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Die die legendären 68er mit ihrer Studentenbewegung, die waren nun schon ein paar Jahre vorbei. Aber die Verheißungen dieser Zeit waren wie ein schwerer Stein ins Wasser gefallen und hatte in weiten Kreisen eine ganze Generation erfasst: linke Revolte, Widerspruch, Frauenpower, Wohngemeinschaften, freie Liebe. Nach dem Abitur nichts wie weg aus dem kleinbürgerlich engen Mief einer bayerischen Kleinstadt. Raus in die neue Freiheit. Dass es damit aber nicht so weit her ist, erfährt eine junge Simplicissima in den siebziger Jahren. Als Studentin stolpert sie hinein in die neue Zeit. Im Spannungsfeld zwischen einem Theologiestudium, marxistischen Schulungen und der großen Sehnsucht nach. eigentlich weiß sie das auch nicht so genau, landet sie in neuen Zwängen, die den zurückgelassenen so gar nicht unähnlich sind! Und am Ende schnappt die Falle zu. Ein Traumprinz, ganz traditionell! Verheißt der ein happy end?
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Seitenzahl: 419
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Für Moritz, Till und Lukas
Die hier verwendete Sprache bewegt sich in den Gepflogenheiten der siebziger Jahre.
Neue Welt
Gefangen im Bermuda-Dreieck
Was tun?
Meine religiöse DNA
Hinein ins Theologiestudium
Die wandelnde Versuchung
Als Gunda in Franken!
Der Mann im Wolfspelz
O Gott! Ein Linker!
Spuren des Krieges
Rote Socken bei der Professorenwitwe
Eliza Doolittle wird auf Form gebracht
Das Graecum-Debakel
Auf nach Portugal
In Lissabon und am Meer
Die Portugal-Nachrichten
Der UNO-Generalsekretär
Die Schickimicki-Mediziner
Hellas im Deutschen Haus
Die wahre Liebe
Wochenende ohne Sonnenschein
Ein eigenes Auto
Der Besessene in der Höhle
Marx hat voll Recht
Go West-Berlin!
Skiurlaub in Garmisch
Das mit der Gynäkologie
Bei den Theologen brennt‘s
Die große Medizinerprüfung
Das Prinzregentenufer
Viva el Español
Modern times
Ein neues Zuhause
Eine neue Gerechtigkeit
Fast wie Füße unterm Tisch
Wir organisieren uns
Wilhelm Reich und der Orgon-Apparat
Helmut, der sozialistische Kampftrinker
Freizeitfreuden
Unser neues Basislager
Mehr labora als ora
Das Land, wo die Zitronen blühen
Frauenbewegt
Fast schon Mutter Teresa
Mutters Trauma
Lauter kleine Schreihälse
Auf der Krebsstation
Auf nach China
Ach ja, der liebe Gott
Musik liegt in der Luft
Frauen sind noch nicht so weit!
Hitzige Zeiten
Was übrig bleibt
Plötzlich allein! Da stand ich nun am Rand der Straße und winkte dem davonfahrenden Auto meiner Eltern nach. Sah so die lang ersehnte große Freiheit aus? So ungewohnt, fremd! Fühlte es sich so komisch, sogar verloren an, wenn es endlich mit dem „solange du die Füße unter meinen Tisch steckst …“ vorbei war? Ach was! Ich wischte alle negativen Gedanken beiseite. Für mich sollte jetzt eine neue Ära beginnen. Alles roch nach Aufbruch ins Unbekannte, ins Spannende, Aufregende ... Wie hatte ich meine armen Lehrer bedauert, die ich nach meinem Abitur in ihrer miefigen kleinstädtischen Paukerexistenz zurückließ. Bis zu ihrer Pension. Das kam mir im Moment vor wie lebenslänglich Knast oder Straflager. Für mich jedoch würde nun das aufregende Leben einer ordentlichen Studentin beginnen, soweit das mein Outfit mit Jeans und Schlabberpullovern zuließ. Immerhin hatte in meinen letzten Oberstufenjahren eine gewisse vorakademische Coolness auf mich abgefärbt. Adrett, mädchenhaft, das war selbst ohne irgendein politisches Statement nicht mehr akzeptabel. Jeans, Parka, Boots war das Outfit der Stunde.
Jetzt also war des „Friseurmeisters Töchterlein“ auf dem Sprung, als Erste in der Familie zu studieren. Vielleicht konnte ich dieses despektierliche Etikett meines Englischlehrers der fünften Klasse endlich bald hinter mir lassen. Durch ihn hatte ich gelernt, dass der Beruf meines Vaters wohl irgendwie minderwertig sein musste. Und damit auch ich. Ganz klar war der Subtext des Lehrers: „Du da! Eigentlich gehörst du nicht hierher!“ Ich schwätzte nun mal ausnehmend gern, wie man es eben gemeinhin der Spezies der Barbiere beim Einseifen zuschreibt. Ich konnte nichts dafür, aber immer wieder passierte es, dass ich durch meine ausgeprägte Kommunikationslust im aktuellen Unterrichtsgeschehen mal wieder völlig verpeilt war. „Du Zipfelhau’m”, nannte mich dieser zutiefst oberbayerische Lehrer häufiger, als dass er mich mit Namen ansprach, wenn er mich aufrief. Klar! Ich hatte mal wieder keine Ahnung, bei welcher Übung wir im Sprachbuch gerade waren. Und ich schämte mich dafür. Denn es durfte unter Mitschülern ja ausgelacht werden. In meiner Peinlichkeit konnten sich alle suhlen, manche ganz sicher in der erleichterten Freude, selbst noch einmal davon gekommen zu sein. Innerlich habe ich mich dank meiner ausgeprägten Fantasie an diesem Lehrkörper jedoch gerächt. Wie der schon aussah: ein vorgeschobener Unterkiefer, der ihn immer ziemlich vernuschelt sprechen ließ. Dazu ein riesiger Leberfleck mitten auf der Nase, den sein zugegeben schönes, schwarzes, lockiges Haar beileibe nicht wettmachen konnte. Außerdem stanken in meiner Vorstellung – wahrscheinlich auch in Wirklichkeit – seine Socken ekelig nach Fußschweiß. Denn das war gar nicht so von der Hand zu weisen. Meinem schon damals geschulten Blick war nämlich nicht entgangen, dass mein Peiniger billige graue Schlappis aus Kräuselkrepp trug, also aus Kunstmaterial. Und das wusste ich von Mutter, die immer über Vaters Nyltesthemden schimpfte – sowas schweißelte gerne. Viel mehr kratzte in solchen Situationen das schadenfrohe Gelächter unsere Klassenschönheit Lilo mein Ego an. Sie, die mit herrlich braunen Locken und großen Kulleraugen, leibhaftig im Stadttheater als Schneeflocke über die Bühne tanzte. Mit Tutu und Krönchen! Über sie das Neueste zu erfahren, war nun allemal interessanter als so blöde Fragen nach indirekter und direkter Rede von dem da vorne. Eigentlich war ich somit selbst schuld an der genüsslichen Prophezeiung meines Lehrers, dass meine Zukunft wohl eher im Einseifen von Männerbärten liegen würde. Aber das, nein, das wollte ich nun überhaupt nicht! Innerlich gelobte ich grimmig Besserung, genau genommen legte ich manchmal sogar ein ewiges Schweigegelübde ab. Aber das wollte irgendwie nicht glücken.
Eins ist mir jedenfalls lange Zeit aus diesem Erlebnis nachgehangen: Von da an druckste ich immer rum, wenn ich zu Vaters Beruf befragt wurde. Ich schämte mich dafür – schließlich sollte ich im Geschichtsunterricht bald lernen, dass der Beruf des Barbiers ehemals zu den sogenannten „unehrlichen“ gehörte, wie der des Abdeckers oder Henkers. Also das mit meiner Herkunft war offensichtlich problematisch. Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte: Nur ein Studium würde mich aus dieser makelbehafteten, in jedem Fall aber sichtbar kleinbürgerlichen Enge meines Zuhauses befreien. Das begriff ich ziemlich früh. Nur so konnte ich endlich den spießigen elterlichen Mief von Cocktailsesseln mit Schonbezügen, Tiroler Andenkentellern an den Wänden und Häkeldeckchen samt vor sich hin kümmernden Usambaraveilchen auf dem nussbaumfurnierten Wohnzimmertisch einmal hinter mir lassen. Aber es galt, klug zu handeln. Ich musste Antennen entwickeln, die mir dabei halfen, echte Grandezza zu erkennen und im besten Fall zu imitieren.
