Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe -  - E-Book

Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe E-Book

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Beschreibung

Wer begleitet mich auf meinem Lebensweg? Junge Menschen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, erleben häufig einen Wechsel ihrer Bezugspersonen. Um den Folgen dieser Bindungsabbrüche entgegen zu wirken, gibt es die ehrenamtliche Wegbegleitung. Sie ergänzt das professionelle stationäre Setting, indem sie ein unbezahltes, dauerhaftes und exklusives Beziehungsangebot macht, das auch für CareleaverInnen und im Erwachsenenalter bestehen bleiben soll. Das Konzept der Wegbegleitung wird in diesem Buch von ExpertInnen mit kritischer Brille in Bezug auf Hindernisse und Stolpersteine beleuchtet. Es werden wichtige Grundlagen und theoretische Ansätze diskutiert und Impulse zur konzeptionellen Umsetzung sowie zur strukturierten und strukturellen Initiierung der Wegbegleitung dargestellt.

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Julius Daven, Köln, ist ehrenamtlicher Wegbegleiter und Vormund für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge und freier Autor. Er engagiert sich seit Jahren in den Sozialen Hilfen.

Prof. Dr. phil. Andreas Schrenk, Marxzell im Schwarzwald, ist Dipl.-Sozialpädagoge mit über 25 Jahren Erfahrung in Leitungstätigkeiten und der Jugendhilfepraxis. Er ist Experte für SGB VIII- und SGB IX-konforme Schutzkonzepte sowie Experte für die Entwicklung von Kultur und Führungskräften in Organisationen (KMU).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03192-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61777-7 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61778-4 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/mixetto

(Agenturfoto. Mit Models gestellt)

Satz: Jörg Kalies – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Abkürzungen

Vorwort

Einleitung

Teil I Grundlagen und theoretische Ansätze

1 Resilienz und Wegbegleitung

Von Christoph Steinebach und Ursula Steinebach

1.1 Resilienz als Kompass auf dem Weg

Orientierung – Wegmarken im Lebenslauf

Sichtweisen – Entwicklung gestalten lernen

Co-Resilienz – sich gegenseitig stärken

1.2 Wegbegleitung als Resilienzförderung

Positive Beziehungen

Gute Gespräche

Fortlaufende Reflexion

1.3 Resilienzkompetenz für die Wegbegleitung

Kompetenzbildung

Vorbereitung im Training

Begleitung durch Supervision

1.4 Fazit

2 Bindungstheoretische Grundlagen und Bezüge zur Wegbegleitung

Von Josefin Martin

2.1 Die Bindung

2.2 Die Bindungstypen

2.3 Die psychosoziale Belastung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen

2.4 Korrigierende Bindungserfahrungen

2.5 Anforderungen an die qualifizierte Wegbegleitung

2.6 Fazit

3 Ehrenamtliche Wegbegleitung traumapädagogisch betrachtet

Von Ralph Kirscht

3.1 Traumatische Erfahrungen und mögliche Folgen

3.2 Traumatisierende Beziehungs- und Bindungserfahrungen aus traumapädagogischer Sicht

3.3 Korrigierende Beziehungs- und Bindungserfahrungen aus traumapädagogischer Sicht

3.4 Ehrenamtliche Wegbegleitung als korrigierende Beziehungs- und Bindungserfahrungen

3.5 Besondere Anforderungen an die ehrenamtlichen WegbegleiterInnen

3.6 Fazit

4 Die ehrenamtliche Wegbegleitung im Kontext der internationalen Kinderrechte

Von Volker Augustyniak

4.1 Unterstützungssysteme in Deutschland

4.2 Kinderrechte und ehrenamtliche Wegbegleitung

Berücksichtigung des Kindeswillens (Art. 12 UN-KRK)

Recht auf Bildung (Art. 28 UN-KRK)

Das Recht auf Spiel und Freizeit (Art. 31 UN-KRK)

4.3 Fazit

5 Partizipation und Empowerment in der Wegbegleitung

Von Andrea Warnke und Vaida Lindemann

5.1 Was meint Empowerment?

5.2 Was meint Partizipation?

5.3 Rechtliche Rahmung

Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)

