Ein Baby im Doktorhaus - Michaela Dornberg - E-Book

Ein Baby im Doktorhaus E-Book

Michaela Dornberg

5,0

Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Mit Michaela Dornberg übernimmt eine sehr erfolgreiche Serienautorin, die Fortsetzung der beliebten Familienserie "Im Sonnenwinkel". Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen. Sie kennt den idyllischen Flecken Erlenried und die sympathische Familie Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi. Almas Aufschrei konnte einem durch Mark und Bein gehen. Roberta fiel vor Schreck der Autoschlüssel aus der Hand. Sie bückte sich automatisch, hob ihn auf, dann nahm auch sie bewusst wahr, was bei Alma diese Aufregung hervorgerufen hatte. Vor der Haustür, der privaten Haustür des Doktorhauses lag ein größeres, längliches Paket. In dem schummerigen Licht der Straßenlaterne konnte man nicht erkennen, was das sein sollte. Auf jeden Fall war es ungewohnt, und deswegen gingen einem die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf, angefangen von einer Bombe, die jemand abgelegt hatte. Roberta hatte zwar keine Feinde, doch man konnte nicht in den Kopf eines jeden Menschen sehen, und es konnte den einen oder anderen unter ihnen geben, dem ihr Gesicht nicht gefiel. Lange konnte sie über die unterschiedlichsten Möglichkeiten nicht nachdenken, denn Alma hatte sich bei ihr am Arm festgekrallt und wisperte aufgeregt: »Frau Doktor, was ist das? Was hat das zu bedeuten?« Zuerst einmal musste sie sich darum kümmern, dass ihre Alma nicht kollabierte. »Alma, so beruhigen Sie sich erst einmal, wenn wir das Paket erreicht haben, werden wir es sehen. Vielleicht hat sich da jemand einen Scherz erlaubt.« Alma schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, ich spüre, dass es …« Sie brach ihren Satz ab, und Roberta hätte jetzt nur erraten können, was Alma spürte, doch dazu hatte sie weder Lust, noch war es ihre Art, sich in Richtung Spökenkiekerei zu bewegen. Dafür war eindeutig ihre Freundin Nicki zuständig. Nicki und Alma konnten sich über Schwingungen, Gespür, Voraussagen und ähnliches stundenlang unterhalten. Roberta zog Alma mit sich fort, es dauerte nicht lange, und sie hatten das Paket erreicht. Sie beugten sich gleichzeitig herunter und dann hielten sie den Atem an. In dem Paket lag, dick vermummt, ein Baby!

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Der neue Sonnenwinkel – 73 –

Ein Baby im Doktorhaus

Die bezaubernde kleine Adrienne lag vor Robertas Haustür!

Michaela Dornberg

Almas Aufschrei konnte einem durch Mark und Bein gehen. Roberta fiel vor Schreck der Autoschlüssel aus der Hand. Sie bückte sich automatisch, hob ihn auf, dann nahm auch sie bewusst wahr, was bei Alma diese Aufregung hervorgerufen hatte.

Vor der Haustür, der privaten Haustür des Doktorhauses lag ein größeres, längliches Paket. In dem schummerigen Licht der Straßenlaterne konnte man nicht erkennen, was das sein sollte. Auf jeden Fall war es ungewohnt, und deswegen gingen einem die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf, angefangen von einer Bombe, die jemand abgelegt hatte. Roberta hatte zwar keine Feinde, doch man konnte nicht in den Kopf eines jeden Menschen sehen, und es konnte den einen oder anderen unter ihnen geben, dem ihr Gesicht nicht gefiel.

Lange konnte sie über die unterschiedlichsten Möglichkeiten nicht nachdenken, denn Alma hatte sich bei ihr am Arm festgekrallt und wisperte aufgeregt: »Frau Doktor, was ist das? Was hat das zu bedeuten?«

Zuerst einmal musste sie sich darum kümmern, dass ihre Alma nicht kollabierte.

»Alma, so beruhigen Sie sich erst einmal, wenn wir das Paket erreicht haben, werden wir es sehen. Vielleicht hat sich da jemand einen Scherz erlaubt.«

Alma schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, das glaube ich nicht, ich spüre, dass es …«

Sie brach ihren Satz ab, und Roberta hätte jetzt nur erraten können, was Alma spürte, doch dazu hatte sie weder Lust, noch war es ihre Art, sich in Richtung Spökenkiekerei zu bewegen. Dafür war eindeutig ihre Freundin Nicki zuständig. Nicki und Alma konnten sich über Schwingungen, Gespür, Voraussagen und ähnliches stundenlang unterhalten.

Roberta zog Alma mit sich fort, es dauerte nicht lange, und sie hatten das Paket erreicht. Sie beugten sich gleichzeitig herunter und dann hielten sie den Atem an.

In dem Paket lag, dick vermummt, ein Baby!

So etwas konnte einem schon die Schuhe ausziehen, den Boden unter den Füßen verlieren lassen, denn es war nicht alltäglich, dass ein winziges Baby vor dem Doktorhaus abgelegt wurde.

»Oh Gott, oh Gott«, flüsterte Alma mit zitternder Stimme, »ist es tot?«

Ein solcher Gedanke war Roberta überhaupt noch nicht gekommen, doch denkbar war es schon. Und da machte auch der Fundort einen Sinn.

»Alma, schließen Sie bitte die Haustür auf«, bestimmte Roberta, »ich nehme das Baby, und sehen Sie mal, da liegt auch noch eine Tasche, und die nehmen Sie.«

Alma nickte, tat, wie ihr geheißen, und Roberta schleppte das Paket ins Haus. Es waren merkwürdige Gefühle, die sie durchströmten, denn es war eine Situation, die sie noch nicht kannte. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich insgeheim wünschte, das Baby möge am Leben sein.

Auch wenn sie keine Kinderärztin war, wusste sie doch, was sie zu tun hatte, und sie begann umsichtig zu handeln, während Alma nur aufgeregt neben ihr stand.

Roberta legte das Baby auf den Tisch, packte es vorsichtig aus. Und sie atmete erleichtert auf, als es anfing zu schreien.

Auf den ersten Blick sah sie, dass die Nabelschnur nicht ordnungsgemäß durchtrennt worden war. Das Baby war höchstens zwei, drei Tage alt, und wer auch immer es gewesen war, hatte es heimlich auf die Welt gebracht, nicht in einem Krankenhaus, nicht mit Hilfe einer Hebamme.

»Ein Mädchen«, sagte Alma, die stumm neben ihrer Chefin gestanden hatte und in die allmählich wieder Leben kam.

»Ja, ein Mädchen«, bestätigte Roberta, und nachdem sie das kleine Wesen untersucht hatte, fügte sie hinzu, »und es ist alles dran und in Ordnung.« Sie deckte das Baby, das sich wieder beruhigt hatte, zu, dann sagte sie: »Wir müssen die Polizei holen und es melden.«

Alma blickte ihre Chefin entsetzt an.

»Doch nicht jetzt, es ist nachts, da ist man bei der Polizei auf ein Baby nicht vorbereitet. Es kann bei uns bleiben. Wer immer uns das kleine Mädchen vor die Tür gelegt hat, musste sich etwas dabei gedacht haben. Und hier, ich habe die Tasche ausgepackt, da sind Windeln drin, Babynahrung und ein Babyfläschchen.«

Roberta zögerte. Sie blickte auf das kleine Gesichtchen, das von feinen blonden Härchen umrahmt wurde, und ihr wurde ganz warm. Wie sehr hatte sie sich immer ein eigenes Baby gewünscht, und nun hatte man ihr eines vor die Tür gelegt. Nicki würde sagen, dass es ein Zeichen war, doch sie wusste, dass da jemand in allerhöchster Not gewesen war und keinen Ausweg wusste.

Was für eine Situation!

Was ihren Beruf betraf, da kannte Roberta sich bestens aus, das, was sie gerade erlebt hatten, das war vollkommen neu für sie, und sie musste sich zusammenreißen, um sich von den Gefühlen, die sie gerade hatte, nicht überrollen zu lassen.

Ein Baby für ihrer Haustür …

Sie musste sich erst einmal setzen, Alma ging es nicht anders, und so saßen sie schließlich beide da und staunten das Wunder an. Das war aber auch ein Ding. Man legte vielleicht mal einen Blumenstrauß vor eine Haustür, ein bisschen Gemüse aus dem Garten, so etwas kam hin und wieder schon mal vor, aber ein Baby? Das konnte einem nur die Sprache verschlagen und wilde Spekulationen in Gang setzen.