Vielleicht war ich deshalb zum Studieren nach Erlangen und nicht nach München gegangen. Denn war es wirklich dieses Gewusel und Gebrabbel von Trauben aufgekratzter junger Leute auf dem Geschwister-Scholl-Platz vor der Münchner Studentenkanzlei, von denen ich keinen einzigen kannte? Hatte mich das wirklich so verschreckt? War es wirklich jene unfreundliche Kanzleisekretärin gewesen, die jeden zukünftigen Studenten mit bitterböser Miene anblaffte? Einmal fehlt die Bescheinigung für die Krankenkasse, dann lag nur eine Kopie des Reifezeugnisses vor …! Sie brauchte das Original! Ganz sicher hatte gerade ich als attestierte Zipfelhau’m nicht alle nötigen Unterlagen für so einen wichtigen Akt wie eine universitäre Einschreibung parat. Zwei Leute waren noch vor mir. Auch die bekamen von jener Dame ihre verbale Abreibung wegen verwaltungstechnischen Versagens verpasst. Gleich würde es mich treffen. Mein Herzschlag pulsierte unüberhörbar in meinen Ohren. Ganz kurz vor dem Ziel dann mein wilder Entschluss. Ich ließ jene Dame, die gerade im Begriff war, sich auf mich als ihre nächste Beute zu stürzen, prompt stehen und machte Kehrt. München?! Nein, hier würde ich mein Studium nicht beginnen. Ich entschied mich kurzerhand für Erlangen. Eine offensichtlich gute Wahl. Denn dort erwartete mich das ganze Gegenteil jener bis zum letzten Knopf ihrer beigen Hemdbluse zugeknöpften Münchner Xanthippe. Herr Fleck. Sein immer korrekter grauer Anzug, dazu die dezente Krawatte, hätten eher darauf schließen lassen, es mit einem kleinlichen, übergenauen Verwaltungsangestellten zu tun zu haben. Weit gefehlt. Herr Fleck war die Seele der Studentenkanzlei, nicht selten auch die Feuerwehr. Denn überall, wo es bei uns Studenten brannte – und das tat es oft – wusste er Rat oder noch besser, drückte er ein Auge zu. In Zukunft erwies er sich als wahrer Wohltäter aller Studenten, vor allem der Säumigen und Schlampigen. Seine Hauptaufgabe schien das Basteln goldener Brücken für Fristverlängerungen zu sein, der Ersatz von verlorenen Unterlagen, überhaupt das Beseitigen aller nur denkbaren lästigen bürokratischen Hindernisse, die „fleißige, strebsame Studenten“ tagtäglich an ihrem Fortkommen hindern.
Aber deshalb wirklich Erlangen? Gab es da nicht andere, subtilere Gründe? Der Name der Stadt klang für mich fast wie eine Verheißung. Noch nie war ich dort gewesen. Aber Vaters Großcousin, der einzige bisher Studierte im weiteren Familienkreis, hatte bei seinen Besuchen bei uns zu Hause in schillerndsten Farben von der Erlanger Bergkirchweih geschwärmt. „Da geht die Post ab. Da musst du hin! Ein hübsches Mädchen wie du …!“ In diesen Worten lag das große Versprechen von „endlich raus in die weite Welt, die doch irgendwie auf mich warten musste“. Erlangen, das war Ende 1974 eine Stadt von rund 100.000 Einwohnern, deren Behäbigkeit der große Studentenanteil während des Semesterbetriebs zum Leben erweckte. In den monatelangen Ferien hingegen ging es eher beschaulich zu, machte sich beinahe wieder die träge Melange einer hugenottischen Handwerkerstadt von Strumpfwirkern, Hut- und Handschuhmachern und einer ehemals marktgräflichen Residenz breit. Daran änderte auch die stets wachsende Siemens-City zum weltweit größten Standort der AG wenig. Siemensianer, das waren eine eigene menschliche Spezies, von denen man als Studentin sehr bald lernte, dass die irgendwie „bäh“, einfach spießig und spaßbefreit waren. Fast schon ein Gesetz: Mit denen vereinbarte man kein Date.
Aber Erlangen – das war für mich das exotische Fremde. Von Ingolstadt aus, meinem bisherigen Wohnort, hatte der Weg nur immer nach Süden geführt, nie nach Norden. Franken, das war somit in toto terra incognita. Damit bekam die Stadt damals in meiner Fantasie einen ganz besonderen Glanz. Schon die Hinfahrt dorthin hatte etwas Zauberhaftes, Entrücktes. Nichts als dichte Wälder entlang der damals noch zweispurigen Autobahn. Das helle Grün der vielen Pappeln mit ihren weißen Stämmen. Eine freundliche Einladung! Dann Ausfahrt Tennenlohe. Und wieder Wälder. Kilometerlang. Erlangen, das hatte beinahe etwas vom mythischen Avalon. Plötzlich hinter der Biege einer Kurve die ersten Häuser …
Aber Schluss mit Romantik und Verklärung! Zurück zu meinen durchaus ganz pragmatischen Überlegungen. München, das hätte nämlich auch bedeutet, jeden Tag von und nach Ingolstadt zu fahren. Tagein, tagaus im Personenzug dahinzockeln: Rohrbach, Pfaffenhofen, Allershausen und zurück. Neben mir pendelnde Arbeiter und Angestellte mit speckigen Aktentaschen, darin Brotzeitboxen und Thermosflaschen. Sie konnten sich offensichtlich kein Auto leisten. Irgendwie Loser! Außerdem hätte ich mich eingereiht in das Heer von Studenten, denen die Eltern schon damals kein teures Zimmer in München bezahlen konnten. Wie uncool! Und abends dann wie gewohnt wieder zu Hause, „meine Füße unter Vaters Tisch“. Darauf hatte ich nun wirklich keinen Bock.
Dann war da noch Heidi, die Tochter des Schulleiters unseres Gymnasiums. Sie war die Einzige aus meiner Klasse, die nicht in München studierte, sondern in Erlangen. Eigentlich mochte ich sie nicht, dieses flattrige, arrogante Wesen mit der schiefen Nase und ebensolchen Zähnen. Während der Schulzeit hatte ich mit ihr so gut wie nichts zu tun. Ein Mädchen in Twinset und Faltenrock, immer die neueste „Brigitte“ und andere Modejournale in der Schultasche. Das war nicht mein Fall. Aber sie gehörte ganz eindeutig zu einer anderen „besseren“ Welt, einer, die bislang nicht die meine war. Das spürte ich – nein, das wusste ich. Wir beide aus unserer Abiturklasse also allein in Erlangen! Das bedeutete zwangsläufig von nun an eine auf wenig gegenseitige Sympathie begründete Not- und Fahrgemeinschaft. Denn Heidi hatte ein Auto. Ich wusste, dass es meine Eltern stolz machte, hatte ich so doch schon mal einen Anfang im Zugang zu „besseren Kreisen“ gemacht. Wie wenig ich mich da geirrt hatte, erfuhr ich gleich vor Ort. Denn Heidi wohnte nicht in irgendeiner Studentenbude, sondern bei ihrer Großmutter, der Witwe eines Siemensdirektors. Was für eine hochherrschaftliche Villa inmitten eines riesigen Gartens! Hinter dem Burgberg, am Ortseingang von Bubenreuth … das klang wie nach Schneewittchen hinter den sieben Bergen … einfach märchenhaft. Eine Villa umgeben von einem Park voller hoch in den azurblauen Himmel ragender Linden, Buchen, Eichen und Tannen. Mein erster Besuch dort im November, einem ausnehmend sonnigen November. Die Luft roch satt nach Herbst. Jeder Schritt auf dem Kiesweg gedämpft vom Rascheln der gefallenen Blätter. Dieses Haus betrat man nicht einfach, sondern bedächtig schritt man die Stufen, gesäumt von einem kunstvoll geschmiedeten eisernen Geländer nach oben zum Eingang. Dann das Treppenhaus! Holzgetäfelt. Violettbraunes edles Palisanderholz mit filigranen blumigen Intarsien. Im ersten Obergeschoss eine Galerie, von der symmetrisch zwei geschwungene Treppen in die großzügige Vorhalle im Parterre führten. Die riesige Küche, Jugendstil-gekachelt, mit einer Freitreppe, auf der man hinaus zu den Rosen- und Lavendelbeeten gelangte, die in einem letzten Aufbäumen ihre üppige Pracht im Sommer erahnen ließen. Und Heidi bewegte sich in all dem so selbstverständlich. Das wollte ich auch. Erlangen schien also eine Verheißung. In vielerlei Hinsicht.
