Ein anderes Leben - Caroline Peters - E-Book

Ein anderes Leben E-Book

Caroline Peters

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Beschreibung

Wer war Hanna? Diese Frau, die so oft aus der Rolle fiel, die nacheinander ihre drei Studienfreunde heiratete und drei Töchter bekam, immer mit Gedichten im Kopf, über die sie den Alltag vergaß, die ihren Platz suchte zwischen den Erwartungen der Familie an sie und den eigenen Ansprüchen — und nur selten für sich sein konnte. Viele Jahre nach Hannas Tod blickt die jüngste Tochter zurück auf das Leben ihrer Mutter, auf die eigene Kindheit im Rheinland der Siebziger und Achtziger, in der Hanna dafür sorgt, dass die Tage immer etwas anders sind als üblich. Ein Leben zwischen Bürgerlichkeit und Boheme: mit Champagner und Puschkin am Sonntagmorgen im Bett, Besuche nach der Schule in der Institutsbibliothek, wo die Mutter arbeitet und mit verschüchterten Studenten flirtet, Pokern unterm Weihnachtsbaum, abenteuerliche Fahrten in der Ente — bis sich Hanna entscheidet, die Familie zu verlassen und ihr Leben allein von vorn zu beginnen. Mit großer Einfühlsamkeit und Leichtigkeit erzählt Caroline Peters von den Fragen einer Tochter an die verstorbene Mutter und an sich selbst — und davon, was es heißt, eigene Wege zu gehen. Ein sehr persönliches Buch, kraftvoll, berührend und von hinreißendem Humor.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Caroline Peters

Ein anderes Leben

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Wer war Hanna? Diese Frau, die so oft aus der Rolle fiel, die nacheinander ihre drei Studienfreunde heiratete und drei Töchter bekam, immer mit Gedichten im Kopf, über die sie den Alltag vergaß, die ihren Platz suchte zwischen den Erwartungen der Familie an sie und den eigenen Ansprüchen – und nur selten für sich sein konnte. Viele Jahre nach Hannas Tod blickt die jüngste Tochter zurück auf das Leben ihrer Mutter, auf die eigene Kindheit im Rheinland der Siebziger und Achtziger, in der Hanna dafür sorgt, dass die Tage immer etwas anders sind als üblich. Ein Leben zwischen Bürgerlichkeit und Boheme: mit Champagner und Puschkin am Sonntagmorgen im Bett, Besuche nach der Schule in der Institutsbibliothek, wo die Mutter arbeitet und mit verschüchterten Studenten flirtet, Pokern unterm Weihnachtsbaum, abenteuerliche Fahrten in der Ente – bis sich Hanna entscheidet, die Familie zu verlassen und ihr Leben allein von vorn zu beginnen.

 

Mit großer Einfühlsamkeit und Leichtigkeit erzählt Caroline Peters von den Fragen einer Tochter an die verstorbene Mutter und an sich selbst – und davon, was es heißt, eigene Wege zu gehen. Ein sehr persönliches Buch, kraftvoll, berührend und von hinreißendem Humor.

Vita

Caroline Peters, geboren 1971, zählt zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Nach einem Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Saarbrücken war sie Ensemblemitglied an den wichtigsten deutschsprachigen Theatern, unter anderem an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Schauspielhaus und am Wiener Burgtheater. Sie spielt in Kino- und Fernsehproduktionen, etwa in der Krimiserie «Mord mit Aussicht» oder in Sönke Wortmanns «Der Vorname», und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie den Adolf-Grimme-Preis, den Bayerischen Fernsehpreis, den Deutschen Schauspielpreis oder den Nestroy-Theaterpreis. 2016 und 2018 wurde Caroline Peters zur Schauspielerin des Jahres gewählt. «Ein anderes Leben» ist ihr erster Roman.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Lori Mehta

ISBN 978-3-644-01508-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Eins

Heute ist die Beerdigung meines Vaters, und für mich ist es die Auferstehung meiner Mutter. Ich kann es nicht anders sagen. So viele Jahre vor ihm ist sie gestorben. So viele Jahre hatten sie sich da nicht mehr gekannt. Und jetzt soll eines mit dem anderen zusammenhängen? Bow ist tot, das ist traurig genug. Er starb allein in seinem Haus am Zikadenweg, umringt von Büchern, Schriften, Sammlungen. Zuletzt versorgt von sich selbst und manchmal von seiner etwas nervösen und unbehaglichen Tochter, mir.

Wir stehen verstreut und unordentlich am Grab, die gesamte Familie. Meine beiden Schwestern Laura und Lotta mit ihren Ehemännern und Kindern. Und ihren Vätern.

Meine Schwester Laura steht neben ihrem Vater Klaus.

Meine Schwester Lotta neben ihrem Vater Roberto.

Gemischt dahinter die Ehemänner mit den Kindern.

Ich stehe allein dazwischen.

Klaus, Papa, Roberto und Hanna haben gemeinsam in Heidelberg studiert, und Hanna hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen nach dem anderen zu heiraten und von jedem ein Kind zu bekommen. Mein Vater war als Letzter dran. Bei ihm haben wir alle gewohnt. Er hat sich ein Haus gebaut und eine Familie, nachdem er Architekt geworden war.

Heute wird er begraben. Ich habe mich oft gefragt, wie schlimm dieser Moment wohl werden wird. Genau genommen gar nicht so schlimm, stelle ich jetzt fest. Wir schaffen es alle, so traurig es auch ist. Keine von uns zerbricht im Stehen daran, wie ich es manchmal befürchtet habe, wenn ich mir dieses Ereignis ausgemalt habe, an Tagen, an denen sowieso alles schlecht erscheint und man sich selbst etwas noch Schlechteres skizziert, damit die Wirklichkeit nicht mehr schrecken kann.

Wir stehen da, und es ist kalt.

Es windet sehr stark, hier auf dem Friedhof in Hessen. Hier wollte er beerdigt werden, im Kreise seiner Herkunftsfamilie. Das waren nicht wirklich seine Worte. Bow hatte Familie gesagt, im Kreise seiner Familie. «Herkunft» habe ich dazugedichtet, um nicht ausgenommen zu sein von dem, was Bow seine Familie nannte. Der «Kreis seiner Familie» steht für meine Begriffe hier draußen am Rand der Grube, in die er gleich versenkt werden wird. War das nicht sein Gefühl am Ende seines Lebens?

Vor uns im Boden liegen Ramspecks. Alle, die seit 1860 gestorben sind, dem Jahr, in dem einer von Papas Vorvätern dieses Grab anlegte. Ramspeck, die Familie, die mein Vater verlassen hatte und mit der er jetzt die Ewigkeit teilt. Ohne uns, weil wir alle noch leben. Und ohne seine Frau. Ohne Hanna.

Hanna liegt Hunderte Kilometer entfernt in der Tiefe der Ostsee. In einer Flaschenpost, gefüllt mit ihrer Asche, versetzt mit etwas Blei, um die Flasche am Meeresgrund zu halten und nicht oben auf den Wellen schwimmen zu lassen.

Das sei doch der einzige Zweck einer Flaschenpost, dass sie auf den Wellen schwimmt, entdeckt und rausgefischt wird, sonst finde doch niemand die Nachricht, hatte Laura gesagt, als wir gemeinsam Hannas Letzten Willen lasen. «Aber Hanna hat sich Blei gewünscht, damit ihre Nachricht nur am Meeresboden wandert und für Oberflächenblicke unsichtbar bleibt», entgegnete ich. Lotta nickte mir zu, ein seltener Moment von Einigkeit.

Nicht sehr nachhaltig, meinten Lauras Kinder, und ich begann eine halbherzige Diskussion mit ihnen. Sie waren schon erwachsen, als Hanna starb. Laura war mit Anfang zwanzig das erste Mal Mutter geworden, so wie Hanna einst mit ihr. Ich war mit zwanzig ebenfalls schwanger gewesen, wollte aber kein Kind in diesem Alter. Diese zwanzigjährigen Mütter in der Familie, dachte ich damals, sieh dir an, was dabei herausgekommen ist, und war ohne große seelische Probleme und ohne männliche Begleitung zum Frauenarzt gegangen.

«Nachhaltig oder nicht. Shanghai oder Bangkok sind auch nicht nachhaltig und existieren trotzdem», sagte ich zu Lauras Kindern. Mein Argument, das gar keines war, überzeugte sie nicht. Der Wunsch unserer Mutter, ihrer Großmutter, am Meeresgrund versenkt zu werden, stand leer im Raum. Ich war der Meinung, ein letzter Wunsch ist ein Gesetz, das die Familie zu befolgen hat. Mit Blei vermischte Asche, so wollte sie verewigt werden. Die nächste Generation fand, Nachhaltigkeit stehe über dem Individuum. Meine Schwestern hielten den Wunsch für unpraktisch und kostspielig. Laura, sonst durchaus für große symbolische Gesten zu haben, meinte, dieses Mal habe Hanna übertrieben. Wer sie denn sei, fragte sie in die Runde, die Königin von Saba? Nein, sagte ich, auch nicht die Prinzessin auf der Erbse, aber vielleicht eine Frau, die sich in den letzten Jahren ihres Lebens wie eine Flaschenpost mit Blei empfunden hat und nun aus der Asche ihres Körpers, einer Flasche und einem Korken ein unsichtbares Denkmal schaffen wollte.

Stille. Ich hatte Laura widersprochen. Vor ihren Kindern. Die jungen Beiboote meiner Schwester schauten, wie ihre Kapitänin reagierte. Laura machte ein undurchdringliches Gesicht. Sie konnte mir auf keinen Fall zustimmen, nicht vor den Kindern und aus Prinzip nicht. Ich war jünger, und das bedeutete in der Ramspeck’schen Familienlogik etwas Niederes. Sie konnte auch nicht einfach sagen «Auch ein Punkt» und damit wenigstens teilweise anerkennen, dass ich nicht völligen Unsinn von mir gab. Nicht vor ihrem Volk.

Ich habe Lauras Gesicht früher gut lesen können. Sie ist die Älteste von uns. Ich war noch klein, als sie auszog und ihr eigenes Leben begann. Es war wichtig in meiner Kindheit zu wissen, was sie dachte, auch wenn sie gerade nicht sprach. Sie schien etwas zu wissen über die Eltern, was mir und Lotta entgangen war, also versuchte ich, die Lücken zu schließen, indem ich sie beobachtete. Sie tut bis heute allwissend. Damals war sie es für mich auch. Doch seit ihre Kinder groß sind und nicht mehr blind den Eltern folgen, sondern mit eigenen Augen Gesichter lesen, hat sich Lauras Ausdruck verändert. Sie ist unleserlich geworden.

Die Beiboote schauten sie an und warteten auf eine Reaktion. Lauras Gesicht blieb unverändert, zumindest auf mich wirkte es so. Mimama habe übertrieben, niemand müsse so unnachhaltig mit seinem Tod umgehen, entschieden sie dann. Schon den Holzsarg zu verbrennen, sei wirklich schlecht für Luft und Umwelt, und dann noch die Reste mit Blei vermengen und in die See werfen? Wie schnell kann so eine Glasflasche zerbrechen, und schon wandelt das Blei über den Ostseeboden dahin und wird von Fischen gegessen, die dann von Menschen gegessen werden.

Niemand müsse sich in einem poetischen Denkmal am Meeresgrund verwirklichen, sagte Laura und starrte in die Luft. Hatte sie einfach das Nein ihrer Kinder übernommen, oder hatten die Kinder ein entschlossenes Nein in ihrem Gesicht abgelesen, und nur ich hatte es nicht gesehen?

Wir ließen es so stehen. Die Jugendlichen in der Familie heute sind noch viel nachhaltiger, als Lauras Kinder es damals waren. Wenn wir heute, wie einst unsere Großmütter nach dem Krieg, an Weihnachten und Geburtstagen gemeinsam Geschenkpapier plätten und Schleifen bügeln, fühlen wir uns eigentlich alle ganz wohl. Also zählen diese Argumente häufig am stärksten. Damals, bei Hannas Tod, war das nicht so. Dafür gelang uns damals etwas, was uns heute nicht mehr gelingt – Lösungen finden. Wir waren sicher, es würde uns etwas einfallen für Hannas Überreste. Ist es uns dann auch, allerdings nicht gemeinsam.

 

Laura steht neben ihrem Vater Klaus. Klaus war seit der achten Klasse in Hanna verliebt gewesen. Eigentlich schon davor, aber in der achten Klasse hatte er seine Gefühle endlich verstanden. «Untertertia», sagte Hanna, wenn sie uns Töchtern davon erzählte. «In der Untertertia wusste er auf einmal, was ein Mädchen ist und was ein Junge.» Dabei lächelte sie und zwinkerte uns zu. Für Klaus war die Hochzeit mit Hanna ein logischer Schritt in seinem Leben gewesen, so logisch, wie beim Gehen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass Hanna so früh sein Kind erwartete, war ein Versehen gewesen. Nicht das Kind, nur der Zeitpunkt. Er hätte sich keine andere Frau vorstellen können. Hanna hatte noch Erinnerungen an seinen Vater und er an ihren. Damit waren sie für immer Familie. In seiner zweiten Ehe war er später sehr glücklich, doch Laura blieb sein einziges Kind. Ehe war Ehe für ihn und Familie Familie.

Die Mütter von Hanna und Klaus, Oma Tita und Oma Dörrge, waren Freundinnen gewesen, oder vielleicht sollte man besser sagen Co-Gattinnen. Die Männer waren gemeinsam aus Thüringen nach Berlin zur Wehrmacht gegangen, später mit ihren jungen Familien nach Schlesien gezogen und von dort gleich weiter nach Osten in den Krieg, aus dem sie nie wieder zurückkamen. Die Division, in der die jungen Ehemänner dienten, gestaltete den Einmarsch in Polen, wie ich als Erwachsene erfuhr. Der Plan war, immer tiefer in den Osten vorzudringen, und alle paar Jahre würden die beiden jungen Mütter mit ihrer stetig wachsenden Kinderschar nachziehen. Die ersten Siedler.

Die meisten Geschichten von Oma Tita fingen an mit «Als wir den Papi im Krieg verloren hatten …». Ich konnte mir als Kind nie vorstellen, wie das wohl passiert war. Hatte er es nicht geschafft, nach dem hastigen Aufbruch in Neiße mit russischem Kanonengrollen im Hintergrund hinterherzukommen? Dieser Papi war so lebendig in der Familienlegende, dass ich davon ausging, er war einfach nicht wiedergefunden worden und lebte inzwischen als sehr alter Mann irgendwo versteckt. Er ist der einzige Vater in der Familie, der Papi heißt, alle anderen werden mal Papa, mal Vater, mal Vati genannt. Papi gibt es nur einmal.

Oma Tita, Hannas Mutter, war der Liebling aller Kinder. Das wusste sie und teilte deswegen gern gegen die anderen Großmütter in unserer Familie aus. Vor allem gegen Oma Dörrge, ihre Freundin, genannt «das Dörrgemüse». Auch Klaus, der blasse, vaterlose Sohn, war «Dörrgemüse». Laura war sehr gekränkt, wenn Oma Tita das sagte.

Eines Nachts war Oma Tita von ihrem ersten Telefon geweckt worden. Eine Stimme von sehr weit weg sagte ihr, dass ihr Mann gefallen sei. Tita schüttelte daraufhin die zehnjährige Hanna aus dem Bett und schickte sie drei Häuser weiter zu den Dörrges. Ihr Mann hatte ihr eingeschärft, sollte er in Russland fallen, könne sie sicher sein, der Krieg sei verloren, und dann müsse sie auf der Stelle aufbrechen und die vier Kinder in Richtung Westen bringen. Ein Zufluchtsort war schon zu Kriegsbeginn bestimmt worden, der Bauernhof einer entfernten Verwandten in Oberhessen. Hanna klingelte Oma Dörrgemüse aus dem Bett und sagte, ihre Mutter lasse ausrichten, sie müssten jetzt los. Oma Dörrge war schockiert und weckte sofort Klaus und seinen jüngeren Bruder, das Baby in ihrem Arm schlief durch. Klaus und Hanna liefen Hand in Hand zurück zu Oma Tita, die das Auto schon mit ihren eigenen Kindern vollgestopft hatte. Hanna blieb nur wenig Zeit, sich warm anzuziehen. Schnell verabschiedete sie sich von ihren Puppen und Teddys, die sie nicht mitnehmen durfte. Sie setzte sie ins Fenster, sie sollten ihr nachschauen können. Und sie legte ihnen ein Buch auf den Schoß, damit sie etwas zum Lesen hatten, bis Hanna wiederkommen würde. Mit den Puppen und Büchern blieb auch der Dackel zurück. Hanna blickte dem Hund durch das Rückfenster nach, bis er im Dunkeln verschwand. Dieses Tableau, diesen Blick nach hinten auf Dackel Puz neben den lesenden Puppen, habe ich geerbt.

 

Ich betrachte Lotta, wie sie neben ihrem Vater Roberto steht. Sie sieht ihm einfach nicht ähnlich (hat Hanna auch gesagt), dafür aber Robertos Mutter, wodurch die Sache eindeutig ist. Eindeutiger als bei uns anderen Töchtern, denn auch wir sehen unseren Vätern kein bisschen ähnlich. Lotta steht sizilianisch schön an Papa Bows Grube und badet im Augenblick. Schmerzvoller Abschied, eine ihrer liebsten Posen. Roberto betrachtet seine Tochter. Er sieht weich und mild aus. Auch im Alter ist er ein wirklich schöner Mann. Nach seiner Ehe mit Hanna hat Roberto eine große Familie gegründet. Lotta hat eine für mich unüberschaubare Zahl von Halbgeschwistern irgendwo zwischen Sizilien und Wien, wo Robertos zweite Frau herkommt. In Syrakus ist weiterhin der Hauptsitz des Verlags seiner Familie. Angeblich gibt es auch noch uneheliche Robertos und Robertinas, und Lotta googelt sich in schwachen Momenten in einen wahren Stalkingrausch, um mögliche Geschwister zu entdecken. «Bevor sie eines Tages am Grab neben mir stehen», sagt sie dazu. Neben MIR, nicht neben UNS. Roberto gehört ganz allein Lotta. Bow und Hanna gehören uns allen.

Hanna war zweimal geschieden, als sie Bow wiedersah, geschieden von seinen engsten Studienfreunden, Klaus und Roberto. Hanna und Bow begegneten sich damals zufällig in Berlin auf der Kantstraße. Sie hatten sich einige Jahre nicht gesehen. Hanna lebte mit Laura und Lotta in der Stadt und arbeitete für ein Übersetzungsbüro. Sie war promoviert, hatte Slawistik und Germanistik studiert und verschiedene slawische Sprachen gelernt, darunter Altkirchenslawisch. Das alles war zu viel für ein Übersetzungsbüro. Und dieses Zuviel war für Hanna spürbar und schmerzlich.

Bow war für eine internationale Architekturmesse angereist. Keine Stadt sei so groß wie Berlin, sagte Hanna immer, und so oft treffe man zufällig jemanden auf der Straße. Sie gingen zusammen in die Paris Bar. Hanna hatte von ihrem Nachbarn, einem Schauspieler, davon gehört. In dessen Erzählungen klang «Paris Bar» nach prallem Leben. Hier konnte man lesen und schreiben, streiten und trinken. Hier saßen nächtelang junge Menschen zusammen, die in den Ruinen von Berlin Kunst machen und vor allem Kunst sein wollten. So zumindest stellte Hanna es sich vor. Bow ließ sich nicht lange bitten. Mit Hanna wäre er überall hingegangen.

Ob er nicht zu seinem Kongress müsse, fragte Hanna, als die erste Flasche Wein plötzlich leer war. Worum es da gehe, wollte sie wissen.

«Nur eine Messe», sagte Bow, zu diesem Zeitpunkt noch nicht Papa Bow, sondern mit seinem bürgerlichen Namen ausgestattet, Peter Ramspeck. Papa und Bow musste er sich noch erarbeiten. Es gehe um Architektur und Aufbau. Ob sie nicht zu ihren Töchtern müsse.

«Klaus’ Mutter passt auf die Mädchen auf», sagte Hanna. Sie komme jeden Monat für eine Woche. «Sie hängt sehr an Laura, inzwischen auch an Lotta.» Die sei ihr am Anfang zu dunkel gewesen, aber jetzt habe sie sich an sie gewöhnt.

Peter erkundigte sich nach Klaus, und Hanna erzählte ein bisschen von dessen zweiter Ehe, der netten Frau, die er gefunden hatte, und davon, wie die beiden sich ihr Leben eingerichtet hatten. Vielleicht wunderte sie sich, dass Peter so wenig über seinen alten Studienfreund wusste, fragte aber nicht danach.

Roberto habe er neulich in Syrakus besucht, sagte Peter. Das dortige Amphitheater sei großartig und Robertos Elternhaus traumhaft.

«Ich weiß», sagte Hanna, «ich habe dort geheiratet.»

«Stimmt», sagte Peter. «Ich erinnere mich.»

 

Kurz bevor er mit Hanna zusammen in die Paris Bar ging, hatte Peter in Köln in einem Architekturbüro angefangen. Er hatte die Jahre zuvor hart gearbeitet und pausenlos gespart. Und nun hatte er sich ein Grundstück gekauft, auf dem er bauen wollte. Es lag am Innenstadtrand, an einer Stelle, an der dreißig Jahre zuvor ein jüdischer Kaufmann für sich und seine Frau ein Wohnhaus hatte bauen lassen. Sie betrieben ein Feinkostgeschäft im Stadtzentrum. Nachdem die zweite Tochter geboren war, mussten sie Haus und Geschäft hergeben, und sie flohen nach Palästina. Einige Jahre später wurde alles weggebombt, und so war Peter an das Grundstück gekommen.

Bow hatte als Student immer am wenigsten Geld gehabt, weil er schon damals für sein Haus sparte. Während Roberto das Geld der sizilianischen Mutter mit Hanna und Klaus aus dem Fenster warf, hielt sich Peter in den gemeinsamen Heidelberger Nächten still an einem einzigen Milchshake fest. Sein Vater hatte ihn enterbt. Peter hatte Arzt werden sollen wie alle anderen männlichen Ramspecks vor ihm. Aber er wollte weg. Weg aus Alsfeld, weg aus Jahrhunderten Familientradition – Arzt Ramspeck aus Alsfeld in Oberhessen. Seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts waren dort Ramspecks als Apotheker und Ärzte ansässig. Das Haus war seit zweihundert Jahren dasselbe: Ramspecks Haus am Markt, Fachwerk mit winzigen Fenstern und knarrenden Balken. Sehr hübsch, sehr idyllisch, und für Peter ein einziges Gefängnis.

Aus dem Wohnzimmerfenster des Ramspeck’schen Hauses blickte man auf das Fachwerkrathaus und auf den Pranger. An einer Mauerecke des Rathausplatzes war im Mittelalter ein Eisenring an der Wand befestigt worden, der Delinquenten um den Hals gelegt wurde. Wer dort stehen musste, konnte von den Alsfelder Bürgern angespuckt, beschimpft oder gepiesackt werden. Bei Familienbesuchen stellten wir uns alle nacheinander an die Mauer, legten uns gegenseitig den Eisenring um den Hals, schnitten Grimassen und fotografierten uns dabei.

Manchmal sah Peter vom Wohnzimmerfenster aus Klaus und Hanna auf dem Marktplatz. Er kannte sie von der Schule, aber er sprach nie mit ihnen. Sie waren eine Klasse unter ihm, und sie waren Flüchtlinge. Peter hatte gerade von Medizin zu Architektur gewechselt, als er die beiden in Heidelberg wiedertraf. In der Milchbar kamen sie ins Gespräch. Nicht mehr der Alsfelder Junge und die Flüchtlinge, sondern alle drei Neuheidelberger, Studenten, junge Menschen, befreit von Eltern, Krieg und Pranger. Alle endlich weg von zu Hause, weg von der Vergangenheit der Eltern, von Nahrungsmittelbeschaffung und Sorgen um Heizmaterial. Sie konnten zum ersten Mal jung sein und den ganzen Tag lesen und reden und manchmal sogar rauchen. Sie teilten sich Biere und Milchshakes. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und malten sich Aussichten auf glänzende Karrieren aus. Akademische Karrieren, künstlerische, traditionelle. Die Generation über ihnen hatte haufenweise Lehrstühle, Stellen und Möglichkeiten hinterlassen. Alles, was vor ihnen gewesen war, war falsch, dreckig und schuldig. Doch wenn man sich davon einmal distanziert hatte, allein durch die Anwesenheit an einem neuen Ort, durch das Verlassen der eigenen Mütter, in Bows Fall des eigenen Vaters, wurde alles besser. Hanna war die Erste in ihrer Familie, die studierte. Aber das war nur der Anfang. Alles lag vor ihr.

Eines Tages fiel einem jungen Mann in der Mensa die Suppe vom Tablett und auf Hannas Mantel. Von da an waren sie zu viert. Robertos italienische Herkunft verlieh dem Ganzen noch ein zusätzliches Gefühl neuer Horizonte. Man war nicht mehr nur deutsch – wer wollte das schon sein? Man konnte nach vorne und überall hinblicken und sich vorstellen und wünschen, dass von nun an alles anders laufen würde. Sie waren jung, sahen das Glück auf ihrer Seite. Sie kamen aus Hessen und aus Italien, und sie bauten sich auf, was sie aufbauen konnten.

 

«Was wirst du bauen?», fragte Hanna ihren alten Freund Peter in der Paris Bar und lächelte verführerisch. «Ein Haus?»

«Ja», sagte Peter ernst. «Ein Haus.»

Wie es aussehen solle, wollte Hanna wissen.

«Ein Bungalow mit drei Kinderzimmern, einem Arbeitszimmer und einer großen amerikanischen Küche», sagte Bow. Küchenzeile, Theke, Esstisch, fertig. Und kein Wohnzimmer. Er hasse deutsche Wohnzimmer. Das sei nicht mehr zeitgemäß.

Mit wem er da einziehe, fragte Hanna, die alles über Peters Liebesleben erfahren wollte.

«Mit dir», sagte Peter. «Mit dir und mit Laura und mit Lotta.» Und vielleicht würden sie auch noch ein Kind kriegen.

«Da war ich still», sagte Hanna immer an dieser Stelle der Erzählung, was uns regelmäßig zum Lachen brachte, denn Hanna war nie still. Nur da, in diesem Moment in der Paris Bar. «Wir bestellten eine zweite Flasche Wein», pflegte sie dann zu sagen, «und der Rest ist Geschichte.» Unsere Geschichte. Wie alles begann. Hanna und Bow erzählten uns Töchtern oft, wer wir waren und woher wir alle kamen.

«Dann hat Papa einen Bleistift aus der Jackentasche geholt und auf einen Zettel gekritzelt», geht die Geschichte weiter. «So soll es aussehen», hat er gesagt und das Haus gezeichnet, in dem wir alle aufgewachsen sind. Flach und L-förmig sollte es werden und wurde es auch. Er zeichnete das schönste Haus, das er sich vorstellen konnte, für die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Aber er vergaß, ihr ein Zimmer zu bauen. Und dieses fehlende Zimmer war wie ein Samenkorn zwischen die Grundmauern des Hauses geraten und wuchs und wuchs. Mit jedem Jahr, das wir als Familie dort lebten, wuchs es heran zu einem kräftigen, Beton verschlingenden Baum mit Hunderten von Ästen. Bows Traum verwirklichte sich, aber mit dem Grundstein des Hauses hatte er die Wurzel für das Scheitern gelegt. Dieser Teil der Geschichte steht nicht in der Familienfibel.

 

Meine beiden Schwestern haben Klaus und Roberto in ihrem Leben, aber Bow war ihr Vater. Väter werden in unserer Familie sehr geschätzt und ernst genommen. Ich sage oft, dass wir aus unserer mütterlichen Linie mehr hätten machen können. Die Schwestern bestreiten das, schon weil ich die Jüngste bin, und die Jüngsten haben nie recht. Familienhierarchie haben sie von Ramspecks gelernt. Sie, die mit keiner Faser mit den Ramspecks verwandt sind, hängen deutlich mehr an deren jahrhundertealten Sitten und Gebräuchen als der ehemalige Peter und ich. Laura und Lotta lieben die Ramspeck’sche Stammesgeschichte und die daraus folgenden Umgangsformen. Sie lieben Wurzeln. Und sie ignorieren gern alles, was die Linie von Hanna und Tita hervorgebracht hat. Sie sind Ramspecks durch und durch. Aber vielleicht ändert sich das jetzt. Vielleicht befreit Bows Tod auch bei meinen Schwestern weggesperrte Erinnerungen an unsere Mutter.

Das Verhältnis zu den Toten bleibt dynamisch, hat eine buddhistische Freundin damals bei Hannas Einäscherung gesagt. Ich warte seither darauf, dass sich diese Dynamik zeigt. Hanna hat einen Platz in der Familienhistorie als die Verrückte, die sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, in jeder Hinsicht. Doch auch die Toten, mit denen wir leben, sterben irgendwann. Und so wird heute vielleicht mit Bow die tote Verrückte beerdigt, mit der Lauras und Lottas Kinder durch unsere Erzählungen aufgewachsen sind. Vielleicht entsteht jetzt eine neue tote Hanna für uns alle, mit neuen Geschichten. Und vielleicht kann auch Hannas soldatischer Vater heute endlich sterben, denke ich. Immerhin ist er schon achtzig Jahre tot, und trotzdem begleitet er uns nach wie vor.

Hanna hat Beerdigungen gehasst. Am meisten das Geräusch, das entsteht, wenn die von jedem Partygast geschaufelte Erde auf den Sargdeckel knallt. Sie nannte die Leute, die zu Beerdigungen gingen, Partygäste und wunderte sich jedes Mal wieder, dass alle so gleich angezogen waren. «Und was soll das mit diesem Hinterhergewerfe?», schimpfte sie vor jeder Beerdigung. «Klopfen alle noch mal an, ob man auch wirklich tot ist? Haben alle Angst, dass man wach in der Kiste liegt und keiner es gemerkt hat? Glauben alle, dass ihnen selber das passieren wird? Das ist Störung der Totenruhe. Hat niemand Respekt davor?»

Am Tag vor Oma Titas Beerdigung saßen wir zu fünft beim Abendessen. Hanna war aufgeregt und hielt ihren Vortrag, und Papa Bow versuchte, sie zu bremsen.

«Die fallende Erde ist ein Symbol.»

«Erde ist ein Fakt. Kein Symbol. Ein akustischer Faustschlag. Eine Ohrfeige. Dreck, den man dem anderen buchstäblich hinterherwirft, und unterstrichen wird die Aktion mit einem ordinären Rums. WER von uns fasst im Leben Dreck an? Als Baby auf dem Spielplatz vielleicht oder bei der Gartenarbeit, aber sonst?»

«Das Grab können die Hinterbliebenen nicht selber zuschaufeln, und symbolisch hilft man dem Totengräber», versuchte Bow zu erklären.

«Wieso soll ich dem helfen? Im Restaurant helfe ich den Kellnern auch nicht symbolisch beim Auftragen der Speisen. Und was hilft dem das? Entweder man hilft ihm, diese Kiste in der Erde einzubuddeln, oder man hilft ihm nicht. Einen Klumpen draufplumpsen lassen kann ich nicht als Hilfe werten.»