5.4 Empowerment und Partizipation in der Praxis der Wegbegleitung

5.5 Fazit

6 Heimerziehung und Wegbegleitung mit Blick auf die Konstruktion sozialer Realität

Von Andreas Schrenk

6.1 Wirkung von Heimerziehung

6.2 Wegbegleitung und Mindset

6.3 Wegbegleitung und Selbstwirksamkeit

6.4 Resilienz als Ziel

6.5 Konstruktion sozialer Realität

6.6 Fazit

7 Ehrenamtliches Engagement und Soziale Arbeit. Zwischen Substitution und Synthese

Von Aaron Schulze

7.1 Keine Substitution von Fachkräften durch Ehrenamtliche

7.2 Ein politischer Blick auf die ehrenamtliche Tätigkeit

7.3 Wegbegleitung als Ressourcenquelle

7.4 Social Bridging

7.5 Hintergründe für ein Engagement und die Bedeutung für die Wegbegleitung

7.6 Fazit

Teil II Umsetzung und Initiierung

8 Schutzkonzepte im Kontext ehrenamtlicher Wegbegleitung in Wohngruppen der Heimerziehung

Von Gregor Hensen

8.1 Was ist ein Schutzkonzept?

8.2 Zusammenspiel von Professionellen und Ehrenamtlichen im Hilfesetting

8.3 Was sollte ein Schutzkonzept für die Wegbegleitung berücksichtigen?

8.4 Fazit

9 Settingkonstruktion und Fallverstehen mit Blick auf ehrenamtliche WegbegleiterInnen

Von Mathias Schwabe

9.1 Chancen und Risiken des Settingelements ehrenamtliche Wegbegleitung

Settingelemente in stationären Wohngruppen

Ehrenamtliche Wegbegleitung als Settingelement

Settingfragen bei ehrenamtlicher Wegbegleitung

9.2 Fallverstehen im Zusammenhang mit der ehrenamtlichen Wegbegleitung

Die Rolle des Kindes

Die Rolle der ehrenamtlichen WegbegleiterInnen

Erwartungen im Hilfe-System

9.3 Fazit

10 Bedeutung unbezahlter Beziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe

Von Menno Baumann

10.1 Das System der Kinder- und Jugendhilfe

10.2 Paragraphen als Beziehungskontext?

10.3 „Schnauze voll vom bezahlten Gemocht-Werden“

10.4 Kontexte, in denen „professionell“ manchmal nicht reicht

10.5 Fazit

11 Leaving Care: Die Rolle der Wegbegleitung beim Übergang in die Selbständigkeit

Von Roswitha Maria Burri

11.1 Rückblick auf meine Phase Leaving Care

„Danach war alles anders“: Die Übergangsphase

Sonstige Bezugspersonen außerhalb des Heims

11.2 Wegfall des Sicherheitsnetzes

11.3 Beziehungen und Bindungen bei CarleaverInnen

Unbefristete Beziehungen

Herausforderungen in der Phase Leaving Care

WegbegleiterInnen als Vertrauenspersonen

Partizipation als Voraussetzung, ein Unterstützungsbedürfnis zu äußern

11.4 Fazit

Das System der Kinder- und Jugendhilfe: Was sich verändern muss

Das Potenzial der ehrenamtlichen Wegbegleitung

12 Herausforderungen der Wegbegleitung aus Sicht der Begleitenden

Von Julius Daven

12.1 Ergänzung des sozialen Umfelds außerhalb der Wohngruppe

12.2 Herausforderungen der Wegbegleitung

Lernphase, Beziehungsaufbau und potenzielle Ablehnung

Fachliche Begleitung der WegbegleiterInnen

Partizipation der WegbegleiterInnen

Hohe Verantwortung und Selbstverpflichtung

12.3 Falsche Erwartungen an die Wegbegleitung

12.4 Gemeinsam getragenes Schutzkonzept

12.5 Rechte der WegbegleiterInnen

12.6 Fazit

13 Standards der Wegbegleitung

Von Julius Daven und Andreas Schrenk

13.1 Bedarfseinschätzung

13.2 Anforderungs- und Aufgabenprofil

13.3 Gewinnung von WegbegleiterInnen

13.4 Begleitung, fachliche Unterstützung und Qualifizierung

13.5 Anerkennung und Wertschätzung

13.6 Qualitätssicherung

13.7 Fazit

14 Supervision von Ehrenamtlichen während der Wegbegleitung

Von Anke Höhne

14.1 Formen von Supervision

Ablauf einer Supervision

Zeitlicher Umfang

Formen von Supervision

Online-Supervision

14.2 Supervision für WegbegleiterInnen

14.3 Themen in der Supervision

Auffälliges Verhalten bei dem Wegbegleiter zuhause

Überforderung des Wegbegleiters

Nähe und Distanz

Weitere Themen

14.4 Fazit

15 Digitalität: Neue Wege in der Interaktion

Von Alicia Sailer

15.1 Qualitätssicherung

15.2 Prozessgestaltung der Wegbegleitung

15.3 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien

15.4 Bedeutung der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft

15.5 Nutzung digitaler Technologien in Prozessen der Wegbegleitung

15.6 Fazit

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Sachregister

Abkürzungen

ACE-Studie

Adverse-Childhood-Experiences-Study

ASD

Allgemeiner Sozialer Dienst

BAGASD

Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BMFSFJ

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

DGSv

Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V.

FAS

Fetales Alkoholsyndrom

GG

Grundgesetz

HPG

Hilfeplangespräch

ICD

International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

IGfH

Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V.

KJHG

Kinder- und Jugendhilfegesetz

KJSG

Kinder- und Jugendstärkungsgesetz

KMU

kleine und mittelständische Unternehmen

KOKES

Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz

KRK

Kinderrechtskonvention

KSD

Kommunaler Sozialer Dienst

PAVO

Pflegekinderverordnung

SGB VIII

Sozialgesetzbuch VIII

SODK

Konferenz der kantonalen SozialdirektorInnen

SPFH

Sozialpädagogische Familienhilfe

UMA

unbegleitete minderjährige Ausländer

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

Vorwort

Ich finde es interessant, dass wir mit den wirklich guten Ideen im Kontext des professionellen Handelns mit jungen Menschen immer wieder versuchen, das Professionelle in den Hintergrund zu schieben und stattdessen die informellen, organischen und vielleicht sogar natürlichen Arten des Zusammenseins bevorzugen. So ist das auch wenigstens teilweise der Fall in diesem Buch. AutorInnen, die für viele Jahre Theorien und Praxis der professionellen Handlungen untersucht, analysiert und verbessert haben, sprechen nun von der Wichtigkeit informeller, authentischer Beziehungen.

Der „Weg“, der begleitet werden soll, geht nicht geradeaus. Daher ist es besonders wichtig für junge Menschen, in den alltäglichen vielfältigen Anforderungen des Lebens nicht allein zu sein. Wenn man ehrenamtliche Wegbegleitung als informelle oder organische Hilfeform bezeichnet, soll damit nicht professionelle sozialpädagogische Arbeit abgewertet oder als verzichtbar erklärt werden. Vielmehr bedeutet es die Erweiterung professioneller Portfolios: Strukturierende und zeitbegrenzte Elemente professioneller Ansätze werden um die fluide Dynamik langfristiger Beziehungen ergänzt. Wegbegleitung ist das Zusammenspiel von Reflexion und Freundschaft als integriertes Gut und ist stärker orientiert am Lernen und weniger an Leistung.

Dieses Buch ist wichtig, nicht nur weil es Anregungen gibt, Neues zu denken, sondern weil es den Mut hat, eine konkrete Antwort auf eine Dauerfrage zu geben. Es ist nichts Neues, dass Übergänge aus sozialpädagogischen Settings in das Erwachsensein sowie auch Übergänge innerhalb sozialpädagogischer Settings für die betroffenen jungen Menschen (CareleaverInnen) häufig sehr belastende Einschnitte darstellen und nicht selten krisenhafte Verläufe nehmen. Wir wissen auch, dass junge Menschen mit 18 Jahren, oder sogar mit 21 oder 25 Jahren, nach Beendigung von Hilfemaßnahmen weiterhin Begleitung nicht nur brauchen, sondern suchen. Dieses Buch zeigt auf, wie das Beziehungsangebot ehrenamtlicher Wegbegleitung jungen Menschen durch ihr individuelles, dauerhaftes und exklusives Beziehungsangebot Halt, Stabilität und Orientierung vermitteln kann.

