Ein böses Haus - Gabriella Wollenhaupt - E-Book

Ein böses Haus E-Book

Gabriella Wollenhaupt

0,0

Beschreibung

Eine zehnjährige Mörderin, die nicht strafmündig ist. Eine junge Frau, die die Wahrheit sucht. Und ein Kriminalkommissar, der den Verstand verliert. Hat die zehnjährige Lilli ihre schlafende Mutter mit mehreren Messerstichen getötet?Die Spurenlage lässt keinen anderen Schluss zu, aber die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein – denn Lilli schweigt und ist nicht strafmündig. Alix, die Schwester der Toten, zweifelt an der Schuld ihrer Nichte und recherchiert auf eigene Faust unter den Nachbarn der Verstorbenen. Nach und nach wird Alix klar, dass das Motiv für den Mord in der Vergangenheit ihrer Schwester liegen muss – und dass einige der Mieter kein Interesse daran haben, dass es gefunden wird …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 245

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriella Wollenhaupt

Ein böses Haus

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase/.marqs

Lektorat: Ulrike Rodi

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-98708-006-7

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, hat viele Jahre als Redakteurin bei Zeitung, Radio und Fernsehen gearbeitet und sich mit dreißig Kriminalromanen um die legendäre Kultreporterin Maria Grappa in die Herzen einer großen Leserschaft geschrieben. Zusammen mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz schreibt sie zudem historische und zeitgenössische Kriminalromane.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras, es blühet wie eine Blume auf dem Felde. Aber wenn der Wind darüber geht, ist sie nicht mehr da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.

Der falsche Job

Die liebe Sonne näherte sich dem Horizont. Der Abendhimmel war mit Schäfchenwolken überzogen. Eine leichte Brise bewegte die Wellen des Tyrrhenischen Meeres.

Wir saßen im Garten der Casa Marcella bei Wein, Wasser und Kerzenlicht und blickten auf die Insel Capri, den Sehnsuchtsort gestresster Touristen mittleren Alters.

Plötzlich ein Krächzen. Eine Krähe kreiste über uns. Merkwürdig, dachte ich, eigentlich war es die Zeit der kleinen Fledermäuse, die die Felsspalten der Amalfiküste verließen, um Insekten zu jagen.

»Die Krähe hat etwas Glitzerndes im Schnabel«, stellte er fest.

Pling. Der Vogel hatte etwas auf unseren Tisch fallen lassen.

Kleist hob die Kerze und suchte den Tisch ab.

»Das ist ein Ring«, stellte er erstaunt fest. Er nahm ihn und hielt ihn ins Licht: ein schmaler goldener Reif mit einem roten Stein. Schlicht und elegant.

»Wie schön!«, entfuhr es mir.

Er nahm meine Hand und streifte mir den Ring über. »Er steht dir gut, Maria«, sagte er zärtlich.

»Ja, ich heirate dich«, sagte ich.

Später am Abend blickten wir versonnen aufs Meer, Hand in Hand. Der stille Mond lächelte.

Wütend schleudere ich die Seiten des Manuskripts Richtung Wand. Warum nur glauben so viele Menschen, sie müssten ein Buch schreiben? Die Blätter trudeln langsam durch die Luft und verteilen sich auf dem Parkett.

Einige schweben unter mein Bett. Dort finden sie ewige Ruhe, denn Putzen ist nicht meine Disziplin.

Warum mache ich das?

Was für ein kitschiger Text! Die Rechtschreibfehler hat das Korrekturprogramm schon gekillt, aber das macht das Ganze nicht besser.

Warum, zum Teufel, habe ich mich als freie Lektorin selbstständig gemacht? Warum habe ich den Lehrerjob ausgeschlagen?

Nun lasse ich mich für fünf Euro pro Seite mit Kitsch, schlechtem Deutsch und misslungenen Vergleichen quälen. Habe ich wirklich erwartet, einen Text von einem Autor zu bekommen, den ich selbst freiwillig lesen würde? Mein Honorar ist ein Schmerzensgeld. Spätfolgen für mein Ego sind noch nicht abzusehen. Ich muss da wieder raus, und zwar schnell!

Seufzend sammle ich die Seiten nun doch zusammen und sortiere sie in die richtige Reihenfolge. Dann hole ich mir aus der Küche einen Kaffee. Langsam schwindet mein Ärger.

Es ist früh und draußen auf der Straße herrscht noch relative Ruhe. Eine Stunde später wird die Knochensäge im ebenerdigen Metzgerladen dafür sorgen, dass schlagartig alle Mieter in ihren Betten senkrecht sitzen.

Ich schäume Milch auf und gieße sie langsam in den Kaffee. Träge vermischen sich Weiß und Schwarz in ein sanftes Braun.

Diese Mischung steigert die Gehirnaktivität und verursacht einen Energieschub. Außerdem soll sie nach einer neuen Studie beim Abnehmen helfen. Die Untersuchung ist bestimmt von der Kaffeeindustrie bezahlt worden.

