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Aufgepasst, ihr Mörder: Hier kommt Tilly Blich. Reinigungskraft, Basset-Besitzerin und Erstklasse-Ermittlerin!
Als Tilly Blich sich den Traum einer eigenen Reinigungsfirma erfüllt, ahnt sie noch nicht, welche Herausforderungen ihr bevorstehen. Die Räumlichkeiten von »Plitz & Blank« entpuppen sich als heruntergekommene Kaschemme im skurrilen Städtchen Untertannbach. Statt als Chefin zu delegieren, muss Tilly wieder selbst den Wischmopp schwingen und stößt bei ihrem ersten großen Auftrag prompt auf die Leiche des ortsansässigen Architekten. Leider hat sie zuvor bereits den Tatort in einen lupenreinen Zustand versetzt – und wird damit sofort zur Hauptverdächtigen des inkompetenten Kriminalhauptkommissars Stubs. Da hilft nur eins: selbst ermitteln. Bewaffnet mit Essigreiniger und unterstützt von Kommissarin Sarah Kraft, dem Abiturienten Leon und Kuchengöttin Gerdy kommt Tilly dem Mörder immer näher. Und gerät dabei selbst in größte Gefahr …
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Seitenzahl: 344
Als Tilly Blich sich den Traum einer eigenen Reinigungsfirma erfüllt, ahnt sie noch nicht, welche Herausforderungen ihr bevorstehen. Die Räumlichkeiten von Plitz & Blank entpuppen sich als heruntergekommene Kaschemme im skurrilen Städtchen Untertannbach. Statt als Chefin zu delegieren, muss Tilly wieder selbst den Wischmopp schwingen und stößt bei ihrem ersten großen Auftrag prompt auf die Leiche des ortsansässigen Architekten. Leider hat sie die vermeintliche Tatwaffe bereits gründlich gereinigt – und wird damit sofort zur Hauptverdächtigen des inkompetenten Kriminalhauptkommissars Stubs. Da hilft nur eins: selbst ermitteln. Bewaffnet mit Essigreiniger und unterstützt von Kommissarin Sarah Kraft, dem Abiturienten Leon, Kuchengöttin Gerdy und Basset Muffin kommt Tilly dem Mörder immer näher. Und gerät dabei selbst in größte Gefahr …
Andreas Suchanek (* 1982) verfasste bereits in Jugendjahren seine ersten Geschichten und Romane. Nach dem Studium der Informatik begann er damit, seine Geschichten hauptberuflich zu veröffentlichen. Seinen bisher größten Erfolg hatte Suchanek mit der Urban-Fantasy-Reihe Das Erbe der Macht, die mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem LovelyBooks Leserpreis ausgezeichnet wurde. Er ist für seine gemeinen Twists bekannt.
ANDREAS SUCHANEK
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 06/2024
Copyright © 2024 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Nina Bellem
Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von mauritius images/Westend61/Stefan Schurr; FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Illustration: Alexander Gröber
ISBN 978-3-641-30157-6V001
www.heyne.de
Dass es Blut war, hatte Tilly nicht wissen können.
Direkt nach ihrem Eintreffen im Architekturbüro leerte sie die Gittereimer, die unter jedem Schreibtisch standen, und fuhr mit dem Staubwedel die Rahmen der Monitore entlang. Das Raumlicht fiel durch die Glasfront des Großraumbüros auf den nahen Wald. Tilly betrachtete die Silhouette versonnen.
Hier in Untertannberg gab es viel Wald.
Sie ließ ihren Blick über die Tischplatten wandern, rückte hier und da etwas zurecht und nahm im Vorbeigehen Details wahr, die anderen möglicherweise entgangen wären.
Am Tisch eines gewissen Herbert Labunkel lagen ein paar gerahmte Fotos mit dem Gesicht nach unten. Tilly warf einen kurzen Blick darauf. Darauf war er mit seiner Frau im Urlaub zu sehen. Da stand also vermutlich eine Scheidung an. Eine Dose Deospray hatte ihren Weg neben das abgelegte Tablet gefunden. Eindeutig ein zweiter Frühling. Jedes Arbeitsreich sagte so viel über seinen Besitzer aus.
Der Dielenboden des Büros war blitzblank, Tilly verdächtigte den Chef, dass er ihn selbst poliert hatte. Hans-Josef Krumm war laut Notiz ihres Vorgängers ein Pedant.
Im Zentrum des Raumes stand außerdem die Gipsreplik des aktuellen Vorzeigeprojektes des Ortes: ein moderner Glas-Beton-Bau, den das Büro entworfen hatte; das neue Rathaus von Untertannberg. Eingebettet in eine Miniaturdarstellung des umgebenden Waldes. Auch hier fand sich kein Staubkorn, was aber für Tilly sowieso unerheblich war, weil sie hier strenges Putzverbot hatte.
Schließlich konnte so ein Staubwedel im Zweikampf gegen eine Gipsskulptur schon mal den Sieg davontragen. Und sie wollte hier ja niemanden zum Weinen bringen. Der Chef des Büros war auch damit eigen, der kippte vermutlich glatt tot um, falls der Giebel abbrach. Umso verblüffter war Tilly, als es unter ihr patschte. Sie stand mit dem rechten Fuß in einer klebrigen, zähen Masse.
Das Licht war stromsparend gedimmt, daher konnte sie nicht genau erkennen, um was es sich handelte. Sie hatte die Gummihandschuhe vorhin bereits übergestreift und hielt das Reinigungsspray in der Hand. Hier war Fingerspitzengefühl gefordert. Entfernung der Verschmutzung und anschließende Politur.
Ihr Blick glitt über das Modell des neuen Rathauses. Sie erstarrte. Da hatte doch tatsächlich jemand den spitz zulaufenden Eckturm abgebrochen.
Der Chef würde zuerst explodieren und dann tot umfallen.
Sie machte einen weiteren Schritt vor. Beinahe wäre sie in der roten Schmiere ausgerutscht.
»Jetzt reiß dich zusammen, Tilly Blich, du bist schließlich Profi. Es gibt keinen Fleck, den du nicht wegbekommst.«
Ein paar weitere vorsichtige Schritte, und ihr offenbarte sich das gesamte Ausmaß der Sauerei. Vor ihr am Boden, halb bedeckt von der überstehenden Tischplatte, lag Hans-Josef Krumm.
Er würde jedoch nicht mehr explodieren.
Aus seiner Brust ragte in schiefem Winkel der Eckturm des Rathauses heraus, bis zum Erdgeschoss hineingerammt. Jemand hatte wohl auf Nummer sicher gehen wollen.
Im Reflex betätigte Tilly den Zerstäuber für das Reinigungsspray. Zitrusgeruch flirrte als feiner Nieselregen über das Gipsmodell und seinen Schöpfer.
Sie griff in ihre Hosentasche und zog das Smartphone hervor. Um diese Flecken mussten sich andere kümmern.
Ein Tag zuvor
Tillys gute Laune hielt an, bis sie den Wagen vor ihrer neuen Firma parkte.