Eine ähnliche Idee wie die der Wegbegleitung als ehrenamtliche Aufgabe gibt es in Nordamerika schon seit langem. Im Rahmen professionell gesteuerter Mentorship Programs bieten ehrenamtliche MentorInnen jungen Menschen Gespräche und Unterstützung bei der Suche nach Jobs, Wohnungen und Weiterbildungsmaßnahmen an. Diese Mentorship Programs sind weit verbreitet und haben häufig kaum Struktur, sind nicht ausreichend fachlich rückgebunden, sondern werden und sind in ihrer Ausführung einer gewissen Beliebigkeit ausgesetzt. In der Folge sind Ehrenamtliche oftmals überfordert, brechen die Beziehungen vorzeitig ab und die jungen Menschen erleben damit ein weiteres Scheitern in ihrer Beziehungsgeschichte.

Was deshalb vor allem wichtig ist, ist ein Buch wie dieses, das mit der Idee der Wegbegleitung mit großer fachlicher Tiefe umgeht. Es wird klargestellt, dass das Konzept der Wegbegleitung nur dann Sinn macht, wenn es selbst mit fachlicher Begleitung und Unterstützung der WegbegleiterInnen realisiert wird. Betont werden hier Supervision, Reflexion, kontinuierliche Weiterbildung und ein greifendes Schutzkonzept.

Sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis in den stationären Hilfen haben schon sehr viel geleistet und es gibt guten Grund optimistisch zu sein. Es ist gut, dass es neue Ideen gibt und die bestehenden Systeme und Strukturen weiterentwickelt werden. In diesem Buch wird ehrenamtliche Wegbegleitung als eine neue Idee in Ergänzung bestehender Hilfeformen vorsichtig, aber auch in innovativer Weise dargestellt und untersucht. Dies allein hat großen Wert!

Kiaras Gharabaghi

Dean, Faculty of Community Services

Professor, School of Child and Youth Care

Toronto Metropolitan University

Canada

Frühjahr 2023

Einleitung

Der Titel dieses Sammelbands „Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe“ fordert zur intensiven Diskussion auf, ob mit den „[…] ausdifferenzierten Formen der Heimerziehung Erziehung, Bildung, Schutz und Sozialisation vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen gelingen kann […]“ (Düring/Koch 2022, 130) bzw. ob die existierenden Angebotssettings in der Heimerziehung als ausreichend bewertet werden können oder Lücken mit Wirkung auf „[…] langfristige Folgen von Heimerziehung für die soziale Teilhabe von jungen Menschen und ihr persönliches Leben […]“ (Düring/Koch 2022, 130) geschlossen werden können.

Wir als Herausgeber regen somit an, das System der Kinder- und Jugendhilfe um das Modell der ehrenamtlichen Wegbegleitung zu erweitern und als strukturelle Ergänzung und damit festen Bestandteil des Hilfesystems zu etablieren mit dem Ziel, diese Lücke nunmehr zu schließen und damit zu einer Verbesserung der Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen in den stationären Settings des Hilfesystems beizutragen.

Dabei wird nicht Anspruch darauf erhoben, dass die Idee der ehrenamtlichen Wegbegleitung mit tobendem Applaus begrüßt wird. Gewünscht wird vielmehr ein dialogreicher Diskurs und eine offene Haltung für dieses wichtige Thema, zu dessen Diskussion Julius Daven mit seinem Buch Bis Du tot bist, oder bis ich tot bin. Wegbegleitung für Kinder und Jugendliche (Daven 2021) mit Veröffentlichung im Herbst 2021 angeregt hat.

Viele junge Menschen haben vor ihrer außerfamiliären Platzierung bereits

„[…] prägende und teilweise traumatisierende Erfahrungen mit instabilen, nicht verlässlichen, dissozialen, negativen, missbräuchlichen und gewalttätigen Beziehungen gemacht. Die BetreuerInnen, die sich in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe professionell und engagiert, mit Herz und Verstand und methodisch fundiert um diese jungen Menschen kümmern, leisten hier einen ganz besonderen Beitrag“ (Daven/Schrenk 2022a, 1-3).

Die Einführung des Angebots der ehrenamtlichen Wegbegleitung ersetzt die erzieherischen Hilfen keineswegs, kann sie aber wirkungsvoll um ein „individuelles 1:1-Setting“ ergänzen – also die Betreuung von Kindern und Jugendlichen durch eine Betreuungsperson außerhalb des unmittelbaren Heimumfelds, exklusiv, individuell und insbesondere dauerhaft. Es handelt sich um ein Setting, über das die Hilfesysteme in dieser Form bzw. strukturell bedingt heute noch nicht verfügen. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass junge Menschen ihre Bindungs- und Beziehungsfähigkeit in einem gesicherten Umfeld noch entwickeln können, auch wenn sie im primärfamiliären Kontext zunächst nicht oder nicht ausreichend die Erfahrungen von Urvertrauen, Geborgenheit und Sicherheit machen konnten.

„Ehrenamtliche WegbegleiterInnen sind erwachsene Bezugspersonen außerhalb der stationären Einrichtungen der Jugendhilfe. Sie begleiten und unterstützen Kinder und Jugendliche auf ihrem Lebensweg. Das langfristige Ziel ist es, ein soziales Netzwerk aufzubauen, auf das die jungen Menschen nach Auszug aus der Wohngruppe und weit darüber hinaus als CareleaverInnen zurückgreifen können. Als CareleaverInnen werden junge Menschen beschrieben, die die Wohngruppen um das 18. Lebensjahr herum verlassen und von da an auf eigenen Füßen stehen müssen. Mit dem Auszug gehen die haltgebenden und lieb gewonnenen Strukturen in der Regel verloren. Die ehrenamtlichen WegbegleiterInnen können die jungen Menschen dann auffangen, weiterhin als AnsprechpartnerInnen oder Bezugspersonen wie ein starkes Rückgrat zur Verfügung stehen und in alltäglichen Dingen helfen. Wie es eben die Eltern eigentlich auch tun würden“ (Schrenk/Daven 2022).