Das Baby fuhr mit seinen kleinen Händchen im Gesicht herum.

Es war allerliebst anzusehen.

Alma war es, die zuerst anfing zu sprechen. »Frau Doktor, und wenn es nun Babette war, die uns das Baby vor die Tür gelegt hat?«

Irritiert wandte Roberta sich ihrer treuen Mitarbeiterin zu.

»Wie kommen Sie denn darauf, Alma?«

»Nun ja, wie Sie wissen, war die schwanger, ihre Eltern wollten nicht, dass sie das Kind bekommt. Doch Babette hat sich dagegen entschieden, sie wollte das Kind um jeden Preis haben, schon vergessen, Alma?«

»Natürlich habe ich das nicht vergessen, doch es gibt einen gewaltigen Unterschied, ob man sich etwas vorstellt oder ob man die Realität erlebt. Babette kann sich überfordert gefühlt haben, und weil ihr hier im Doktorhaus so viel Gutes widerfahren ist, hat sie …«

Sie wurde von ihrer Chefin unterbrochen.

»Alma, ich bitte Sie, benutzen Sie Ihren Verstand, Babettes Kind ist längst auf der Welt, und sie und ihr Freund Jost sind sehr glücklich, außerdem hat sie, anders als gedacht, einen kleinen Jungen bekommen. Nein, in diese Richtung müssen wir nicht denken, nicht, weil es nicht passt, sondern weil bei Babette und Jost zum Glück alles in Ordnung ist, die beiden werden heiraten.«

»Tut mir leid«, entschuldigte Alma sich sofort. »Natürlich kann das nicht sein, aber wer hat uns das Baby vor die Tür gelegt? Wer hat gewusst, dass wir beide erst sehr spät nach Hause kommen würden? Da muss sich doch jemand ziemlich gut mit unseren Gepflogenheiten auskennen.«

Roberta zuckte die Achseln.

»Alma, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen, das ist Sache der Polizei. Okay, ich bin damit einverstanden, dass das Kleine bei uns bleibt, und was für ein Glück, dass das ganze Wochenende vor uns liegt. Da können wir uns kümmern, es sei denn, die Polizei bringt direkt morgen jemanden vom Jugendamt mit, keine Ahnung. Ich hatte so etwas noch nicht, auch nicht in meinem Bekanntenkreis oder unter meinen Patientinnen.«

Insgeheim atmete Alma auf, die das kleine Mädchen am liebsten unter eine Glocke gelegt hätte, bloß, damit nichts dran kam.

Aber sie begann wieder zu denken, und so packte sie die Windeln aus, die Milch, das Fläschchen.

»Wer immer uns das Baby vor die Tür gelegt hat, der hat an alles gedacht. Doch daraus kann man eigentlich schließen, dass die Mutter wollte, dass für ihr Baby gesorgt wird. Und wenn das so ist, dann legt man es nicht einfach irgendwo ab. Ich verstehe es nicht.«

»Alma, ich auch nicht, doch ich denke, darüber müssen wir uns jetzt keine Gedanken machen. Jemand hat uns das kleine Wesen anvertraut, und solange es in unserer Obhut ist, ist es unsere Pflicht, alles für das Mädchen zu tun.«

Wie auf Kommando begann das Baby zu schreien, bekam sofort ein puterrotes Gesichtchen, fuhrwerkte mit den Händchen herum.

»Es hat Hunger«, rief Alma verzückt, »und eine neue Windel braucht es bestimmt ebenfalls.«

Es schien, als rissen sich beide Frauen darum, das Baby zu versorgen, schließlich einigten sie sich darauf, dass Alma die Milch erwärmte, während Roberta den anderen Teil übernahm. Ihre Hände zitterten, als sie das Baby noch einmal auspackte. Und nun entdeckte sie auch etwas, was ihr beim ersten Male entgangen war. An der Decke war mit einer Sicherheitsnadel ein kleiner, zerknitterter Zettel angeheftet, auf dem ein Name stand und ein Datum. Jetzt hatte das Baby einen Namen, es hieß Adrienne, und Roberta hatte richtig geraten, Adrienne war vor zwei Tagen auf die Welt gekommen.

Wenn der Mutter alles so wichtig war, wenn sie umsichtig für alles gesorgt hatte, warum hatte sie das Baby nicht behalten?

