Edukative Aktivitäten und Interventionen in der Pflege - Matthias Mertin - E-Book

Edukative Aktivitäten und Interventionen in der Pflege E-Book

Matthias Mertin

0,0

Beschreibung

Edukative Aktivitäten zur Förderung des Selbstmanagements von Menschen mit chronischen Erkrankungen sind ein zentrales Aufgabenfeld der professionellen Pflege. Hierzu zählen die Förderung der Health Literacy, die strukturierte Schulung sowie die Stärkung der Selbstfürsorge. Auf der Basis von bezugs- und pflegewissenschaftlichen Theorien und Modellen sowie aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, erwirbt die Leserin/der Leser die Grundlagen von patientenzentrierten Beratungen, Anleitungen und Schulungen und kann dadurch die betroffenen Menschen in Belastungs-, Entscheidungs- oder Konfliktsituationen unterstützen. Durch die Gestaltung von edukativen Interventionen werden die Selbstpflegekompetenzen betroffener Menschen erweitert und stabilisiert, sodass ein Leben mit einer chronischen Erkrankung bewältigt werden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autor/-innen

© Hochschule Niederrhein

Prof. Dr. rer. medic. Matthias Mertin ist Professor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Niederrhein. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter konzipierte er Patientenschulungen und -beratungen an der Universität Osnabrück. Hier konnte er umfangreiche praktische Erfahrungen in der Beratung und Schulung von über 3000 Patientinnen und Patienten sammeln. Von 2010 bis 2019 war er als Professor für Pflegewissenschaft mit dem Anwendungsschwerpunkt Beratung an der FH Bielefeld tätig und entwickelte dort u. a. gemeinsam mit Frau Prof. Müller und Kolleginnen ein Konzept zur Implementierung von Pflegegeleiteten Entscheidungsberatungen für Angehörige von Menschen mit Demenz. Seit 2019 lehrt er Pflegewissenschaft in einem dualen und in einem berufsbegleitenden Pflegestudiengang an der Hochschule Niederrhein. Bis heute ist er in der Durchführung von Patientenschulungen und -beratungen tätig. Prof. Mertin ist aktives Mitglied der Sektion Beraten, Informieren, Schulen (BIS) in der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V.

Prof. Dr. phil. Irene Müller ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Fachhochschule Bielefeld. Nach ihrer Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin in Innsbruck (Österreich) sammelte sie über 30 Jahre Berufserfahrung in unterschiedlichen klinischen und ambulanten Settings (Intensivpflegestationen, Transplantationschirurgie, Dialyse). Im Rahmen ihrer Dissertation hat sie sich auf das Belastungserleben von pflegenden Angehörigen sowie auf Entlastungsangebote (beispielsweise Beratung und Information zur Reduzierung von Wissensdefiziten) spezialisiert. Gemeinsam mit Prof. Mertin war sie an der Erarbeitung des Konzeptes zur Implementierung von Pflegegeleiteten Entscheidungsberatungen beteiligt.

Matthias Mertin/Irene Müller

Edukative Aktivitäten und Interventionen in der Pflege

Chronisch Kranke beraten, anleiten, schulen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Piktogramme

Fallbeispiel

Zielsetzung

Lernaufgaben

Reflexionsaufgaben

Gesetzestext

Merke

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033792-3

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033793-0

epub:     ISBN 978-3-17-033794-7

mobi:     ISBN 978-3-17-033795-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

 

 

 

Noch nie hatten so viele Menschen die Möglichkeit, in einem guten Gesundheitszustand ein hohes Alter zu erreichen. Zugleich hat sich die Rolle von Patientinnen und Patienten in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert und entwickelt sich weg von einem paternalistischen hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis mit den verschiedenen Gesundheitsberufen. Obwohl mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit einer chronischen Erkrankung ansteigt, so gibt es dennoch sehr viele Möglichkeiten, ein hohes Maß an relativer Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten. Die Voraussetzung dafür ist, dass diese Menschen ihr alltägliches Leben und die krankheitsbedingten Erfordernisse in Übereinstimmung bringen. Unter anderem spielen eduaktive Aktivitäten bei der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen eine wichtige Rolle, da sie ihr Selbstmanagement in hohem Maße fördern und eine zunehmende Evidenz für ihre Wirksamkeit vorliegt. Der Profession Pflege kann dabei eine übergeordnete Rolle zukommen, da sie im Vergleich zu anderen Berufsgruppen eine hohe Alltagsnähe sowohl zu chronisch kranken oder pflegebedürftigen Menschen als auch zu ihren Angehörigen hat. Zugleich verbringen Pflegefachkräfte viel Zeit im direkten Kontakt mit Patientinnen und Patienten, was zu einem hohen Vertrauen führt und das Arbeitsbündnis fördert. Insbesondere bei chronischen Erkrankungen ist es für Menschen wichtig, mit der Erkrankung vor allem langfristig gut und möglichst ohne Komplikationen leben zu können. Hierzu braucht es edukative Aktivitäten, die das Selbstmanagement fördern und somit das Krankheitsmanagement unterstützen.

Das vorliegende Buch hat sich zwei Ziele gesetzt. Zum einen sollen moderne edukative Interventionen aufgezeigt werden, die das Selbstmanagement von Patientinnen und Patienten mit einer chronischen Erkrankung fördern können. Zum anderen ist es das Ziel des Buches, neue Handlungsfelder für akademisch qualifizierte Pflegekräfte aufzuzeigen.