Bei mir sah es zunächst etwas anders aus. Schon der Aufgang zu meiner neuen Bleibe, in einer dusteren Ecke der Toreinfahrt eines früheren Erlanger Handwerksbetriebes, war wenig einladend. Knarzende Stufen, von denen die rostrote Farbe im Laufbereich bis aufs blanke Holz abgeblättert war, führten in den ersten Stock. Chic und hell musste mein zukünftiges Zimmer nicht sein, sondern für meine Eltern vor allem preisgünstig und uninah. Im Studentenwerk lagen Ordner aus, in denen die Vermieter von Zimmern ihre Angebote mit Schreibmaschine getippt oder handschriftlich hinterlegt hatten. Meine Wahl musste innerhalb kürzester Zeit getroffen werden. So landete ich in der riesigen, aber beträchtlich in die Jahre gekommenen Wohnung eines griechischen Schichtarbeiters und seiner Familie, die sich mit Untervermietungen an Studenten ein finanzielles Zubrot verdienten. Für mich sollte es am Ende eines langen Flurs ein dunkles Zimmer sein, dessen Fensterritzen nurmehr durch spärliche Kittreste abgedichtet waren. Nach einem Anruf aus einem Telefonhäuschen war noch für denselben Tag ein Treffen mit Besichtigung vereinbart worden. Schnell wurden sich die Vertragspartner, das griechische Ehepaar und meine Eltern, handelseinig. Es musste auch klappen, war doch für die Zimmersuche sowieso nur dieser einzige Nachmittag vorgesehen. Der Deal war also schnell in die sprichwörtlichen trockenen Tücher zu packen. Meine kreuzbraven Eltern gaben ihr Bestes: Vater mit beiger Strickweste, zwar mit modisch breiter Krawatte, aber sehr dezent gestreift. Und Mutter saß mit glatt gestrichenem Faltenrock, eingekeilt in Bergen von bestickten Zierkissen ganz bescheiden auf der äußersten Sofakante, in ständiger Gefahr auf den Boden abzurutschen. Auch ihr sorgfältig dauergewelltes Haar bewies eindeutig, da wollten anständige Eltern ihre Tochter gut untergebracht wissen. Der Hausherr schien irgendwie eine gewisse Beklommenheit bei mir zu bemerken. Zur Auflockerung erzählte er die Geschichte seines eigenen ersten Tages in der deutschen Fremde, in Erlangen, damals, als er aus Hellas in diese für ihn so unbekannte fränkische Welt kam. Noch ohne seine Familie, völlig allein, sein Hab und Gut in einem Margarinekarton verschnürt. Er hatte damals nicht schlecht gestaunt, als er in der Werkskantine seiner neuen Firma zu einem allerersten Mittagessen mit deftigen fränkischen Blut- und Leberwürsten empfangen wurde. Ja, die Fremde, die ist nicht selten für Überraschungen gut!
So wie bei mir. Keiner, und schon gar nicht meine Eltern, konnte nämlich ahnen, dass die Wohnung der soliden griechischen Gastarbeiterfamilie eine geradezu sensationelle Besonderheit zu bieten hatte. Ich sollte hier quasi in „bester Erstsemesterlage“ wohnen. Denn gleich um die Ecke gab es den „Gambrinus“ – die damals angesagteste Studentenkneipe schlechthin. Ganz nah in einer Nebenstraße der „Wein-Büttner“, wo ich bald im schummrigen Licht der mit Plastikweinlaub umrankten Riesenfässer meine ersten fränkischen Beerenweine verkosten sollte. Es fühlte sich dort an wie in Mutters Schoß und der Wein tat sein Übriges für dieses wohlige Gefühl. Alkoholisch noch völlig ungeübt, schaffte ich es nach zwei trügerisch nach süßen Kirschen oder Johannisbeeren schmeckenden Schoppen meist nur schweren Schrittes gerade noch über die Straße in mein Bett. Das Tollste aber war, dass da schräg gegenüber der ehemaligen hugenottischen Grande Rue, vulgo Hauptstraße, der „Zirkel“ lag. Die beste Disco weit und breit – und bis morgens um vier geöffnet. Völlig schuldlos hatte ich mich also in einer Art Bermuda-Dreieck verfangen, das zeitweise das Zeug hatte, meine studentische Laufbahn ins Trudeln zu bringen. Aber wer konnte schon ahnen, dass meine triste Studentenbude ein solch unerwartetes Funpotential haben sollte.
Dieses wahrhaft dunkle Loch mit einer kleinen fensterlosen Kammer im Nachgang, die in Zukunft meine Küche sein sollte. Mit einem Unterschrank, einer einzigen elektrischen Herdplatte und einer kleinen Kaffeemaschine als Erstausstattung, alles beleuchtet von einer jämmerlichen Glühbirne, die einsam von der Decke baumelte. Leidlich aufmöbeln konnte man diese Düsternis, da zum Glück gerade einige Wochen zuvor im Oktober 1974 der erste IKEA in Deutschland eröffnet hatte. Endlich hatten Schleiflack, Eichenfurnier in Form ausrangierter elterlicher Nachtkästchen und Beistelltische ausgedient. Stylisch schicke, dazu variable Möbel und peppige Stoffe gab es nun zum Spotpreis. Davon konnte ich mir vom Restgeld meines letzten Ferienjobs durchaus einiges leisten. Für die Heizmöglichkeiten in meiner Bleibe boten sich leider keine modischen Lösungen. Unverrückbar stand da ein beigebraunes Ungeheuer mit Rohr und Wandmuffe. Ein Ölofen. Für dessen Befeuerung verkauften mir meine Vermieter kannenweise diese zähflüssige Soße, die bei uns zu Hause schon längst aus einem Kellertank zentral die einzelnen Zimmer beheizte. Beim Befüllen dieses Ofenmonsters war absolute Treffsicherheit mit dem Rüssel der Ölkanne erforderlich. Nur ein Tropfen daneben und in meinem Zimmer stank es den ganzen Tag wie auf einer Tankstelle, im schlechtesten Fall ich selbst wie ein Tankwart. Bad und Toilette, am ganz anderen Ende der Wohnung, waren gemeinschaftlich zu nutzen. Bei jedem meiner Schritte knarzten und ächzten die alten durchgebogenen Bretter des Holzbodens. Selbst der Versuch auf Zehenspitzen zu gehen, änderte daran nichts. Dazu noch meine Tapser beim Heimkommen früh um vier! Morgens wurden die Mienen aller meiner griechischen Mitbewohner von mal zu mal grimmiger. Die Hausfrau wieselte auf ihren krummen Beinen geschäftig durch die Räume. Bei jedem ihrer Schritte wackelten die leicht schmuddeligen Fellpüschel auf ihren ausgelatschten Hauspantoffeln. Eifrig klapperte sie mit Tellern und Tassen, tat so, als sähe sie mich nicht. Ihre schmalen Lippen hatte sie zusammengepresst, so als befürchte sie, dass ihr doch noch eine Antwort auf mein „Guten Morgen“ rausrutschte. Ich hatte durch mein liederliches Nachtleben den Schlaf des Broterwerbers der Familie gestört, und der Morgen war somit für meine Vermieter alles andere als gut! Der werktätige Hausherr würdigte mich schon längst keines Blickes mehr. Das Ganze war aber noch steigerungsfähig. Als besonders verhängnisvoll sollte sich bald der gemeinsame Wohnungseingang und vor allem die gemeinschaftliche Klingel erweisen. Denn nach nur wenigen Wochen hatte sich meine anfängliche studentische Einsamkeit in Luft aufgelöst. Es klingelte häufig an der Wohnungstür. Und zwar für mich. Meist gerade dann, wenn mein nachtarbeitender Vermieter sich tagsüber noch eine Mütze voll Schlaf vor der nächsten Nachtschicht gönnen wollte. Die Stimmung in dieser Zwangswohngemeinschaft sollte innerhalb kürzester Zeit nun ganz auf den Nullpunkt sinken. Mein Image war bald das eines „lockeren Flittchens“, bekam ich doch aus unerfindlichen Gründen ständig Herrenbesuch. Hinzu kam, dass ich quasi eine eigene Concierge beschäftigte. Die undankbare Aufgabe, meine Besucher durch den langen Hausflur bis zu meiner Kammer zu eskortieren, hatte die pummelige, pausbackige Tochter des Hauses. Vorbei an Buffets voller stilisierter bonbonfarbener Nymphengrotten aus Plastik, ebensolcher Statuetten und Vasen, die von der heroischen Vergangenheit der griechischen Heimat zeugten, hatte sie oft recht gut aussehende Studenten im Schlepptau. Das ließ die Arme vor Verlegenheit jedes Mal rot anlaufen. Schon am sich nähernden schrappenden Geräusch ihrer aneinander scheuernden dicken Oberschenkel hörte ich, dass es gleich bei mir klopfen würde. Danach ein entnervtes „Besuch!“ Und wieder war mein Ruf ein weiteres Stück ruiniert. Die brave Tochter des Hauses wackelte wieder davon. Irgendwie tat sie mir leid.