Ich schaue aus dem Fenster. Der Frühling kommt in diesem Jahr spät, setzt sich aber langsam durch. Die Bäume lassen zartes Grün sehen, Radfahrer treten mit nackten Waden in die Pedale und Cabriofahrer steuern stolz mit Braut in Richtung City.

Ich dusche, kleide mich an. Die Schminke lasse ich weg, interessiert eh keinen. Je näher ich der Haustür komme, desto lauter schreit die Knochensäge.

Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiih …

Schon wieder ist ein Schwein in zwei Hälften zerteilt. Seit mir der Metzger – im Internet nennt er sich Fleischsommelier – mit blutbesudelter Schürze begegnete, ist mein Fleischkonsum stark geschrumpft.

Ich laufe die Treppe hinunter. Hinter meinem Briefschlitz stapeln sich Werbung, Briefe und Abholscheine für Päckchen. Ich sortiere die Papiere.

»Frau Alix David?«, fragt eine Stimme.

Zu der Stimme gehört ein Mann. Groß, mit schwarzem Vollbart, Jeans und Sweatshirt. Ein Typ, wie er in den kitschigen Manuskripten auf meinem Schreibtisch vorkommt.

»Sind Sie Frau David?«, wiederholt er.

»Wer will das wissen?«

»Hauptkommissar Luis Wunderlich. Mordkommission.« Er zeigt eine Polizeimarke.

»Mordkommission? Wen habe ich umgebracht?«

»Das will ich von Ihnen wissen«, kontert er. »Vielleicht Ihre Schwester?«

Mit einem Messer

Eine halbe Stunde später sitze ich in einem Verhörraum im Dortmunder Polizeipräsidium. Vor mir ein Pott mit Kaffee. Lauwarm.

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Ihre Schwester Frau Marion Ziegler ist Opfer eines Angriffs geworden. Sie ist tot.«

Er wartet.

Ich warte.

An der Wand tickt eine Uhr. Er lässt mich nicht aus den Augen. Sie sind dunkelgrün mit braunen Flecken.

»Wie ist das passiert?«, frage ich.

»Vergangene Nacht sind Kollegen vom Nachtdienst informiert worden, dass ein kleines Mädchen auf einer Bank an der U-Bahn-Haltestelle an der Hohen Straße sitzt. Das Kind trug einen Schlafanzug, der voll Blut war. In der Notaufnahme der Klinik stellten die Ärzte fest, dass das Mädchen unversehrt ist, also das Blut nicht von ihm stammt.«

Er legt mir ein Foto vor. »Das ist Lilli.«

Ich fröstele. Die Uhr tickt immer lauter. »Lilli ist meine Nichte.«

»Das dachte ich mir schon, dass Sie ihre Tante sind.« Wunderlich fixiert mich. Er hat wohl Spaß daran, Informationen nur in kleinen Häppchen zu servieren.

»Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen?«

»Das ist schon einige Monate her. Wir verstehen uns nicht so gut. Und jetzt sagen Sie mir endlich, was passiert ist! Wer hat Marion angegriffen? Woher kommt das viele Blut? Und … war Lilli dabei?«

Wunderlich schlägt die Beine übereinander. Er lässt sich Zeit. In den meisten Liebesromanen, die ich lesen muss, kommt diese Geste häufig vor, als Beweis für die coole Überlegenheit der männlichen Hauptfigur. Spätestens dann bekommt die weibliche Heldin weiche Knie.

Bei Wunderlich sieht es nur arrogant und rotzfrech aus. »Sie haben zwei verschiedene Socken an«, bemerke ich.

Er schaut mich irritiert an, runzelt die Stirn. Ich deute auf seine Füße. »Einen bunten und einen schwarzen Strumpf.«

»Oh, das tut mir leid«, stammelt er. »Es musste schnell gehen heute früh.«

»Kein Problem«, lächele ich.

Er nimmt eine Akte vom Papierstapel auf seinem Schreibtisch. »Lilli wurde an einer Haltestelle aufgegriffen, wie Sie ja bereits wissen, sie war körperlich unverletzt. Alle Versuche, das Mädchen anzusprechen, scheiterten. Sie verriet weder ihren Namen noch, was passiert ist. Wir starteten eine Personenfahndung mit Lillis Foto in den Nachrichtenprogrammen der Fernsehsender, den sozialen Medien und den Zeitungen. Sie haben davon nichts mitbekommen?«

»So ist es. Ich hatte zu viel Arbeit.«

»Ah ja. Man ist ja nicht verpflichtet, sich für das zu interessieren, was in der Welt so passiert. Darf ich fragen, welcher Arbeit Sie nachgehen, Frau David?«

»Ich beschäftige mich mit Texten«, sage ich knapp. »Es hat also jemand auf die Personenfahndung reagiert?«

Mehrere Polizeisirenen ertönen. Wunderlich geht zum Fenster und schließt es. »Friedensdemo am Rathaus«, erklärt er, »inklusive Neonazis und Autonomen. Das hört immer noch nicht auf. Wollen Sie noch einen Kaffee?«

»Nein, der erste war schon schlecht genug.«

Er grinst und setzt sich wieder.

