Ein Fuchs mit acht Beinen - Peter Halfar - E-Book

Ein Fuchs mit acht Beinen E-Book

Peter Halfar

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Beschreibung

In seiner Autobiografie „Ein Fuchs mit acht Beinen“ erzählt der Maler, Zeichner und Schriftsteller Peter Halfar, Jahrgang 1935: „Die Nächte meiner Kindheit erfüllte ich mit Geschrei. Meine geplagte Mutter brachte Bleistift und Papier; da schwieg ich und zeichnete einen Fuchs mit acht Beinen. Das gefiel mir. Es war der Anfang meiner künstlerischen Laufbahn. Mein Fest des Lebens hatte begonnen!“ Wie er es in mehr als sechzig Jahrzehnten künstlerischer Arbeit feierte, schildert er in 41 Kurzgeschichten, ergänzt um 60 Bilder und sachlich informierende Zwischentexte. „Ich wollte nichts haben, ich wollte etwas machen“, schreibt Halfar, „die Sinnentleertheit des Daseins zu füllen, ist der Impuls, der mich zu überdimensionalen kreativen Phasen motiviert.“ Der Erfolg: Drei deutsche Kurzgeschichtenbände, ein vierter englischer, erschienen in USA, private Sammlungen seiner Bilder in Europa und USA, öffentliche in fünf europäischen Ländern. – Arwed Vogel, Dozent des freien Literaturprojekts München, über Halfars Kunst: „Gleich, ob man seine Geschichten liest, seine Bilder betrachtet, die Zeichnungen, oder man mit ihm zusammensitzt – immer öffnen sich Türen in Räume – und es ist, als ginge man mit ihm durch ein Stück Welt, das man ohne ihn nicht kennen lernen könnte, das man in einer Weise sehen lernt, die unvermutet und plötzlich sich zeigt.“

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Freyja Fertig gewidmet

INHALT

Zu den Wurzeln

In grauer Vorzeit

5 Generationen

Geburtswehen

Paradiesische Kindheit in Böhmen

An der Hand meines Vaters

Umzug nach Zbraslav

Im Traumhaus mit ‚Little Sister‘

Kindertage – Kindernächte

Der Federmann

Die vielgeliebte Tante

Unter dem Tisch

Ende der paradiesischen Kindheit

Der Nachtfalter

Fluchtpläne

Der Kannibale

Flucht aus Prag

Der Marktplatz

Die Wurst des Gärtners

‚Little Sister‘

Himmlisches und Irdisches

Bei Onkel und Tante

Fisch und Vogel

Der Mann

Die Sonnenfinsternis

Vor Tagesanbruch

Die Brutstätte

Kölner Werkschulen

In Steinbach

Das Paradies

Im Räderwerk

Wie alle andern auch

Lux

50 Jahre München

Forstenrieder Allee 148

Mona Lisa bei Hettlage

In einer neuen Welt

Hier war ich noch nie

In meiner Welt

Sie verschlafen Ihr ganzes Leben!

Krisen (So fing es an – Tom – Mizzi – Schlaganfall – Ich weinte)

Freischaffender Künstler

Dem Tode nahe

Ein neuer Morgen

Auf Reisen mit Bildern im Gepäck

Attentat in Kairo

Locarno, im Schatten einer Lorbeerhecke

Canal Grande

Meine Reise nach Zbraslav

Künstlerreise zu den Malediven

Ateliers in Frontignan und Lumio/Calvi

Esther und die Tiere der „Wilhelma“ in Bad Cannstatt

Der Ameisenbär

Kunstseminar in Torre San Marco (Die Seelenmutter)

Ein mystischer Ort – Der Teich

Menschen von Nah und Fern

Freyja Fertig (Böfflamott)

John Bennett (Morrisons Grab)

Maria Spaans

Cosy Piero

Gisela Pfeiffer (Warte bis September)

Arwed Vogel

Stefanie Atma

Felicitas Hengstmann (Hedy: Das Medium)

Margarita

Mein Ausstellungsmarathon

1966–1989 (München – Bamberg – Erlangen – Paris – Nanterre – Paris – Kiel – Wien – Oberhaching)

1990–2012 (München – Furth – Majdanek – New York – Berlin – Dresden – München)

Mein Zusatzventil: Geschichten schreiben

Über mein Schreiben

Über meine Bücher

Arwed Vogel: Peter Halfar – Türen, die sich öffnen

Neue Ausblicke aus luftiger Höhe

Ausstellung „Unsterblichkeit und andere Zustände“

Du bist der Osterhase und ich halte die Ohren steif

Mein Herzenswunsch

Meine Botschafter im In- und Ausland

Bilder in öffentlichem Besitz

Bilder in Privatsammlungen

Meine Korrespondenz

Das Fest des Lebens feiern

ZU DEN WURZELN

Der Name Halfar stammt aus dem Schwedischen

IN GRAUER VORZEIT

Im 17. Jahrhundert zog ein Schwede namens Halfar nach Mähren/Schlesien ins Hultschiner Ländchen. In dem nordböhmischen Maxdorf betrieb vor Jahrhunderten ein Schmied namens Schöler Zauberei. Im 20. Jahrhundert erblickte ich, Peter Halfar – Nachfahre dieser Beiden – in Troppau das Licht der Welt – das Licht? Eher das Dunkel: Es war der Vorabend einer Weltkatastrophe.

Ein Zeitalter

In meinem Geburtsjahr gehörte Troppau zur Tschechoslowakei; der tschechische Name von Troppau ist Opava, der von Prag Praha.

5 GENERATIONEN

Urururgroßvater Johann Lange

Urgroßmutter Marie Schöler geb. Lange

meine Mutter mit ihren Brüdern Walther u. Ernst

Familie Schöler von links nach rechts: Großmutter Marie, auf ihrem Arm Esther, deren Eltern Ernst und Ellen, meine Mutter und Großvater Julius

mein Vater Josef Halfar, geboren 1906 in Jägerndorf,

meine Mutter Maria Halfar geb. Schöler, geboren 1907 in Gablonz an der Neiße

Künstler Peter, noch in Kinderschuhen

Mein Vater stammte aus einer Arbeiterfamilie. Anna Halfar, die Mutter meines Vaters, hatte elf Kinder zur Welt gebracht, von denen einige früh gestorben waren. Sie musste ihre Familie allein durchbringen, da ihr Ehemann verschollen war. Sie wusch die Wäsche anderer Leute in der Oppa. Im Winter hackte sie schon bei Morgengrauen ein Loch in den zugefrorenen Fluss. Wenn es wahr ist, hatte mein Vater schon mit sechs Jahren Zeitungen ausgetragen. 1937 war Großmutter Anna vor der Geburt meiner Schwester bei uns zu Besuch gewesen, aber daran kann ich mich nicht erinnern – ich war ja noch nicht einmal 1½ Jahre alt.

Mein Vater war künstlerisch begabt. Unser Badezimmer malte er mit Fischen, das Schlafzimmer mit Paradiesvögeln aus. Von Beruf war er Anstreicher. Da Massenarbeitslosigkeit herrschte, verlor er jedoch immer wieder seine Arbeitsstelle.

Meine Mutter kam aus dem bürgerlichen Milieu, aus der böhmischen Kleinstadt Gablonz an der Neiße, die durch die Fabrikation von Bijouterie weltbekannt war. Urgroßvater und Großvater stellten Modeschmuck her.

Meine Mutter hatte Modistin gelernt. Sie war kreativ, handwerklich geschickt und sehr fleißig. Trotz aller Einschränkungen gelang es ihr, uns stets ein geschmackvoll eingerichtetes und behagliches Zuhause zu bereiten.