Soweit mein Wohnumfeld. Nebenbei war ich jetzt auch in meinen studentischen Belangen, wenn auch mit quietschenden Reifen, zu Potte gekommen. Endlich standen da amtlich verbindlich in meinem grünen, noch jungfräulichen Studienbuch die Fächer Französisch und evangelische Theologie. Von jenem freundlichen Herrn Fleck per Stempel beglaubigt. Brav die Gebühr bezahlt. Lehramt an Gymnasien das angestrebte Studienziel. Mit Staatsexamen. Nicht wirklich prickelnd. Gerade der Garotte des täglichen Schulalltags entkommen, würde die mich in fünf bis sechs Jahren wieder einholen. Aber kommt Zeit, kommt Rat, dachte ich optimistisch. Das Menetekel einer spießigen Lehrerexistenz wollte ich vorerst nicht an mich heranlassen.
Überhaupt hatte mich die Entscheidung für einen ganz konkreten Beruf schon von Kindesbeinen an geplagt. Geglaubt hatte ich, dass sich das irgendwann irgendwie von selbst lösen müsste. Eines Tages würde doch ganz sicher jeder Mensch seine wahre Berufung spüren. Im tiefsten Inneren würde mir eine Stimme gewiss zur rechten Zeit Bescheid geben. Ich horchte immer mal wieder testweise so in mich hinein, kriegte aber das Gefühl nicht los, dass sich seit meiner Kindheit nicht wirklich was geändert hatte. Beredtes Zeugnis davon sollte bald mein Studienbuch ablegen. Das war ein Hin und Her: Französisch, Spanisch, Kunstgeschichte, alte und neuere Geschichte, Germanistik, Philosophie … Wo hinein sich eben so schnuppern ließ mit meinem jämmerlichen Abi Durchschnitt von 3,2. Denn in strengen Numerus-clausus-Zeiten waren für mich mit meiner flatterhaften Neugier (zum Glück?) einige Türen der Alma Mater mit dicken Brettern vernagelt.
Was tun? Diese programmatische Frage Lenins, die ich in meiner bald kommenden „roten Phase“ diskutieren musste, hatte zu Studienbeginn für mich eine ganz andere Bedeutung. Ich war zwanzig Jahre, war aber gefühlt noch keinen Schritt weiter von dem kleinen Mädchen von einst entfernt, das jede Menge Berufswünsche auf Lager hatte: Sängerin, Tänzerin, und Schneiderin zum Beispiel. Aber was war das Richtige für mich? Meine größte Sorge war dabei, wozu ich denn überhaupt taugte. Jetzt, als Erwachsene, als Studentin, musste ich mir solche Flausen entschieden aus dem Kopf schlagen. Von nun an war klar, es würde um meine akademischen Fähigkeiten gehen. Die würden sich allein über den steinigen Weg von Examina und Seminararbeiten erweisen. Und das, worin man gute Leistungen brachte, das musste doch etwas mit einer Art schicksalhafter Bestimmung zu tun haben.
Meine Selbsttests in der Kindheit muteten im Nachhinein im Gegensatz dazu doch etwas dilettantisch an und waren ganz sicher nicht besonders aussagekräftig. Eine gewisse Kreativität meinerseits in puncto Testverfahren ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Das mit der Sängerin etwa hatte ich ganz praktisch überprüft. Irgendwann hatten sich meine Eltern einen Schallplattenspieler zugelegt, dazu eine Platte mit Mozart-Arien. Die hörte ich in Endlosschleife, bis ich Melodie und Text intus hatte. Aber ob ich laut genug singen konnte, dass mich jeder in einem Konzertsaal oder auf allen Rängen eines Opernhauses hören konnte, das bekümmerte mich sehr. Leider sollten sich in meinem späteren Leben die meisten Leute darüber beschweren, dass ich ihnen zu laut redete oder beim Singen im Chor die anderen übertönte! Aber Selbst- und Fremdwahrnehmung sind bekanntlich zwei verschiedene Paar Stiefel. Jedenfalls musste irgendwie getestet werden, ob dieses Berufsziel stimmlich praktikabel war. Der Balkon unserer Wohnung blickte direkt auf das Pfarrhaus unserer Gemeinde. Nun hatte der Pfarrer samstagnachmittags immer die Angewohnheit, im Garten seine Predigt einzustudieren. Vor sich hin deklamierend, die Bibel in der Hand, schritt er dabei auf und ab. Beste Gelegenheit für mich, um loszulegen. Die Entfernung zwischen unserem Balkon und dem Pfarrgarten musste ungefähr eine Konzertsaallänge betragen. Ich schmetterte los: „Sagt holde Frauen, die ihr sie kennt, sagt ist es Liebe, was hier so brennt …“ Und ich war erfolgreich! Der Pfarrer ließ die Bibel sinken und schaute sich um. Eindeutig: Er hörte mich. Also das mit der Opernsängerin hätte klappen können. Keine Ahnung, warum ich dieses Berufsziel nie weiter verfolgt habe?!
Das mit der Balletttänzerin sollte sich schnell von selbst erledigen. Beste Voraussetzungen hatte ich zwar in puncto Tutu. In Vaters Schaufenster wurden die Plakate mit den modernsten Frisuren von blauen oder weißen Tüllschleiern umflort. Wenn die löchrig oder angestaubt waren, durfte ich sie haben. In Falten gelegt und in den Gummibund der Strumpfhose gestopft, stimmte schon mal mein Outfit. Das Tanzen auf den Spitzen musste ich jedoch recht schnell wieder aufgeben, weil meine großen Zehen sich bald durch meine Hausschuhe bohrten. Zum Glück rechnete Mutter diesen Schuhschaden meinen für sie beängstigend wachsenden Füßen zu. Aber das Ganze wurde mir zu brenzlig, denn mutwillig durchbohrte Schuhe, das hätte Prügel bedeutet. Außerdem taten mir nach meinen berufspraktischen Übungen immer die Füße so weh. Also das war nix!
Auch das mit der Schneiderin sollte nicht mein Ding werden. In einem Ingolstädter Stoffgeschäft wurden immer wieder alte Musterbücher ausrangiert. Was für ein Glück, wenn man ein solches geschenkt bekam! Das Herz ging einem über: Stoffe in allen Farben, mit wunderschönen Blumenmustern, manche sogar mit Goldfäden durchwirkt. Was ließ sich daraus nicht alles nähen! Und ich hatte eine Kindernähmaschine, die richtige Steppstiche machte; allerdings nur dann, wenn man das Handrädchen langsam und gleichmäßig drehte. Das war der Haken an der Sache. Langsam und gleichmäßig, das wollte mir nur selten glücken. Daher verfitzten Ober- und Spulfaden immer in unentwirrbaren Knäueln. Das war also auch nichts für mich. Hinzu kam, dass sich meine Eltern lange Zeit nicht einigen konnten, ob ich überhaupt studieren sollte. Pikanterweise stritten sie darüber, bevor ich überhaupt zur Schule ging. Aber da mein Vater und meine Mutter gern irgendeinen Anlass hatten, um sich in die Wolle zu kriegen, taugte dieses Thema als Dauerzankapfel. Vater plädierte von Anfang an für ein Studium, denn er wollte, dass endlich auch ein Familienmitglied in der Akademikerliga mitspielte. Mutter hingegen fand das völlig übertrieben. Für ein Mädchen genügte Realschule. Ja, einen Beruf, den brauchte auch eine Frau. Aber es sollte etwas Solides, Handfestes sein: Schreibmaschine, Stenografie, Buchführung und nicht irgendwelche akademische Wolkenkuckucksheime.