Bow konnte sie nicht beschwichtigen. Das war grundsätzlich sein Ansatz, den wir Töchter alle übernommen haben: Hanna beschwichtigen, wenn sie entschieden etwas sagte oder dachte. Bis hin zu den Enkeln, die sie in ihrem letzten Wunsch noch beschwichtigen wollten, haben wir das alle verinnerlicht. Und danach wurden Hannas Ideen und Vorhaben als die eigenen verkauft. Schade, dass ich das erst jetzt merke, so viele Jahre nach ihrem Tod. Sonst hätte ich sie auch einmal ernst nehmen können. Aber das hätte zu sehr dem familiären Konsens widersprochen.

Für die Bestattung von Hannas Urne hatten wir statt Erde Rosenblätter bestellt. Etwas für jeden Partygast zum Hinterherflatternlassen, zum Nachwinken wie mit einem Taschentuch. Zart und weich in der Luft. Doch das Beerdigungsinstitut hatte die Rosenblätter vergessen. Nein, eigentlich hatte Lotta sie vergessen. Sie hatte bei der Vorbereitung alle praktischen Aufgaben an sich gerissen, war dann aber von ihrem wenige Wochen alten Säugling so eingenommen gewesen, dass in der Organisation viel danebenging. Rosenblätter sind zerpflückte Blumen und werden nicht vom Totengräber bereitgestellt, sondern vom Floristen. Die Urnenbeisetzung war auf Aschermittwoch festgesetzt worden, was die Vorbereitung zusätzlich erschwerte. Florist, Beerdigungsinstitut – alles geschlossen. Überall maskierte Wesen, die sangen und schunkelten und sich um nichts kümmern wollten. Und wir Töchter irritiert, streitend und in Lottas Fall stillend in den entfesselten Straßen der Stadt unterwegs.

Dann kam der Aschermittwoch. Wir standen am Grab, und da war nichts. Keine Blumen, keine Rosenblätter, kein Eimer Erde. Kurze Pause, als der Fehler auffiel. Lotta, die Verantwortliche, fand als Erste zu einer Reaktion. Sie bückte sich, klaubte Dreck vom Friedhofsweg auf und schmiss ihn hinterher. Es gab kein Geräusch, die Ladung war zu dünn. Aber es sah irre aus. Lotta, ihre Tochter um den Bauch geschnallt, kratzte am winterlich kalten Pfad herum und ließ ein paar Sandkörner auf die Urne rieseln. Ich versuchte, die anderen Gäste davon abzuhalten, es Lotta nachzutun. Ich verteilte Taschentücher und einzelne Blütenblätter von den Blumen an meinem kleinen Strauß.

«Wieso hast du überhaupt einen Strauß dabei?», fragte Lotta aufgebracht. «Wir hatten gesagt, ich besorge die Blumen!»

«Und, hast du?»

«Lotta ist stilldement, lass sie in Ruhe. Du hast ja keine Ahnung», flüsterte mir Laura ins Ohr.

Beide Schwestern waren plötzlich wütend auf mich. Mein Gesicht war anscheinend mal wieder in Großbuchstaben unterwegs gewesen, und mein Blick auf Lotta am offenen Grab, wie sie unserer Mutter Dreck hinterherwarf, musste laut und deutlich Missfallen ausgedrückt haben. Lottas Gesicht schimpfte mich aus in allen Farben. Wenn nicht ihr Baby im Tragetuch zwischen uns gewesen wäre, hätte ich ihre flache Hand im Gesicht gehabt. Lotta hat keine Hemmungen, vor anderen auszuteilen.

Ich ging an das offene Loch in der Erde und warf Hanna Luft hinterher. Laura tat es mir nach und setzte in ihrer Verunsicherung Hannas Pokergesicht auf, das sie schon als Kind versucht hatte zu kopieren. Sie fand einfach kein eigenes.

Bei Hanna war es perfekt. Durchlässig und abweisend zugleich. Hanna konnte auch hervorragend pokern und zockte gern mit uns Töchtern am Heiligen Abend. Zur Bescherung gab es bei uns oft Geld von Verwandten aller Art. Wir hatten auf den verschiedenen Seiten zahlreiche Familienmitglieder, die aber nicht unbedingt für jede von uns galten und die unterschiedlich mit dieser Situation umgingen. Hanna fand es ungerecht, wenn eine ihrer Töchter um Mitternacht ihre Scheinchen zählte, die aus hässlichen Weihnachtskarten herausgefallen waren, und mehr hatte als die anderen. Das brachte sie auf die Idee, um Geld zu spielen, noch an Ort und Stelle. Sie hatte von Kindesbeinen an gespielt. Vielleicht war auf Schulhöfen und Schwarzmärkten der Nachkriegszeit viel mit Karten geregelt worden. Hanna hatte drei jüngere Geschwister gehabt und gewisse elterliche Verpflichtungen verspürt. Und Hunger. Wie oft hat sie strahlend vom «Organisieren» in der Nachkriegszeit erzählt. Unser modernes Shoppen war ihr ein Graus, und wenn wir vollgepackt mit Tüten aus der Fußgängerzone nach Hause kamen, lachte sie uns höhnisch aus. Sie hatte sich alles ergaunern, erarbeiten und erschwindeln müssen, und sie war stolz darauf. Wie viel Butter oder Eier oder Zigaretten als Tauschware hat sie sich durch Pokern beschafft?