GEBURTSWEHEN

Meine Eltern waren zu Fuß zum Spital gegangen – über die Oppa-Brücke in Troppau –, als meine Mutter in die Wehen gekommen war. Sie hatten nicht das Geld für die Straßenbahn gehabt. So arm waren sie damals.

Es dauerte 36 Stunden, bis ich geboren wurde; ich brachte meine Mutter fast um. Ich wollte nicht heraus, ich wollte nicht auf diese Welt!

Ich bin ein Kind der Liebe. Ich wurdedrei Monate nach der Hochzeit derEltern geboren.

Das Erste, was ich im Landeskrakenhaus Troppau vermutlich sah, war die Hebamme Marie Kvasny, die sich ihre Haare mit Lockenwicklern aus Zeitungspapier aufdrehte – schlechte Zeiten!

Die Nächte meiner Kindheit erfüllte ich mit Geschrei – meine geplagte Mutter brachte Bleistift und Papier; da schwieg ich und zeichnete

Das gefiel mir – es war der Anfang meiner künstlerischen Laufbahn!

Mein Fest des Lebens hatte begonnen!

AN DER HAND MEINES VATERS

Vor Weihnachten 1938 – damals wohnten wir in Vrane bei Prag – bekam ich Scharlach, meine erste ernsthafte Krankheit, der im Laufe meines Lebens viele Krankheiten folgten. Aber darüber in meinem nächsten Buch. Meine Mutter zog mir meinen besten Mantel an – den mit dem breiten Gürtel – und brachte mich in ein Prager Krankenhaus.

Nachdem ich mich dort vor dem Nikolaus gefürchtet hatte und wieder gesund geworden war, setzten mich zwei freundliche Frauen in eine Badewanne, wuschen mir den Bauch und fütterten mich mit Rührei. Dann zog man mich an und brachte mich in einen dämmerigen Saal. Dort wartete ich ganz allein darauf, dass mein Vater mich abholte. Als er endlich kam, beugte er sich freudestrahlend zu mir herunter.

In dem Zugabteil, in dem wir später nebeneinander auf einer Holzbank saßen, brannte Licht. Wir waren ganz allein, denn die meisten Leute waren schon zu Hause, um mit der Familie das bevorstehende Weihnachtsfest zu feiern.

Meine Mutter erwartete mich mit meiner winzigen Schwester unter dem Weihnachtsbaum. Ich bekam ein in Silberpapier eingewickeltes Stück Zucker – oder war es ein Schokoladen-Nikolaus? – Ich konnte kein Wort Deutsch mehr, nur noch Tschechisch.

Ich liebte meinen Vater sehr. Er unterstützte meine Freude am Malen ebenso wie meine Tierliebe. Einmal brachte er mir aus dem Prager Kaufhaus STEFANO einen kleinen Zoo mit Tieren aus Kunststoff mit: Elefanten, Giraffen, Wölfe und ein Nilpferd.

An den Sommerabenden gingen wir Hand in Hand durch die Akazienallee an der Moldau entlang, hinein in die brütende Finsternis, und mein Herz pochte vor Glückseligkeit.

Es war in einem Winter, als ich mit dem Vater in einem verschneiten lichten Hochwald Hand in Hand einen Pfad entlang ging. Ich war wegen der Kälte dick eingemummt in einer Wolljacke, mit einer wollenen Zipfelmütze auf dem Kopf, und meine kleinen Hände steckten in Fäustlingen. Plötzlich sah ich von rechts einen Hirsch den Abhang herab laufen. Als er uns erblickte, blieb er auf dem Pfad stehen und starrte uns unverwandt an. Der Hirsch war ganz weiß und trug ein prächtig ausladendes Geweih. Ich betrachtete ihn atemlos vor Bewunderung.

2005 erschien meine Kassette mit Winterbildern. Die Skizzen dazu waren in den neunziger Jahren entstanden, als mich mein Schwager über württembergische Dörfer fuhr.