Im Vorfeld war immer wieder auch die pragmatisch vernünftige Meinung der Kunden in Vaters Geschäft auf mich niedergeprasselt, die sie ungefragt in Endlosschleife an mich herantrugen. Ein so schönes großes Friseurgeschäft wie das von Vater! Acht Angestellte! Was für ein Unsinn, das nicht in der nächsten Generation weiterzuführen!
Später dann, mit siebzehn Jahren, war ich kurz im Begriff, alle Pläne in mir und um mich über den Haufen zu werfen. Im Theater meiner Schule war ich der absolute Shootingstar, bekam für all meine Auftritte tosenden Applaus. Sogar der Schulleiter kam auf mich zu und riet mir dringend, mich für den Beruf der Schauspielerin zu entscheiden. Meine Begabung sei so offensichtlich. Na, dann! Ich bestellte mir die Bewerbungsunterlagen der Otto-Falckenberg-Schauspielschule aus München und übte von da an den Monolog des wahnsinnigen Gretchens im Kerker aus Goethes Faust I., anstatt mich mit Cosinus (Mathe) und Asinus (Latein) weiter zu beschäftigen. Allein, mich verließ der Mut. Eine künstlerische Existenz, vermutlich oft finanziell im freien Fall, von Engagement zu Engagement hechelnd ... Das wagte ich nicht. „Des Friseurmeisters Töchterlein“ wollte, ja brauchte Sicherheit. Eine Stelle als Beamtin vielleicht dann doch eher …?
Mit dieser Vorgeschichte war ich also, nachdem ich all die fiesen mathematisch-naturwissenschaftlichen und auch anderen Klippen während meiner Gymnasialzeit einigermaßen heil umschifft hatte, mit der allgemeinen Hochschulreife auf ein Studium zugestolpert.
Komischerweise sollte ich jedoch trotz aller Kurven- und Wellenbewegungen ein Fach vom ersten Semester an bis zu beiden Staatsexamina durchgehend studieren: Theologie!
Warum denn das? Zugegeben, bei einem hübschen und lebendigen Mädchen wie mir, so offensichtlich mit beiden Beinen mitten im Leben – also in der Disco und der Kneipe – ohne Christuskreuz um den Hals … So ein Studium war schon etwas Exotisches, mit dem ich mein Gegenüber fast immer in Erstaunen versetzte. Ich wurde mit einem Mal für andere interessant, ungewöhnlich … Vor allem für junge Männer bot ich damit eine Steilvorlage, um über die Frage „Was? DU studierst Theologie?“ mit mir intensiver ins Gespräch zu kommen.
Aber auch ganz pragmatisch fachlich gedacht: Reli war in der Schule mein bestes Fach gewesen. Da hatte ich die Eins! An der Belastbarkeit dieser Note hatte ich allerdings so meine Zweifel. Aber wie einst im Reliunterricht reden, mitunter auch betroffen zuhören, das konnte ich schon irgendwie. Außerdem wäre es vermutlich nicht schlecht – bekanntlich ist das Leben endlich – doch irgendeine Gewissheit in Sachen Ewigkeit fachlich kompetent abzurufen. Und prinzipiell auszuschließen war es ja nicht: Mit einem solchen Studium ließen sich im Fall der Fälle vielleicht auch ein paar himmlische Bonuspunkte sammeln. Ganz nebenbei würde man aus erster Hand erfahren, was es mit diesem Jesus und dem (lieben?) Gott nun wirklich auf sich hatte.
Aber auch hier liegen die Gründe wohl tiefer. Wie man in früheren Zeiten, sofern man die Möglichkeit hatte und natürlich katholisch war, eine Tochter ins Kloster steckte, war ich von klein auf bei uns zu Hause irgendwie für die himmlischen Angelegenheiten zuständig. Meine Eltern sahen die Kirche nur zu Weihnachten von innen, oder wenn jemand aus der Verwandtschaft gestorben war. Dann drückten sie sich tief betroffen in die harten Kirchenbänke, fühlten sich bemüßigt, sich wenigstens kurzzeitig selbst um ihr Seelenheil zu kümmern. Jenseits punktueller Seinskrisen brummte man jedoch mir allein von Kindesbeinen an die himmlische Kontaktpflege auf. Vater und Mutter waren stramme Lutheraner, wobei sie nicht so genau wussten, was das bedeutete. Zumindest sollte das bald ein wesentlicher Erkenntnisgewinn meines neuen Theologiestudiums werden. Aber sie stammten nun mal aus Luthers Heimat. Und wie im mittelalterlichen Reliquienglauben bedeutete die räumliche Nähe zum Reformator eine automatische Teilhabe an seiner postmortalen Wirkung. Dennoch, so ganz trauten meine Eltern dieser auf sie abstrahlenden Aura dann wohl doch nicht. Denn als in der Grundschule für den sonntäglichen Kindergottesdienst geworben wurde … Wer musste von da an jedem Sonntag in die Kirche schlappen? Natürlich ich! „Ein bisschen Religion im Leib kann dir nicht schaden!“, so der Kommentar meiner Eltern. Ausstaffiert mit einem roten Ballonhut, auf dessen Zierlitze Marienkäfer klebten, darunter ein praktisch hässlicher Bubikopf bzw. Topfschnitt. Im rotkarierten Mantel kam ich selbst wie ein seltsames Insekt daher. Dass ich damit außerordentlich doof ausgesehen haben muss, bekam ich von den anderen Kindern zu hören. Froh war ich, wenn es regnete und mir keiner von meinen Kumpeln auf meinem Kirchgang mit seinem Spott auflauerte. Aber bekanntlich kann ein frühes Martyrium durchaus stählen. Besonders erfreut waren meine Eltern, als ich mich mit Britta, der ältesten Tochter unseres Gemeindepfarrers, anfreundete. Ich durfte bei „Basters“ (beim Pastor) ein und aus gehen, dort sogar übernachten. Ob all das meinen Eltern tatsächlich in Glaubensangelegenheiten einen Nutzen gebracht hat, wage ich zu bezweifeln. Aber der Herr Pfarrer kam von da an in Vaters Friseursalon zum Haare schneiden und ließ unsere Kasse klingeln.
Mir hingegen gefiel’s bei „Basters“. Eine weltoffene Atmosphäre schien da zu herrschen, wenn auch die sehr blasse, meist wie ein ätherischer Engel durch die Räume schwebende Frau Pfarrer äußerst zart besaitet war. An vielen Nachmittagen zog sie sich entnervt vom Kinderlärm mit Migräne in ihr Zimmer zurück. Besonders gerne scheuchte sie eine willfährige Zugehfrau – wahrscheinlich auch die auf himmlischen Zusatzbenefit hoffend – durch die Gegend. Aber die weiten hellen Räume im Pfarrhaus, die vielen Bücher, das Klavier … Irgendwie hatte ich die Vorstellung in mein junges Erwachsenenalter herübergerettet, dass mir ein Theologiestudium diesen Nimbus eines gewissen Bildungsbürgertums automatisch in mein Leben spülen würde.
So fand ich mich also an einem Novembernachmittag des Jahres 1974 im Seminargebäude der evangelischen Theologie in der Erlanger Kochstraße ein. Zunächst mit klopfendem Herzen. Bald aber wich die Beklemmung. Hier betrat man ganz offensichtlich einen Hort der Geborgenheit, denn mit vielen anderen fremdelnden Erstsemestern wurde man erstmal mit Kaffee und Kuchen freundlich begrüßt. Beschnuppern sollte man sich, miteinander ins Gespräch kommen. Neugierig schaute ich mich um. Mit wem ich da alles in Zukunft Theologie studieren wollte, sollte …! Mit blond gelockten, bärtigen jungen Männern, Jesussandalen und grobe Wollsocken an den Füßen, mit jungen Frauen, unübersehbar ein goldenes Kreuz um den Hals (meines – ein Geschenk zu meiner Konfirmation – hatte ich in meiner Nachlässigkeit zwischenzeitlich verloren), andere im dezenten Faltenrock und mit braunen Schnürschuhen. Dazu afrogelockte Hippiemädchen in wallenden Gewändern, die irgendwie an Statisten aus dem Musical „Hair“ erinnerten, oder junge Männer, nein Buben, aknegezeichnet in Dauerpubertät verharrend … Diese Spezies war hier besonders häufig anzutreffen, waren die doch damals als friedliebende Christen vom Wehrdienst befreit und somit beträchtlich jünger als andere Erstsemester. Im Umkehrschluss konnte man natürlich auch mutmaßen: Entzog sich da nicht mancher durch ein frommes Studium dem Dienst an der Waffe, ohne die etwas aufwendigere Flucht in die Verweigerer-Enklave West-Berlin? In jedem Fall: Was für eine bizarre Mischung! Und da war noch sie! Mia! Wow! Mit einem schneeweißen bodenlangen Mantel aus dem Fell irgendeiner Zottelziege, lässig die Basttasche über der Schulter, in der sie das studentische Handwerkszeug beförderte oder auch nicht. Ganz sicher war da ein großes Schminktäschchen drin, denn die Dame mit dem schönen indianischen Profil hatte sich mit viel Farbe sorgfältig dunkel verschattete Augen und einen knallroten Mund ins Gesicht gemalt. Dazu ihr hennagefärbtes leuchtend kupferfarbenes langes Haar. Mia konnte man nicht übersehen.