Der Weg hierher war ein einziger Freudentaumel gewesen. Zuerst hatte sie ihrem Chef in Köln die Putzhandschuhe auf den Tisch geknallt und danach die Kündigung. Nichts mehr mit Nachtschichten, flexiblen Einsätzen in sozialen Brennpunkt-Ämtern oder Gehaltskürzungen. Das jahrelange Sparen hatte sich gelohnt.
Vor wenigen Tagen hatte Tilly die Anzeige entdeckt.
Reinigungsfirma
in idyllischer Lage zu verkaufen. Umfangreicher Kundenstamm und engagierte Mitarbeiter inklusive.
Sie hatte kurz mit der Sekretärin telefoniert, die auch alle bisherigen Steuerunterlagen an sie geschickt hatte. Sah solide aus. Und weil Tilly es auf der einen Seite mit einem nervenden Ex und auf der anderen mit einem Chef, der sie zur Weißglut trieb, zu tun hatte, beschloss sie ihr gesamtes Erspartes in die neue Firma zu stecken. Ihre Firma.
Nach der Kündigung sprang sie in ihr Auto und düste, begleitet vom summenden Geräusch des Elektroantriebs, in Richtung Untertannberg. Eine Fahrt, die sie direkt ins Schwabenland führte.
Nun hielt sie vor der Fassade eines ziemlich heruntergekommenen Gebäudes, das nach außen wie ein Geschäft aus den Sechzigern aussah. Also eines, das in den Sechzigern geschlossen worden war. Auf der verdreckten Scheibe stand in großen Lettern Plitz & Blank.
Womöglich war es doch keine so gute Idee, ihrem alten Chef stolz die Bilder der eigenen Firma zu schicken.
Sie schluckte und stieg aus.
»Frau Blich?« Das Geräusch von Stöckelschuhen erklang. »Frau Tilly Blich?«
Vor ihr stand eine schlanke Dame in den frühen Fünfzigern. Sie trug einen eleganten Bleistiftrock, eine helle Bluse in modernem Schnitt, und die Haare waren eindeutig frisch gefärbt. Eine dezente Note Chanel No 5 umgab sie.
»Ich fürchte schon«, sagte Tilly stockend. »Und Sie sind dann wohl …«
»Pelz. Dorothea Pelz. Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen.« Sie verzichtete darauf, Tillys ausgestreckte Hand zu ergreifen, als sei diese ein Bakterienherd, den Reinigungskräfte eben so mit sich herumtrugen. »Wir haben telefoniert.«
Erst jetzt realisierte Tilly, dass Frau Pelz eindeutig nicht die Sekretärin war. »Sind Sie die Vorbesitzerin?«
»Gott bewahre, nein.« Frau Pelz lachte in einer Mischung aus Unglauben und dezentem Entsetzen. »Ich und eine Reinigungsfirma, das ginge gar nicht. Am Ende müsste ich noch hier wohnen in dieser«, ein Räuspern folgte, »wunderschönen Stadt. Wollen wir uns Ihr neues Reich ansehen?«
Frau Pelz wartete nicht auf eine Antwort. Sie kramte einen rostigen Schlüssel heraus, friemelte ihn in das Schloss und drehte ihn herum. Mit einem Schritt nach vorn wollte sie die Tür aufschieben, die jedoch ruckelnd über den Boden schabte, was dafür sorgte, dass Frau Pelz dagegen stieß. Grimmig runzelte sie die Stirn und stemmte das Hindernis mit der Schulter auf. »War doch gar nicht so schwer.« Sie keuchte.
Tilly fühlte sich in einen Albtraum versetzt. Die hochmoderne Reinigungsfirma aus ihrer Vorstellung entpuppte sich als Drecksloch, das von innen noch schlimmer aussah als von außen. Eine dicke Staubschicht lag über einer Theke, die sich vorne durch den Raum zog. Fast wirkte es, als sei dies die ehemalige Redaktion einer Zeitung. Oder die Geschäftsräume einer sehr alten Bank. Es roch muffig. Der filzbelegte Boden war vermutlich tatsächlich ein Bakterienherd. Mit Mutationsgefahr.
»Schön«, krächzte Tilly.
»Man muss hier natürlich ein wenig saubermachen«, sagte Dorothea Pelz in verschwörerischem Ton. »Aber dafür sind Sie ja perfekt geeignet.«
Vorsichtig tapste Tilly weiter in den Raum. »Und die hochmodernen Reinigungsgeräte?«
Frau Pelz ging zu einer schmalen Tür und öffnete diese. Dahinter standen ein Rollwagen, Wischmopp und Zerstäuber. »Da gibt es ja nicht viele Innovationen, ist immer noch alles top in Schuss.«
»Sieht genauso aus, wie in meiner alten Firma«, sagte Tilly tonlos.
»Ach, das freut mich aber. Da fühlen Sie sich bestimmt direkt heimisch.«
Worauf sie lieber nichts erwiderte.
In der Mitte des Raumes standen zwei Schreibtische, die aneinandergestellt worden waren. Einer davon wirkte bedrohlich schief. Auf beiden ragten klobige Monitore hervor, am Boden daneben standen uralte Computergehäuse.
»Ich bin froh, dass ich das alles los bin«, sagte Frau Pelz.
»Ach, wirklich?«
»Aber ja. Mein Mann war Tim Plitz, müssen Sie wissen, deshalb das Wortspiel im Namen.«
»Dieser Einfallsreichtum ist schon … aber so richtig«, sagte Tilly.
»Nicht wahr? Zumindest das konnte er. Bis er abgehauen ist. Von einem Tag auf den anderen. Hat mich mit nur ein paar Zeilen sitzen lassen.« Das Gesicht von Frau Pelz verdüsterte sich, als hätten sich jäh Gewitterwolken vor ihr sonniges Gemüt geschoben. »Also habe ich einfach damit angefangen, alles zu verkaufen.« Die Gewitterwolken zogen weiter und machten einem triumphierenden Funkeln Platz. »Ihre neue Wohnung hat auch ihm gehört. Und der Wagen der Firma steht im Hinterhof. Alles inklusive, Sie müssen sich um nichts Sorgen machen.«
Wenigstens die Wohnung konnte nur besser werden.
Tilly sah im Dämmerlicht der hereinfallenden Sonne die Staubpartikel tanzen. Instinktiv fuhr sie mit dem Finger über die Tischplatte. Staub. Diese Räumlichkeiten waren ein wahrer Traum für jeden Reinlichkeitsfetischisten.
»Und die engagierten Mitarbeiter?«, fragte sie mit einem letzten Rest ersterbender Hoffnung.
»Leon!«, brüllte Frau Pelz so überraschend, dass Tilly zusammenzuckte.
Hinter einer der Türen rumorte es, die Klinke wurde heruntergedrückt. Ein Jugendlicher betrat den Raum. Das braune wuschelige Haar stand perfekt durchgestylt von seinem Kopf ab, die Augen funkelten frech. Er trug ein modisches Hemd, Jeans und Sneaker. Eindeutig alles neu, ein rundum gepflegtes Auftreten. Gehobenes Elternhaus also.