Gut ausgebildete WegbegleiterInnen können durch die Gewährung von Kontinuität und Verlässlichkeit diesen Kindern und Jugendlichen Sicherheit, Halt und Orientierung vermitteln und damit einer Verschärfung von individuellen Problematiken vorbeugen bzw. entgegenwirken. Viele junge Menschen haben vor ihrer außerfamiliären Unterbringung etliche Erfahrungen mit Beziehungsabbrüchen gemacht und leiden unter der stetig wachsenden Fluktuation in den stationären Einrichtungen. Auch wenn die Einrichtungen auf Beziehungskontinuität und langfristige Bindung von MitarbeiterInnen achten, haben sie auf personelle Fluktuation einen geringen Einfluss (Daven/Schrenk 2022b).

WegbegleiterInnen als stärkende Menschen tragen mit ihrem Beziehungsangebot zur Konstanz im Beziehungserleben von jungen Menschen bei und überdauern im Idealfall jeden Wechsel einer stationären Einrichtung oder der BetreuerInnen. Damit sorgen sie für positive und langfristig ausgerichtete Bindungserfahrungen und Beziehungskontinuität und vermitteln Verlässlichkeit (Daven 2021). Ehrenamtliche WegbegleiterInnen können somit eine positive, resilienzfördernde und vor allem präventive Wirkung auch auf die psychosoziale Entwicklung haben und sind auch im Übergang in die Selbstständigkeit mit individueller Unterstützung und Orientierung für die jungen Menschen da. Die ehrenamtliche Wegbegleitung setzt im Kern an vier Defiziten im stationären professionellen Setting an:

■ unbezahlte Beziehungen,

■ exklusives 1:1-Setting (dauerhaftes und exklusives Beziehungsangebot),

■ Kompensation von Beziehungsabbrüchen zu Fachkräften (Fluktuation, Einrichtungswechsel) und

■ intensive Weiterbetreuung/-begleitung nach Auszug aus der Wohngruppe.

Wir haben ExpertInnen eingeladen, das Konzept der ehrenamtlichen Wegbegleitung aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln mit besonders kritischer Brille auch in Bezug auf Hindernisse und Stolpersteine zu diskutieren. Dieses Buch greift somit wichtige Grundlagen und theoretische Ansätze auf und gibt wertvolle Impulse zur konzeptionellen Umsetzung sowie zur strukturierten und strukturellen Initiierung der ehrenamtlichen Wegbegleitung mit dem perspektivischen Ziel, ein praxistaugliches und für alle Beteiligten tragfähiges Konzept in den deutschsprachigen Ländern zur Verfügung zu stellen.

Ein kurzer inhaltlicher Überblick:

Im ersten Teil des Buches zu Grundlagen und theoretischen Ansätzen zur ehrenamtlichen Wegbegleitung beantworten Christoph und Ursula Steinebach Fragen, die sich im Kontext der pädagogischen Wegbegleitung und deren Gelingen aus dem Blickwinkel von Resilienz stellen. Josefin Martin beschreibt, dass der Ausbau und die flächendeckende Etablierung der ehrenamtlichen Wegbegleitung eine Lücke schließt, die das Hilfesystem auf Grund der aktuell vorzufindenden Rahmenbedingungen nicht schließen kann. Ralph Kirscht diskutiert die qualifizierte ehrenamtliche Wegbegleitung als ein aus psychotraumatologischer und traumapädagogischer Sicht wertvolles und professionelles Angebot für traumatisierte Kinder und Jugendliche. Volker Augustyniak arbeitet heraus, dass die ehrenamtliche Wegbegleitung einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der von der UN-Kinderrechtskonvention geforderten Kinderrechte darstellen kann. Andrea Warnke und Vaida Lindemann möchten mit ihren Ausführungen für die Herausforderungen von WegbegleiterInnen im Kontext von Partizipation und Empowerment sensibilisieren und rufen zur Entwicklung einer eigenen Haltung auf. Andreas Schrenk bringt das Modell von der Konstruktion sozialer Realität mit Heimerziehung bzw. der Idee der ehrenamtlichen Wegbegleitung während und nach einer außerfamiliären Platzierung mit der Bedeutung von Selbstwirksamkeitserfahrungen in Verbindung. Aaron Schulze beschreibt den Spagat zwischen Substitution und Synthese von ehrenamtlichem Engagement und Sozialer Arbeit und macht mit seinen Ausführungen unter anderem deutlich, dass eine ehrenamtliche Wegbegleitung als Ressourcenquelle mit einem ausgewogenen Freiwilligenmanagement eine qualitative Ergänzung und keine Konkurrenz von professionellen Fachkräften darstellt.

Im zweiten Teil des Buches zur Umsetzung und Initiierung von Wegbegleitung beleuchtet Gregor Hensen, wie sich aus Organisationssicht die ehrenamtliche Wegbegleitung mit der Verantwortung öffentlicher Erziehung vereinbaren lässt und skizziert Themenbereiche, die in einen einrichtungsspezifischen Diskurs um die Erweiterung von Schutzkonzepten mit Ehrenamtlichen einfließen können. Mathias Schwabe beschreibt die Chancen und Risiken des neuen individuellen Settingelements im Kontext „Setting als Gesamtheit von Bausteinen, die das Wirkungspotenzial einer Hilfe(form) ausmachen“. Menno Baumann betrachtet die Wirkungsfähigkeit ehrenamtlicher Unterstützung aus einem Rückblick auf mehr als 15 Jahre praktische Arbeit in intensivpädagogischen Handlungsfeldern und beschreibt das enorme Potenzial von ehrenamtlicher Wegbegleitung für Kinder und Jugendliche ohne familiären Bezugsrahmen, die sich ausschließlich in professionellen Kontexten bewegen. Roswitha Maria Burri, Präsidentin des Vereins Careleaver Schweiz, kommt als repräsentative Stimme aus Betroffenensicht zu Wort und arbeitet die psychosoziale Wirkung von ehrenamtlichen WegbegleiterInnen insbesondere während des Übergangs in die Selbständigkeit als CareleaverInnen heraus. Julius Daven wechselt die Perspektive und geht als aktiver Wegbegleiter auf die Herausforderungen der Wegbegleitung aus Sicht der Begleitenden ein. Julius Daven und Andreas Schrenk stellen notwendige Standards für eine professionelle organisatorische bzw. strukturelle und strukturierte Umsetzung der ehrenamtlichen Wegbegleitung vor und gehen auf wichtige Aspekte eines zu implementierenden Freiwilligenmanagements als Handlungsanleitung ein. Anke Höhne betont die Notwendigkeit von Supervision für ehrenamtliche WegbegleiterInnen, die aufgrund hoher Anforderungen an sich selbst und an das Ehrenamt zur Vermeidung von Selbstüberforderung und Überlastung zwingend erforderlich werden. Alicia Sailer beschreibt sodann die Chancen von Digitalität zur Unterstützung des komplexen Prozesses der ehrenamtlichen Wegbegleitung im Zusammenspiel der involvierten AkteurInnen.