Für all diese Erstsemesterstudenten fand also der theologische Schnuppernachmittag statt. Das mit dem Schnuppern wurde leider sehr konkret und nahm olfaktorisch recht bedenkliche Formen an. Denn nach den ersten unverbindlichen Plaudereien standen jetzt die neuesten gruppendynamischen Übungen auf dem Programm. Ich glaube, die waren frisch aus den USA von irgendeiner Jesus-Bewegung importiert. „Der Herr trägt dich. Also vertraue ihm und auch deinem Nächsten!“ So ähnlich muss das Motto gelautet haben. Unsere erste theologische Bewährungsprobe bestand also darin, einander zu vertrauen. Denn ganz klar, bevor das mit Gott laufen konnte – so wurde es vermittelt – mussten wir das erstmal gegenseitig an uns austesten! Aber wer war hier und heute mein Nächster? Der Himmel meinte es wenig gnädig mit mir. Denn am allernächsten stand mir – was sonst? – ein streng schweißelnder junger Mann-im-Werden. Das fing ja gut an! Ne, Leute! Sowas geht nicht! Nicht mit mir! Ich weigerte mich standhaft, weiter bei diesen Selbsterfahrungsübungen mitzumachen. Ganz offensichtlich, obwohl des Griechischen noch nicht mächtig, gelang mir das mit dem Gnothi seauton, erkenne dich selbst, auch schon damals ohne diese bescheuerten Fallübungen. Dazu brauchte ich nicht so einen spittrigen Jungen mit schweißnassen Händen, denen ich ganz sicher entgleiten würde, um krachend auf dem Boden zu landen. Stirnrunzelnd hatte man meine Renitenz an übergeordneter Stelle wohl bemerkt, ja registriert.
Soweit die Praxis. Die ersten Begegnungen mit der Theorie gab es gleich in der kommenden Stunde unter dem Titel „Einführung in eine theologische Konzeption der Gegenwart“. Statt Vorgeplänkel oder so ähnlich hieß das Ganze jetzt „Prolegomena“. Lesen sollten wir irgendeine Broschüre des Münchner Systematikers Wolfhart Pannenberg, der später Furore als erzkonservativer evangelischer Theologe mit seiner biblisch fundierten Ablehnung von Homosexualität machen sollte. Aber was heute vieldiskutiert unter „Queer“ läuft, war in den siebziger Jahren nicht ansatzweise ein Thema. Denn damals musste erstmal die Stellung der Frau gefestigt werden. Wir lasen u. a. Schriften wie „Was ist der Mensch?“ und freuten uns, dass auch wir „Rippen Adams“ damit gemeint waren. Als Lektürebeigabe gleich ein Bündel kopierter Aufsätze voller tiefschürfender theologischer Gedanken. Mit dem Verständnis der Modalverben „können“, „sollen“, „müssen“ hatte ich als neugebackene Studentin allerdings so meine anfänglichen Schwierigkeiten. Ausgeteilt hatte das ganze Textkonvolut ein äußerst freundlicher junger Dozent. Wie schön! Hier schien er mir wieder entgegenzuwehen, der so freie Geist eines protestantischen Pfarrhauses. Dieser Dozent war die perfekte Verkörperung meiner Wunschprojektion: schick lässiger, beiger Cordanzug, Vollbart, Pfeifenraucher, sanfte, sonore Stimme, seine Lippen stets umspielt von einem wohlwollenden Lächeln – für mich zu diesem Zeitpunkt allerdings politisch viel zu weit links. Er war bekennender Juso … Zumindest – das ein Vorteil seiner Gesinnung – schien er nicht den geringsten Druck auszuüben. Seine Arbeitsanweisung zu den verteilten Texten: „Bis zum nächsten Mal ‚können‘ Sie das lesen …, wäre es schön, wenn Sie das gelesen hätten …“ Echt nett von ihm! Da war sie also endlich, jene viel gepriesene akademische Freiheit. Und die meine bestand eben im selbstbestimmten Nichtlesen. Was mir allerdings schlecht bekommen sollte. Denn als komplette tabula rasa fiel ich in der nächsten Stunde jetzt auch in der Theorie unangenehm auf. Der freundlich leutselige Gesichtsausdruck des Dozenten verschwand schlagartig. Ich war enttarnt. Als Faule (schon wieder als eine Art „Zipfelhau’m“?), schlimmer noch, als an tiefschürfenden theologischen, ja menschlichen Fragen Uninteressierte. Einfach eine Ungläubige, die sich ins Theologiestudium geschlichen hatte! Das mit meinem angepeilten Seelenheil war damit erst einmal ganz klar in weite Ferne gerückt, war doch dieses Studium ganz offensichtlich mit unerwarteten Stolpersteinen versehen.
Wie machten das nur die anderen? Meine Kommilitonen? Etliche von ihnen waren Pfarrers-, ja Professorenkinder! Die hatten den rechten Glauben quasi schon von klein auf tagtäglich in ihrer Vesperbox in den Kindergarten mitgeschleppt. Da gab es etwa die kleine verhuschte Tabea mit aschblondem Zopf und strahlend blauen Knopfaugen, eine Professorentochter, die aber schon bald den Herrn Papa enttäuschen sollte. Nicht lange und sie kehrte der Theologie den Rücken und wurde mit ihrem ziegenbärtigen Freund Roland Gärtnerin. Aber Theologen hatten bekanntlich eine ganze Schar von Kindern, so dass ein einzelnes schwarzes Schaf im Verbund der frommen Familie verkraftet werden konnte. Und dann gab es jene Claudia, die mich tierisch nervte. Eine laut akzentuiert sprechende Fränkin, deren Zunge sich, wie nicht anders zu erwarten, ständig mit „t“ und „d“ und „p“ und „b“ verhedderte. Daran gewöhnte ich mich schnell, woran ich mich allerdings nicht gewöhnte, waren Claudias Plastikclips an den Ohren, vorzugsweise in der Variante pfefferminzweiß. Für mich brachte sie damit irgendwie das Flair einer Tupperware Party in den Seminarraum. Wie engagiert die – auch sie Pfarrerstochter – immer diskutierte, wie glasklar die Sache mit Gott und der Welt für die war … Irgendwie beneidenswert. Aber wollte ich sein wie die? Nein. Lieber nicht! Allerdings sollte Claudia es im Gegensatz zu mir weit bringen – also kirchlich gesehen, wenn sie auch später in exponierter Stellung etliche fromme Millionen im Nirwana von Aktienmärkten versenkte. Aber bis heute beweisen ihre Fotos im Internet: Sie ist sich irgendwie treu geblieben. Nach wie vor liebt sie Clips an den Ohren, wenn auch jetzt in echt Gold.