Hanna hatte dieses sehr besondere Gesicht beim Spielen: Tiefenkonzentration, völlige Entspannung, in the zone. Wie eine Seiltänzerin. Es darf kein Schritt danebengehen, sagte ihr der innere Drang nach Sieg. Dabei mischte sich in ihren Ausdruck auch etwas lächelnde Überheblichkeit. Sie wusste, wir konnten sie nicht durchschauen. Sie war unsere Mutter. Sie bluffte sowieso immer. Mit allem. Laura versuchte, Hannas Gesicht nachzuahmen, aber es gelang ihr nie, und sie wusste ohnehin nicht, was mit den Karten zu tun war. Ich wusste es auch nicht besser und war zudem nicht gierig genug. Zu dieser Zeit konnte ich mir Geld nur im Gegenwert von Lollis, sauren Zungen und Salmiakpastillen vorstellen. Die Geldbündel der Schwestern überstiegen meine Rechenkapazitäten und waren dadurch abstrakt.

Einmal maulte mich Lotta an, schwer beleidigt wegen der hohen Gewinne, die Hanna eingefahren hatte: «Mit dir kann man nicht spielen, du kapierst einfach nicht, was Bluffen ist. Man merkt sofort, wenn du eine gute Hand hast. Wenn du was riskierst, wissen alle in der Runde, dass du auch gewinnen wirst. So können wir Mama nie fertigmachen.» Ich lief weinend in mein Zimmer. Hanna beendete das Spiel und verteilte den gewonnenen Schatz gleichmäßig unter ihren drei Töchtern, woraufhin Lotta weinend in ihr Zimmer rannte. Sie hatte vorher am meisten Geld gehabt und nun genauso viel wie wir anderen. Mama war Mama genug, um nun von einem Bett zum anderen zu wandern, Schokoladenplätzchen und summende, beruhigende Worte verteilend.

 

Die Hand meiner Mutter auf meinem Kopf, fahrig und zittrig. Manchmal bleibt der Verschluss ihres Armbandes in meinen Haaren hängen und ziept. Aber sie summt und murmelt weiter und weiß um die mütterliche Kraft der körperlichen Besänftigung.

Heute frage ich mich, wie sie selbst, als Hanna und nicht als Mama, sich empfunden hat, wenn sie weich und lieb neben einer von uns am Bettrand saß. Allwissend? Allbehütend? Oder im Gegenteil genervt und ausgesogen? Habe ich sie ausgesogen, wenn ich weinend und wimmernd meinen Teddy umkrallte und von ihr beruhigt werden wollte? Oder war ich ihre Muse, und sie sog eigentlich mich aus? War das erfundene Schlaflied, das sie mir summte, etwas, das sie später in der Nacht mit Worten auskleiden und zu Papier bringen würde? Ein poetischer Triumph, der nichts, aber auch gar nichts damit zu tun hatte, dass ihr jüngstes Kind beschämt war über die Unfähigkeit, beim Weihnachtspoker zu bluffen?

 

Ich bin genauso ungeschickt mit meinen Händen wie Hanna. Doch anders als meine Mutter habe ich keine Tochter, die mich dafür hasst. Wenn man klein ist, wird man täglich von seiner Mutter an- und wieder ausgezogen. Dabei müssen Reißverschlüsse, Knoten oder Knopfleisten bewältigt werden. Meine Mutter fummelte an all diesen Hürden herum, mit Ungeduld, Wut und Energie. Diese stetige, heitere Energie.

Einmal, als sie mich vom Kindergarten abholte, machte sie sich am Reißverschluss meines Anoraks zu schaffen. Unsere Köpfe stießen zusammen, ihr schwitzendes, schwer atmendes Gesicht direkt vor meinem. Ich stand in meiner braunen Jacke mit gelb-orangen Streifen im Flur des Kindergartens vor dem Maiglöckchenfach. Mir war heiß. Ich hatte die Kapuze schon auf dem Kopf, sodass meine Sicht eingeschränkt war. Die übrigen Kinder, die auch gerade in regenfeste Kleidung gestopft wurden, sah ich kaum. Hanna hatte eine fröhliche, unterhaltende Stimme. Die anderen Mütter waren hingerissen von ihrem Charme. Sie dominierte die kleine Runde mit Präsenz und Strahlen und fummelte weiter an meinem Reißverschluss herum. Je schwieriger es wurde, desto aufgekratzter wurde ihre Laune. Manchmal machte sie kurz Pause, um anderen Kindern zu helfen, einen Schuh anzuziehen oder ein Spielzeug unter der Sitzbank hervorzukramen. Ich schaute schweigend zu. Dann fing ich stumm an zu weinen. Mir war so heiß im voll beheizten Flur des Kindergartens. Hanna wollte mir tröstend mit einem Finger über die Wange streichen und ritzte mich dabei mit einem angerissenen Fingernagel. «Nicht schlimm», sagte sie, als ich von dem kurzen Schmerz wegzuckte. Plötzlich glitt am Reißverschluss alles an die richtige Stelle, aber so überraschend, dass Hanna das Schiffchen viel zu kraftvoll hochriss und mit dem Handrücken fest unter meinem Kinn endete. Ein echter Kinnhaken, könnte man rückblickend sagen. Um zwölf Uhr dreißig, am Ende eines deutschen Kindergartentages in den Siebzigern.