»Hi«, sagte er.
Ebenso eindeutig der für Jugendliche typische, gering ausgeprägte Wortschatz.
»Du solltest doch vor dem Eintreffen von Frau Blich sauber machen.« Die ehemalige Frau Plitz stemmte die Hände in die Hüften. »Du weißt, was dir blüht, wenn du hier nicht alles gibst.«
Leon machte eine ausladende Handbewegung. »Wie wär’s mit abreißen und neu aufbauen, das ginge schneller. Hier zu putzen ist doch sinnlos.«
»So, jetzt hast du es geschafft, das erzähle ich deinen Eltern.«
»Von mir aus.« Hände wurden trotzig in Hosentaschen geschoben.
»Sind dir Sozialstunden lieber?«, fragte Frau Pelz, sichtlich zufrieden, dass ihr diese Drohung eingefallen war.
»Da bin ich noch nicht sicher«, entgegnete Leon, nachdem er sich erneut umgesehen hatte.
»Also das ist doch …« Ex-Plitz wandte sich wieder Tilly zu. »Hören Sie gar nicht hin. Der Leon hat in seinem jugendlichen Leichtsinn das Auto des Vaters ein wenig …«
»Schrottreif gefahren«, bemerkte der junge Mann trocken.
»… ramponiert, wollte ich sagen. Deshalb haben wir abgesprochen, dass er Ihnen ab sofort als Mitarbeiter zur Verfügung steht, Frau Blich. Immer nach der Schule und in den Freistunden. Er ist neunzehn Jahre alt und damit volljährig.«
»Das nennt man auch erwachsen«, sagte Leon trocken.
»Vorlaut ist er manchmal, aber das ignorieren Sie irgendwann. Er ist jetzt hier und hilft. Quasi freiwillig. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Quasi freiwillig, um keine Sozialstunden machen zu müssen«, wiederholte Tilly ungläubig.
Frau Pelz tätschelte ihre Schulter. »Ich wusste, wir verstehen uns. Langsam müsste ich dann auch weiter. Das ist jetzt Ihr neues Reich. Oh, ich habe Ihnen noch ein Geschenk mitgebracht. Leon?«
»Steht hinten«, sagte er.
»Würdest du es netterweise holen?« Die »Bitte« kam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und erinnerte an das Zischen einer Schlange.
»Okay.« Er trottete davon.
Tilly schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es sich um eine Flasche Sekt oder gleich Champagner handelte. Sie musste ihren Frust irgendwie dämpfen.
Leon kehrte zurück. In seiner Hand hielt er ein längliches Paket, das vom Boden bis zu seinen Schultern reichte. »Überraschung«, sagte er trocken.
»Ein Wischmopp.« Tilly blinzelte.
Frau Pelz quietschte geradezu vor Freude. »Jetzt haben Sie zwei.«
»Wirklich, zwei Ganze.«
»Ach, gibt es auch halbe?« Frau Pelz blinzelte verblüfft. »Auf jeden Fall haben Sie jetzt einen funkelnagelneuen für sich und einen für Leon. Viel Spaß damit.« Sie wandte sich der Tür zu.
Es hatte was von einer Flucht, die Tilly nur zu gerne selbst angetreten hätte. »Stopp! Was ist denn mit meiner Wohnung?«
»Der Ludwig trifft sie dort.« Frau Pelz linste auf ihre Uhr. »In einer Stunde. Er hat auch die Schlüssel. Und du zeigst Frau Blich bitte den Wagen, Leon. Ich muss zurück, die Fahrt nach Stuttgart dauert ein Weilchen. Mein Chauffeur wartet schon.«
Und weg war sie.
Stille setzte ein.
»Du bist also sozusagen ein Sträfling«, sagte Tilly.
»Jupp.« Leon nickte.
»Warum ging es denn mit dem Auto gegen die Wand?«, fragte sie. »Betrunken oder unfähig?«
Verdutzt starrte ihr neuer Mitarbeiter sie an. In seine Augen stahl sich ein amüsiertes Funkeln. »Weder noch. Ein Kumpel saß auf dem Beifahrersitz. Hat mich abgelenkt und zack.«
»Putzt der dann auch hier?«, fragte sie.
»Nicht offiziell«, gab Leon zurück. »Er ist der Sohn von unserem hiesigen Kriminalhauptkommissar. Hab ihm gesagt, er soll abhauen. Bringt ja nichts, wenn wir beide was abbekommen.« Er dachte über Tillys Worte nach. »Aber der darf dann ruhig auch mal den Wischmopp schwingen.«
»Das wäre Schwarzarbeit, damit fangen wir nicht an.«
Tilly ging zu den Schreibtischen und stützte sich auf den, der noch gerade stand. Immerhin, kein Wackeln. Sie setzte sich auf den Stuhl und wäre beinahe hintenübergekippt.
»Also der linke Schreibtisch ist schief, beim rechten ist der Stuhl nicht mehr ganz frisch.«
»Ach«, sagte Tilly. »Danke für die Warnung.«
Sie würde mindestens eine Woche benötigen, diesen Raum zu putzen, herzurichten und das schlimmste Chaos zu beseitigen. Für neue Möbel hatte sie kein Geld mehr. Was die Frage aufwarf, wie sie Tische, Stühle und Computer ersetzen sollte.
»Und wie ist es hier so?«, fragte Tilly.
Leon zuckte mit den Schultern. »Heruntergekommen und dreckig.«
»Ich meinte die Stadt«, stellte sie klar.
»Die meinte ich auch.« Er zwinkerte. »Aber machen Sie sich selbst ein Bild. Wo ist denn die neue Wohnung?«
Sie zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Hosentasche und las die darauf notierte Straße mit Hausnummer ab.
»Sind Sie sicher?«, fragte er.
Leon zog den anderen Stuhl heran und fläzte sich darauf.
»Steht hier.« Sie hielt den Zettel in die Höhe.
Wieder zuckten die Mundwinkel verräterisch. »Na dann.«
»Und was heißt jetzt na dann?« Tilly seufzte.
»Ist ne schöne Gegend«, gab er nur zurück.
»Ich kann dich auch Toiletten schrubben lassen«, sagte sie gefährlich leise.
»Würde eine freundliche Chefin wie Sie bestimmt niemals machen.«
»Ich lerne noch«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Auf dem Weg dahin macht man Fehler. Weißt du ja. Auto gegen die Wand und so.«
»Der Punkt geht an Sie.« Leon erhob sich. »Aber jetzt muss ich los. Habe heute Mittag noch einen Kurs. Morgen früh komm ich vorbei, habe die ersten Stunden frei.«
»Alles klar.«
Und damit war auch er flüchtig. Den Wagen würde sie also frühestens morgen zu sehen bekommen.