»Eine Frau, die im Haus des Mordopfers … also, Ihrer Schwester … wohnt, hat sich gemeldet. Sie hat Lilli auf einem der Fotos erkannt. Leider haben sich viele Bürger gemeldet und wir konnten nicht zeitnah reagieren. Die Zeugin hatte aber einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Schwester und hat die Leiche gefunden. Der Polizeiarzt stellte fest, dass das Opfer mit mehreren Messerstichen getötet worden ist.«

Ich schlucke und mir wird heiß. »War Lilli dabei, als Marion ermordet wurde?«

»Das wissen wir noch nicht. Vielleicht war sie dabei oder sie kam später dazu. Das Blut stammt von Ihrer Schwester – das hat ein schneller Bluttest ergeben. Weitere Ergebnisse stehen noch aus.«

»Und Lilli? Was hat sie Ihnen gesagt, als sie gefunden wurde?«

Wunderlich seufzt. »Sie schweigt. Sie hat uns noch nicht mal ihren Namen gesagt oder nach ihrer Mama gefragt. Sie ist völlig traumatisiert. Wir haben sie in die Kinderpsychiatrie gebracht, dort wird sie betreut.«

»Gibt es andere Zeugen?«

»Vielleicht. Wir sind erst am Anfang.« Wunderlich zieht ein Foto aus der Akte und reicht es mir. »Das ist das Haus, in dem Ihre Schwester gewohnt hat. Eine gute Gegend – Künstler, Akademiker und junge Leute. Nur fünfhundert Meter bis zur City, dreihundert Meter bis zum Klinikum und vierhundert Meter bis zum Stadttheater. Ältere Häuser, die in moderne und teure Eigentumswohnungen umgewandelt wurden, die sich kaum jemand leisten kann.«

»Ich kenne die Gegend«, nicke ich. »Das Kreuzviertel. Dort einen Parkplatz zu finden grenzt an ein Wunder, und wenn die Stadt Geld braucht, schickt sie ihre Truppe vom Ordnungsamt los und lässt abkassieren.«

Pause. Vielleicht gehen ihm die Fragen aus. Er mustert mich. In seinem Blick kämpfen Misstrauen und Interesse miteinander. Vermutlich verhalte ich mich nicht so, wie er es von trauernden Angehörigen eines Mordopfers gewohnt ist.

»Wissen Sie, wer der Vater von Lilli ist?«, lässt er die Katze aus dem Sack. »Beim Standesamt hat Ihre Schwester den Namen des Vaters nicht angegeben.«

»Ich habe keine Ahnung«, sage ich. »Und jetzt möchte ich meine Schwester sehen.«

»Mit wem war Ihre Schwester denn vor zehn Jahren liiert?«

»Sie hat nie darüber gesprochen.«

»Schade.« Wunderlich kratzt sich den Vollbart. »Kommen Sie. Wir gehen in die Rechtsmedizin.«

Eine letzte Station

Das Gerichtsmedizinische Institut befindet sich im Keller des Polizeipräsidiums. Das ist nichts Besonderes, denn Tote brauchen kein Licht und keine Betreuung. Wenn ihre Reste untersucht werden, zieht man sie aus Schubladen ins künstliche Licht. Dann werden die hellen Lampen eingeschaltet und man sieht jede Hautschuppe, jede Verletzung und Unebenheit. In Fernsehkrimis werden die Toten aufgedeckt und der Zuschauer blickt auf eine Naht inmitten des Oberkörpers.

Der Gerichtmediziner zieht das Laken weg. Da liegt sie. Marion, meine Schwester. Ich erkenne sie kaum wieder. Wächserne Haut, die Augen geschlossen, die Haare abrasiert, die mit groben Stichen zusammengefügte Naht, die über dem Schambereich endet, und viele Wunden in Oberkörper und Bauch.

»Ja, das ist Marion«, flüstere ich. »Ist sie sexuell missbraucht worden?«

Der Mediziner verneint. »Es gibt zwei Messerstiche, die die Baucharterie getroffen haben. Als die Zeugin, die die Frau gefunden hat, das Messer herausgezogen hat, ist das Opfer innerlich verblutet. Das ist ein Fehler, der immer wieder gemacht wird. Das Messer muss unbedingt in der Wunde bleiben, denn es wirkt wie eine Art Stöpsel.«

»Kann es sein, dass der Täter gewusst hat, wo die Schlüssel liegen, und so in die Wohnung gelangt ist?«, frage ich.