Der Schnee bedeckt das dunkle Reich, in dem vor lauter Wärme gleich die Wurzeln und die Keime treiben – die nächste Saat, die neuen Reime, Lieder, Bilder. – Die Dörfer weit verstreut in Tal und sanften Höhen, die Häuser tief verschneit. – Die Wachtel duckt sich in die Wehe, am Strauche wartet stumm die Schlehe.

Wenn ick viele Jahre später im Fernsehen Sendungen anschaute, in denen Winterliches zu sehen war, bemerkte ich, dass meine Augen nicht lange den Vorgängen auf dem Bildschirm folgten, sondern auf den Hintergrund fixiert waren – auf einen verschneiten Wald zum Beispiel. Bilder aus meiner frühen Kindheit tauchten dann auf, frühere noch als jene von der Wanderung mit dem Vater durch den Winterwald. Das brachte mich auf die Idee: Was ich bereits als Kind von drei Monaten – im ersten Winter meines Lebens – am intensivsten optisch wahrgenommen hatte, war Schnee. Im Fest meines Lebens spielte er immer eine große Rolle.

UMZUG NACH ZBRASLAV

Als im März 1939 deutsche Truppen in die vorwiegend von Tschechen bewohnten Gebiete Böhmens und Mährens einmarschiert waren und Hitler die Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ verkündet hatte, gab es dort für die deutschen Bewohner Möglichkeiten sozialen Aufstiegs. Mein Vater trat in die Partei ein und schließlich in die SS.

Noch im selben Frühjahr bezogen wir ein Haus in Zbraslav, einem Vorort von Prag.

Meine Eltern wären– wie viele – zu diesem Zeitpunkt überfordert gewesen, zu durchschauen, dass sie sich in ein Verbrecherisches System verstickten. Als mein Vater dies später erkennen musste, suchte er nach einem Ausweg, von der SS loszukommen. Obwohl er vom Militärdienst freigestellt war, meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Im Kampf an der Ostfront ist er dann gefallen. So hat er seinen Irrtum mit dem Leben bezahlt.

IM TRAUMHAUS MIT ‚LITTLE SISTER’

Es war noch kalt, als wir Kinder am Fuße der Freitreppe auf dem Beet vor der steinernen Amphora standen. Die Treppe führte von der Straße hinunter zum Haus mit dem großen Garten. Links und rechts der Treppe befanden sich zwei Wäldchen, gesäumt von Steingärten, in denen Schneeglöckchen, Himmelschlüssel, Vergissmeinnicht, Anemonen und grün-weiß gestreifte Gräser blühten.

Hier verlebten wir unsere paradiesische Kindheit, im Garten mit all den Flieder- und Jasmin-Büschen, Kaninchenställen und Hühnern inmitten der überschäumenden Pracht blühender Obstbäume. Ich erinnere mich an die ausgelassenen Spiele mit den Nachbarskindern und meiner kleinen Schwester Suse. Ich hatte immer ein wachsames Auge auf sie, damit ihr kein Leid geschah. Meine Schwester wiederum beobachtete mich halb ängstlich, halb stolz, wenn ich aufs Dach stieg oder ein anderes riskantes Abenteuer wagte.

Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel; zu einem ernsthaften Streit kam es nie, selbst dann nicht, wenn ich Unmögliches von ihr verlangte: Wie sollte eine Vierjährige sich meine Belehrungen über die verschiedenen Vogelarten und ihre Eier merken, auf einer Bildtafel erkennen, welches Ei zu welchem Vogel gehört?

Zwei Lieblingsplätze suchte ich allerdings ganz allein auf: Die Gartenmauer, auf der ich las, und die beiden Wandschränke im sogenannten Chinesischen Zimmer. Wir nannten es so, weil chinesische Motive die Fensterrahmen und Tapeten zierten. Die Wandschränke waren meine idealen Verstecke, in denen ich mir vorstellte, ich sei ein Tier – im Sommer ein Löwe, im Winter ein Eisbär.