Tilly stand inmitten ihrer neuen Firma und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können. Karma vermutlich. Ihre Kündigung war zu hochmütig gewesen. Und dabei war es noch ein Glück, dass sie ihrem Ex-Chef die Gummihandschuhe nicht ins Gesicht geknallt hatte, wie ursprünglich geplant. Antonia hatte sie davon abgehalten. Ihre beste Freundin arbeitete in einem Kosmetikinstitut und studierte nebenher Jura.
Das half ungemein, wenn es darum ging, Verträge zu prüfen. Oder Straftaten zu verhindern. Gummihandschuhe ins Gesicht zu schlagen, fiel in diese Rubrik.
»Also schön.« Tilly klatschte in die Hände. »Ich besitze eine Firma. Einen Mitarbeiter. Und einen Kundenstamm.«
Was sie zur Frage führte, wo dieser notiert war. Glücklicherweise entdeckte sie das Regal, in dem Ordner aufgereiht standen. Auf einem Rücken stand in großen Lettern Kundenliste. Sie zog ihn heraus und blätterte durch die abgehefteten Papiere.
Die gute Nachricht war, dass es tatsächlich einen Kundenstamm gab. Die schlechte, dass der Vorbesitzer alles handschriftlich notiert hatte. Sauklaue als Beschreibung traf es nicht mal annähernd.
»Man wächst an seinen Herausforderungen«, sagte sie leise. »Es sind einfach Hürden auf dem Weg zur Verwirklichung meines Traums. Absolut.«
Ihr Blick fiel auf den Wischmopp.
»Ich brauche ein Kölsch.« Die gab es doch sicher im nächsten Späti.
Die Uhr verdeutlichte Tilly, dass es bereits fünf durch war. Sie zog ihr Smartphone hervor und wollte Maps öffnen, um sich navigieren zu lassen, als sie erstarrte.
Kein Netz.
Untertannberg tat wahrlich sein Bestes, ihr den Tag vollständig zu vermiesen. Sie verließ Plitz & Blank und eilte zu ihrem Wagen. Dieser stand brav an Ort und Stelle. Immerhin, hier hatte sie wieder Netz, wenn auch nur zwei Balken.
Mit dem Navi ließ sie sich zur Adresse lotsen, an der die Wohnung sein sollte, die zur Firma gehörte. Sie konnte sich noch gut an ihre anfängliche Freude erinnern. Der Kaufpreis war kein Vergleich zu den unsäglichen Kosten in Köln, Karlsruhe oder gar München. Endlich konnte sie sich etwas Großes zum kleinen Preis leisten.
Was das betraf, war Tilly vermutlich immerhin besser dran als bisher. In Köln hatte sie ein Einzimmerappartement bewohnt.
Sie lenkte den Wagen durch eine Gasse und fand sich im nächsten Augenblick mitten in der Fußgängerzone wieder. In der Ferne sah sie das Café Küchle. Aufgrund einer seltsamen Straßenführung aus Einbahnstraßen und Sackgassen musste sie einmal um die Fußgängerzone herumfahren, bis sie schließlich die Zielstraße erreichte.
»Das ist ja nett«, murmelte Tilly. »Dann liegt meine Wohnung quasi zentral.«
Wenn sie zu Fuß überallhin kam, war die Frage nach einer Ladesäule für ihr Auto gar nicht so dringlich. Das Navi wies sie darauf hin, dass ihr Ziel in unmittelbarer Nähe lag. Verwirrt schaute Tilly zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Hier gab es nur Läden.
Sie parkte in einer Seitengasse und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Ihr Smartphone wies ihr zielsicher den verbliebenen Weg.
Tilly stoppte.
Und starrte entsetzt auf ihre neue Wohnung.
Was Tilly so erschreckte, war nicht der Kerl, der im Eingang stand und sie mit einem offenen Lächeln begrüßte. Es war der Eingang selbst.
»Sie sind die Frau Blich?« Eine Hand streckte sich ihr entgegen. »Lunitz. Ludwig Lunitz.«
»Blich. Tilly Blich.« Sie ergriff seine Hand.
Herr Lunitz musste irgendwo in seinen Vierzigern sein. Er trug einfache Jeans, einen Pullover und darüber eine dünne Regenjacke. An der Wand in Sichtweite lehnte ein Fahrrad, auf dessen Gepäckträger eine Thermobox festgeschnallt war.
Er bemerkte ihren Blick. »Oh, keine Sorge. Ich fahre auch Essen fürs …«, er linste auf die Uhr, »… Eintöpfle aus.«
Tilly verstand zwar nicht, wieso er für den Namen der Gaststätte auf die Uhr schauen musste, aber gut. Hier war alles irgendwie anders.
»Außerdem bin ich der Postbote.« Er grinste breit. »Bin quasi Mädchen für alles.«
»Herr Lunitz …«
»Ludwig reicht«, unterbrach er sie.
»Tilly auch.« Sie deutete auf die Ladenfront vor ihnen. »Angeblich ist das hier meine Wohnung. Ich sehe aber nur diesen Friseurladen.«
»Ich verstehe deine Irritation.« Er nickte verständnisvoll. »Das ist die Wohnung.«
»Ich habe befürchtet, dass du das sagst.«
»Wollen wir?« Er ging voran.
»Müssen wir wohl.« Tilly folgte.
Sie hatte sich selbst immer als starke Persönlichkeit eingeschätzt, aber Untertannberg setzte alles daran, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Antonia hatte ihr empfohlen, sich endlich diese Meditations-App zuzulegen. Die war ursprünglich dazu gedacht gewesen, sie davon abzuhalten, ihren Ex-Chef nicht gleich mit dem Wischmopp zu verprügeln. Tilly hatte das Herunterladen und Zwangsmeditieren allerdings rundheraus abgelehnt. Bis heute.
Ludwig schob den Schlüssel in die Tür und drückte sie auf. Ein lautes Quietschen ließ Tilly zusammenfahren. »Der Tim Plitz hatte große Pläne mit dem Laden. Er wollte den irgendwie umbauen zu einem Loft. Aber dann ist er ja abgehauen.«
Und Tilly begriff langsam, warum.
Das Innere war komplett im Stil der Siebzigerjahre gehalten. Hinter der Tür wartete ein Hauptraum, in dem ein Holztisch stand. Der Boden war mit weißem fluffigem Zottelteppich ausgelegt. Die Tapete besaß an jeder Wand ein anderes psychedelisches Muster. Das Rot des Sofas war wie ein Warnschild in Großaufnahme. Linker Hand führte eine Wendeltreppe auf eine Galerie, von der aus man die Straße betrachten konnte.
Geradeaus ging eine schmale Treppe nach unten zu einer Küche. Sie erkannte einen Gasherd, alte Schränke und einen Kühlschrank im Retrochic, der schon fast wieder in war.
»Hat was«, meinte Ludwig.
»›Was‹ trifft es eindeutig.« Tilly fuhr mit dem Finger über den Tisch. Staub. Der Untertannberger Staub war überall.