Wunderlich greift ein: »Das werden die weiteren Recherchen ergeben. Sie müssen sich noch etwas gedulden, Frau David.«

Er zückt ein Heftchen und schreibt etwas hinein.

»Was war Ihre Schwester von Beruf?«, fragt er dann.

»Sie war zuletzt arbeitslos, soviel ich weiß. Davor hat sie im Klinikum als medizinische Fachangestellte gearbeitet. Es tut mir sehr leid.«

»Was tut Ihnen leid?«

»Dass Marion und ich uns auseinandergelebt haben.«

»Gab es einen Grund dafür?«

»Es ist einfach so passiert.«

Ich hasse Leute, die mich mit Fragen traktieren, auf die ich keine Antwort geben will.

Die Tür zur Leichenhalle wird aufgedrückt. Der Mediziner führt eine Frau herein. Sie trägt einen Mantel mit Blumenmotiven und eine Baskenmütze, unter der blonde Haare hervorquellen.

»Mein herzliches Beileid«, sagt sie und greift nach meinem Arm. »Ich bin Frau Bergmann. Sie sind Marions Schwester, nicht wahr?«

»Frau Bergmann hat Ihre Schwester gefunden, nachdem sie Lillis Foto im Internet gesehen hat«, erklärt Wunderlich. »Mit dem Schlüssel aus dem Blumentopf ist sie in die Wohnung rein und hat uns sofort informiert.«

»Ich war so entsetzt und aufgeregt, dass ich das Messer angefasst habe«, sagt Bergmann. »Ich wusste nicht, dass man das nicht machen soll. Sie hätte ja auch noch leben können. Es tut mir so leid.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie war nicht mehr zu retten«, beruhigt der Arzt. »Die Stiche haben sie schnell getötet.«

Bergmann greift in ihre Handtasche und zieht einen kleinen Blumenstrauß hervor. Sie legt ihn neben Marions Kopf, nimmt ihre Hand und flüstert etwas. Ihre Augen sind geschlossen und der Ton ihrer Stimme hat etwas Gebetsähnliches.

Durch ein kleines Fenster fällt Licht auf die Szene. Marion wirkt viel älter, als sie ist. Der Alkohol hat seine Spuren hinterlassen.

»Was passiert jetzt mit ihr?«, frage ich.

»Wenn die Behörden die Leiche freigegeben haben, kann sie bestattet werden«, erklärt Wunderlich. »Sie werden dann informiert.«

Neben mir schluchzt Frau Bergmann. Ich schäme mich fast, dass ich nicht weinen kann. Ich fühle nichts.

»Rufen Sie mich doch mal an.« Frau Bergmann reicht mir eine Visitenkarte. »Dann erzähle ich Ihnen vom Leben Ihrer Schwester und Ihrer Nichte. Gut, dass der Kleinen nichts passiert ist.«

Wunderlich bietet an, mich nach Hause zu fahren.

»Nein, danke«, lehne ich ab. »Ich brauche frische Luft.«

Fußball und Familie

Es ist ein milder Abend. Menschen wimmeln in alle Richtungen. Motorenlärm, Bremsenquietschen und mehrere Polizeiwagen mit Martinshorn. Borussia Dortmund hat ein Freundschaftsspiel gegen wen auch immer. Angeheiterte Fans in Schwarz-Gelb kommen mir entgegen – manche haben schon vorgeglüht in den Kneipen rundherum. Nach der Corona-Pandemie sehnt sich jeder nach lauem Glück. Mir ist das zu laut und zu viel. Die Burger-Buden haben aufgerüstet, um die Fans nach dem Spiel mit Essen und Alkohol zu versorgen.

Die Polizeiwagen warten in Parkbuchten auf Kunden und Taxis auf Gäste. Ich nehme ein Taxi. Es quält sich durch den Feierabendverkehr und liefert mich vor dem Haus ab, in dem ich wohne. Die Metzgerei ist geschlossen, sodass mir wenigstens für den Rest des Tages die Knochensäge erspart bleibt. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich total erschöpft bin.

In meiner Wohnung öffne ich eine Flasche Wein, drehe die Heizung hoch und suche nach den Fotoalben. Unsere Mutter hat sie vor vielen Jahren angelegt, Bilder eingeklebt und mit der Jahreszahl und einem Titel versehen. Sie hat sie mir übergeben, bevor sie starb, doch sie haben mich nie interessiert.

Ich finde die Alben, schleppe sie ins Wohnzimmer. Dann öffne ich den ersten Band. Vierzig Jahre zurück, Marion als Baby. Unsere Mutter als junge, glückliche Frau und Marions hellblonder Vater, den ich nie kennengelernt habe. Zehn Jahre später liege ich in Mutters Armen, winzig, schwarzhaarig und mit mürrischem Gesicht. Im Kinderhort, Einschulung und beim Ponyreiten. Ich lasse ein Foto nach dem anderen an mir vorbeiziehen und versuche, ein paar Erinnerungsfetzen zu erwischen. Die Fotos, die Marion zeigen, werden mit den Jahren immer weniger, ihr Vater taucht gar nicht mehr auf, Mama hat ihn kurz nach Marions Geburt verlassen.