Dem Buch ist ein intensiver Diskussionsprozess im Hinblick auf die Auswahl der Inhalte vorausgegangen. Hierfür bedanken wir uns bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Ansatzpunkt war sehr oft die Frage, ob sich das Buch an den bekannten Inhalten zu den Themen Beraten, Informieren und Schulen in der Pflege orientieren solle. Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, dem Konzept der Selbstmanagementunterstützung als übergeordnetes Ziel der Patientenedukation zu folgen und dies im vorliegenden Buch deutlich zu machen. Einige der vorgestellten Selbstmanagementförderungen sind in Deutschland nicht neu. Patientenschulungen haben seit langem eine Tradition in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Neu ist hierbei, dass diese als ein möglicher Arbeitsbereich von Pflegekräften aufgegriffen werden. Dies ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass einer der beiden Autoren seit 15 Jahren seine pflegerische, pflegewissenschaftliche und pflegepädagogische Expertise in die Entwicklung, Implementierung und Evaluation von Patientenschulungen eingebracht und auch zugleich dort entwickelt hat.

Zu den Themen Beratung, Informieren, Schulen und Anleiten liegen bereits mehrere exzellente Lehrbücher vor, die für die Pflegepraxis verschiedene Möglichkeiten und Methoden aufzeigen. Aus unserer Sicht hätte es keinen Sinn gemacht, das bereits zur Verfügung stehende Wissen erneut aufzugreifen, wir verweisen jedoch in den jeweiligen Kapiteln auf diese Bücher. Zugleich ist es uns wichtig, dem bestehenden Wissen Neues hinzuzufügen. Deshalb haben wir aus einer Vielzahl möglicher Bereiche diejenigen ausgewählt, mit denen wir selbst bereits praktisch in Kontakt gekommen sind oder die wir für relevant und zukünftig umsetzbar halten.

Einige der im Buch aufgegriffenen Möglichkeiten der Selbstmanagementförderung haben für Deutschland einen eher innovativen Charakter. Dies betrifft insbesondere die Entscheidungsberatung. Wir hoffen, einen Beitrag dazu leisten zu können, diese Innovationen im Feld der professionellen Pflege bekannt zu machen und für deren Wichtigkeit zu sensibilisieren.

Den Autoren ist bewusst, dass nicht alle aufgezeigten Felder gegenwärtig im deutschsprachigen Raum existieren. Trotzdem ist es uns wichtig, mögliche zukünftige und im Ansatz bereits bestehende Arbeitsbereiche vorzustellen. Gerade in einem sich schnell und stark verändernden Gesundheitswesen mit einer Zunahme an akademisch qualifizierten Gesundheitsberufen ist es Absolventinnen und Absolventen möglich, nicht nur in das Berufsfeld einzumünden, sondern es auch verantwortlich und aktiv mitzugestalten. Die eigenen Erfahrungen in der Qualifizierung von akademischen Pflegefachkräften hat uns gezeigt, dass diese in der Lage sind, Probleme in der Umsetzung des Selbstmanagements in der Praxis zu erkennen, dafür Lösungsansätze zu entwickeln und in der Auseinandersetzung mit weiteren Verantwortlichen auf Augenhöhe mit Patientinnen und Patienten umzusetzen. Bei der Verbreitung von Innovationen sind Kommunikationsprozesse das entscheidende Medium. Diese beinhalten sowohl jene mit chronisch kranken Menschen als auch intra- und interprofessionelle Kommunikationsprozesse. Dazu möchten wir mit diesem Buch beitragen.

 

Matthias Mertin und Irene Müller

Juli 2020

Inhalt

 

 

 

Vorwort

1   Chronische Erkrankungen und Patientenedukation

Irene Müller, Matthias Mertin

1.1   Praxisbeispiel

1.2   Edukative Interventionen

1.3   Die Bedeutung chronischer Erkrankungen für das Handlungsfeld der professionellen Pflege

1.3.1   Kennzeichen chronischer Erkrankungen

1.3.2   Notwendigkeit von Patientenedukation

1.4   Aufgaben und Kompetenzen von Pflegefachpersonen

1.4.1   Erweiterte Kompetenzen von akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen

1.4.2   Experteneinschätzungen zu zukünftigen Aufgabenbereichen von Pflegefachpersonen

1.5   Übergeordnete Ziele der Patientenedukation

1.5.1   Berücksichtigung von Patientenpräferenzen

1.5.2   Partizipation

1.5.3   Shared Decision Making

1.5.4   Problemlösungskompetenz

1.5.5   Adhärenzförderung

1.6   Fazit

Literatur

2   Health Literacy

Irene Müller

2.1   Praxisbeispiel

2.2   Einführung

2.3   Was ist Health Literacy?

2.4   Die Bedeutung von Health Literacy in der Pflege

2.5   Nationaler Aktionsplan

2.6   Die Bedeutung von Health Literacy im Kontext chronischer Erkrankungen

2.7   Vulnerable Gruppen

2.8   Strategien und Methoden zur Förderung von Health Literacy

2.8.1   Instrumente, die Beraterinnen und Beratern dabei helfen, Ratsuchende mit geringer Gesundheitskompetenz zu erkennen