Eine breite Treppe lag vor ihnen, sie führte in den hinteren Bereich, wo sich ein Schlafzimmer anfügte. Darin stand ein Wasserbett.
»Ist jetzt nicht wahr«, rief sie aus.
»Ich wollte ja auch immer so eins haben«, gab Ludwig zu. »Aber die sind ganz schön teuer.«
Tilly hätte ihm liebend gerne dieses hier angeboten, leider benötigte sie davor einen Ersatz.
Neben dem Bett erhob sich ein hüfthoher Tisch mit drei Beinen. Darauf stand eine Lavalampe. An der Decke hing eine Discokugel.
»Und das gehört jetzt alles mir?«, fragte sie, während sie den Schock noch verdaute.
»Herzlichen Glückwunsch.« Ludwig hielt ihr den Schlüssel entgegen.
Sie nahm ihn und nickte, darauf hoffend, dass er die Bewegung als »Danke« interpretierte.
»Es gibt auch noch Kellerräume, direkt neben dem Bad, die schmale Tür«, erklärte Ludwig. »Die Frau Pelz lässt schön grüßen. Oh, und ich habe dir den Kühlschrank aufgefüllt. Dachte, du hast bestimmt eine lange Fahrt hinter dir. So von Köln.«
»Das ist nett.« Fand Tilly wirklich. »Woher weißt du denn, dass ich aus Köln komme?«
»Hier bleibt nichts lange geheim. Untertannberg wirkt vielleicht wie eine Weltstadt, aber in Wahrheit herrscht hier immer noch die schöne Dorfmentalität.«
»Weltstadt«, echote Tilly. »Das war mein erster Gedanke.«
»Jaja, so geht das allen Besuchern.« Ludwig nickte gewichtig.
Tilly wusste, dass die Einwohner einer Stadt in der Regel einen gewissen Stolz mit ihr verbanden. War ihr in Köln irgendwie auch so gegangen. Selbst wenn man ständig den Dreck der Leute wegputzte, war es aber eben Kölner Dreck gewesen. Untertannberg als Weltstadt zu bezeichnen, war allerdings doch eine ziemliche Übertreibung.
In der Tasche von Ludwig summte es. Er zog sein Smartphone heraus. »Ich muss los. Da hat jemand das Töpfle-Menü-2 bestellt. Hab einen schönen ersten Abend. Und wenn was ist, melde dich gerne. Auf dem Tisch habe ich dir die wichtigsten Unterlagen hingelegt, meine Nummer habe ich dir auch aufgeschrieben.«
Damit verschwand Ludwig zur nächsten Auslieferungstour. Immerhin konnte Tilly sich selbst hier etwas zu essen liefern lassen. Sie gähnte.
Sie ging zurück zum Auto und zog als Erstes den Karton mit ihren wichtigsten Habseligkeiten heraus. Nur viermal musste sie gehen, schon hatte sie all ihren Hausstand in der Wohnung. Damit war sie offiziell angekommen.
Der Kühlschrank war prall gefüllt mit Maultaschen, Spätzle und verschiedenen Wurstsorten. Dazu hatte Ludwig ihr ein Schönbuchbräu und eine Flasche Wein in die Tür gestellt. Auf der Anrichte lagen zwei Brezeln.
»Kulturschock.« Tilly griff nach dem Wein. Glücklicherweise fand sie im Schrank ein paar verstaubte Tassen. Sie goss den Pinot Noir in eine davon und versuchte zu entziffern, was in verschnörkelten Lettern darauf geschrieben stand: Mr muss ’s nemma wie ’s kommt.
»Ich arbeite daran«, murmelte sie.
Bewaffnet mit der Weinflasche und der Tasse, stieg sie die Wendeltreppe hinauf. Hier stand eine Couch – glücklicherweise wirkte die eher »gewöhnlich«, nicht wie ihr rotes Gegenstück im Erdgeschoss –, gegenüber an der Wand ein klobiger Fernseher. Links zog sich das Schaufenster über die gesamte Front und gab den Blick auf die Straße frei. Gerade flackerten die Straßenlaternen auf.
Tilly stellte die Weinflasche ab, sank auf das Sofa und zog ihr Smartphone hervor. Kurz darauf klingelte es.
»Meine Lieblings-Blich«, erklang eine fröhliche Stimme.
»Ach Tony-Teufel, heute nicht«, gab Tilly müde zurück.
»Oh, so schlimm?«
Auch in Antonias Stimme lag ein Hauch von Müdigkeit. Vermutlich lagen nach ihrem achtstündigen Arbeitstag jetzt wieder die Unterlagen für das Jurastudium vor ihr. Die Energie ihrer besten Freundin war einfach grenzenlos. In einigen Jahren würde sie eine eigene Kanzlei besitzen, da war Tilly sicher.
»Ich sage nur: ›Reinigungsfirma in idyllischer Lage zu verkaufen. Umfangreicher Kundenstamm und engagierte Mitarbeiter.‹ War eindeutig übertrieben.«
Sie brachte Antonia auf den neuesten Stand.
»Willst du klagen?«, fragte die Freundin sofort.
»Ginge das denn?«
Kurzes Schweigen. »Eher nicht. Wir haben die Unterlagen ja geprüft, es liegt also keine arglistige Täuschung vor. Darüber hinaus müsste ich mir im Detail ansehen, ob wir irgendwo Regressansprüche geltend machen könnten.«
Tilly seufzte. »Ich zieh das jetzt durch. Ich bin Firmeninhaberin, in der Position muss man sich auch Herausforderungen stellen. Wie ging dieser Spruch mit den Dornen und den Chancen noch mal?«
»Dornen sind Probleme, hau ab, solange du noch Chancen auf Flucht hast?«, schlug Antonia vor.
»Tony«, mahnte Tilly.
»Ach Blichy, du weißt doch, dass ich dich wieder hier haben will.« Sie zog garantiert gerade eine Schnute. »Es ist so langweilig. Heute kam eine neue Creme rein, die hätte ich so gerne an dir ausprobiert.«
Tilly stellte sich öfter zum Testen für hochwertige Kosmetika zur Verfügung. Und das war nicht immer ohne Risiko. Einmal hatte sie drei Tage lang mit einem fiesen Ausschlag zu kämpfen gehabt, was zu ein paar gemeinen Bemerkungen vom Ex-Chef geführt hatte – seinen Namen würde Tilly nie wieder aussprechen. Zum Dank hatte sie ihm die Kaffeemaschine mit Essigreiniger geputzt und vergessen, selbigen am Ende aus dem Wassertank zu entfernen.
Sie lächelte bei dem Gedanken.
»Arbeitest du wieder zu viel?«, fragte Tilly.
»Immer. Du?«
»Ab morgen sicher.«
Sie seufzten beide.
»Aber die Einwohner sind ganz nett«, sagte Tilly. »Der Ludwig hat mir einen Wein dagelassen und immerhin hat der Leon versprochen, sich die nächsten Tage um die Computer und den wackelnden Schreibtisch zu kümmern.«
»Lass ihn nur nicht hinter dein Steuer«, kam es prompt von Antonia. Sie kicherte.