Einer, der bestimmt noch bis weit ins vierte Semester spätpubertierte, sollte ihr Mann werden. Klaus hieß er. Ihn gab es damals mindestens im Zweierpack oder auch mit größerer Entourage. Meist hatte Klaus Silvio im Schlepptau, die exotische Ausgabe eines lutherisch-protestantischen Italieners. Keine Ahnung, wie die Lehre des cholerisch grobianischen Mansfelder Bergarbeitersohnes Martin Luther jemanden von südländischer Leichtigkeit wie Silvio für sich gewinnen konnte. Aber er studierte nun mal erstaunlicherweise durchaus ernsthaft evangelische Theologie. Klaus hatte aber auch noch andere Gleichgesinnte im Schlepptau, ja konnte auf einen regelrechten bajuwarisch-grobschlächtigen Fanclub blicken. Der ultimative Gag dieser Clique – allerdings fanden das nur jene jungen Männer zum Brüllen – war ihr oberbayerisches Outfit. Was für eine tollkühne Provokation mitten in Franken! In jede Vorlesung kamen sie, auch im Winter, mit kurzen Lederhosen und wollenen Kniestrümpfen. Umständlich kramten sie vor aller Augen riesige rotweiß karierte Schnupftücher aus ihren Hosentaschen, zogen sich eine ordentliche Prise Schmalzler in die Nasenlöcher, dessen schmieriges Braun ihnen oft unappetitlich stundenlang im Bartpflaum hing. Bis zum Erscheinen des Dozenten rotzten sie lautstark durch die Gegend. Das scheint sich im Laufe der Jahre Gottlob gelegt zu haben, denn andernfalls hätte dieser Klaus nicht genau wie seine spätere Gattin in der Kirche eine beeindruckende Karriere hinlegen können. Nachträglich muss man auch entschuldigend anmerken, welche Nische, um irgendwie aufzufallen, war dem armen Kerl als Student denn geblieben? Mit seinem Spitzmausgesicht. Dazu von spittriger Statur, das undefinierbar braune Haar traurigglatt in der Ausführung Schnittlauchlocke, mit ausgeprägter Tendenz zur Buttermütze, also fetttriefenden Strähnen …
Aber es gab sie eben auch, jene ganz anderen Kommilitonen. Hier fiel eben vor allem SIE auf. Jene Frau mit dem Zottelziegen-Mantel. Eigentlich sah sie aus, als habe sie der Herr-sei-bei-uns persönlich geschickt, als habe sie den teuflischen Auftrag, die Toleranz und Weltoffenheit der ganzen theologischen Fakultät auf die Probe zu stellen. Dieses Geschäft betrieb jene Mia in Zukunft vom ersten Tag ihres Studiums an äußerst intensiv. Denn schon bald hatte sie, keine Ahnung wie, einen Job als studentische Hilfskraft in der alttestamentlichen Bibliothek ergattert. Dort sorgte sie wahrhaft für Furore, lud die Atmosphäre der heiligen Hallen geradezu elektrisch auf. Mit durchsichtiger Bluse, einem goldenen Schuppengürtel, der sich wie die Schlange aus dem Garten Eden um ihre schlanke Taille wand, erzeugte sie regelmäßig Schweißausbrüche bei männlichen Kommilitonen und Dozenten. Schon das metallische Klackern ihrer Highheels auf dem frisch gebohnerten Linoleum machte manch einen nervös. Doch tapfer tolerierte man ihre Auftritte. Schließlich, so steht es zumindest in der Bibel, war auch Jesus in puncto Sünderin sehr aufgeschlossen. Außerdem konnte man an Mia bestens die Versuchung wider die Sünde einüben. Mancher fühlte sich wahrscheinlich heimgesucht wie der heilige Antonius, der sich in der Wüste aller nur denkbaren Dämonen, Teufel und Lüste erwehren musste. Kurzum: Mias Erscheinen konnte man auch anders als diabolisch sehen; vielleicht eher als eine von Gott geschickte Bewährungsprobe im Hier und Jetzt – und die galt es eben zu bestehen.
Ich bewunderte Mia. Wie sich herausstellte, war sie sogar schon verheiratet. Mit einem supercoolen Typen. Einem, dessen Gesicht völlig in einem dunklen Gewirr von Haaren und Bart versank. Manchmal wartete er, eine Gauloise zwischen den braungerauchten Fingern, um Mia nach einer Vorlesung abzuholen. Er war ihr Englischlehrer am Gymnasium gewesen. Und wie aufregend! Mit sechzehn Jahren war sie, die Tochter eines Eisenbahners, von zu Hause ausgebüchst und hatte ihren Robert nach einer abenteuerlichen Flucht heimlich im schottischen Gretna Green geheiratet. Erstaunlich: Ihr Lehrerehemann hatte damals völlig unbehelligt seinen Job behalten. Denn eigentlich gab es nichts zu deuteln: Mia war mit ihren damals gerade mal sechszehn Jahren alles andere als volljährig. Und die Lovestory hatte ziemlich sicher schon einen längeren Vorlauf. Ein Fall für den Jugendschutz? Heutzutage, wo sich das Netz moralischer Restriktionen manchmal beängstigend zusammenzieht, ganz sicher schon. Genau genommen galt Jugendschutz aber schon immer. Nur damals in den Siebzigern hat man in sogenannt progressiven Kreisen solche Regeln als bürgerlich spießigen Ballast gerne mal über Bord geworfen. Hatte nicht schon der gute alte Freud, der Vater der Psychoanalyse, Jahrzehnte zuvor Kindern höchst wissenschaftlich eine lustvolle Sexualität bescheinigt? Schließlich war jeder Junge beseelt von der Vorstellung, dereinst seinen Vater vom Thron zu stoßen und seine Mutter zu heiraten. Und kleine Mädchen liebten nun mal den Herrn Papa. Deshalb war es nur ein kleiner Schritt, dass die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft – später wurde diese Position von den 1980 gegründeten Grünen übernommen – für das kindliche Recht auf Sex eintraten. Was Kinder im Allgemeinen betraf, mag da mancher noch zurückgezuckt sein, aber junge Mädchen? Warum nicht?! Zumindest zwischen ihnen und erwachsenen Männern müsse Sex endlich möglich sein. Nichts anderes als eine spießig bürgerliche Moral sprach dagegen. Böse könnte man vielleicht anmerken, dass man damals ein Schlupfloch witterte, um der Pädophilie, dem Umgang mit knackig festem Frischfleisch, Tür und Tor zu öffnen. In der Praxis waren Schulen quasi ein unerschöpflicher Markt der Möglichkeiten für liberale, unverklemmte Lehrer. So hüpften damals viele Pädagogen mit ihren weiblichen Fans auf Klassenfahrten gerne in die Kiste. Jeder wusste das. Auswahl genug hatten die Pädagogen ja. Vor allem in den damals oft noch reinen Mädchenschulen saßen sie quasi an der Quelle. Und mal ehrlich, wer war nicht schon mal in einen Lehrer verknallt?!
Mias Schule scheint in dieser Hinsicht geradezu Avantgarde gewesen zu sein. Mit einem eingeweihten Kreis locker aufgeschlossener Lehrer organisierte man in einer konzertierten Aktion, und das sogar mit Hilfe des Schulleiters, Mias heimliche Heirat und den dazu erforderlichen Schulwechsel. Irgendwie hatte man nämlich schon auf dem Schirm, dass die Angelegenheit schulrechtlich und in puncto Jugendschutz mehr als bedenklich war. Deshalb brauchte das Ganze schnell das Mäntelchen bürgerlicher Legalität. Für Mia war also zwingend ein Schulwechsel angesagt. Am besten sofort. Die Schulummeldung einer Minderjährigen konnte aber nur der Erziehungsberechtigte in die Wege leiten. In noch echt patriarchalen Zeiten war das eindeutig der Vater. Mias weiche Mutter wäre in dieser Angelegenheit in Nullkommanix platt zu machen gewesen. Aber der Vater?! Der musste irgendwie zum Mitspielen gebracht werden, ohne dass er den Braten roch. Völlig ahnungslos wurde der eines Tages dringend in die Sprechstunde gebeten. Seine Tochter Mia sei Opfer übelster Mobbingattacken ihrer Mitschülerinnen, unterbreitete unisono eine ungewöhnlich große Lehrerrunde samt Schulleiter dem armen Mann. Unbedingt müsse er zeitnah zum Wohle seines Kindes einen Schulwechsel in die Wege leiten. Mehrere Pädagogen redeten gleichzeitig mit sorgenvoller Miene auf den armen Mann ein, der gar nicht wusste, wie ihm geschah. Dem altsozialistischen Eisenbahner, einem sturen noch dazu, konnte man das Ganze aber nicht so einfach verklickern. Denn irgendwie ahnte er, dass da was im Busch war. Aber was? Selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er sich die Realität nicht denken können. Aber seine Tochter und Mobbing? Mia hatte sich bislang daheim nicht mit einem Muckser darüber beklagt. Nach den Sommerferien sollte Mias Vater jedoch schlauer sein, nämlich als seine Tochter nach sechs Wochen Abwesenheit wieder auftauchte. Der Mutter daheim hatte Mia spärliche Lebenszeichen geschickt, so dass wenigstens die Gefahr einer Personenfahndung via Polizei oder gar Interpol gebannt war. Als frisch gebackene Lehrersgattin tauchte Mia also Anfang September wieder auf. Eine Love Affair also war des Pudels Kern! Ein Schulwechsel gelang allerdings nur mit quietschenden Reifen. Eine Riege konservativer Altkollegen ihres Mannes an Mias ehemaliger Schule wachten noch eine ganze Weile mit Argusaugen darüber, ob Mia bald ein Kind zur Welt bringen würde. Hätte sich damit eindeutig Geschlechtsverkehr mit der zuvor noch Fünfzehnjährigen nachweisen lassen, wäre es sogar damals ungemütlich für den progressiv unkonventionellen Robert geworden.