2.8.2   Gesprächstechniken

2.8.3   Instrumente zur Erstellung bzw. Beurteilung schriftlicher Gesundheitsinformationen

2.8.4   Methoden für die Gesprächsführung im strukturierten Beratungsgespräch

2.9   Patienten-Informations-Zentren in Deutschland (PIZ)

2.9.1   Inhaltliche Schwerpunkte von Patienten-Informations-Zentren

2.10 Fazit

Literatur

3   Strukturierte Schulungsprogramme

Matthias Mertin, Irene Müller

3.1   Praxisbeispiel

3.2   Einleitung

3.2.1   Ziele und Wirkungsweise

3.2.2   Wirkmodell

3.2.3   Wirksamkeit von Patientenschulungen

3.2.4   Aktuelle Schulungspraxis

3.3   Theoriebasierung

3.3.1   Motivationale Modelle

3.3.2   Volitionale Modelle

3.3.3   Stadien- oder Stufenmodelle

3.4   Didaktik und Implementierung von Patientenschulungen

3.4.1   Umsetzung von Patientenschulungen

3.4.2   Informationsvermittlung

3.4.3   Nutzung empirischer Ergebnisse aus der Bildungsforschung

3.4.4   Motivierung zum Abbau von Risikoverhalten und zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil

3.4.5   Erwerb von Fertigkeiten

3.5   Anleitung

3.5.1   Vier-Stufen-Methode

3.5.2   Cognitve Apprenticeship

3.5.3   Modeling mit Metalog

3.6   Mikroschulungen

3.7   Fazit

Literatur

4   Self-Care-Support

Matthias Mertin, Irene Müller

4.1   Praxisbeispiel

4.2   Konzept und Definition

4.3   Self-Care-Theorie bei chronischen Erkrankungen

4.3.1   Schlüsselelemente der Theorie

4.3.2   Self-Care-Maintenance

4.3.3   Self-Care-Monitoring

4.3.4   Self-Care-Management

4.3.5   Beeinflussende Faktoren

4.3.6   Bedingungen für ein erfolgreiches Self-Care-Management

4.4   Selbstmanagementunterstützung – Strategien und Interventionen

4.5   Vermittlung von geeigneten Informationen

4.5.1   Schriftliche Informationen

4.5.2   Handlungspläne/Stoplight Action Plans

4.5.3   Patientenlogbücher/Patient Held Records

4.6   Motivational Interviewing

4.6.1   Prozesse des Motivational Interviewings

4.6.2   Techniken zur Durchführung des Motivational Interviewings

4.6.3   Erstellung eines Änderungsplans

4.6.4   Anwendungsbereiche & Wirksamkeit

4.7   Beratung

4.8   Fazit

Literatur

5   Pflegegeleitete Entscheidungsberatungen

Matthias Mertin, Irene Müller

5.1   Praxisbeispiel

5.2   Informierte partizipative Entscheidungsfindung

5.2.1   Die Pflegediagnose »Entscheidungskonflikt«

5.2.2   Partizipative Entscheidungsfindung

5.2.3   Beteiligung der Patientinnen und Patienten

5.2.4   Methoden und Hilfsmittel

5.2.5   Interprofessionelle Praxis der gemeinsamen informierten Entscheidungsfindung

5.3   Decision Coaching

5.3.1   Das Entwicklungs- und Forschungsprojekt SPUPEO

5.3.2   Das Entwicklungs- und Forschungsprojekt DECIMS

5.4   Ein Ausblick auf die Umsetzung von Decision Coaching in Deutschland

5.5   Umsetzungsmöglichkeiten im Rahmen der Pflegeberatung

5.6   Fazit

Literatur

Register

1          Chronische Erkrankungen und Patientenedukation

Irene Müller, Matthias Mertin

Das Ziel des ersten Kapitels ist es, einerseits die Bedeutung der wachsenden Anzahl chronisch kranker Menschen und die daraus resultierenden Auswirkungen auf ihr alltägliches Leben darzustellen und andererseits Möglichkeiten aufzuzeigen, die den betroffenen Menschen ein Leben mit ihrer chronischen Erkrankung mit einer möglichst hohen Lebensqualität ermöglichen sollen. Dazu werden vorerst die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die erweiterten Kompetenzen von akademisch ausgebildeten Pflegefachpersonen im Rahmen von Patientenedukation beschrieben sowie auf Konzepte, Strategien und übergeordnete Ziele der Patientenedukation eingegangen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte haben unter anderem dazu geführt, dass Patientinnen und Patienten an ihren gesundheitsbezogenen Entscheidungen partizipieren wollen und ihre Präferenzen berücksichtigt werden. Das Leben mit einer chronischen Erkrankung bedeutet unter anderem, Symptome richtig einzuschätzen und daraus resultierende Probleme zu lösen. Das Leben mit einer chronischen Erkrankung zieht unter anderem auch die korrekte Einnahme bzw. Applikation von Medikamenten nach sich und ist somit mit adhärentem Verhalten verbunden. Schließlich sind diese Menschen mit grundlegenden Veränderungen in ihrem Selbstpflegeverhalten konfrontiert.

1.1       Praxisbeispiel

Der Pflegestudierende Adam N.1 befindet sich im 6. Semester seines dualen Pflegestudiums und ist aktuell auf einer internistischen Station eingesetzt. In den vergangenen Tagen hat er u. a. Frau Beier betreut, eine 57-jährige Diabetikerin, die in den vergangenen Jahren mehrmals wegen aufgetretener Hypoglykämien stationär behandelt wurde. Frau Beier hat ihm in einem Gespräch verraten, dass sie sich gern mit Freundinnen zum Kartenspielen trifft und dabei auch mal ein Glas Wein und Eierlikör trinkt. Und ein Stück Kuchen gäbe es da auch häufiger. Während einer Dienstübergabe spricht Adam an, dass er von Frau Beier gehört habe, dass ihr Zielblutzucker bei ungefähr 110 mg/dl liegen soll. Im Rahmen seines Studiums habe er jedoch gelernt, dass nach aktuellen Erkenntnissen zu niedrige Blutzuckerzielgrenzen die Gefahr von Hypoglykämien erhöhen. Seiner Meinung nach müsse die Patientin im Hinblick auf das Blutzuckermanagement beraten werden. Daraufhin meldet sich eine Kollegin zu Wort und weist Adam Nowak darauf hin, dass für die Beratung der Diabetes-Patienten die Stationsärztin zuständig sei.