Unser Dank gilt unseren AutorInnen mit ihrer fachlichen Expertise und unkomplizierten, kollegialen Zusammenarbeit. Wir wünschen unseren LeserInnen viele Anregungen und Impulse und freuen uns über eine Kontaktaufnahme bei Fragen.

Julius Daven und Andreas Schrenk

Köln und Marxzell im Frühjahr 2023

Teil I

Grundlagen und theoretische Ansätze

1Resilienz und Wegbegleitung

Von Christoph Steinebach und Ursula Steinebach

„Komm, ich begleite Dich.“ Es ist spät, vielleicht schon dunkel und es gibt die Sorge, dass der Gast nicht gut allein nach Hause kommen wird. Mit dem Begriff Wegbegleitung entsteht ein Bild, das vieles vom pädagogischen Angebot der sozialen Wegbegleitung im Lebenslauf widerspiegelt: Zwei Menschen sind gemeinsam unterwegs. Sie haben ein gemeinsames Ziel. Wie alle Metaphern bietet das Bild des Wegs eine gute Beschreibung des Sinns und einen Impuls für die Reflexion (Witte 2016). Zunächst ist der Lebensweg Teil der Metapher für pädagogische Wegbegleitung. Der Lebensweg führt über die Lebensspanne. Für den persönlichen Lebensweg ist dann offen, ob er ganz oder nur einen Abschnitt lang mit anderen zurückgelegt wird. Der Weg kann zuweilen beschwerlich, steinig, anregend oder lehrreich sein. Er kann Umwege erfordern, wenn wir plötzlich auf Hindernisse stoßen. Karten und Navigationssysteme helfen, Wegmarken geben Orientierung und Kreuzungen verlangen Entscheidungen. Wo Kräfte fehlen, werden Pausen wichtig. Pilgerwege stehen für Lebenssinn, die Walz für die Lehr- und Wanderjahre. Hindernisse lassen nach Auswegen, Lösungswegen und Königswegen suchen. Kurz: Das Bild des Wegs regt an zu Imagination und Assoziation.

Sicher ist die pädagogische Wegbegleitung eine besondere Konstellation. Sie versteht sich als Angebot in besonderen Lebensphasen. Sie ist gerade dann wichtig, wenn Jugendliche die pädagogische Einrichtung verlassen und noch stärker auf sich gestellt sind. Wegbegleitung ist aber sicher nicht nur ein Angebot in besonderen Lebensphasen. Idealerweise setzt sie früher an, um eine Beziehung aufzubauen, die auch in Krisenzeiten oder in Zeiten des Übergangs trägt. Damit ist die Wegbegleitung im Sinne der Patenschaft oder eines Mentorings über die ganze Kindheit und Jugendzeit eine wichtige Hilfe. Mit dem pädagogischen Anspruch verbinden sich aber auch Forderungen nach einer Ausbildung und Supervision der WegbegleiterInnen. Was wird gebraucht, damit Wegbegleitung gelingt? Im Folgenden wollen wir zeigen, dass der Bereich der Psychologie, der sich mit Resilienz beschäftigt, auf diese Frage einige Antworten bereithält.

1.1Resilienz als Kompass auf dem Weg

Heute erscheint menschliche Entwicklung als ein Prozess, der in vielfältiger Weise durch die Menschen selbst gestaltet wird. Im Laufe der Entwicklung stellen sich Aufgaben und Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Eigene Wünsche und Ziele stehen nicht selten in Konflikt mit kritischen Lebensereignissen und Lebenskrisen. Zwischen eigenen Schwächen und Fähigkeiten und den umweltseitigen Erschwernissen und Chancen müssen gute Entscheidungen getroffen werden (Ungar et al. 2013; Steinebach/Gharabaghi 2018). Über die ganze Lebensspanne eignen sich Menschen Kompetenzen an, um neue Herausforderungen zu meistern, sie nehmen Einfluss auf ihre Umwelt, um notwendige Ressourcen zu aktivieren oder überzogene Anforderungen aus der Umwelt, falls notwendig, zu korrigieren. Resilienz bedeutet also nicht, hart zu sein, damit abprallt, was schaden könnte.

Resilienz steht viel mehr für „die positive Anpassung und nachhaltige Entwicklung eines Systems mit Blick auf kurzfristige oder langfristigere Herausforderungen des Alltags und schwerwiegende Belastungen. Auf der Grundlage interner Systemprozesse und durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt definiert das System neue Referenzgrößen und notwendige Kompetenzen und verbessert so seine Fähigkeiten, künftige Belastungen zu meistern“ (Steinebach 2015, 557; Übersetzung des Autors).

In vielerlei Hinsicht macht es Sinn, von einem System zu sprechen. Zum einen können wir jedes Individuum als System verstehen – das Kind, den Jugendlichen, den Erwachsenen. Zum anderen können wir die Wegbegleitung als soziales System betrachten. So können wir auch nach der Resilienz dieser besonderen Dyade fragen. Zudem ist es möglich, die Perspektive zu erweitern und nach der Resilienz des ganzen Hilfesystems zu fragen. Dies kann insbesondere dann hilfreich sein, wenn die Begleiteten, die Wegbegleitung gemeinsam mit den Fachkräften und der Familie des Kindes oder Jugendlichen, vor großen Herausforderungen stehen (Schär/Steinebach 2015).