Unser Kindheitsparadies, ein Paradies inmitten der furchtbaren Ereignisse draußen, in Lidice, in Polen, Holland, Belgien… Davon wussten wir Kinder nichts, wie sollten wir auch!

Was von draußen in unseren Garten eindringen konnte, war lediglich das Hochwasser der Moldau, das im Winter Eisschollen anschwemmte. Aber das empfanden wir keineswegs als Bedrohung, wir hatten unser Vergnügen daran.

‚LITTLE SISTER‘ SUSANNE, geboren am 29. Dezember 1937

Momente allerdings gab es für mich, in denen meine paradiesische Welt einen Riss bekam: Der Junge aus der Nachbarschaft hatte mich durch das Gartengitter hindurch angespuckt, mitten ins Gesicht.

Als ich an einem Sonntag in Badehosen durch den Garten gelaufen war, hatte mein Vater mich gepackt, hochgehoben und mitten in die Brennnesseln geworfen. Er wollte, dass ich ein richtiger Mann, ein Held werden sollte. Dabei wäre ich viel lieber ein Bauer geworden, mit Hühnern und Schweinen. Und so hatte ich dann dagestanden, von oben bis unten mit brennenden Pusteln bedeckt, weinend am seitlichen Gartentor. Ich verstand die Welt nicht mehr.

DER FEDERMANN

Es war bereits dunkel, als unsere tschechische Vermieterin mir den leeren Bierkrug in die Hände drückte und sagte: „Komm, jetzt gehen wir Bier holen, für den Vater.“ Wir gingen durch den Garten, vorbei an den Sonnenblumen, die mich überragten, und als wir draußen vor dem Gartentor standen, da sah ich den Federmann! Ich sah ihn am Gartenzaun stehen; er war riesig und von oben bis unten mit Federn bedeckt. Er fuchtelte mit seinen Flügelstummeln, und seine Augen waren so groß wie Feuerräder. Er erinnerte mich an einen riesigen Uhu. Ich weiß ganz genau, dass ich den Federmann wirklich sah! Die Vermieterin allerdings schien nicht beeindruckt zu sein.

Als ich dann wenig später an einem Vormittag im Wohnzimmer hinter dem Sofa die beiden Eier fallen ließ, so dass sie auf dem Teppich zerbrachen, da sah ich ihn das zweite Mal! Die gelb-braunen Vorhänge waren zugezogen wegen der Sonne, und ich hatte mich voller Furcht vor der Bestrafung hinter das braune Sofa geduckt. Über die Sofalehne hinweg sah ich den Federmann, wie er drohend und unbeholfen auf das Sofa zu gewatschelt kam und wütend mit den Flügelstummeln fuchtelte. Aber dann kam meine Mutter, und als sie die zerbrochenen Eier auf dem Teppich sah, packte sie mich bei den Schultern und schüttelte mich, dass mein Kopf hin und her flog, bis ich schwindelig wurde und ich mich setzen musste.

Weil ich allen mit meinen neugierigen Fragen nach dem Federmann auf die Nerven zu gehen begann, versuchte May, eine junge Finnin, die vorübergehend bei uns wohnte, mir die ganze Sache zu erklären. Sie sagte: „Also der Federmann ist ein Mann, der Frauen auflauert, aber nur wenn sie allein unterwegs sind und bei Dunkelheit. Wenn diese Frauen in ihrer Panik um Hilfe schreien und die Polizei kommt, dann flüchtet der Federmann in weiten Sprüngen, und niemand kann ihn einholen, denn er hat Sprungfedern unter seine Schuhsohlen befestigt.“

„Was für Sprungfedern?“ fragte ich.

May schwieg verdrießlich, schließlich sagte sie: „Es sind Matratzen-Sprungfedern.“ Wie sollte es auch anders sein! Und ich stellte mir May vor, wie sie im Dunkeln auf einer Straße lag und schrie, und der Federmann entfernte sich mit weiten Sprüngen und wurde immer kleiner und verschwand endlich ganz. May wirkte oft verdrießlich, und irgendwie dachte ich, dass nicht nur der Federmann hinter ihr her war.