Weil Adrienne für einen kurzen Augenblick aufgehört hatte zu schreien, nahm Roberta den Zettel in Augenschein. Der Name war in Druckbuchstaben geschrieben worden, etwas ungelenk, was Roberta dazu veranlasste zu glauben, es handele sich um eine junge Schrift. Doch das musste nicht sein, da konnte man sich gewaltig irren, denn so schrieben auch Menschen, die nicht viel Übung damit hatten. Doch darauf kam es jetzt wirklich nicht an, es gab Wichtigeres zu bedenken, als sich deswegen den Kopf zu zerbrechen.

Adrienne …

Was für ein hübscher Name, man musste sofort an Frankreich denken, doch dem standen die seidenweichen blonden Härchen entgegen. Frankreich brachte man instinktiv sofort mit einer rassigen dunkelhaarigen Person in Verbindung, auch wenn man wusste, dass das meistens ein Trugschluss war. Man hatte seine vorgefertigten Bilder, die oftmals nicht mit der Realität übereinstimmten, denn auch nicht alle Schwedinnen waren blond und hatten blaue Augen.

Als Praktikantin hatte sie während ihres Studiums auch hier und da auf Säuglingsstationen gearbeitet, und obwohl es nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, hatte sie sich darum gerissen, Babys auch mal wickeln zu dürfen oder ihnen ein Fläschchen zu geben, wenn die Mütter nicht genug Milch hatten, nicht stillen wollten oder wenn die Mütter längst daheim waren und die Kleinen noch zur Beobachtung in der Klinik bleiben mussten. Roberta wusste also, wie es ging, doch geschickt stellte sie sich nicht gerade dabei an.

Alma kam zurück. Roberta hatte keine Ahnung, woher die das wusste, schließlich hatte sie keine Kinder, auf jeden Fall half Alma ihr und stellte sich sehr viel geschickter an.

Roberta erzählte ihr, was sie herausgefunden hatte, Alma begann zu quietschen vor lauter Entzücken, und Adrienne begann prompt zu schreien. Es war anstrengend, Roberta drückte Alma das Baby in die Hand, und Alma begann zu strahlen, als habe sie gerade erfahren, dass sie irgendwo einen Hauptpreis gewonnen hatte.

Sie konnten nur staunen, wie die kleine Adrienne nach einigem ungeduldigem Suchen herausgefunden hatte wie es ging und begann, gierig zu trinken.

Sie war eine Kämpferin, die leben wollte!

Entwickelte man auch schon als Neugeborenes derartige Instinkte? Ganz unbewusst. Man musste sich mal vorstellen, was für ein Schicksal es war, von seiner eigenen Mutter ausgesetzt zu werden.

»Sie ist wunderschön«, rief Alma ganz entzückt in Robertas Gedanken hinein, und die zuckte zusammen. Ein Baby im Doktorhaus!

Es war unglaublich schön, beeindruckend, doch sie mussten sich klar darüber sein, dass es nur eine Leihgabe war, denn morgen mussten sie die Polizei rufen, und dann würde die alles in Gang setzen, Jugendamt, Staatsanwaltschaft. Hatte sich die junge Mutter – war sie überhaupt jung oder nur verzweifelt? – darüber Gedanken gemacht?

Bestimmt nicht, Roberta war sich sicher, dass sie diesen Ort bewusst gewählt hatte, denn sonst hätte sie ihre kleine Adrienne auch zu einer Babyklappe bringen können.

Konnte Alma Gedanken erraten? Sie blickte ihre Chefin an und sagte: »Frau Doktor, wir müssen alles dransetzen, Adrienne behalten zu dürfen, die Mutter wollte es so, denn sonst hätte sie uns das Baby nicht vor die Tür gelegt. Und Sie müssen sich überhaupt keine Sorgen machen, ich werde mich kümmern, und wenn ich dafür den Gospelchor sausen lasse. Ich muss niemanden mehr sehen, und wenn, es gibt ja auch diese Babysitze, und wenn …«

Wieder wurde sie von Roberta unterbrochen.

»Bitte, Alma, steigern Sie sich jetzt in nichts hinein, denn umso größer wird danach die Enttäuschung sein. Ich finde es ebenfalls ganz unglaublich, dass man uns Adrienne vor die Tür gelegt hat. Und ich würde sie sehr gern behalten, das müssen Sie mir glauben, doch es gibt Gesetze, die eingehalten werden müssen, und ich denke, dass weder Sie noch ich zu dem Personenkreis gehören, dem man einfach so ein Kind anvertraut.«

Das wollte Alma so nicht gelten lassen.