Sie heiratet meinen Vater, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte. Er interessiert sich nicht besonders für mich. Seine apodiktischen Anweisungen führen in meiner Pubertät zu heftigen Auseinandersetzungen mit ihm und ich bin früh von zu Hause ausgezogen. Dadurch entspannt sich unser Verhältnis, besonders als Mama an Krebs stirbt. Nach drei Jahren folgt er ihr.

Jeder, der ihn gekannt hat, behauptet, ich sei sein weibliches Ebenbild. Groß, kurze schwarze Haare, gerade Haltung und eine ansehnliche Figur. Die blauen Augen leicht schräg, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Inzwischen bin ich dreißig, habe ein abgeschlossenes Studium der Germanistik und keinen sicheren Job. Seit vielen Monaten schlage ich mich irgendwie durch. Ich habe im Winter Weihnachtsbäume verkauft, Altkleider sortiert, Pommes frittiert und Kinder gehütet. Letzteres hat mich fast an den Rand des Wahnsinns gebracht.

Ich lege die Alben beiseite und trinke die Flasche Grüner Veltliner leer. Mein Gemüt hat sich erholt, ich bin nur noch müde und sehne mich nach meinem Bett. Manchmal ist Alkohol eben doch eine Lösung. Bevor ich einschlafe, fällt mir ein, dass Marion mich immer Lixi genannt hat.

Farbe eines Hasen

Am Morgen weckt mich Hauptkommissar Luis Wunderlich. »Die Spurensicherung hat ihre Arbeit beendet. Die Wohnung Ihrer Schwester ist freigegeben«, tönt es aus dem Telefon. »Wir würden Ihnen gern – als nahe Verwandte – den Schlüssel übergeben. Könnten wir uns bei Ihrer Schwester treffen?«

Ich quäle mich aus dem Bett. Der Wein hat mir nicht gutgetan. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, bis ich losmuss. Duschen, Haare föhnen. Ich schmeiße die Kaffeemaschine an und checke meine Mails. Nichts Besonderes. Ein paar Angebote, Manuskripte zu lektorieren. Die Exposés sind mal wieder gähnend langweilig: ein Fahrlehrer, der sich in seine Fahrschülerin verliebt. Arbeitstitel: Heiße Leidenschaft beim Rückwärtsparken. Oder Geschichten über Menschen mit berechtigten Minderwertigkeitskomplexen wie die über den frustrierten alten Sack, der seine Nachbarin tötet, weil sie ihre graue Mülltonne nicht so hinstellt, wie er es ihr befohlen hat. Arbeitstitel: Blutige Tonne.

Ich kleide mich an und verlasse meine Wohnung. Die herrliche Morgensonne passt nicht zu meinen dunklen Gedanken.

Dann stehe ich vor dem Haus, in dem meine Schwester getötet worden ist. Es ist ein älteres, sehr sachliches Gebäude in einer Farbe, die einem verwaschenen Hasenfell ähnelt. Eine Physiotherapiepraxis und ein Optikerladen im Erdgeschoss, ein Augenarzt in der ersten Etage. Eine U-Bahn-Haltestelle direkt vor dem Haus.

Hauptkommissar Luis Wunderlich lehnt im Eingang und beschäftigt sich mit seinem Handy. Er sieht mich nicht.

»Hallo«, sage ich.

Er dreht sich um. »Da sind Sie ja«, stellt er fest. »Wir nehmen den Fahrstuhl. Die Wohnung Ihrer Schwester liegt in der vierten Etage. Ich hasse Treppensteigen.«

Ich antworte nicht. Meine Nervosität nimmt zu. Hoffentlich hat jemand das Blut weggewischt.

Wunderlich drückt den Fahrstuhlknopf. Wir steigen ein. Spiegel an den Wänden. Er riecht nach einem strengen Duschgel – oder ist es ein Herrenparfum? Nein, der Duft passt nicht zu ihm.

Der Lift hält im zweiten Stockwerk. Eine junge Frau drängelt sich herein und drückt die Taste zum dritten Stock. »Guten Morgen«, gähnt sie mit offenem Mund. Sie trägt einen Morgenmantel, der den Blick auf ihren Busen freigibt. Ihre blonden langen Haare sind auf Gummilockenwickler gedreht.

»Hallo«, erwidere ich ihren Gruß. »Wohnen Sie in diesem Haus?«

Wunderlich schaut in ihr Dekolleté und schluckt.

»Ja, ich wohne hier. Sind Sie von Presse?«

»So ähnlich«, behaupte ich.