Orientierung – Wegmarken im Lebenslauf

Grundlegende Veränderungen im Lebenslauf sind oft verbunden mit Veränderungen in der Umwelt, der eigenen Aufgaben und Rolle sowie in den sozialen Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit solchen ökologischen Übergängen (Bronfenbrenner 1995) birgt viele Risiken, aber auch Chancen. In der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen eignen wir uns neue Kompetenzen an und damit das Rüstzeug, künftige Herausforderungen besser zu meistern. Um also einschätzen zu können, ob die anstehende Herausforderung gut gemeistert werden kann, lohnt sich ein Blick auf die individuellen Stärken und umweltseitigen Schutzfaktoren (Steinebach/Gharabaghi 2018).

Dazu zählen auf Seiten des Kindes oder Jugendlichen gute körperliche Grundlagen, Gesundheit, Ausgeglichenheit, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer, hoher Selbstwert und Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenzen und Wertorientierung. Auf Seiten der Umwelt schlagen positive Kommunikation, eine der Entwicklung angemessene Gestaltung von Nähe und Distanz, die Bildungsnähe der Eltern und die Verbundenheit der Familie mit der sozialen Umwelt zu buche.

Für Kinder und Jugendliche sind natürlich auch Schule und Ausbildungsbetrieb wichtig. Hier spielen gute Beziehungen zu den Fachkräften wie zu den Peers eine besondere Rolle. Sozial kompetente und unterstützende Peers bilden einen wichtigen sozial-emotionalen Rückhalt für die Kinder und Jugendlichen. Sportverein, Jugendzentrum, Kirchengemeinde, Nachbarschaft in der Wohngemeinde können so zu Orten werden, an denen die Kinder Rückhalt und Unterstützung erfahren. Das Schul- und Betriebsklima ist wichtig, genauso wie angemessene Anforderungen und Regeln. Vorbilder und Rollenmodelle können eine positive Entwicklung unterstützen. Zudem ist wichtig, dass Schule, Ausbildungsbetrieb und Familie in engem Austausch stehen (Steinebach/Gharabaghi 2018).

Damit wird deutlich, dass Wegbegleitung in verschiedenerlei Hinsicht Resilienz fördern kann: Der/die WegbegleiterIn kann als Vorbild dienen und dafür sorgen, dass eine positive soziale Beziehung entsteht, in der sich die Kinder bzw. Jugendlichen geborgen, geschätzt und gefördert fühlen. Er oder sie kann darauf achten, dass im Miteinander von Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen die genannten individuellen Stärken und umweltseitigen Ressourcen ganz konkret gefördert werden.

Sichtweisen – Entwicklung gestalten lernen

Wegbegleitung ist kein Unterricht und auch keine Therapie. Wegbegleitung ist in erster Linie ein Beziehungsangebot. Und doch ist der Anspruch, dass dieses Angebot auf dem Lebensweg der Kinder und Jugendlichen einen Unterschied macht. Deshalb lässt sich Wegbegleitung auch als Lernprozess verstehen, indem eine beratende Begleitung hilft, schwierige Fragen des Lebens zu lösen.

Wenn wir Wegbegleitung als positives Lernen verstehen, dann helfen uns moderne Lerntheorien, den Prozess des Lernens besser zu verstehen. In diesen Lerntheorien wird zum Beispiel betont, wie wichtig es ist, dass sich die Lernenden aktiv mit der Situation auseinandersetzen. Es wird hervorgehoben, dass die vorhergehenden Lernerfahrungen eine wichtige Basis für die nächsten Lernschritte sind. Und sie verweist die Erwachsenen auf die Rolle von Vermittelnden und Begleitenden. Im Sinne des positiven Lernens bedeutet Wegbegleitung also nicht, das Kind oder den Jugendlichen zu dominieren und Lösungen vorzugeben. Es bedeutet vielmehr, alles, was aus der Vorgeschichte verfügbar ist und hilfreich sein kann, zu aktivieren, damit es in der jetzigen Aufgabe genutzt werden kann.

Aus Sicht der positiven Jugendpsychologie (Lerner et al. 2011) können wir sagen, dass für die Bewältigung anstehender Aufgaben nicht nur eigene Schwächen und umweltseitige Belastungen eine Rolle spielen. Individuelle Stärken und umweltseitige Ressourcen sind mindestens genauso wichtig. Es ist hilfreich, sich gerade in schwierigen Zeiten der eigenen Stärken und der Ressourcen der Umwelt zu vergewissern. Aufgabe der Wegbegleitung kann es in dem Fall sein, auf die Stärken des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen, Rückmeldung zu geben, sie aufzulisten oder auch spürbar zu machen. Wegbegleitung kann auch heißen, mit dem Kind oder Jugendlichen bei Familie, bei Freunden, in der Schule oder im Ausbildungsbetrieb nach Ressourcen zu suchen.

Heute verstehen wir Resilienz als Ausdruck und Zeichen von optimaler Entwicklung. Optimal bedeutet hier, das Beste aus seiner Situation zu machen – durchaus selbstbestimmt, aber in sozialer Verantwortung. Was wird gebraucht, um so durchs Leben zu gehen? Die Theorie Adaptiv selbst optimierende Systeme nennt bestimmte Elemente, die hier wichtig sind: die Wahrnehmung, ein internes Modell, das die Außenwelt und innere Prozesse spiegelt, ein Element, das für Umwelt- und Selbstideal steht, ein ausführendes Element und ein Element, das die Informationen aus den anderen Elementen benennt und bewertet. Wegbegleitung wird nicht vorschreiben, was nun als Nächstes zu tun ist. Wegbegleitung kann aber fragen, ob alle wichtigen Facetten des Problems wahrgenommen wurden, was das eigene Ideal ist, was die Wünsche und Erwartungen der anderen sind, was aus Sicht der Kinder und Jugendlichen selbst getan werden kann und wozu unter Umständen Hilfe, Unterstützung und weitere Ressourcen gebraucht werden. Wegbegleitung kann das alles mit dem Kind oder Jugendlichen reflektieren, sie kann es aber auch spürbar machen und so zu guten Entscheidungen im Lebenslauf beitragen.