»Wenn ich hier keinen Platz zum Aufladen finde, habe ich sowieso ein Problem, dann fährt mein Kleiner nämlich bald nicht mehr«, erklärte Tilly.
»Wie lief denn der Abschied?«
»Oh, das.«
»Tilly«, sagte Antonia. »Sag mir bitte, dass es kein blutiges Ende genommen hat.«
»Nur wenn du die Spritzer Ketchup auf seiner Frikadelle mitrechnest«, erwiderte sie. »Es gab ein paar Gummihandschuhe auf den Schreibtisch – nachdem ich sie zum Reinigen benutzt hatte. Sei froh, dass ich auf den Wischmopp verzichtet habe.«
»Bin ich auch. Dauert nämlich noch, bis ich dich vor Gericht vertreten darf.« Antonia seufzte. »Es ist gut, dass du da raus bist. Eure ständigen Streitereien gingen so nicht weiter. Und diese gegenseitigen Attacken.«
»Du spielst jetzt aber nicht auf den Essigreiniger an?«
»Ehrlich gesagt, dachte ich eher an den Raumduft in der Deodose«, sagte Antonia. »Wie auch immer du das hinbekommen hast.«
Tilly kicherte. »Das war herrlich. Er hat den gesamten Tag nach Veilchen gestunken. Wie ein Edelpuff.« Darauf gönnte sie sich direkt noch einen großen Schluck Wein.
Vor dem Schaufenster flanierten Pärchen, Radfahrer sausten vorbei, Spaziergänger mit hochgezogenen Schultern stemmten sich gegen den Wind. Wie auf ein geheimes Kommando prasselten erste Regentropfen an die Scheibe des Friseursalons.
»Weißt du noch, seine Gegenattacke?«, drang es aus dem Hörer.
»Wie könnte ich die vergessen?«
Ihr Ex-Chef hatte Lebensmittelfarbe in den Zerstäuber des Glasreinigers gefüllt. Daraufhin hatte sich ein Drei-Stunden-Auftrag in eine Nachtschicht verwandelt, weil die Fensterscheibe mühsam doppelt gereinigt werden musste.
»Das war quasi ein Rosenkrieg ohne Rosen«, brachte Antonia es auf den Punkt. »Und deshalb ist es gut, dass du jetzt Chefin einer Reinigungsfirma mit einem engagierten Mitarbeiter bist. Damit komme ich zum Ende meines Plädoyers, Euer Ehren.«
Eines Tages würde Antonia im Gerichtssaal stehen und dem gegnerischen Anwalt ihre Argumente entgegenschmettern. Vermutlich dann aber ohne gleichzeitiges Nagelfeilen. Der konzentrierte Klang ihrer Stimme ließ daran keinen Zweifel.
»Du vergisst die Tatsache, dass ich keinen Cent mehr auf dem Konto habe und meine Firma nicht mal vernünftig ausstatten kann«, sagte Tilly.
»Ach was, ein paar Aufträge und es ist genug, damit du an die Arbeit gehen kannst.« Antonia wirkte überzeugt.
Ihre Energie und gute Laune waren ansteckend, und Tilly merkte, wie ihre verkrampften Muskeln sich zusehends entspannten. Möglicherweise war auch der Wein daran schuld, aber sie nahm, was sie kriegen konnte. »Tust du mir einen Gefallen?«
»Jeden. Mit Ausnahmen.«
»Schick mir ein Paket Kölsch«, bat sie. »Ich habe die Befürchtung, dass ich hier nur lokales Bier finde. Und sehr viele Maultaschen.«
»Alles klar. Ich packe auch noch ein Alt mit rein.«
»Antonia!«
»Nur ein Scherz«, wiegelte diese ab. »Du hältst die kölsche Ehre sogar im Ausland aufrecht. Also quasi im Aus-Bundesland.«
»Das Restaurant im Ort – und ich unterstelle, dass es nur eines gibt – heißt Eintöpfle.«
»Ist doch süß!«
»Finde ich auch. Morgen schaue ich mal vorbei.« Tilly nickte ihrem Spiegelbild in der dunklen Scheibe zu. »Und sobald ich es etwas wohnlicher habe, kommst du mich besuchen, ja?«
»Versprochen. Und jetzt widme ich mich wieder dem Polizei- und Ordnungsrecht.«
»Klingt spannend.«
»Sei froh, dass du in deinem Metier nicht mit Mord konfrontiert wirst.«
»Wer weiß«, sagte Tilly. »Als Reinigungskraft lebt man gefährlich. Aber ich habe ja meinen Wischmopp. Und falls doch mal etwas passiert, weiß ich, an wen ich mich wenden kann.«
»Bis bald, Lieblings-Blich.«
»Bis bald, Tony-Teufel.«
Es tutete hektisch, als die Verbindung unterbrochen wurde. Tilly schenkte sich noch einmal nach, beschloss aber, es bei dieser letzten Tasse zu belassen. Zur Feier des Tages hin oder her, morgen ging es richtig los. Sie hatte bereits ins Auftragsbuch geschaut, das Dorothea Pelz ihr geschickt hatte, und das Architekturbüro Krumm war der erste Kunde auf der Liste.
Davor galt es, das Büro auf Vordermann zu bringen und einige Erledigungen auf dem Bürgeramt abzuhaken. Darunter die Ummeldung. Wenigstens würde es hier nicht so eine lange Schlange geben wie in Köln. Das blieb zumindest zu hoffen.
Sie gähnte und stellte die Tasse ab.
Sekunden später war sie eingeschlafen.
Der kommende Morgen erwies sich als einer von der kopfschmerzlastigen Sorte. Tilly verfluchte sich selbst für die zweite Tasse Rotwein. Sie schüttete drei Gläser Wasser in sich hinein, vertilgte eine Brezel und verließ ihr neues Domizil.
Für das heraufziehende Wochenende nahm sie sich vor, alles hier zu putzen. Insbesondere auf der Fensterscheibe mit der Aufschrift Plitz & Blank hatte sich eine dicke Dreckschicht angesammelt.
Sie erreichte den Laden, schob den Schlüssel ins Schloss und knallte gegen die Tür, weil die sich nicht bewegte. In Erinnerung an Dorothea Pelz warf sie sich mit der Schulter dagegen und ruckelte so lange daran, bis der Spalt breit genug war, um eintreten zu können.
»Die Liste wird immer länger und länger.«
Tilly stellte ihre Tasche ab und begab sich auf die Suche nach der Kaffeemaschine. Zumindest die musste es hier geben. Die Küche war ein schmaler Raum von wenigen Metern Länge. Die Kaffeemaschine sah aus, als hätten Generationen von Bakterien dort ihr Leben verbracht, um dann im hohen Alter zu sterben und der nächsten Generation das Feld zu überlassen.
Tilly schnappte sich den Essigreiniger und schrubbte alles ordentlich. Kaffeepulver war vorhanden, Filter ebenso. Fünf Minuten später lag der Duft einer frisch aufgebrühten Röstung in der Luft.