»Aha, Sie kommen wegen Mord.«

Der Fahrstuhl hält und die Tür öffnet sich. »Na, viel Erfolg«, lächelt sie und schlüpft hinaus, nicht ohne einen lüsternen Blick auf den Kommissar zu werfen.

Blaues Band

Irgendwo habe ich gelesen, dass Blut metallisch und unangenehm süßlich riecht. Und genau so ist es. Die Luft in Marions Wohnung ist dumpf und verbraucht. Mir ist übel.

Wunderlich reicht mir ein Döschen mit einer grünen Salbe. »Schmieren Sie sich das unter die Nase«, rät er. »Und atmen Sie durch den Mund.«

Einige Sekunden später zieht der scharfe Geruch von Eukalyptus in meine Nase. Mir geht es besser.

In einer Ecke steht eine große Kiste mit gestapelten Zeitungen und Zeitschriften.

Wunderlich geht in die Küche und öffnet das Fenster. Schmutziges Geschirr und Besteck, auf der Fensterbank leere Weinflaschen und eine vertrocknete Hortensie. Ein Vogelkäfig ohne Bewohner. »Den Papagei haben wir im Zoo abgegeben. Die kümmern sich erst mal um ihn«, informiert mich Wunderlich. »Ein sehr originelles Tier. Er hat die Spurensicherer bei Laune gehalten und sie regelrecht zugequatscht.«

»Den Namen des Täters hat er aber nicht genannt, oder?«

»Nicht dass ich wüsste«, grinst er, geht zum Fenster, öffnet es und schaut nach draußen. »Frühling lässt sein blaues Band … oder so ähnlich. Ein Gedicht von einem Eduard Mörike.«

Zweite Klasse Grundschule, denke ich und sage lächelnd: »Schön, dass Sie Lyrik mögen.«

»Glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihre Ironie nicht verstehe«, warnt er. »Lassen Sie uns ins Schlafzimmer gehen.«

Er geht voran. Die Rollos sind heruntergelassen.

Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er macht Licht. Was ich sehe, lässt mich taumeln. Das Bett ist abgezogen, das Blut ist durch das Laken in die Matratze gelangt. Marions Kleider liegen über der Stuhllehne vor dem Schreibtisch. Sie sind sauber.

Ich wende mich ab. Mein Atem geht schnell, überschlägt sich. Ich huste und huste. Der Polizist reicht mir ein Taschentuch und führt mich aus dem Zimmer. In der Küche bekomme ich ein Glas Wasser. Wir setzen uns.

»Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel Blut verlieren kann«, murmele ich. »Ist sie wirklich nicht …?«

»Nein, sie ist nicht vergewaltigt worden. Es gibt auch keine Hinweise auf andere sexuell motivierte Übergriffe. Hatte Ihre Schwester eine Beziehung?«

»Ich habe keine Ahnung.« Meine Antwort auf diese Frage bleibt gleich. »Aber ich erinnere mich, dass es Männer gab. Damals, als unser Kontakt noch enger war. Nach dem Tod unserer Mutter haben wir das Haus geerbt, es verkauft und das Geld aufgeteilt. Es ist meine eiserne Reserve. Danach ist der Kontakt ein wenig eingeschlafen.«

»Wie war das Verhältnis von Ihrer Schwester zu ihrer Tochter?«

»Ich weiß nur, dass Marion nie Kinder wollte, aber dann ist es doch passiert. Lilli war von Anfang an schwierig, sie sprach nicht viel, hatte Angst vor fremden Menschen und konnte ihre Gefühle nicht zeigen. Sie leidet am Asperger-Syndrom, das ist eine Art von Autismus. Als Lilli eingeschult wurde, habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Wo ist sie jetzt? Ich würde Lilli gern treffen.«

»In der Kinderpsychiatrie. Fragen Sie beim Jugendamt nach, die helfen Ihnen weiter«, antwortet Wunderlich.

Wir fahren zum Präsidium. Wunderlich in seinem Dienstwagen, ich in meinem alten Auto. In seinem Büro verfasst er ein Protokoll. Es ist kurz, denn wirklich viel habe ich nicht zu sagen gehabt. Ich unterschreibe das Dokument.

Er bringt mich vor die Tür. An meinem Auto angekommen, sagt er: »Ich melde mich bei Ihnen, wenn es etwas Neues gibt.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, will ich wissen.

Er hält mir die Autotür auf. »Zurzeit werden die Bewohner des Hauses nach ihren Alibis befragt. Das Problem ist, dass es in dem Haus am Graben durch die Massagepraxis, den Optikerladen und den Augenarzt viel Laufkundschaft gibt. Tagsüber ist die Haustür nicht abgeschlossen und jeder kann hinein. Das erschwert die Ermittlungen.«

Auf dem Parkplatz taucht plötzlich ein Mann auf. In der Hand hält er eine Kamera, mit der er in unsere Richtung zielt.