Co-Resilienz – sich gegenseitig stärken

Wegbegleitung ist keine Einbahnstraße. Natürlich ist es die erste Aufgabe der Wegbegleitung, das Kind oder den Jugendlichen zu fördern. Diese Unterstützung lässt sich als Akt der Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit verstehen (Steinebach et al. 2019). Großzügig sein spricht in besonderer Weise die eigenen Grundbedürfnisse an: das Bedürfnis nach Kompetenzerleben, nach Zugehörigkeit und nach Autonomie. Wer helfen konnte, macht die Erfahrung, dass er oder sie durchaus kompetent handeln kann. Wer einem anderen helfen konnte, hat in der Zuwendung zum anderen ein „wir“ geschaffen und erlebt Zugehörigkeit. Anderen zu helfen und großzügig zu sein hat dann einen positiven Wert, wenn die guten Taten auf einer autonomen Entscheidung beruhen und damit selbstbestimmt sind. Die Wegbegleitung bietet also gute Chancen auch für die Erwachsenen. Denn mit der Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse wachsen mit Selbstvertrauen, Selbstwert und Selbstwirksamkeit auch die Resilienz der Erwachsenen.

Abb. 1.1: Positive Wechselwirkungen der Wegbegleitung

Wir gehen also davon aus, dass im Idealfall vielfältige positive Wechselwirkungen bestehen zwischen dem Kind oder Jugendlichen, der Wegbegleiterin bzw. dem Wegbegleiter und ihrer Umwelt (Abb. 1.1).

Auf Seiten des Kindes stellen wir die Stärken in den Mittelpunkt und gehen davon aus, dass diese motivierend sind und zu einer positiven Gestaltung von Selbst und Umwelt beitragen. Wir nehmen an, dass die WegbegleiterInnen ein positives Setting schaffen, in dem spürbar wird, dass die Wegbegleitung etwas Besonderes ist und die Beziehung von Vertrauen getragen wird. Wertschätzung und Empathie sind als Haltung im Dialog mit dem Kind bzw. Jugendlichen spürbar. Bezogen auf die anstehenden Herausforderungen zeigt sich die Wegbegleitung aktivierend, sie lädt ein zur Reflexion und ist auch bereit, das eine oder andere zu üben. Beide, Kind bzw. Jugendliche und WegbegleiterIn, stehen in einer Wechselwirkung. Die Stärken des Kindes und die besondere Haltung und Kompetenz der Wegbegleitenden unterstützen und fördern sich gegenseitig. Beide nehmen durch ihre Stärken und die Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, Einfluss auf die Umwelt. Sie suchen und fördern die Unterstützung der Gleichaltrigen wie der Erwachsenen. Sie suchen und schaffen Orte, an denen Stärken spürbar und wertgeschätzt werden. Sie sorgen dafür, dass alle füreinander sorgen und Verantwortung übernehmen.

1.2Wegbegleitung als Resilienzförderung

Auch wenn sie keine Beratung oder Therapie ist, verändert Wegbegleitung doch. Verstehen wir Wegbegleitung als pädagogisches Angebot, dann liegen hier die Stärken in der Beziehung, dem Gespräch und in dem Nachdenken über Beziehung und Gespräche.

Positive Beziehungen

In der Beziehung zwischen dem Kind oder dem/der Jugendlichen und dem/der WegbegleiterIn spiegeln sich die Bindungserfahrungen der beteiligten Personen. Die Bindung ist eine wichtige Grundlage für die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung und Identität. Aus Bindungserfahrungen wird ein Arbeitsmodell entwickelt, das eine große Aussagekraft für die Gestaltung sozialer Beziehungen über den Lebenslauf hat. Eine positive Bindung ist ein wichtiges Bedürfnis. Der Wunsch nach Zugehörigkeit bestimmt zu einem großen Teil Motivation und Handeln (Knafla et al. 2016). Gute Gespräche verlangen eine gute Beziehung zwischen den Beteiligten. Das Miteinander in der Beziehung gilt als Grundlage für positive Veränderung. Eine gute Beziehung hilft, komplizierte Themen anzusprechen, schwierige Bedingungen in den Blick zu nehmen und Lösungen zu entwerfen. Damit sind sie Basis für die Auseinandersetzung mit schwierigen Inhalten. Sie sichern Konzentration, Ausdauer und Motivation zur Veränderung und geben die notwendige Sicherheit, um gute Vorsätze auch umzusetzen. Aus Sicht der humanistischen Psychologie zeichnen sich fördernde Beziehungen durch Echtheit, positive Wertschätzung und Empathie aus. In der Wegbegleitung geht es darum, authentisch zu sein. So ist es nötig, die eigene Sicht einzubringen und allenfalls auch Kritik zu üben. Weil aber positive Wertschätzung wichtig ist, soll diese Kritik die Wertschätzung nicht infrage stellen. Denn es geht um eine Wertschätzung, die nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Sie wird spürbar in der Ermutigung, in der Bestätigung und in der Solidarität, die in Wort und Tat des Erwachsenen deutlich wird (Knafla et al. 2016). Es soll zum Ausdruck kommen, dass das Verhalten kritisiert wird, dass damit aber nicht die Person selbst infrage gestellt oder entwertet werden soll. Und schließlich zeichnen sich positive Beziehungen durch Einfühlen und Mitfühlen aus. Ein Mittel, um all dies spürbar zu machen, ist das Lob. Gerade in schwierigen Phasen der Wegbegleitung kann der Vorsatz, das Kind zu loben, dazu führen, dass Stärken wieder in den Fokus rücken und sich so neue Perspektiven eröffnen. Zu loben ist besonders wertvoll, wenn es um eine möglichst abgegrenzte Handlung geht. Zudem sollten wir zeitnah und verständlich loben. Bei alldem muss das Lob ehrlich sein und Respekt vermitteln. Letztlich geht es darum, mit dem Kind eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Zusätzlich sind andere aktive, verbale und nonverbale Reaktionen, zu denen wir auch das Lob zählen, hilfreich. Das Nachfragen auf Aussagen hin, in denen das Kind oder der Jugendliche etwas von sich selbst mitteilt, und Erläuterungen zu den eigenen Fragen und den eigenen Handlungen helfen im Alltag, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen (Schipper/Petermann 2012).