Als er wieder in einer Theorie-Phase in der Hochschule ist, spricht er dies bei seinen Mitstudierenden an, da er selbst bisher der Meinung war, dass Patientenedukation ein wichtiger Teil der professionellen Pflege sei. Unter seinen Mitstudierenden sehen das jedoch nicht alle so. Einige meinen, dass kleinere Beratungstätigkeiten durchaus von Fachpflegepersonen übernommen werden könnten, aber so etwas wie Patientenschulungen sei dann doch eher die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten.

1.2       Edukative Interventionen

Erhöhter Bedarf an edukativen Unterstützungsmaßnahmen

Edukative Aktivitäten und Interventionen gelten schon seit längerer Zeit als zentrale Bestandteile einer professionellen Pflegepraxis. Bereits mit der Einführung des Krankenpflegegesetzes im Jahr 2003 wurden neue Anforderungen an die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege formuliert, in denen der Beratung und Anleitung von Patientinnen und Patienten ein besonderer Stellenwert zukam (Hummel-Gaatz & Doll 2007). Mit der Einführung des Pflegeberufereformgesetzes im Jahr 2017 wurden edukative Aufgaben von Pflegefachpersonen noch einmal deutlich betont. Der Grund hierfür liegt auch darin, dass im gesamten nationalen Gesundheitswesen ein erhöhter Bedarf an edukativen Unterstützungsmaßnahmen zu verzeichnen ist (Sunder & Segmüller 2017). Dies ist einerseits durch gesundheitspolitisch initiierte, aber auch durch demographisch-epidemiologische Veränderungen bedingt, wofür eine Reihe von Ursachen verantwortlich ist:

Anstieg chronischer Erkrankungen

•  Als ein Hauptgrund dafür gilt, dass sich die gesundheitliche Problemlage der Bevölkerung durch einen Anstieg chronischer Erkrankungen verändert hat, wobei nicht nur insgesamt eine Zunahme chronischer Erkrankungen zu verzeichnen ist, sondern auch eine Verlängerung der jeweiligen Verlaufsdauer (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012). Aufgrund der demographischen Alterung nimmt der Anteil jüngerer Menschen in der Gesellschaft ab, während die Anzahl der älteren Menschen steigt. Aktuelle Prognosen des Statistischen Bundesamtes sagen einen Anstieg des Anteils der Bevölkerung im Alter von ≥ 60 Jahren von 2013 bis 2030 von 27 % auf 35 % voraus (Robert Koch-Institut 2015). Aufgrund der demographischen Alterung steigt auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von chronischen Krankheiten und Beeinträchtigungen (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012). Der Versorgungsbedarf von Menschen mit chronischen Erkrankungen unterscheidet sich dabei wesentlich von dem Versorgungsbedarf akut erkrankter Menschen. Während bei Akutkrankheiten die Heilung im Vordergrund steht, ist es das Hauptziel bei chronischen Erkrankungen, das Fortschreiten der Erkrankung zu begrenzen, Rückfälle zu vermeiden und das Selbstmanagement zu fördern (Giger & de Geest 2008). Dies bedeutet, dass chronische Erkrankungen einen erhöhten Selbstpflege-, Informations-, Schulungs- und Beratungsbedarf mit sich bringen (Jurkowitsch 2016).

Unzureichende Berücksichtigung von Bedürfnissen

•  Zugleich ist das auf Akutversorgung ausgerichtete Versorgungssystem nicht adäquat auf diese Erfordernisse eingestellt. Laut Giger und de Geest (2008) werden weder die psychosozialen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten noch die Rolle von An- und Zugehörigen angemessen berücksichtigt. Dies hat sich zudem durch einen chronischen Pflegemangel im Krankenhaus verschärft (Isfort & Weidner 2010). In den vergangenen 20 Jahren lässt sich eine kontinuierliche Zunahme der behandelten Patientinnen und Patienten in allgemeinen Krankenhäusern und zugleich eine deutliche Verkürzung der Verweildauern von 10,8 im Jahr 1996 auf 7,3 Tage im Jahr 2016 verzeichnen (Statistisches Bundesamt 2018). Dies lässt sich auf den Reform- und Kostendruck im Gesundheitswesen und in Folge dessen auf die Einführung des Abrechnungssystems mit Diagnosis Related Groups (DRGs) zurückführen (Hummel-Gaatz & Doll 2007).

Stärkung der Patientenrechte

•  Zudem lässt sich seit einigen Jahren beobachten, dass gesellschaftspolitisch eine Stärkung der Patientinnen und Patienten und ihrer Rechte diskutiert wird (Hummel-Gaatz & Doll 2007). Während in der Vergangenheit Patientinnen und Patienten zu einseitig als Objekte der Fürsorge und als passive Leistungsempfänger betrachtet wurden, wird zunehmend angestrebt, sie aktiv an der Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu beteiligen (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012).

Stärkung und Förderung des Selbstmanagements

Edukative Maßnahmen, mit denen den Bedarfen der Nutzerinnen und Nutzer entsprochen werden können, werden in Deutschland unter dem Begriff der Patientenedukation subsummiert. Laut Schaeffer und Petermann (2011) hat die Patientenedukation in allen Bereichen des Gesundheitswesens, vor allem in der Versorgung chronisch Kranker, an Bedeutung gewonnen. Ihnen zufolge handelt es sich bei Patientenedukation um systematisch vermittelte Strategien, die darauf ausgerichtet sind, den betroffenen Erkrankten notwendiges krankheits- und behandlungsbezogenes Wissen zu vermitteln und ihre Partizipation am Behandlungsprozess zu erhöhen. Das sich hieraus ergebende übergeordnete Ziel aller edukativen Interventionen ist die Stärkung und Förderung des Selbstmanagements.