Wunderlich stellt sich vor mich und schreit den Mann an: »Was soll das? Hören Sie auf damit!«

Der Polizist läuft los, nimmt dem Mann den Apparat ab und löscht die Fotos.

»Das ist ein Verstoß gegen die Pressefreiheit!«, tönt der Fotograf. »Mal sehen, was der Polizeipräsident dazu sagt.«

Wunderlich lacht verächtlich, zuckt die Schultern und wirft dem Reporter die Kamera zu.

»Das ist Branco Waremme, einer der schlimmsten Schmierfinken seiner Branche. Reden Sie bloß nicht mit dem Typen«, rät er mir.

»Warum sollte er was von mir wollen? Er weiß doch gar nicht, wer ich bin.«

»Glauben Sie mir, das kriegt er raus. Er hat beste Kontakte zu unserer Pressestelle. Kommen Sie gut nach Hause. Man sieht sich.«

Wohnungswechsel

Am Sonntag wache ich erst gegen Mittag auf. Keine Knochensäge, kein nerviges Kreischen am frühen Morgen. Es ist fast gemütlich. Ich schalte das Radio ein. Im Klassiksender werden gerade Vivaldis Vier Jahreszeiten totgefiedelt. Ich höre eine Weile zu. Schade, dass diese schönen Melodien in Telefonwarteschleifen überstrapaziert werden.

Ich grüble vor mich hin. Ist es wirklich sinnvoll, Lilli zu besuchen? Sie kennt mich kaum und ich kann mit Kindern nichts anfangen. Anstrengende, egoistische, laute Wesen.

Die lokalen Nachrichten unterbrechen mein Grübeln.

»Das ist ein schlimmer Verdacht!«, tönt es aus dem Radio. »Im grausamen Mordfall in einem Haus am Graben hat die Staatsanwaltschaft eine erste Stellungnahme veröffentlicht, die es in sich hat. Die zehnjährige Tochter soll verdächtigt werden, ihre Mutter getötet zu haben. Hören Sie unseren Polizeireporter Branco Waremme mit einer Zusammenfassung.«

Ich stelle das Radio lauter.

»Im Mordfall Marion Z. gibt es eine neue Entwicklung: Die Spuren an der Leiche und am Tatwerkzeug sollen zu der zehnjährigen Tochter der Toten passen – so exklusive Informationen aus Ermittlerkreisen. Das Kind wurde kurz nach der Tat in der Nähe des Tatortes aufgegriffen und schweigt seitdem. Ist ein Kind überhaupt in der Lage, eine solche Tat zu begehen? Die Staatsanwaltschaft räumt auf Nachfrage ein, dass ein Kind von zehn Jahren durchaus in der Lage sein könnte, einen solchen Angriff auszuführen – will das aber nicht auf den aktuellen Fall bezogen wissen. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren und stehen erst am Anfang – so die Behörden. Das Kind befindet sich in einer kinderpsychiatrischen Einrichtung.«

Lilli als Täterin? Mir bleibt nicht viel Zeit, um diese Nachricht zu verdauen. Es klingelt an der Tür. Ich schleiche durch den Flur und gucke durch den Spion. Dunkelheit. Jemand hält etwas vors Glas.

»Wer ist da?«, rufe ich wütend.

»Branco Waremme, Reporter. Wir kennen uns bereits, Frau David.«

»Was wollen Sie?«

»Ich will Ihre Geschichte erzählen.«

»Kein Interesse!«

»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Nichte den Mord begangen hat?«

»Verschwinden Sie!«

Ich gehe zurück in die Küche. Wenig später beobachte ich durchs Fenster, wie der Reporter in seine Protzkarre steigt und losdüst.

Ich rufe Wunderlich an und berichte von Waremmes Besuch. »Glauben Sie wirklich, dass Lilli die Täterin ist?«, frage ich.

»Es ist viel zu früh, dazu etwas zu sagen«, entgegnet Wunderlich. »Aber so arbeitet dieser verdammte Schmierfink. Er deutet an und behauptet, Informanten zu haben. Die braucht er nicht zu nennen, weil Journalisten keine Quellen preisgeben müssen. Und wenn sich herausstellt, dass er Mist geschrieben hat, waren seine Lügen ja nur Andeutungen, die leider nicht gestimmt haben.«

»Ich würde gern in die Wohnung meiner Schwester ziehen«, sage ich. »Spricht etwas dagegen?«

Er zögert. »Normalerweise sind Wohnungen, in denen Morde passieren, nicht sehr beliebt. Aber sie ist freigegeben«, sagt er dann. »Der Verwalter ist schon ganz verzweifelt, weil er glaubt, dass niemand so eine Wohnung mieten will. Rufen Sie ihn an.« Er nennt mir die Telefonnummer.