Die Männer zum Beispiel, die am Tag zuvor im Keller des Schlosses unzählige Wolldecken aufstapeln mussten, damit wir durchhalten konnten, falls die Russen kämen. Mit meiner Mutter zusammen hatte May die Arbeit zu beaufsichtigen. Es war feucht und kalt in dem riesigen Kellergewölbe, das von einer einzigen elektrischen Birne beleuchtet war. Die Männer hatten so finster zu uns herübergeblickt, dass wir uns unwillkürlich näher aneinander gedrängt hatten. May war blond und wunderschön und sehr jung, obwohl ich sie als Erwachsene betrachten musste.

Unsere Ausflüge auf dem Dampfer trugen uns flussabwärts in Richtung der Talsperre, deren Funktion mir ein Rätsel blieb, wenn das Schiff in der engen Schleuse ganz langsam herabsank, vorüber an den Herden kaffeebrauner Ziegen am vorbeigleitenden Ufer, die ihre Köpfe hoben und uns mit ihren gelben Augen anstarrten.

Ich fuhr sehr gern mit dem Dampfer, obwohl immer kurz vor der Abfahrt der gefürchtete Moment kam, in dem der große Schornstein des Dampfers eine Masse brauner Rauchwolken ausspie und ein ohrenzerreißendes Gebrüll ausstieß. Ich erzitterte jedes Mal aufs Neue und war den Tränen nahe, aber schließlich dachte ich, das sei der Preis, den ich für dieses Vergnügen bezahlen musste; vermutlich ging es nicht anders, und ich fand mich damit ab.

Während eines dieser nachmittäglichen Ausflüge kamen wir ziemlich nahe an einer Schar von weißen Gänsen vorbei, die einträchtig miteinander auf dem Wasser daher schwammen. Plötzlich begann die Gans, die in der Mitte schwamm, laute Schreie auszustoßen und heftig mit den Flügeln zu schlagen; sie wurde von einer unsichtbaren Macht unaufhaltsam in die Tiefe gezogen, bis die Wellen über ihr zusammenschlugen. Ich wartete angstvoll darauf, dass sie wieder hochkäme, aber nichts dergleichen geschah, und ich konnte nicht begreifen, dass die anderen Gänse ruhig weiterschwammen, als sei nichts geschehen.

Ich fragte meine Tante, die zwischen mir und May auf der Bank saß und die das alles mit angesehen haben musste: „Aber warum haben die anderen Gänse nichts getan? Warum haben sie nicht geholfen?“ Meine Tante band sich gerade ein dünnes Kopftuch um, das sie unter ihrem Kinn verknotete; sie griff in die große Tasche, die sie auf diesen Ausflügen immer mit dabei hatte, und holte einen kleinen hellgrünen Apfel hervor. Sie polierte ihn an ihrer Bluse; dann strich sie mir liebevoll übers Haar und sagte lächelnd: „Da – iss! Ich habe ihn heute Morgen gepflückt.“

Aber ich wollte den Apfel nicht, ich hatte keinen Appetit wegen der Sache mit der Gans, und so nahm May den Apfel und begann ihn zu essen.

Uns gegenüber saßen auf der langen Holzbank zwei tschechische Frauen mittleren Alters. Als May mit dem Apfel fertig war, zielte sie und warf den Apfelrest genau zwischen den beiden Frauen hinaus ins vorbeirauschende Wasser. Es war nicht sehr viel Platz zwischen den Köpfen der beiden Frauen, und die eine von ihnen, die gerade eine Postkarte schrieb, erschrak und stach sich mit der Feder ihres Füllfederhalters ins Handgelenk, ganz nahe der Ader. Es gab einen kleinen Aufruhr, und die beiden Frauen warfen wütende Blicke auf May und sagten Worte, die ich noch nicht verstand. Aber sie wagten nicht, diese junge wunderschöne Frau in dem geblümten Sommerkleid zur Rede zu stellen, denn sie hatten gehört, dass wir deutsch sprachen. May lächelte hochmütig und blickte über die beiden hinweg.