Während in der Vergangenheit Edukationsmaßnahmen noch stark arztzentriert ausgerichtet waren, zielen moderne Konzepte darauf ab, die Patientinnen und Patienten in ihrem Krankheitsmanagement zu unterstützen und dadurch die Selbststeuerung und Selbstbestimmung zu fördern. Edukative Interventionen sind somit nicht mehr allein die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten, sondern werden zunehmend auch von weiteren Gesundheitsberufen angeboten und durchgeführt. Pflegefachkräften kommt dabei aufgrund ihrer Nähe zu den Patientinnen und Patienten eine Schlüsselrolle zu. Laut Schaeffer und Petermann (ebda.) lassen sich edukative Interventionen grob in insgesamt vier Strategien unterteilen:

•  Die Förderung der HealthLiteracy zielt darauf ab, Patientinnen und Patienten dazu zu befähigen, sich selbst relevante Gesundheitsinformationen verschaffen zu können, sich diese zu erschließen, sie zu bewerten und für ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen. Für die Förderung der Health Literacy steht mittlerweile ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, welches auch von Pflegepersonen in Beratungsgesprächen angewendet werden sollte.

•  StrukturiertePatientenschulungen sind edukative Gruppenprogramme, die durch ein strukturiertes und standardisiertes Vorgehen darauf ausgerichtet sind, Personen mit einer chronischen Erkrankung zu einer eigenverantwortlichen Krankheitsbewältigung zu befähigen. Moderne Patientenschulungskonzepte sind in aller Regel interprofessionell ausgerichtet, was bedeutet, dass unterschiedliche Gesundheitsberufe an der Schulungskonzeption und -durchführung beteiligt sind.

•  Maßnahmen des Self-Care-Supports (Selbstmanagementunterstützung) konzentrieren sich darauf, Patientinnen und Patienten in ihrer Selbstfürsorge zu stärken. Diese richten sich sowohl an Einzelpersonen als auch an Gruppen und fördern Problemlösekompetenzen sowie Entscheidungsfindungen. Zur Förderung der Selbstfürsorge stehen ebenfalls unterschiedliche Interventionen zur Verfügung, die beispielsweise das Bereitstellen von gesundheitsbezogenen Informationen beinhalten und auch konkrete Unterstützung in schwierigen Entscheidungssituationen anbieten.

•  Beim CaseManagement handelt es sich um eine Unterstützungsform, die sich eher an Personen richtet, die aufgrund der Komplexität ihrer Erkrankung nicht mehr selbstständig in der Lage sind, die Krankheitssituation zu bewältigen. Diese Form der Unterstützung ist strukturiert auf die Abstimmung von Gesundheitsdienstleistungen ausgerichtet und versucht hierdurch, die Behandlung und Versorgung der Patientinnen und Patienten zu koordinieren.

Da der Großteil der Patientinnen und Patienten, die von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, durch edukative Interventionen im Sinne der drei erstgenannten Formen unterstützt werden können, orientiert sich der Aufbau des Buches in seinen Kapiteln an dieser Strukturierung ( Abb. 1.1).

Maßnahmen wie Beratung, Anleitung und Schulung, die im folgenden Kapitel ( Kap. 2) erläutert werden, finden sich in fast allen diesen Strategien wieder. In Maßnahmen zur Förderung der Health Literacy spielen beispielsweise Beratungstechniken und Informationsvermittlungen eine wesentliche Rolle. Im Rahmen von strukturierten Schulungsprogrammen werden die einbezogenen Patientinnen und Patienten teilweise auch in Einzelberatungsgesprächen unterstützt oder erlernen durch eine Anleitung eine erkrankungsbezogene Fertigkeit. Auch in Interventionen, die im Rahmen des Self-Care-Supports angewendet werden, sind Aktivitäten wie Beratung und Erstellung von Informationsmaterialien von hoher Bedeutung.

Zugleich werden mit diesen Interventionsstrategien übergeordnete Ziele verfolgt, die darauf ausgerichtet sind,

•  die individuellen Vorlieben zu berücksichtigen (Patientenpräferenzen),

•  die Patientinnen und Patienten am Behandlungsprozess teilhaben und mitentscheiden zu lassen (Partizipation und Shared Decision Making) und

•  die Problemlösekompetenz und Mitarbeit (Adhärenz) zu fördern.

Abb. 1.1: Edukative Interventionen zur Förderung des Selbstmanagements

1.3       Die Bedeutung chronischer Erkrankungen für das Handlungsfeld der professionellen Pflege

Folgen chronischer Erkrankungen

Chronische Erkrankungen sind langandauernde Krankheiten, die weltweit zunehmen. Dieser epidemiologische Wandel, also der Wandel des Krankheitsspektrums von akuten hin zu chronischen Erkrankungen, zählt zu einer der bedeutendsten Herausforderungen für unser Gesundheitssystem. Die Zunahme von chronischen Erkrankungen in der Bevölkerung ist einerseits auf den Rückgang von Infektionskrankheiten und andererseits auf die Zunahme der Lebenserwartung durch verbesserte Therapien zurückzuführen (Robert Koch-Institut 2015). Häufige Folgen von chronischen Erkrankungen sind bleibende Störungen der Organ- und Körperfunktionen, Einschränkungen in den Aktivitäten des Lebens sowie die dauerhafte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheits- und Pflegesystems (Prütz et al. 2014). Insbesondere fünf Erkrankungsgruppen sind für die Krankheitslast, das Versorgungsgeschehen und die anfallenden Kosten von maßgeblicher Bedeutung. Hierzu zählen neben Herz-Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Diabetes mellitus, Atemwegserkrankungen sowie muskuloskelettale Erkrankungen (Robert Koch-Institut 2015). In Deutschland sind diese Erkrankungen für etwa drei Viertel aller Todesfälle verantwortlich. Dabei wird die Krankheitslast nur durch eine kleine Anzahl von Risikofaktoren determiniert, die in einem engen Zusammenhang mit dem Auftreten dieser Erkrankungen stehen. Hierzu zählen vor allem Lebensgewohnheiten wie übermäßiger Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und gesundheitsschädliche Ernährungsgewohnheiten (ebda.). Im Hinblick auf diese Lebensgewohnheiten ist festzustellen, dass diese überwiegend verhaltensbedingt sind und durch Präventionsmaßnahmen zu verhindern bzw. ihr Schweregrad und Verlauf günstig zu beeinflussen wären.