Anruf beim Hausverwalter. Der macht mir Hoffnung, will aber erst den Besitzer fragen. Die Antwort kommt schnell: Ich kann die Wohnung übernehmen. »Um die Formalitäten kümmern wir uns später.«

Ich überlege, wie ich das Blut aus der Wohnung entfernen kann. »Kennen Sie eine Reinigungsfirma, die so was erledigt und dann auch das Bett entsorgen kann?«

Der Mann kennt eine und bietet an, sie zu engagieren – für mich kostenlos. Ich bin erleichtert. Ade, Knochensäge.

Wenn Pakete kommen

Julia Bergmann fragt nicht, was ich von ihr will, als ich sie um ein Gespräch bitte. Sie ist freundlich und stimmt meinem Besuch zu. Vermutlich weiß sie schon, dass ich Marions Wohnung übernehme.

»Soll ich etwas mitbringen?«, frage ich.

»Aber nein«, wehrt sie ab. »Machen Sie sich keine Umstände.«

Ein neues Bett habe ich online bestellt. Ein Doppelbett. Ich habe die Angewohnheit, im Schlaf alle viere von mir zu strecken. Ein Mann passt zur Not auch noch rein, aber das Problem stellt sich gerade nicht. Unterwegs zum Haus am Graben halte ich an einem Kiosk und kaufe eine Schachtel Pralinen. Ab einem gewissen Alter mögen Damen Süßes.

Julia Bergmann wohnt in der fünften Etage, hat als Einzige einen schmalen Balkon, der die gesamte Wohnfläche umgibt. Von hier schaut man über die Dächer der Stadt bis zum Fußballstadion. Unten verläuft die vierspurige Straße, die in die Innenstadt führt. Die Zimmer sind hell und im Stil eines englischen Herrenhauses eingerichtet, alles zusammengepfercht auf achtzig Quadratmetern.

Sie hat Kaffee gemacht, den sie in Tassen mit je vier kleinen Füßchen serviert. An den Wänden große und kleine Bilder, alles Originale. Bleiverglaste Art-déco-Lampen und Bücherregale. »Ich hatte mal eine Buchhandlung«, erklärt sie – mich nicht aus den Augen lassend. »Schwerpunkt klassische deutsche Literatur, Kinderbücher und Schriftsteller, die das Romantik-Genre bedienen.«

»Interessant«, lächele ich. »Ich bin freie Lektorin und habe schon einige Liebesromane bearbeitet. Die Nackenbeißer-Manuskripte kosten mich allerdings jedes Mal richtig Nerven.«

»Leider lieben viele Menschen dieses Genre«, nickt sie. »Falsche Gefühle bar jeder Vernunft.«

Wir lachen und die anfängliche Spannung löst sich. Sie ist die Erste, die nicht fragt, was Nackenbeißer-Romane sind, denn sie weiß das als ehemalige Buchhändlerin natürlich.

»Sie werden also demnächst auch in diesem Haus wohnen«, stellt sie fest. Sie schaufelt einen Löffel Rohrzucker in ihre Tasse.

Ich habe Zeit, sie zu betrachten: etwa Ende vierzig, mittelgroß, kräftig. Am auffälligsten ist ihre Frisur: akkurater Prinz-Eisenherz-Schnitt in hellblonder Farbe. Blaue neugierige Augen, feine Gesichtszüge und eine schmale Nase.

»Wie lange wohnen Sie schon hier?«, frage ich.

»Von allen Mietern am längsten«, antwortet sie. »Man nennt mich den guten Geist des Hauses.«

»Und? Sind Sie das?«

»Ich mag Menschen, die klare Fragen stellen.« Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee, mustert mich unverhohlen.

»Also ja?«

»Ich denke ja. Vielen Nachbarn kann ich helfen, weil ich nicht mehr berufstätig und meist zu Hause bin. Ich nehme Pakete entgegen, passe auf Kinder auf, wenn die Eltern verhindert sind, und beschwere mich nicht, wenn der Hausmeister mal wieder die Mülltonnen nicht an die Straße gestellt hat oder jemand in die Waschküche pinkelt.«

»Sehr souverän«, lobe ich. »Ich freu mich schon, meine anderen neuen Nachbarn kennenzulernen.« Ich berichte von der jungen, offenherzigen Blondine, die Wunderlich und mir im Fahrstuhl begegnet ist.

»Das ist Babygirl«, erklärt sie. »Eine sehr nette junge Frau, die Sex gegen Geld anbietet. Heutzutage nennt man diese Frauen Sexarbeiterinnen. Das passt natürlich nicht allen Mietern. Ab und zu kriegt der Hausbesitzer Briefe mit der Forderung, ihr die Wohnung zu kündigen. Bisher ohne Erfolg. Hier hat sie inseriert.«

Bergmann reicht mir eine Seite aus einer Erotikzeitung. Ja, das ist die Frau von neulich – jung, hübsch, bekleidet mit hohen Stiefeln und einem schwarzen Stringbody, der den üppigen Busen betont.