Und die Tante griff zum zweiten Mal in ihre Tasche und hielt mir einen anderen Apfel hin, als sie mein verwirrtes Gesicht sah und sagte: „Komm, iss den Apfel – iss doch! Er ist von deinem Lieblingsbaum.“

Erstdruck in „Anopheles“

DIE VIELGELIEBTE TANTE

Sie lebte mit ihrem Mann, Onkel Billy, ihrer Tochter Esther und meiner Großmutter in Köln.

Im Sommer kam sie mit der Großmutter und Esther uns in Zbraslav besuchen. Damals wurde die Tante eine der ersten großen Frauengestalten in meinem Leben; ihr galt meine bedingungslose Liebe.

Jeden Samstag nach dem Baden zog ich ein rosa Nachthemd an, ging in ihr Zimmer und tanzte ihr etwas vor. Das durfte aber niemand sonst sehen, deshalb musste sie die Tür abschließen.

Die Tante versorgte mich mit Büchern:

WINNIE PUH DER BÄR

ALICE IM WUNDERLAND

DAS DSCHUNGELBUCH

REINECKE FUCHS mit Illustrationen von Kaulbach – und ZÄPFEL KERN von Otto Julius Bierbaum – ein Buch in Holz gebunden, von dem ich mich nie trennen wollte. Vor der Vertreibung aus Böhmen nähte meine Mutter es mir in mein Mantelfutter, so konnte ich es auf unserer Odyssee durch due Flüchtlingslager wohlbehalten bis nach Köln retten.

Damit hatte die Tante meine Liebe zur Literatur geweckt und das Fundament für meine eigene schriftstellerische Arbeit gelegt.

Später verschaffte ich mir selbst viele Bücher u. a. von Graham Greene, Hermann Hesse, Andrzej Szczypiorski, Cees Nooteboom, Max Frisch sowie die destruktiven Romane von Frederic Prokosch und die Kurzgeschichten von James Joyce, die ich so oft las, dass ich sie auswendig konnte.

Ich illustrierte Geschichten, die in Literaturzeitschriften erschienen, u. a. in EINSPRUCH, Zürich (Max Frisch), DIE HOREN, Dublin (Hommage à Joyce).

UNTER DEM TISCH

Im Sommer hatten wir in Zbraslav viel Besuch – lauter Frauen und Mädchen, die Männer waren an der Front. Ich hatte nichts anderes im Kopf, als die Erwachsenen zur Raserei zu bringen. Dafür gab es ein Sommerprogramm und – viel später – auch ein Winterprogramm.

Wir saßen alle am großen ovalen Tisch im Wohnzimmer, dessen Tischdecke bis zum Boden herunterhing, und so fiel es gar nicht auf, wenn ich unter den Tisch kroch und die nackten Beine der sommerlich gekleideten Gäste betrachtete mit der Absicht, ein Bein in die Wade zu beißen. Am liebsten biss ich die Kusine, weil sie am lautesten schrie. – Das Winterprogramm fand nach dem Krieg in Köln statt, wo die Tante auf dem Schwarzmarkt ein Akkordeon aufgetrieben hatte, ein Akkordeon für Kinder.

Aus irgendeinem Grund funktionierten aber nur zwei Tasten, und so verdarb ich der Familie an den Nachmittagen die Stimmung beim Kaffeetrinken mit meinen musikalischen Darbietungen – bis eines Tages das Akkordeon spurlos verschwunden war.

Unsere Großmutter war für mich so etwas wie der liebt Gott, wenn sie nach meinen Ungezogenheiten feierlich die Treppe herunter kam, um mir zu verzeihen.