1.3.1     Kennzeichen chronischer Erkrankungen

Notwendigkeit von psychosozialen Bewältigungsleistungen

Chronische Erkrankungen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich langsam entwickeln, zumeist nicht reversibel und langandauernd sind, d. h., seit mindestens einem Jahr bestehen. Chronische Erkrankungen begleiten die betroffenen Menschen aufgrund fehlender Heilungsmöglichkeiten in ihrem weiteren Lebensverlauf und können die Lebensqualität mitunter erheblich negativ beeinflussen (Prütz et al. 2014). Ein zentrales Charakteristikum chronischer Erkrankungen ist, dass es im Krankheitsverlauf zu Veränderungen kommt, die nahezu alle Lebensbereiche betreffen und von den betroffenen Menschen psychosoziale Anpassungs- und Bewältigungsleistungen erfordern (Schaeffer & Haselbeck 2016). Das bedeutet, dass chronisch kranke Menschen dazu gezwungen sind, sich mit Ursachen, Folgen und Bewältigungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen, um langfristig mit der Erkrankung leben zu können. Im Unterschied zu akuten Erkrankungen, bei denen die zur Heilung führende Behandlung in aller Regel im Befolgen ärztlicher Hinweise besteht, müssen chronisch kranke Menschen ihr Leben mit wechselhaften Gesundheitszuständen bewältigen. Hierzu benötigen sie Fähigkeiten wie beispielsweise Selbstbeobachtung, Symptombeobachtung und Selbstbehandlung, die sie in den Alltag integrieren müssen.

Unterschiedliche Krankheitsverläufe

Chronische Erkrankungen sind abhängig von ihrer Verlaufsform mit einer Vielzahl an Symptomen verbunden, die permanent vorhanden sein oder wiederkehren können. Ein rezidivierender Verlauf zeichnet sich dadurch aus, dass zeitlich abgrenzbare Schübe oder wiederholt Episoden auftreten, in denen sich der Gesundheitszustand verschlechtern kann oder sich die die Symptome wieder vollständig oder teilweise zurückbilden können. Im Rahmen eines klassisch rezidivierenden Verlaufes bilden sich die Symptome nach einer Akutphase wieder vollständig zurück. Dies ist beispielsweise bei Migräne der Fall. Es können jedoch auch Symptome vollständig oder teilweise bestehen bleiben, sodass sich daraus Mischformen zwischen rezidivierenden und progredienten Krankheitsverläufen ergeben. Bei der persistierenden Form bilden sich Symptome nicht mehr zurück und bleiben dauerhaft bestehen, z. B. bei Lähmungen. Einige Formen des persistierenden Verlaufes lassen sich jedoch mit einer guten medikamentösen Einstellung und durch Verhaltensänderungen günstig beeinflussen. Ein Beispiel ist hier Diabetes mellitus, dessen schwerwiegende Komplikationen sich durch Blutzuckermanagement, adäquate Ernährung und Bewegung sowie Therapietreue in der Einnahme von Medikamenten bzw. Insulinapplikationen nahezu verhindern lassen (Hauner et al. 2007). Es wird deutlich, dass chronisch kranke Menschen mit vielfältigen Veränderungen in ihrem alltäglichen und beruflichen Leben konfrontiert sind, die sie bewältigen müssen. Daraus resultieren Bedürfnisse chronisch kranker Menschen, die ein Überdenken der Leistungserbringung im Gesundheitswesen erfordern.