So musste der Morgen beginnen. Sie war sicher, mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Nugatschokolade konnte sie sich allem stellen.
Ein Scheppern erklang.
Tilly runzelte die Stirn. »Hallo?!«
Hinter der Tür zum rückwärtigen Bereich, den sie noch nicht vollständig durchsucht hatte, rumorte es. Die Tür wurde geöffnet.
»Leon. Du bist aber früh dran.« Tilly starrte den Teenager verdutzt an.
»Ja. Ich wollte mich hier ja um einiges kümmern.« Seine Wangen nahmen einen dezenten Rotton an. »Putzen und so.«
Jemand trat neben ihm durch die Tür. »Hi. Ich bin Patrick Stubs. Wir haben …«
»Verstehe«, sagte sie. »Geputzt.«
»Richtig.«
Der junge Mann war etwa im gleichen Alter wie Leon. Vermutlich ein Klassenkamerad. Und wenn Tilly eines sofort erkannte, dann, dass die beiden definitiv nicht geputzt hatten.
»Also …«, setzte Leon an.
»Ich komme aus Köln«, stellte Tilly klar. »Mir ist bewusst, dass ihr nicht den Wischmopp geschwungen habt.«
Damit hatte sie zwei Tomaten vor sich. Rote Wangen, betretene Blicke. Wie verhielt man sich in so einem Fall? Beide waren schließlich volljährig. Trotzdem war Tillys neue Firma keine Knutschbude. Aber das musste sie mit Leon allein besprechen. »Wollt ihr einen Kaffee?«
Beide entspannten sich sichtlich.
»Gerne«, sagte Patrick.
Tilly ging zur Küche und schenkte ihnen allen eine Tasse ein. »Und ihr habt Freistunde?«
»Japp«, erwiderte Leon ein wenig zu schnell.
Tilly verdrehte die Augen. »Leon.«
»Boah, es ist nur Deutsch«, gab er zurück.
»Nur Deutsch«, echote sie. »Ich kann mir vorstellen, was eure Eltern dazu sagen würden.«
Patrick zuckte zusammen. »Mein Vater würde ausrasten. Er sagt immer, dass ich einen Einserschnitt im Abi brauche, wenn ich in seine Fußstapfen treten will. Aber das will ich eigentlich gar nicht.« Er warf fünf Stück Würfelzucker in seine Tasse und hielt Leon die Packung hin.
Der lehnte ab und trank seinen Kaffee schwarz. Lange kannten die beiden sich also noch nicht auf die Art.
»Was macht dein Vater denn beruflich?«, fragte Tilly.
Sie hatte einen Schuss Milch in ihre Tasse gegeben und genoss den emporsteigenden Duft. Eines schien ihr nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden in Untertannberg eindeutig: Langweilig würde es hier nicht werden.
»Er ist der Kriminalhauptkommissar«, sagte Patrick.
Womit sie also den Beifahrer des Unfalls vor sich hatte. »Na, mit dem habe ich eher weniger zu tun.« Tilly trank einen Schluck. »Die haben laut der krakeligen Unterlagen, die mein Vorgänger mir hinterlassen hat, eine andere Reinigungskraft.«
Sie würde heute einen Zeitplan aufstellen, damit sie die Aufträge sauber notieren und Leon einlernen konnte. Für heute stand wenigstens erst gegen Abend etwas an.
»Wie war das eigentlich in der Zwischenzeit?«, fragte Tilly. »Seit der Herr Plitz verschwunden ist, hat ja niemand mehr bei all den Kunden geputzt.«
Leon hatte seinen Kaffee bereits inhaliert und schenkte sich nach. »Die Frau Pelz hat eine Übergangskraft kommen lassen. Sie wollte die Kunden erhalten, damit die Firma nicht an Wert einbüßt.« Er grinste rotzfrech. »Damit auch ja alles State of the Art bleibt.«
»Wir kriegen das beide schon hin«, sagte Tilly zuckersüß. »Das bedeutet ganz viel putzen in naher Zukunft.«
Sein Grinsen verschwand, als hätte sie einen Schalter umgelegt.
Aus dem Hauptraum erklang ein Scheppern. Irgendjemand war gegen die Tür geknallt.
»Und die müssen wir irgendwie ölen«, sagte Tilly im Hinausgehen. »Neue Scharniere wären auch nicht schlecht.«
Es ruckelte, die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Im nächsten Augenblick schoss ein pelziges Bündel auf vier Pfoten durch den Raum, fand eine Lücke im umlaufenden Tresen und beschnupperte alles euphorisch. Schließlich rannte der Hund zwischen Leon, Patrick und Tilly hin und her.
»Wie süß!«, rief Leon.
Er ging in die Knie und gab ihm ein paar Streicheleinheiten.
Das Tier hatte Fell, das ihm viel zu groß war. Was vermutlich daran lag, dass es sich um einen Welpen handelte. Die Schlappohren hingen bis zum Boden. Eine weiß-braune Maserung überzog den kleinen Körper.
»Guten Morgen«, erklang eine Stimme.
Tilly sah auf. Es gelang ihr gerade noch, ihre Kinnlade nicht herunterfallen zu lassen. Im Eingangsbereich stand ein Kerl mit breiten Schultern, dunklem Haar und Dreitagebart. Er trug Jeans und Turnschuhe, darüber einen Pullover. Lachfalten umrahmten seine Augen.
»Deichfalls«, brachte sie hervor. »Ich meine, gleichfalls.«
»Sie sind die neue Chefin von Plitz & Blank, Frau Blich, richtig?«
»Absolut.« Sie fing sich wieder. »Und Sie sind?«
Er streckte die Hand aus. »Sascha Neumann. Ich habe eine Hundezucht hier im Ort.«
Der pelzige Minihund hatte sich mittlerweile auf den Rücken gedreht, alle viere von sich gestreckt und ließ sich von Leon und Patrick den Bauch kraulen.
»Das ist ein ganz entzückender Hund«, versicherte Tilly.
»Freut mich, dass Sie das sagen«, erwiderte Herr Neumann. »Er ist ein reinrassiger Basset. Und genau genommen ist es nicht meiner, sondern Ihrer.«
Tilly benötigte einen Augenblick, um die Worte vollständig zu realisieren. »Bitte was?«
»Ihr Vorgänger, der Herr Plitz, wollte unbedingt einen haben«, erklärte Herr Neumann. »Und um Steuern zu sparen, hat er den irgendwie über die Firma gekauft. Hat angegeben, dass es das neue Maskottchen wird. Ging wohl sogar durch. Auf jeden Fall ist alles bezahlt, und Sie sind die neue Inhaberin, darum gehört der Racker Ihnen.«
»Mir«, echote Tilly.