Als nun zwanzigjährige Studentin lebte Mia also schon lange nicht mehr bei ihren Eltern oder wie ich allein in irgendeiner mickrigen Studentenbude, sondern in der fünfzehn Kilometer entfernten Großstadt Nürnberg, in einer echten Wohngemeinschaft. Da ging die Post ab, da pulsierte ganz sicher das echte Leben. Recht vage hatte ich eine Vorstellung, was man sich darunter vielleicht vorstellen musste. Berichte über die skandalumwitterte Kommune 1 waren sogar in meiner provinziellen Ingolstädter Schulzeit angekommen, zumindest in Form kopfschüttelnder Kommentare zu diesem Lotterleben von meinen biederen Eltern. Rainer Langhans, Fritz Teufel! Ja eindeutig: Mias Mann sah genauso aus wie die beiden. Uschi Obermayer, Sex and Drugs … Du meine Güte, wie verrucht! Mias Leben konnte nur aufregend sein! Später stellte sich heraus – ja, es gab dort freie Liebe, es wurde Marihuana geraucht, es wurden Tripps geschmissen. Aber so recht wohl fühlten sich offensichtlich nur wenige damit. Mia jedenfalls nicht. Mit der freien Liebe zum Beispiel dort in der Wohnung am Kirchenweg war das gar nicht so einfach. Manche von Mias früheren Lehrerinnen oder Mitschülerinnen krabbelte zwischendurch aus dem Bett des Gatten. Irgendwie strange, dachte ich mir, bieder wie ich damals war. Aber auch Mia hatte da ganz schön zu schlucken. Und seltsam: Machte es ein Der, war das seine Rebellion gegen scheißbürgerliches Besitzdenken in der Ehe, gegen den unterdrückerischen Charakter spießiger Zweierbeziehungen, machte es eine Die, war sie eine hinterhältige kleinbürgerliche Betrügerin, die man sich im WG-Kollektiv mal so richtig vorknöpfte. Das sollte eine meiner ersten Lektionen sein, die ich in puncto neuer gesellschaftlicher Experimente aus Mias WG zunächst nur so am Rande mitkriegte. Es sollten in Zukunft noch viele andere Lehrstücke folgen. Jedenfalls mündete dieses ganze Nürnberger WG-Experiment im zweiten Semester bereits in Mias Scheidung. Um möglichst schnell aus der Nummer raus zu kommen, nahm sie, gerade erst durch das neue Gesetz von 1974 mit zwanzig vorzeitig volljährig geworden, nach den damaligen Usancen die Schuld an der kaputten Ehe auf sich. Und das, obwohl sie ihren Robert hätte gehörig piesacken können! Hatte er ihr nicht als Minderjähriger Drogen verabreicht …? Mia war jung und schön. Für einen riesigen Berg schmutziger Wäsche hatte sie keine Zeit und schon gar keine Lust. Von ihren Eltern hatte sie dabei allerdings auch nicht die geringste Hilfe zu erwarten. „Bei der Heirat hast du uns nicht gebraucht, dann brauchst du uns jetzt auch nicht bei der Scheidung“, war der knappe Kommentar von Mias beinhartem Vater. Von nun an verkaufte sie neben ihrem Studium Fischbrötchen in einer Filiale der „Nordsee“. Damit stotterte sie ihre Anwalts- und Gerichtskosten ab. Ihren Job in der alttestamentlichen Bibliothek hatte sie zwischenzeitlich verloren. Der Wind hatte sich gedreht. War man kirchlicherseits bislang diesem exotischen Geschöpf, dieser wandelnden Versuchung mit Milde und Langmut begegnet, so war das seit ihrer Scheidung vorbei! Sie könne gerne weiterhin Theologie studieren, signalisierte man ihr leutselig, aber später ein Vikariat, gar eine Pfarrstelle? Das solle sie sich gleich mal aus dem Kopf schlagen. Also hängte Mia ihren Traumberuf einer Gefängnispfarrerin an den Nagel und studierte von da an nurmehr Psychologie, ihr bisheriges Zweitfach. Bester Nebeneffekt ihres theologischen Intermezzos: Sie hatte Hebräisch gelernt, und wir beide sind seitdem Lebensfreundinnen.
Was ich bei der Wahl meines Studienorts in Franken nicht berücksichtig hatte, ja gar nicht konnte, war mein Vorname: Gunda! Wann immer ich den nannte, wurde das zum Running Gag. „Was? Du heißt Gunda?“ Und schon ging mindestens das Gegrinse, im schlimmsten Fall das Gelächter bis zum Schenkelklopfen los. Was war denn an meinem Namen falsch? Schließlich hatte ich keine hundert Kilometer weiter südlich meine ganze Kindheit und Schulzeit als Gunda – und das als einzige in meinem Bekanntenkreis – völlig unbehelligt verbracht. Aber jetzt war mein Name nichts als eine Peinlichkeit. Hier in Franken hießen nur Mägde so, Dienstboten und grobschlächtige Bäuerinnen, klärte man mich auf. Und just zu meinem Studienbeginn trieb eine besonders berühmte Gunda, eine Marktfrau, ihr Unwesen. Sie wurde zu einem fränkischen Original auf dem Nürnberger Hauptmarkt. Später sollte sie sogar mit einem Auftritt in Alfred Bioleks Show und einer Jägermeister-Werbung bundesweit Berühmtheit erlangen. Ihren Gemüsestand führte sie auf so anarchisch renitente Weise, dass die uniformierten Ordnungshüter ständig anrücken mussten. Es war ein beinahe schon wohl inszeniertes Katz-und-Maus-Spiel. Gunda übertrat eine Regel und die Polizei rückte an. Parallel dazu berichtete die Lokalpresse direkt vor Ort in allen Einzelheiten über diese vierschrötige Jeanne d’Arc des fränkischen Knoblauchlandes. Was kümmerten jene Gunda Herbst Standgrenzen, Schlusszeiten! Nicht einmal hunderte von Strafzetteln und Bußgeldbescheide konnten sie bremsen. Die Grünschnäbel von der Polizei, nichts anderes als dumme Buben waren die für Gunda, und wann immer sie anrückten, kamen die ihr gerade recht. Kurzerhand brachte sie sich, die Hände selbstbewusst in die Hüften gestemmt, in Kampfstellung. Als Erstes duzte sie die Vertreter der Staatsmacht provokant, was damals im Bußgeldkatalog noch als Beamtenbeleidigung gelistet war. Wenn die Ordnungshüter es ihr zu bunt trieben, wurde Gunda auch gerne rabiat und hielt sich das Gesetz mit matschigen Wurfgeschossen aus ihren Gemüsekörben vom Leibe. Irgendwann musste es sein. Ich musste sie mir mal persönlich anschauen – und war entsetzt. Das also war meine Namensvetterin! Eine dralle ältere Frau in zerschlissener Kittelschürze, die Strümpfe runtergerollert, damit die schwärenden Wunden ihrer Beine und das blaulila Geäst ihrer dicken Krampfadern gut belüftet wurden. Das breite Gesicht rot geädert, auf dem Kopf ein Haargewirr wie Putzwolle, mit Steckkämmen seitlich gebändigt.
Nicht nur, dass mein Vater „Barbier“ war, jetzt auch noch die Peinlichkeit dieses zufällig urfränkischen Vornamens! Von nun an vermied ich es auch, meinen Vornamen zu nennen – ein etwas schwieriges Unterfangen, bei einem doch unbestreitbaren Interesse an meiner Person. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn sich meine Mutter mit meinem Zweitnamen Sabine hätte durchsetzen können! Du meine Güte! Was sollte denn noch alles auf mich zukommen?
Zunächst war es der Mann im Wolfspelz. Nicht weit von den geweihten theologischen Hallen gab es eine Cafeteria. Ein leckerer Gewürzkuchen, eine Tasse Kaffee, dazu interessante Menschen in ganz offensichtlich locker heiterer Gesprächsatmosphäre. Schon das eine Versuchung, sich nicht hinter langweiligen Büchern einer theologischen Seminarbibliothek zu vergraben. Zumal man da Gefahr lief, äußerst seltsamen Zeitgenossen zu begegnen.