»Frau Doktor, ich bitte Sie, wenn nicht Ihnen, dann wem? Können Sie mir das verraten?«

»Alma, Sie führen doch immer wieder den Roman Vom Winde verweht an, in dem Scarlett O’Hara sagt, dass man alles erst einmal auf morgen verschieben soll. Heute geschieht wirklich nichts mehr, also müssen wir uns Gedanken machen, wie und wo wir die kleine Adrienne unterbringen. Ich schlage vor, Sie schlafen mit ihr in einem der Gästezimmer. Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie das Baby mit in Ihre Wohnung nehmen, und ich würde sie gern mit in mein Schlafzimmer nehmen.«

Es war eine ernste, vor allem eine ungeklärte Situation, dennoch musste Alma unwillkürlich lachen.

»Wenn die Kleine wüsste, dass wir jetzt bereits anfangen, uns beinahe schon um sie zu prügeln.« Sie wurde wieder ernst. »Frau Doktor, ist es nicht ein Wunder, was uns widerfahren ist? Was für ein Tag, den ich niemals mehr in meinem Leben vergessen werde, zuerst dieses unglaubliche Konzert mit der großartigen Meredith Cane und dann die Überraschung, das Geschenk, vor der Haustür.«

Alma strahlte, begann zu schwärmen, und Roberta brachte es nicht über sich, sie jetzt daran zu erinnern, dass es leider kein Geschenk war, nur eine Leihgabe, ein Traum, der sehr schnell vorbei sein würde. Nein! Daran wollte sie nicht denken. Doch es war schon bedenklich, dass ein solcher Gedanke sie erschreckte.

Adrienne …

Jetzt musste sie doch ein wenig so denken wie ihre Freundin Nicki und sich die Frage stellen – warum war das Baby auf ihren Weg gekommen? Es gab keine Antwort darauf, sie konnte nicht einmal Vermutungen anstellen.

Almas Stimme drang in ihre Gedanken hinein.

»Frau Doktor, möchten Sie die Kleine etwas halten? Dann kann ich die gebrauchte Windel wegräumen, und das Fläschchen. Adrienne muss hungrig gewesen sein, denn sie hat beinahe alles ausgetrunken, oder sie ist ein kleiner Vielfraß, doch besser das als ein Baby, das nicht richtig trinkt.«

Sie legte Roberta das Baby in den Arm, und das machte etwas mit der jungen Ärztin. Auch wenn sie mit Alma sehr vertraut war, freute sie sich, dass diese den Raum verlassen hatte. Roberta war allein mit Adrienne, presste sie liebevoll an sich und gab sich mit geschlossenen Augen diesem unbeschreiblichen Glücksgefühl hin, das in ihr war. Wünsche, die sie mühsam unter Verschluss gehalten hatte, waren plötzlich wieder da.

Roberta hatte dafür gebrannt, Lars zu heiraten, Kinder mit ihm zu bekommen. Sehr lange hatte es so ausgesehen, dass sich dieser Traum niemals erfüllen würde, denn Lars war ein einsamer Wolf gewesen, der seine eigenen Wege gehen musste. Und dann, als sie schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, als sie sich abgefunden hatte, dann halt ohne Ring am Finger mit ihm verbandelt zu sein, ja, dann hatte Lars zu ihr ins Doktorhaus ziehen wollen, sie heiraten, mit ihr Kinder zu bekommen. Alles, was sie sich ersehnt hatte, wäre möglich gewesen, wenn Lars nicht im Ewigen Eis verschollen wäre. Das Schicksal hatte grausam zugeschlagen.

Roberta war bewegt, schluckte.

Nun hielt sie ein Baby in ihren Armen, das unter anderen Umständen durchaus ihr Baby hätte sein können.