»Ihnen.«
»Der Hund.«
»Exakt.« Sascha blickte liebevoll zu dem Krümel hinüber. »Ich habe Ihnen natürlich auch das richtige Futter, Leinen und ein Hundekörbchen mitgebracht. Und eine genaue Anleitung, wie oft sie ihn füttern sollten.«
Tilly schluckte. Wie kam sie aus der Nummer nur wieder heraus? Sie hatte noch nie ein Tier gehabt. Was, wenn sie etwas falsch machte? Und woher sollte sie die Zeit nehmen? Schließlich konnte sie den Hund nicht einfach zur Arbeit … eigentlich konnte sie doch, sie war ja die Chefin.
»Den Blick kenne ich«, sagte Sascha sanft.
Tilly bekam eine Gänsehaut. »Ach ja?« Vermutlich wurde er oft angestarrt. Wie peinlich!
»Sie fühlen sich überfordert«, erwiderte er. »Das geht werdenden Eltern immer so. Und im Prinzip ist so ein kleines Kerlchen wie Familienzuwachs.«
Ach ja, er sprach von dem Hund. »Das stimmt.«
»Was halten Sie davon«, sagte er einfühlsam und schenkte ihr einen Gänsehaut-Blick aus tiefbraunen Augen. »Sie gewöhnen sich erst mal an ihn, und ich schaue einmal am Tag vorbei. Außerdem biete ich jeden Donnerstag Hundetraining auf der Wiese bei meinem Haus an. Entgegen aller Gerüchte kann ein Basset nämlich durchaus erzogen werden. Wie klingt das?«
»Gut.« Alles, was er sagte, klang gut. Moment, hatte sie gerade zugestimmt?
»Wunderbar.« Herr Neumann klatschte in die Hände, was Tilly aus ihrer Trance befreite. »Ich hole den Futtersack und die übrigen Sachen.«
Er ging zur Eingangstür und schob sich durch den Spalt. Für einige Sekunden blieb Tillys Blick auf seinem knackigen Hintern ruhen. Als sie sich umdrehte, grinsten Leon und Patrick sie an.
»Was?«, fragte sie.
»Jeder findet ihn scharf«, sagte ihre neue sehr engagierte Reinigungshilfskraft. »Wir auch.«
Tilly schnaubte. »Er ist nett.«
»Und sein Knackarsch erst«, ergänzte Leon verträumt.
»Schluss damit«, verlangte sie.
An welcher Stelle war sie eigentlich falsch abgebogen? Ihr Ausruf schien ein gewisser pelziger Vierbeiner auf jeden Fall fälschlicherweise als Kommando zu verstehen. Prompt flitzte er zu Tilly, beschnupperte ihre Beine und wedelte mit dem Schwanz. Sie hielt ihm die Hand hin, dann kraulte sie sein Fell.
»Du bist ganz schlimm«, sagte sie. »Bestimmt kann man dir nichts abschlagen. Aber damit du es weißt, ich werde eine total strenge Hundemama sein. Da kenne ich gar nichts. Findet ihr nicht auch, er sieht ein wenig abgemagert aus? Sollen wir ihn gleich füttern?«
»Ich sehe schon, in wenigen Tagen wird aus dem Basset ein Mops«, bemerkte Leon.
»Du bekommst gleich Doppelschichten, mein Lieber.«
»Geht nicht.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Die Freistunde nähert sich leider, leider dem Ende.«
Patrick neben ihm nickte. »Und es steht Mathe an. Da dürfen wir nicht zu spät kommen.«
»Ihr mögt Mathe, könnt Deutsch aber nicht leiden?«, fragte Tilly, während ihre Hand weiter den Hundebauch massierte.
Sascha zwängte sich durch die Tür zurück in den Raum.
»Wie heißt das Kerlchen eigentlich?«, fragte Tilly.
»Wir müssen dann mal los«, fiel Leon ihr ins Wort. »Aber heute Nachmittag komme ich wieder. Ach, du brauchst dringend eine Sekretärin, das Telefon hat schon dreimal geklingelt.«
»Muffin«, sagte Sascha.
»Das ist ja nett, wäre aber nicht nötig gewesen.« Das freute Tilly jetzt doch, sie hatte ein wenig Hunger.
»Der Hund«, sagte Sascha.
»Was ist mit ihm?«
»Sein Name ist Muffin.« Muskulöse Oberarme zeichneten sich unter dem Pulli ab, als er den Sack mit dem Essen abstellte.
»Keine Ahnung, wer dran war«, sagte Leon. »Bin ja nicht ran gegangen. Ich soll hier ja putzen und nicht Sekretär spielen.«
»Arbeitsmoral: sechs«, kommentierte Tilly. »Der Hund heißt wirklich Muffin?«
Die beiden Jungs – mochten sie tausendmal volljährig sein, Tilly konnte sie einfach nicht als Männer bezeichnen – winkten ihr zum Abschied zu.
»Das ist der M-Wurf«, erklärte Sascha. »Alle Namen beginnen mit dem Buchstaben M. Und Herr Plitz hatte sich Muffin ausgesucht.«
Womit Tilly leben konnte.
Der Winzling hatte mittlerweile den Futtersack bemerkt, sprang auf ihn zu und kratzte mit den Krallen über die Verpackung.
»Seien Sie vorsichtig«, warnte Herr Neumann. »Das können die tagelang machen, und am Ende ist ein Loch drin. Bassets sind überaus geschickt, wenn es darum geht, Essen zu stibitzen.«
»Keine Sorge«, sagte Tilly. »Ich werde eine knallharte Hundemama sein.«
Unverschämterweise wirkte Herr Neumann jetzt skeptisch. »Ich drücke Ihnen die Daumen.« Er schmunzelte.
Woraufhin Tilly ihm nicht mehr böse war. »Sie werden schon sehen, das wird was mit uns beiden.« Ihre Wangen wurden heiß. »Also mit Muffin und mir. Ich mag Muffins. Hunde. Hunde und Muffins. Ich muss jetzt arbeiten.« So also fühlte sich ein Auffahrunfall mit Worten an.
Herr Neumann schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln, legte ihr im Hinausgehen alle Unterlagen auf den Tisch und ruckelte die Tür hinter sich zu.
Stille breitete sich aus, nur unterbrochen vom Kratzen kleiner Krallen am Futtersack.
»Also wir beide, hm?«
Muffin sah kurz zu ihr auf, schenkte ihr einen Herzschmelz-Blick, jaulte und kratzte weiter. Glücklicherweise wirkte der Futtersack robust.
»Dieser Plitz war schon ein Mistkerl«, sagte Tilly. »Haut einfach ab und lässt Frau, Hund und Firma im Stich. Aber gut. Eine Blich hat noch nie aufgegeben.«
Sie stellte das Hundekörbchen auf, dessen Innenseite total flauschig war. Muffin linste kurz herüber, ließ sich ansonsten aber nicht von seiner Mission abbringen.
Tilly schnappte sich den Futtersack und verstaute ihn mit den Reinigungsgeräten im Schrank. Als das Ziel seiner Sehnsucht hinter einer wackeligen Holztür verschwand, begann Muffin mit der Erkundung seines neuen Reviers.