1.3.2     Notwendigkeit von Patientenedukation

Entscheidungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten

Der Anstieg chronischer Erkrankungen und ggf. damit verbundener Mehrfacherkrankungen ist auf die Zunahme der Lebenserwartung und auf Veränderungen des Lebensstils zurückzuführen (Robert Koch-Institut 2015). Daher sind nicht nur neue Versorgungsmodelle notwendig, die sich aus den Prinzipien zur Behandlung chronischer Erkrankungen und geriatrischer Betreuung ergeben, sondern auch entsprechende Fachkompetenzen des Gesundheitspersonals (Giger & De Geest 2008). Die deutlich gesunkene Verweildauer im Krankenhaus und die Zunahme chronischer Erkrankungen zieht die Aneignung umfassender Kompetenzen zur selbstständigen Bewältigung des individuellen Alltages der Patientinnen und Patienten nach sich. Daraus leitet sich unter anderem der steigende Bedarf an Patientenedukation ab: »Information, Beratung und Wissens- und Kompetenzvermittlung (etwa der Selbstmanagement- und Problemlösefähigkeit) haben daher enorm an Bedeutung gewonnen.« (Schaeffer & Haslbeck 2016, S. 244–245). Diese Tätigkeitsfelder überlappen und können nur teilweise voneinander abgegrenzt werden. Zudem ist die Förderung des Selbstmanagements in wachsendem Ausmaß eine gesundheitspolitische Forderung zur Unterstützung der Krankheitsbewältigung (Hüper & Hellige 2012). Der Sachverständigenrat führt dazu an, dass es erforderlich sei, die Position der Patientinnen und Patienten durch mehr Entscheidungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie ihr Selbstmanagement zu stärken, damit diese in der Folge mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesundheit im Gesundheitswesen 2009). Für die Unterstützung der Alltagsbewältigung chronisch kranker Menschen sind pädagogische Interventionen wie Information, Schulung, Beratung und Anleitung geeignet. Diese Interventionen können häufig nicht voneinander abgegrenzt werden bzw. greifen in der Praxis häufig ineinander, sodass die Trennung zunächst befremdlich und künstlich erscheinen mag (Büker 2015). Die Begriffe Schulung und Anleitung werden häufig synonym verwendet, da sie in ihrer Zielsetzung und Vorgehensweise durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen (ebda.). Eine Anleitung erfolgt eher einzelfallbezogen und richtet sich auf das Erlernen von Aspekten bestimmter Handlungsabläufe aus. Abt-Zegelin (2006) spricht daher von Mikroschulungen. Dabei handelt es sich um »einen geplanten und reflektierten Lernprozess, der mit Blick auf die jeweilige Zielgruppe spezifischen Lehr- und Lernzielen folgt, didaktische und methodische Entscheidungsprozesse erfordert und gemeinhin mit Instrumenten zur Überprüfung von Lernfortschritten verknüpft ist (Lernzielkontrolle).« (Ewers 2001, S. 6). Anleitung kommt jedoch kaum ohne die Vermittlung von Wissen aus. So ist beispielsweise die Anleitung zur Applikation von Insulin mehr als eine technische Instruktion. Es bedarf unter anderem der Vermittlung zusätzlichen Wissens über hygienische Vorgehensweisen, geeignete Injektionsstellen, mögliche Fehlerquellen, Informationen hinsichtlich der Entsorgung der benutzten Materialien und der Lagerung von Insulin.

Befähigung zur Alltagsbewältigung

Chronisch kranke Menschen sind gezwungen, ihr Verhalten zu ändern und den Umgang mit ihrer Erkrankung in ihren individuellen Alltag zu integrieren. Sie sind dabei kontinuierlich auf die Unterstützung durch das Gesundheitssystem und Fachpersonal angewiesen, da sie ihre krankheitsbedingte Leidens- und Lebenssituation selten autonom lösen können, zumal eine Heilung in der Regel nicht erzielt werden kann (Schaeffer & Moers 2009). Es geht daher darum, chronisch kranke Menschen trotz dieser Ausgangslage einerseits zu einer weitgehend selbstständigen und autonomen Lebensführung und Alltagsbewältigung zu befähigen und andererseits krankheitsbedingte Komplikationen möglichst zu vermeiden. Daher liegt der Fokus in den folgenden Kapiteln darauf, Interventionsmöglichkeiten vorzustellen, damit chronisch kranke Menschen und ihre Angehörigen diese vielfältigen Anpassungserfordernisse bewältigen und ihr Leben ihren Vorstellungen entsprechend gestalten können.

1.4       Aufgaben und Kompetenzen von Pflegefachpersonen

Mit dem neuen Pflegeberufereformgesetz aus dem Jahr 2017 wurden beratende und anleitende Aufgaben noch einmal stärker in den Vordergrund des Aufgabenfeldes von Pflegefachpersonen gerückt. In § 4 des Pflegeberufereformgesetzes wurden erstmals Vorbehaltsaufgaben von Pflegefachmännern und -frauen definiert. In Bezug auf edukative Tätigkeiten heißt es in § 4 Absatz 2:

»Pflege im Sinne des Absatzes 1 umfasst präventive, kurative, rehabilitative, palliative und sozialpflegerische Maßnahmen zur Erhaltung, Förderung, Wiedererlangung oder Verbesserung der physischen und psychischen Situation der zu pflegenden Menschen, ihre Beratung sowie ihre Begleitung in allen Lebensphasen und die Begleitung Sterbender.«

Die Ausbildung soll deshalb dazu befähigen »Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen bei der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit sowie bei der Erhaltung und Stärkung der eigenen Lebensführung und Alltagskompetenz unter Einbeziehung ihrer sozialen Bezugspersonen« selbstständig auszuführen. Um dieses Ausbildungsziel zu erreichen, wurde in der zum Pflegeberufereformgesetz zugehörigen Anlage ein eigener Themenbereich (»Kommunikation und Beratung personen- und situationsorientiert gestalten«) definiert und hierfür ein Gesamtstundenumfang von 250 bis 300 Unterrichtsstunden festgelegt. Konkret sollen Auszubildende und Studierende in Pflegeberufen erlernen, Beratung, Anleitung und Schulung bei Menschen aller Altersgruppen verantwortlich zu planen, zu organisieren, zu gestalten, zu steuern und zu evaluieren.

1.4.1     Erweiterte Kompetenzen von akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen

Erhöhte Komplexität

Auch wenn zum aktuellen Zeitpunkt noch wenig darüber bekannt ist, in welchen konkreten Arbeitsbereichen akademisch qualifizierte Pflegekräfte zukünftig tätig sein werden, herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese über erweiterte Kompetenzen im Vergleich zu berufsfachschulisch qualifizierten Pflegefachpersonen verfügen. Der Wissenschaftsrat (2012) führt in Bezug auf edukative Aufgaben an, dass die Komplexität in Aufgabenbereichen der Pflege vor allem in Hinsicht auf die Patientenedukation und -beratung gestiegen sei. In seinen Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen wird explizit darauf hingewiesen, dass unter anderem die beratende und den Patienten einbeziehende Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen mit dem Ziel des Erhalts an größtmöglicher Selbstpflege- und Selbstversorgungskompetenz an Bedeutung gewonnen habe. Dabei solle den erhöhten Informations- und Partizipationsbedürfnissen der Patienten verstärkt Rechnung getragen werden. Gerade im Hinblick auf die Patientenedukation übernehmen Pflegefachpersonen bereits derzeit Aufgaben von hoher Komplexität. Angesichts dieser Komplexität hält es der Wissenschaftsrat (WR) für notwendig, dass Pflegefachpersonen ihr eigenes Handeln auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse reflektieren und die zur Verfügung stehenden Interventionsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Evidenzbasierung kritisch prüfen und anwenden.

Erweiterete Kompetenzen

Im Hinblick auf die zukünftigen Arbeitsfelder hat auch der Verband der Pflegedirektorinnen und Pflegedirektoren der Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen eine Empfehlung für den zukünftigen Einsatz akademisch ausgebildeter Pflegefachpersonen veröffentlicht (VPU 2015). Nach Einschätzung der beteiligten Pflegedirektorinnen und -direktoren verfügen die Absolventinnen und Absolventen von primärqualifizierenden bzw. dualen Pflegestudiengängen über erweiterte Kompetenzen, die sie für die Beratung in komplexen Pflegesituationen bei chronischen Erkrankungen qualifizieren. Auch der Deutsche Pflegerat hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft Empfehlungen zum Einsatz akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen veröffentlicht (DPR & DGP 2014). Neben weiteren Aufgaben ergeben sich laut den Experten insbesondere Arbeitsbereiche in der Konzeption, Implementierung und Evaluation von Patientenschulungen sowie in der Beratung und Anleitung von pflegebedürftigen Menschen, ihren Angehörigen sowie Eltern im Umgang mit komplexen krankheits- und therapiebezogenen Anforderungen. Konkret sehen die beteiligten Mitglieder der Expertengruppe zentrale Arbeitsfelder in den folgenden edukativen Tätigkeiten ( Tab. 1.1: Arbeitsfelder).

Tab. 1.1: Arbeitsfelder akademisch ausgebildeter Pflegekräfte

ArbeitsfeldTätigkeiten/Aufgabenbereich

1.4.2     Experteneinschätzungen zu zukünftigen Aufgabenbereichen von Pflegefachpersonen

Expertenpositionen

Diese Einschätzung wird auch durch eine Reihe empirischer Untersuchungen gestützt. In zwei Expertenbefragungen kristallisierten sich Beratung, Anleitung und Schulung als besonders geeignete Tätigkeitsbereiche für akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen heraus (Dreier et al. 2016, Simon & Flaiz 2015). Gemeinsam ist allen Ausführungen und Empfehlungen, dass hochschulisch ausgebildete Pflegefachpersonen im Vergleich zu berufsfachschulisch ausgebildeten Pflegekräften Verantwortung für edukative Interventionen in komplexen bis hochkomplexen Pflegesituationen übernehmen sollen, für die die bisherige berufsfachschulische Ausbildung nicht ausreichend qualifiziert.

Komplexe Pflegesituationen

Der Begriff der Komplexität von Pflegesituationen ist bisher leider nicht umfangreich untersucht worden. Knigge-Demal und Hundenborn (2011) gehen jedoch davon aus, dass der Komplexitätsgrad von Pflegesituationen von verschiedenen Variablen beeinflusst wird. Variablen, die für den Komplexitätsgrad verantwortlich sind, sind beispielsweise das Vorliegen von mehreren Beeinträchtigungen oder die Anzahl der einzubeziehenden Personen (Patientinnen und Patienten, ihre Angehörigen, weitere Gesundheitsfachberufe) in den Pflegeprozess. Je nach Anzahl der aufgetretenen Variablen erhöht sich die Komplexität der zu bewältigenden Pflegesituation. Auch der Wissenschaftsrat (2012) sieht einen Bedarf an akademisch qualifizierten Pflegekräften für die Bewältigung von zunehmender Komplexität in Versorgungsbereichen der Gesundheitsfachberufe. Nach Anhörung von einschlägigen Berufsverbänden und Kammern kommt der Wissenschaftsrat zu dem Schluss, dass die Komplexität in Aufgabenbereichen der Pflege, unter anderem in Hinsicht auf die Patientenedukation und -beratung, gestiegen sei. Hierbei habe vor allem die beratende Unterstützung von Menschen mit chronischen (Mehrfach-)Erkrankungen oder langfristiger, funktionsbedingter Pflegebedürftigkeit mit dem Ziel des Erhalts an größtmöglicher Selbstpflege- und Selbstversorgungskompetenz an Bedeutung gewonnen. Um dies erreichen zu können, sei es notwendig, den allgemein erhöhten Informationsbedürfnissen der Patientinnen und Patienten Rechnung zu tragen.

1.5       Übergeordnete Ziele der Patientenedukation

Erlangung von Selbstpflegefähigkeit

Durch Patientenedukation sollen krankheitsbezogenes Wissen sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für Patienten im Umgang mit spezifischen Gesundheitsproblemen erforderlich sind, erlernt und vermittelt werden. Das Ziel ist die Erlangung von Selbstpflegefähigkeit und Autonomie im Alltag bei unterschiedlichen chronischen Erkrankungen. Dabei können Schulung, Anleitung und Edukation in einen Beratungsprozess integriert oder als eigene Prozesse gestaltet werden. Koch-Straube (2008) führt an, dass Informieren und Anleiten zwar wichtige und für den Patienten höchst hilfreiche Tätigkeiten und Anteile eines Beratungsprozesses seien, diese jedoch explizit und geplant in das kognitive Verstehen von Krankheit und Behinderung und den damit verbundenen emotionalen und sozialen Dimensionen sowie Entwicklungsmöglichkeiten eingebettet werden müssten (Koch-Straube 2008, S. 82).