Warum musste sie schon wieder an ihre Freundin Nicki denken und die Sprüche, die sie immer parat hatte. Weil es eine Ausnahmesituation war, die eigentlich im wahren Leben nicht vorkam? Sie merkte, wie sie alles zu überfordern begann, die kleine Adrienne, die jetzt vor sich hinschmatzte, die Gedanken an Lars. Wunschdenken und Realität vermischten sich miteinander. Sie war auch nur ein Mensch, Roberta konnte nicht anders, sie musste weinen. Und so fand Alma sie vor, die ganz erschrocken zu ihr geeilt kam und sich besorgt erkundigte: »Frau Doktor, warum weinen Sie denn? Was ist geschehen?«

Vor Alma musste Roberta nichts peinlich sein, die war ja Zeugin des ganzen tragischen Geschehens gewesen, wie zuvor Zeugin ihres Glücks. Alma gehörte dazu, und Lars hatte deswegen vor seinem Verschwinden bei Alma auch dieses unglaubliche Gemälde von sich in Auftrag gegeben. Es war so vieles geschehen, und Roberta fragte sich immer wieder, ob er wohl geahnt hatte, dass seine letzte Exkursion eine Reise ohne Wiederkehr sein würde.

»Ach, Alma, ich weiß nicht. Irgendwie überfordert mich alles. Adrienne im Arm zu halten, ist eine unglaubliche Erfahrung, ich … ich«, ihre Stimme wurde immer leiser, »musste an Lars denken, daran, dass ein Baby durchaus Realität für uns hätte sein können. Und das macht mich unendlich traurig.«

Alma legte einen Arm um den schmalen Schultern ihrer Chefin, es zerriss sie beinahe, diese Frau, die für andere Menschen alles tat, die gütig und hilfsbereit war, so leiden zu sehen. Und da sie ein sehr gläubiger Mensch war, begann sie mit Gott zu hadern. Warum, verdammte Hacke, ließ er Menschen wie die Frau Doktor leiden, während er die anderen davonkommen ließ, die logen, die betrogen, die halt keine guten Menschen waren?

Unvermittelt schlug die kleine Adrienne die Augen auf, schien die beiden Frauen aufmerksam zu betrachten. Und sowohl für Roberta als auch Alma war auf einmal alles ausgelöscht, sie betrachteten nur noch voller Verzücken das winzige Baby, das plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war und ihre Welt durcheinandergebracht hatte.

Adrienne …

Was die beiden Frauen empfanden, das war nicht zu beschreiben, und was diese Gefühle betraf, da waren sie austauschbar … Staunen, Glück, Freude.

Während in Alma nur Gefühl pur war, machte Roberta sich dennoch ihre Gedanken, und sie musste sich eine Frage immer wieder stellen – wer hatte ihnen das Baby vor die Haustür gestellt? Vor allem, was waren die Beweggründe gewesen? Die Sachen, die Adrienne trug, die Decke, in die sie eingehüllt gewesen war, das alles war nicht neu, sondern trug deutliche Gebrauchsspuren. Doch alles war sehr reinlich, und die Kindesmutter oder wer immer es auch gewesen war, der diesen Ort gewählt hatte, war sorgsam vorgegangen und hatte in erster Linie das Kindeswohl im Kopf gehabt.

So handelte niemand, der sich eines lästigen Gegenstandes entledigen wollte. Und weil das so ersichtlich war, fragte man sich umso mehr, warum man ihr Adrienne vor die Tür gelegt hatte.

*

Roberta und Alma hatten sich darauf geeinigt, dass Roberta das Baby über Nacht, eher für den Rest der Nacht, zu sich in ihr Schlafzimmer nehmen würde. Und morgens würde Alma sich wieder zu ihnen gesellen.

Es war wirklich gut, dass ein freies Wochenende vor ihnen lag, ein Samstag, an dem man noch alles einkaufen konnte, was man benötigte, und dann den Sonntag…

Halt!

Roberta ertappte sich dabei, dass sie plante und nicht daran dachte, dass sie gleich morgens die Polizei verständigen musste, und dann würde vermutlich alles ganz anders verlaufen, da setzten Mechanismen ein, von denen sie keine Ahnung hatte.

Nicht jetzt!

Nein, an so etwas wollte sie nicht denken. Jetzt hatte sie Adrienne neben sich in dem großen Doppelbett und betrachtete staunend, beglückt, gerührt das Baby. Roberta wusste bereits jetzt, dass sie vermutlich kein Auge zumachen würde, doch das machte nichts.

Adrienne …

Es war ein schöner Name für ein wunderschönes Kind, an dem alles perfekt zu sein schien. Vermutlich dachte man das von allen Babys, die kleine Wunderwerke zu sein schienen.