Gute Gespräche

Was sind gute Gespräche? Wahrscheinlich würden wir sagen, sie grenzen sich ab vom täglichen Allerlei der Kommunikation, haben Anfang und Ende, geben Raum zum Nachdenken, berühren Fragen, die den Beteiligten wichtig sind, eröffnen Perspektiven und machen Hoffnung. Demnach ist nicht jeder Dialog oder Austausch ein gutes Gespräch. Und nicht jedes gute Gespräch ist gleich eine Beratung oder Therapie. Damit ein Gespräch gelingt, sind die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten zu akzeptieren: Sender und Empfänger von Botschaften haben unterschiedliche Sicht auf Sachinhalt, Beziehungsaspekte, Appell und Selbstoffenbarung der einzelnen Botschaften. Das macht Kommunikation schwierig. Damit Kommunikation in der Wegbegleitung gelingt, hilft es, nachzufragen, zuzuhören, zu beobachten und zurückzumelden, zusammenzufassen und zu klären und nicht zuletzt auch zu loben. In der Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben, kritischen Lebensereignissen und Krisen geht es oft darum, die Perspektive zu erweitern, die eigene Wirklichkeit differenzierter wahrzunehmen, eigene Ziele und die der anderen zu hinterfragen und neue Möglichkeiten zu entwickeln. Auch wenn nicht der Anspruch ist, fundiert zu beraten oder therapeutisch zu wirken, kann es doch hilfreich sein, gemeinsam auf die Ressourcen zu schauen, auf positive Erfahrungen mit früheren Herausforderungen, auf die Ausnahmen vom Problem. Oft fühlen sich Kinder und Jugendliche genauso wie Erwachsene mit ihren Problemen alleingelassen und in einer Sackgasse. Sie sind mutlos, weil das Problem sie ganz und gar in Frage stellt, weil es übergeneralisiert wird und als unveränderlich gilt, weil sie es auf sich beziehen und bei alldem ihr ganzes Leben infrage stellt. Das Gespräch in der Wegbegleitung eröffnet Perspektiven – auch wenn es jetzt nicht so scheint, ist das Problem zeitlich begrenzt. Zumindest einen Teil kann man das nächste Mal anders machen. Es kann hilfreich sein zu schauen, wie andere mit dem Problem umgehen, um daraus neue Strategien abzuleiten. Damit richtet sich der Blick auf die Zukunft. Die Erkenntnis, dass andere auch mit diesem Problem zu kämpfen haben, kann entlasten. Und in der vertrauensvollen Beziehung der Wegbegleitung wird vermittelt, dass bei allen Problemen keines der Probleme die Beziehung wirklich in Frage gestellt.

Fortlaufende Reflexion

Die Wegbegleitung ist ein pädagogisches Beziehungsangebot. Den Erwachsenen ist klar, das alles, was in der Wegbegleitung geschieht, auch von ihnen selbst abhängt. Ihre persönlichen Erfahrungen, ihre eigenen Stärken und Schwächen, ihre eigenen Wünsche und Ziele fließen in die Gestaltung der Wegbegleitung ein. Immer dann, wenn es Probleme in der Wegbegleitung gibt, gilt es, die Entwicklung, den aktuellen Stand, die Perspektiven des Angebots zu reflektieren. So kann sich die Frage stellen, warum das Kind oder der/die Jugendliche nicht tut, was besprochen wurde.

Eines der großen Probleme helfender Gespräche ist, dass zwischen Intention und Verhalten eine große Lücke klaffen kann. Wie können wir sicherstellen, dass Vorsätze auch umgesetzt werden? Für die Wegbegleitung bieten sich drei Antworten an:

1. Die Wegbegleitung selbst schafft Orte und Möglichkeiten, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wenn also das gewünschte Verhalten selbst soziale Einbindung, Kompetenzerleben und Autonomie anspricht, dann stehen die Chancen gut, dass dieses Verhalten auch umgesetzt wird.

2. Im Gespräch sollten wir ausloten, an welchem Punkt der Handlung bzw. Umsetzung von Handlungen wir uns befinden. Denn wenn eine Entscheidung für eine Handlung gefällt wurde, werden neue Informationen kaum noch aufgenommen. Die notwendige Offenheit für neue Informationen ist wohl erst wieder gegeben, wenn sich zeigt, dass die Handlung selbst nichts gebracht hat. Im Vorfeld dieses Übergangs von Motivation zu Volition sind wir aber für gute Argumente offen.

3. Bei der Umsetzung von Vorsätzen im Alltag helfen Pläne. Sie geben Struktur und machen es möglich, dass wir uns auf die Umsetzung des Vorsatzes vorbereiten. Dabei hilft auch darüber nachzudenken, was man im Falle von Störungen, Unterbrechungen und Ablenkungen tun wird.

1.3Resilienzkompetenz für die Wegbegleitung

Die Kontinuität in einer sicheren und vertrauensvollen Umgebung gilt als wesentlicher Erfolgsgarant der Wegbegleitung.

„Der/die WegbegleiterIn oder PatIn hat dabei die Rolle eines/r erwachsenen FreundIn, der das/ihm ihr anvertraute Kind ermutigt, selbstbewusst, aktiv und entschlossen die Welt zu erkunden und immer bei ihm ihr zu bleiben und ihm/ihr die nötigen Freiheiten ermöglicht. All das bestenfalls ein Leben lang“ (Daven 2021, 30).

Damit unterstützt die Wegbegleitung sieben Charaktereigenschaften, die die Resilienz boostern (Daven 2021): das Selbstbewusstsein, die Kontaktfreude, die Gefühlsstabilität, den Optimismus, die Handlungskontrolle, den Realismus und die Analysestärke