzt sie 1928/29 in der ersten Klasse mit ihrer Schwester Elisabeth in einem Klassenraum. Irgendwann in dieser Zeit äußert das zwar zurückhaltende, aber durchaus nicht schüchterne Mädchen selbstbewusst: „Die Brävste bin ich nicht, die Schönste will ich gar nicht sein, aber die Gescheiteste bin ich immer noch.“
Klugheit wird eine zentrale Rolle im Leben der Sophie Scholl einnehmen. Zwar wird sie leicht für schüchtern gehalten, weil sie nicht wie ihr Bruder Hans das große Wort führt, doch bedeutet eine kühle Zurückhaltung nicht Schüchternheit, sondern eine besondere Klugheit, ein Reflexionsvermögen, wie es besonders in der Renaissance hochgeschätzt wurde, wenn man die vita contemplativa über die vita activa stellte. Sophie nimmt alles in sich auf, prüft und bewertet es.
Aber das Paradies wird bedroht und, so berichtet die Bibel, es ist dem Menschen nicht gegeben, im Paradies zu verbleiben, sondern es gehört zum Leben dazu, aus dem Paradies vertrieben zu werden. Auch wenn es im kleinen und etwas abseits gelegenen Forchtenberg nicht direkt spürbar ist, die Spannungen in der Weimarer Republik nehmen stetig zu. Noch vermag Stresemanns kluge Politik die Gegensätze und Interessen auszugleichen. Doch Deutschland gelingt es nach dem Krieg nicht, zu einer gelassenen Bürgerlichkeit zu finden. Politische Romantik in weiten Teilen des Bürgertums lässt erst recht keinen politischen Realismus zu. Die Sehnsucht nach einem Führer, dem Heroen, der über dem „kleinlichen Parteiengezänk“ steht, bewegt weite Teile des Bürgertums und die Jugend vor allem in ihren Bünden, wie der „Deutschen Freischar“. Selbst die Hymne der Demokratie beginnt nicht mit Freiheit, sondern mit Einigkeit. Kultur steht im Wertekanon des deutschen Bürgertums weit über der Zivilisation. Die Franzosen besitzen eine Zivilisation, die Deutschen jedoch eine Kultur, so denkt man. Thomas Mann schreibt mitten in Ersten Weltkrieg dazu in den larmoyanten „Betrachtungen eines Unpolitischen“: