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Wahre Freundschaft ist das größte Geschenk im Leben eines Menschen... In einem Café treffen sie sich zum ersten Mal: Gussie, eine verarmte alte Dame, und die junge Nell. Beide wollen nur für eine Weile ihre Sorgen vergessen. Ganz spontan leiht Nell Gussie einen Hut für die Hochzeit ihres Großneffen Henry. So beginnt eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen. Als Nells Ehemann in Schwierigkeiten gerät, kommt es zu einem furchtbaren Unglück. Nell findet mit ihrem kleinen Sohn Zuflucht und Trost auf dem Anwesen von Gussies Neffen. Dort trifft sie auf eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr den Halt geben, um sich ihrem Schicksal zu stellen.
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Seitenzahl: 577
Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte. Die Autorin ist so erfolgreich, dass ihre Bücher in zwölf Ländern erscheinen. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Südengland, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.
Marcia Willett
EIN GESCHENK DER FREUNDSCHAFT
Roman
Aus dem Englischen von Michaela Link
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
© 1995 by Marcia Willett
Titel der Originalausgabe: »The Courtyard«
Originalverlag: Headline Book Publishing
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2009/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Lutz Steinhoff, Scripta Literatur-Studio
Titelillustration: Ashley Cooper/Corbis GmbH
Umschlaggestaltung: Bettina Reubelt
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-0155-7
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Für Charles
Augusta Merton bestellte sich eine Kanne Tee, lehnte Kuchen mit einem energischen Kopfschütteln ab und machte es sich in dem Gefühl, dass sie sich einen großen Luxus leistete, auf ihrem Stuhl bequem. Sie hatte sich schon sehr lange nichts mehr gegönnt, was nicht absolut notwendig war, sodass es ihr beinahe dekadent vorkam, dass sie hier in der stillen, holzvertäfelten Teestube mit den bequemen Windsor-Stühlen und dem hübschen geblümten Porzellan saß und durchs Fenster beobachtete, wie draußen die Menschen emsig durch den windigen, goldenen Aprilnachmittag eilten. Sie lächelte die Kellnerin an, die das Teegeschirr auf den Tisch stellte, blickte ein wenig ängstlich auf die Rechnung, die unter der Kanne lag, und strich sich über ihr rötlich graues Haar, das sie zu einem lockeren Knoten gebunden hatte. Ihr Blick wanderte immer wieder zu ihren Sachen hinüber, vor allem zu einer bestimmten Tasche. Schließlich gab sie der Versuchung nach, griff danach und spähte hinein. Dann stellte sie sie mit einem Seufzer auf den Stuhl neben sich. Sie bemerkte mit Freude, dass sie ein Teesieb auf einer Tropfschale bekommen hatte – Gussie mochte keine Teebeutel –, und nachdem sie den Inhalt der Kanne umgerührt hatte, sah sie sich um und wartete darauf, dass der Tee zog. Am Nachbartisch trank eine hübsche junge Frau Kaffee. Sie wirkte erschöpft, als sei es schon fast zu viel für sie, die Tasse an die Lippen zu führen. Gussie glaubte, sie vage zu kennen, und als sie ihren Blick auffing, lächelte sie ermutigend.
Gussies Lächeln und das Verstehen, das darin lag, überraschte Nell Woodward so sehr, dass sie ihre Müdigkeit beinahe vergaß. Es schien ihr, als habe diese Fremde verstanden, dass sie im Augenblick außerstande war, mit dem Leben fertig zu werden, und als böte sie ihr Mitgefühl und Stärke an. Nun, sie war gewiss erschöpft. Seit zehn Jahren war sie mit einem Marineoffizier verheiratet, und sie war etliche Male umgezogen, aber jetzt merkte sie, wie viel schwieriger es war, so etwas zu bewältigen, wenn Kopf und Herz sich gegen den Umzug sperrten. Während dieser zehn Jahre war sie von Gosport nach Faslane gezogen, von Faslane nach Chatham und dann wieder zurück nach Gosport. Das gehörte dazu, wenn man mit einem Angehörigen der Marine verheiratet war. Vielleicht wäre man da oder dort gern länger geblieben, vielleicht hasste man die von der Marine zur Verfügung gestellten Quartiere, aber es hatte überall alte Freunde gegeben, die ihre Unterstützung anboten, und das Netzwerk der Marine. Der Umzug nach Bristol war jedoch etwas anderes gewesen. Johns Entscheidung, seinen Abschied von der Marine zu nehmen, war aus Nells Sicht eine große Dummheit. Was war schon dabei, wenn er bei der Beförderung tatsächlich übergangen worden war? Er hatte immer noch einen lohnenden Job mit einem guten Gehalt, er war unter Menschen, die er kannte. Jetzt lebten sie in einer Mietwohnung in Bristol und hatten fast seine gesamte Abfindung aufgebraucht, damit er sich als Partner in die Makleragentur eines Freundes einkaufen konnte. Was wusste John darüber, wie man Häuser verkaufte? Die Angst, die sie beim Gedanken an die Zukunft spürte, war Nell mittlerweile vertraut. Sie trank noch einen Schluck Kaffee, wohl wissend, dass sie sich zusammenreißen und nach Hause gehen musste, um weiter auszupacken. Die Wohnung sah noch immer aus wie ein Möbeldepot, obwohl sie schon seit mehr als zwei Wochen hier waren. Trotzdem blieb Nell sitzen, außerstande, die Energie oder die Willenskraft aufzubringen, um sich zu bewegen.
Gussie schenkte sich Tee ein. Sie war einen Augenblick lang abgelenkt gewesen von Nell, die sie einfach nicht einordnen konnte, aber jetzt kehrten ihre Gedanken zu dem Inhalt der Plastiktasche zurück. Natürlich passte ein Paisley-Muster immer, und wenn man den Saum auslassen würde … Während sie an ihrem Tee nippte, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Wie nett von Henry, sich an seine betagte Cousine zweiten Grades zu erinnern und sie zu seiner Hochzeit einzuladen. Wie freundlich. Und eine Einladung, das Wochenende auf Nethercombe zu verbringen. Es würde wunderbar sein, alles dort wiederzusehen. Es musste Jahre her sein – oh, mindestens fünfzehn –, seit sie dort gewesen war. Henrys Mutter, ihre Cousine Louisa, hatte damals noch gelebt. Jetzt waren beide tot, Louisa und ihr Mann James, und Henry hatte Nethercombe Court mit dem Farmland und den berühmten Devon-Red-Rindern geerbt. Und nun wollte er heiraten.
Gussie stellte ihre Tasse zurück auf die Untertasse, und auf ihrem Gesicht machte sich die gewohnte Sorgenmiene breit: eine Furche zwischen den sandfarbenen Brauen, die geschürzten Lippen. Es wurde immer schwieriger, von ihrer winzigen Pension zu leben, und ihr kleines Vermögen war fast aufgebraucht. Sie war bereits von der großen, luftigen Wohnung in der Nähe der Clifton-Hängebrücke, die nur einen Schritt von den Downs entfernt gewesen war, in ein kleineres Appartement in der Tyndalls Park Road umgezogen. Ihr Herz klopfte ängstlich, und ihre Hand zitterte ein wenig, als sie sich die zweite Tasse Tee einschenkte. Wirklich, sie sollte nicht hier sein. Eine Kanne Tee oder eine Tasse Kaffee in einem Café zu trinken war ein wahrer Luxus, aber die Einladung und das Glück, das Kleid zu finden, waren zusammen mit dem Gedanken an die Hochzeit so aufregend gewesen, dass ihr diese kleine Belohnung angebracht erschienen war. Das Kleid war reine Verschwendung, kein Zweifel, aber ein gewisses Niveau musste gewahrt werden, und sie konnte unmöglich in ihrem alten blauen Kleid zur Hochzeit des lieben Henry gehen. Sie durfte ihn nicht enttäuschen. Wenn sie während der nächsten Wochen dafür ein oder zwei Opfer bringen musste, dann war es die Sache wert.
»Soldatentochter, Soldatenschwester«, rief sie sich ins Gedächtnis, drückte die schmalen Schultern fester durch und lächelte wieder in Nells Richtung.
Etwas an der Art, wie sich die alte Dame bewegte, durchdrang den Nebel von Nells Erschöpfung und berührte ihr Herz. Sie spürte, dass irgendein Gespräch von ihr erwartet wurde, obwohl sie sich danach sehnte, in dem friedlichen Kokon ihrer Isolation eingesponnen zu bleiben.
»Einkaufen ist so ermüdend«, sagte sie einfach so. Sie war zu erschöpft, um sich eine originelle Bemerkung auszudenken. »Es sei denn, man kauft etwas Besonderes.«
»Sich etwas Neues zum Anziehen zu kaufen ist immer ein Vergnügen.« Gussie verspürte den überwältigenden Drang, ihre Aufregung mit einer anderen Frau zu teilen. »Ich bin zur Hochzeit meines Cousins eingeladen, und ich habe mir ein neues Kleid gekauft.«
»Wie wunderbar.« Nell reagierte automatisch auf Gussies mühsam unterdrücktes Glück. »Was für eine Art Kleid?«
»Nun …« Gussie beäugte die Tasche in einer Mischung aus Wonne und Angst. »Ich glaube, es passt ziemlich gut, wenn man mein Alter bedenkt. Paisley-Muster in Marineblau.«
»Das klingt genau richtig«, sagte Nell ermutigend. Sie stellte fest, dass die Tasche keinen Aufdruck eines Ladens trug und schon recht gebraucht aussah. Außerdem fiel ihr auf, ohne dass sie es sich anmerken ließ, dass Gussies Kleidung zwar gepflegt, aber abgetragen war. »Darf ich es sehen?«
Ein wenig verwirrt nahm Gussie das Kleid aus der Tasche und zeigte es scheu vor.
»Nichts Auffälliges, verstehen Sie. Aber elegant.« Sie sah Nell ängstlich an. »Was meinen Sie? Wird es mir stehen?«
»Ich finde, es ist genau richtig.« Nells Verdacht bestätigte sich. Das Kleid war gebraucht, aber es war einmal teuer gewesen, und sein klassischer Schnitt machte es zeitlos. »Die Farbe wird Ihnen gewiss gut stehen. Werden Sie einen Hut tragen?«
Der sorgenvolle Blick kehrte zurück, während Gussie das Kleid sorgfältig faltete und in die Tasche zurückschob.
»Da gibt es ein kleines Problem«, gestand sie. »Mein Filzhut ist ein wenig schwer für eine Hochzeit im Mai, aber ich fürchte, es wird nicht anders gehen.«
»Mir fällt ein«, sagte Nell und lauschte überrascht ihrer eigenen Stimme, »ich habe einen dunkelblauen Strohhut. Den können Sie gern haben …«
Das muss die Erschöpfung sein, dachte sie. Sich auf eine wildfremde Frau einzulassen und ihr anzubieten, ihr einen Hut zu leihen! Ich werde verrückt. Vielleicht lebt sie gar nicht hier in dieser Gegend …
Aber Gussie sah sie voller Freude und Dankbarkeit an, und schon bald tauschte Nell mit ihr Name und Adresse und lud Gussie auf einen Kaffee ein, um den Hut auszuprobieren.
Was habe ich getan?, fragte sie sich, während sie ihre Sachen zusammensammelte und auf die Tür zuging. Was hat mich dazu gebracht, etwas so Dummes zu tun? Und in der Wohnung herrscht das reinste Chaos. Oh Himmel!
Gussie sah ihr nach, dann quetschte sie eine dritte Tasse Tee aus der Kanne heraus. Das Gespräch hatte sie aufgemuntert. Sie hatte eine neue Freundin gewonnen. Und eine ausgesprochen schöne obendrein. Gussie runzelte leicht die Stirn. Nells Name war ihr nicht bekannt vorgekommen, aber sie erinnerte sie an jemanden. Doch an wen? Sie nippte nachdenklich und glücklich an ihrem Tee: ein neues Kleid, eine bevorstehende Hochzeit und eine Einladung zum Kaffee. Das Leben konnte immer noch sehr schön sein.
Zurück in ihrer Wohnung, sah Nell sich voller Verzweiflung um. Sie konnte diese schreckliche Mattigkeit nicht abschütteln, dieses Gefühl, dass John einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Und doch war John selbst voller Optimismus und glücklicher, als er es seit vielen Monaten gewesen war. Zu seinem großen Glück war sein alter Freund Martin Amory bereit gewesen, ihn in sein Geschäft aufzunehmen. Seit dem Kurssturz auf dem Aktienmarkt im Jahr zuvor investierten die Leute ihr Geld in Grundbesitz, und die Makler genossen den Boom. Die Tatsache, dass John auf diesem Gebiet überhaupt keine Qualifikationen besaß, war anscheinend unwichtig, und Martin und John waren sich ziemlich sicher, dass sie ein Vermögen verdienen würden.
Nell machte sich an die Arbeit. Der Gedanke, dass Gussie morgen am Vormittag zum Kaffee kommen würde, spornte sie an. Die Wohnung war zwar groß und freundlich, aber nur als vorübergehende Bleibe gedacht, bis sie es sich leisten konnten, etwas zu kaufen. Schließlich hatte John jetzt die besten Möglichkeiten, ein Schnäppchen zu finden, und das hatte Vorrang. Nur sehr widerstrebend und nach einigen unerfreulichen Szenen hatte Nell schließlich akzeptiert, dass der größte Teil von Johns Abfindung in Martins Geschäft fließen sollte. Sie hatte nur eine Bedingung gestellt: Es musste genug übrig bleiben, um für die nächsten ein oder zwei Jahre die Gebühren für Jacks Internat bezahlen zu können. Nell war entschlossen, für eine gewisse Beständigkeit im Leben ihres achtjährigen Sohns zu sorgen. Er hatte sich schon in seiner Schule in Somerset eingelebt, und sie hatte nicht die Absicht, ihn noch weiter herumzuzerren. Ohne die Abfindung von der Marine und das großzügige Gehalt, das John jetzt bekam, hätte Jacks Ausbildung möglicherweise auf dem Spiel gestanden, und sie war in diesem Punkt unerbittlich gewesen. John war erleichtert, dass sie bereit war einzulenken, und er hatte ihre Bedingung nur allzu gern akzeptiert. Selbst wenn sie die Schulgebühren für zwei Jahre beiseitelegten, würde es ausreichen, um sich in Martins Agentur einzukaufen, die Kaution für die Wohnung zu bezahlen und noch eine kleine Summe übrig zu behalten.
Zur Teezeit sah die Wohnung schon etwas gemütlicher aus. Noch nie hatte Nell so lange gebraucht, um Ordnung zu machen – obwohl die Wohnung eigentlich nicht schlechter war als einige der Marinequartiere, in denen sie gewohnt hatten. Die Möbel waren sogar erheblich besser. Die wenigen Möbelstücke, die Nell im Laufe der Jahre liebevoll gesammelt hatte, standen in dem winzigen Cottage in Porlock Weir, das sie und John am Ende eines idyllischen Urlaubs in Exmoor gekauft hatten. Wie sehr Nell dieses bescheidene Refugium liebte! Wenn John monatelang auf See gewesen war, hatten sie und Jack sich oft in einem voll beladenen Wagen auf den Weg zu diesem geliebten Fleckchen Erde gemacht, wo sie am glücklichsten war. Immer war das Wissen um dieses Cottage eine warme Zuflucht vor den Stürmen und Unbilden des Lebens gewesen. Sogar als sie Jacks Schlafzimmer fertig machte, seine Plüschtiere auf den hässlichen Schrank stellte und seine Modellpanzer in das Bücherregal zu seinen oft gelesenen Büchern räumte, fragte sie sich, ob sie nicht in den Ferien einige Tage mit ihm in das Cottage fliehen könnte.
Ein Teil ihres Entsetzens über Johns berufliche Veränderung entsprang, wie sie sehr wohl wusste, dem bevorstehenden Verlust ihrer kostbaren Privatsphäre, ihres eifersüchtig gehüteten Zufluchtsorts. Sie musste sich immer noch daran gewöhnen, John jeden Tag um sich zu haben, ihn am Morgen zu verabschieden und am Abend mit regelmäßigen Mahlzeiten daheim willkommen zu heißen. Viele Frauen von Marinesoldaten hassten die Einsamkeit in ihrem Leben, wenn ihre Ehemänner auf See waren, aber man gewöhnte sich auch an die Unabhängigkeit, die aufzugeben Nell jetzt schwerfallen würde. Ihr hatten die Trennungen nie etwas ausgemacht, im Gegenteil. Nicht die Einsamkeit, sondern die Beziehungen und die anderen Menschen fand sie ermüdend und anstrengend. Und zwar so sehr, dass ihr zu Beginn ihrer Schwangerschaft sogar der Gedanke an die Verantwortung für ein Kind Angst gemacht hatte. Die Vorstellung von einem winzigen, hilflosen menschlichen Wesen, das vollkommen abhängig von ihr war, hatte sie mit Entsetzen erfüllt. Doch als Jack dann auf der Welt war und man ihn ihr zum ersten Mal an die Brust gelegt und er sie mit großen blauen Augen unverwandt angeschaut hatte, waren ihre Befürchtungen von einer Woge der Gefühle davongeschwemmt worden. Sie waren sofort Freunde geworden, nicht nur wie Mutter und Sohn, sondern echte Freunde, und während er größer wurde, hatte sich dieses Gefühl verfestigt. Sie sah in sein Herz und in seine Seele, und sie erahnte seine seelischen Bedürfnisse mit noch größerer Genauigkeit als seine körperlichen. Er seinerseits spürte ihr Bedürfnis nach Abgeschiedenheit und war in der Lage, ihr eine Kameradschaft zu schenken, die ihre Freiheit nicht einschränkte. Keiner von ihnen dachte über ihre Beziehung nach, sie handelten ganz aus dem Gefühl heraus und gesteuert von ihrer Liebe zueinander. Diese Liebe wurde für Nell doppelt kostbar, nachdem ihre Eltern nach Kanada ausgewandert waren, um bei Nells jüngerer Schwester zu leben, die mehrere Fehlgeburten erlitten hatte und die nach einer schwierigen Geburt zur Halbinvalidin geworden war. Nell war gekränkt gewesen und voller Groll. Schließlich hatte Pauline aus freien Stücken einen Kanadier geheiratet und lebte jetzt im Ausland. Aber beim ersten Hilferuf hatten ihre Eltern alles verkauft und waren zu ihr geeilt, und Nell hatte gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen und ohne sie zurechtzukommen.
Nell sah sich im Schlafzimmer um, schloss die Tür hinter sich und ging durch den langen Flur in die Küche. Es wurde Zeit, über das Abendessen nachzudenken. Die glücklichen Tage einsamer Mahlzeiten mit einem Buch auf dem Tisch gehörten der Vergangenheit an. Gekochte Eier und Käse auf Toast reichten für John am Ende eines langen Arbeitstags einfach nicht aus. Nell seufzte und versuchte, sich auf das Abendessen zu konzentrieren. Sie bemühte sich erfolglos, sich den Inhalt des Kühlschranks ins Gedächtnis zu rufen. Als Erstes, beschloss sie, würde sie sich einen Kaffee machen, und vielleicht würde der ihre kulinarischen Instinkte anregen. Während das Wasser heiß wurde, räumte sie einige Bücher weg, die sich auf dem Küchentisch stapelten. Bei einem Gedichtband von Browning hielt sie inne. Er öffnete sich bei Pippa geht vorüber. Sie blätterte die Seiten um und las ein wenig in dem Buch. Der Kessel begann zu singen. Schließlich ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, immer noch in die Lektüre vertieft. Der Kessel schaltete sich aus. Der helle Frühlingsnachmittag dämmerte dem Abend entgegen, aber Nell saß immer noch da und las.
»… also bin ich direkt nach Hause gegangen«, sagte Gussie, »und habe meine Kunst-Enzyklopädie zur Hand genommen, und da war es. Dante Gabriel Rossettis Sibylla Palmifera. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Hat das noch niemand erwähnt? Ihr Haar ist zwar viel dunkler, aber es ist trotzdem unheimlich. Soweit ich weiß, hat er seine Ehefrau häufig als Modell benutzt.«
»Mir gefallen die Gedichte seiner Schwester.« Nell schenkte Tee ein, ignorierte den Schmerz in ihrem Herzen und hoffte, dass Gussie über den indirekten Themenwechsel nicht gekränkt sein würde. Es gab noch jemanden, der sie mit Rossettis Gemälde verglichen hatte.
»Goblin Market«, überlegte Gussie laut, während sie nach ihrer Tasse griff. »Es ist einige Jahre her, dass ich es gelesen habe, aber ich habe es in der Schule gelernt. Kein Freund kommt einer Schwester gleich, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich hatte nie eine Schwester. Ich hatte einen Bruder, der im Krieg umkam. Er war in der Armee. Ein Berufssoldat. Genau wie mein Vater. Mein Vater war zu alt, um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen, aber er war in London im Kriegsministerium. Er und meine Mutter kamen bei den Luftangriffen ums Leben.« Sie nippte an ihrem Tee. »Ich habe sie alle binnen eines Jahres verloren. Ich war damals in Frankreich und habe einen Krankenwagen gefahren.«
Sie schüttelte den Kopf, mehr überrascht über die Tatsache, dass sie dieser fremden Frau so plötzlich ihr Herz ausschüttete, als über die Tragödie, die sie geschildert hatte. Es war nicht ihre Art, anderen Leuten ihre Geschichte zum Geschenk zu machen. Sie missbilligte Unbeherrschtheit und emotionale Ausbrüche. Dasselbe galt für Nell, die sie entsetzt ansah.
»Es tut mir so leid«, begann Nell. Sie brach ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Meine Liebe, das ist jetzt fünfundvierzig Jahre her. Ich weiß gar nicht, warum ich es erwähnt habe. Dieser Tee ist köstlich. Der gute alte Earl Grey. Wie erstaunlich, dass Ihr Hut mir so gut steht und auch noch zu dem Kleid passt. Das nenne ich Glück. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich werde gut darauf Acht geben.«
Nell war erleichtert über den Themenwechsel, und sie akzeptierte, dass das Zusammentreffen mit Gussie eine Fügung war. Sie sprachen über die bevorstehende Hochzeit, über die Vorzüge von Wohnungen mit und ohne Garten, und Nell erzählte aus freien Stücken von ihrer Zeit in der Marine und von Johns neuem Geschäft. Als Gussie schließlich ging, waren beide Frauen überrascht, wie weit die Freundschaft sich entwickelt hatte, vor allem, wenn man bedachte, dass beide von Natur aus eher wortkarg waren. Keine der Frauen hatte das Gefühl, dass ihre Privatsphäre verletzt worden war, und jede fühlte sich mit der anderen ein wenig seelenverwandt. Nell begleitete die dünne, knochige Frau zum Tor, versprach, in der nächsten Woche auf einen Kaffee vorbeizukommen, und ging in die Küche zurück, um das Teegeschirr abzuräumen.
»Meine kleine Präraffaelitin … wie geht es Sibylla heute?«
Ruperts Stimme hallte sanft und neckend durch ihre Gedanken, ein Geist, den Gussies Scharfsicht heraufbeschworen hatte. Nell stellte die Tassen in die Spüle und schlang die Arme um die Brust. Rupert, den sie geliebt hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, dessen jüngeren Bruder sie geheiratet hatte, als sie begriff, dass Rupert sie niemals ernst nehmen würde. Rupert, der ihr Idol gewesen war und der im Falklandkrieg bei einer Explosion zerrissen wurde. Als er begriffen hatte, dass sie erwachsen geworden war, war es zu spät gewesen. Sie war die Frau seines Bruders geworden. John ähnelte ihm äußerlich sehr. Es war schwer, sie auseinanderzuhalten, außer dass Rupert all das Feuer besessen hatte, all den Charme, während John so still und reserviert war. War es Betrug, dass sie häufig so tat, als sei er Rupert?
Natürlich war es das. Nell schob das volle dunkelrote Haar aus dem Gesicht und ließ Wasser in die Spüle laufen. Aber John würde niemals erfahren, dass sie das tat. Rupert war der Kluge gewesen: brillant in der Schule, Ehrenauszeichnungen in Sandhurst, ein erstklassiges Regiment, immer erfolgreich bei schönen Frauen. John war immer hinter ihm zurückgeblieben und hatte nie das gleiche Niveau erreicht. Schließlich hatte er den Qualifikationskurs zur Laufbahn eines U-Boot-Kommandanten nicht bestanden und war dann natürlich bei der Beförderung übergangen worden. Nur Nell wusste, wie verbittert er war, wie entschlossen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Nell half ihm dabei. Dass er eine solche Schönheit wie sie erobert hatte, war eine auffallende Feder an seinem Hut. Nell fand, dass ihre Hilfe eine schlechte Gegenleistung war für den Betrug, den sie in ihrem Herzen so oft beging. Sie begann abzuwaschen, versuchte, die Geister zum Schweigen zu bringen, die Gussie heraufbeschworen hatte, versuchte, nicht an den toten Rupert zu denken. Sie dachte an andere Zeilen, die Christina Rossetti geschrieben hatte: Remember me when I am gone away, gone far away into the silent land.
Es war jetzt sechs Jahre her, seit er in das silent land, das stille Land, gegangen war, aber er lebte noch immer in ihrer Erinnerung und in John. Und in Jack.
Nell trocknete die Tassen und Untertassen ab und stellte sie weg. Bald würde John zu Hause sein, und heute Abend musste sie sich mit dem Essen wirklich Mühe geben.
Henry Morley saß an seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und beschäftigte sich halbherzig mit einigen Rechnungen. Er staunte über das Glück, das ihm Gillian geschenkt hatte, die morgen um diese Zeit seine Frau sein würde. Henry liebte den Besitz Nethercombe, er konzentrierte jeden Gedanken auf dessen Wohlergehen und verwandte sein ganzes Einkommen auf dessen Unterhalt, aber er konnte nicht glauben, dass Gillian ihn um seiner weltlichen Güter willen heiratete. Selbst er, der geblendet war von Liebe und Vertrautheit, konnte sehen, dass das elegante georgianische Haus ungeheure Summen für die Instandhaltung verschlang und dass viel mehr Arbeit in das Land investiert werden musste, als er und Mr Ridley – sein Gärtner und Mann für alles – leisten konnten. Und doch liebte Henry Nethercombe von ganzem Herzen und konzentrierte sich mit aller Willenskraft darauf, es wie ein Gut zu verwalten, wenn auch nur ein sehr kleines. An dem, was davon übrig geblieben war – auch wenn es verfiel –, hielt er entschlossen fest.
Also, was sah sie in ihm? Henry fuhr sich mit den Händen durch das dichte braune Haar, schüttelte den Kopf, verzog kläglich das Gesicht und schaute sich in dem kleinen, recht düsteren Arbeitszimmer um, in dem er sich um den Papierkram und die Belange des Guts kümmerte, und er versuchte, den Raum mit Gillians Augen zu sehen. Was ihn selbst betraf, so störten ihn Feuchtigkeit oder Mäuse nicht allzu sehr. Der Salon war noch immer einigermaßen respektabel – obwohl Henry dazu neigte, in der Bibliothek zu leben, einem gemütlichen vertäfelten und behaglich eingerichteten Raum –, und er nahm seine Mahlzeiten in dem fröhlichen kleinen Frühstückszimmer ein, dessen Fenster einen Blick nach Osten boten und dessen Balkontüren auf die Terrasse führten. Sein Schlafzimmer war so spartanisch eingerichtet und sommers wie winters so kalt, dass Mrs Ridley für die Rückkehr des jungen Paars aus den Flitterwochen das große Zimmer hergerichtet hatte, in dem früher seine Eltern geschlafen hatten.
Die Ridleys wohnten mietfrei in dem Häuschen am Anfang der Allee, die zum Haus führte, und Mrs Ridley kochte und putzte und sorgte für Henry und das ganze Haus. Henry bezahlte ihnen so viel er konnte, und sie lebten zu dritt sehr glücklich und anspruchslos zusammen. Wenn sich die Ridleys bei dem Gedanken an eine neue Herrin Sorgen machten, so behielten sie es für sich.
Henry trank eine Tasse lauwarmen Tee, die Mrs Ridley ihm vor einiger Zeit auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, schob den Stuhl zurück und schlenderte zum Fenster hinüber. Er vergrub die Hände in den Taschen seiner nicht mehr gesellschaftsfähigen alten Hose aus Moleskin und blickte hinaus auf die Rasenflächen zu beiden Seiten des Hauses und die jetzt in voller, prächtiger Blüte stehenden Rhododendren.
Es war ein eigenartiges Werben um Gillian gewesen. Er hatte sie auf einer Party im Haus eines Freundes kennengelernt. Sie hatte den jungen Architekten Simon Spaders aus Exeter begleitet, dessentwegen Henry eigens zu der Party gegangen war. Die kleine, schlanke, blonde junge Frau mit dem lebhaften Gemüt und der witzigen Zunge hatte Henry rasch für sich eingenommen. Er hatte mit ihr und dem Architekten über seinen Traum gesprochen, einige der alten Stallungen rings um einen Innenhof auszubauen, und sie hatte einige sehr vernünftige Bemerkungen dazu gemacht. Als Simon sich bereit erklärt hatte, nach Nethercombe zu kommen und sich die Baulichkeiten einmal anzusehen, hatte Henry schüchtern gefragt, ob Gillian, denn so lautete ihr Name, vielleicht Lust habe, ihn zu begleiten. Es war ein zauberhafter Nachmittag gewesen. Henry hatte die beiden herumgeführt und ihnen von seinen Hoffnungen und Plänen erzählt. Mrs Ridley hatte ihnen Tee auf die Terrasse gebracht, und sie hatten in der warmen Septembersonne gesessen und über die Dächer der Stallungen zum Fluss und zum Wäldchen geblickt, das im Süden an Nethercombe grenzte.
»Muss ein Vermögen wert sein«, hatte Simon bemerkt, als er und Gillian wieder wegfuhren. »Zumindest auf dem Papier. Er sollte das Ganze verkaufen. Es ist der Traum jedes Bauunternehmers. Der gute Henry würde über Nacht Millionär werden. Er braucht nur die richtige Person, die ihm einen Schubs gibt.«
Einige Wochen später war Henry überrascht und gleichzeitig geschmeichelt gewesen, als Gillian anrief und fragte, ob er sie zu einem Wohltätigkeitsball begleiten wolle. Henry war verzaubert gewesen und hatte den Abend sehr genossen. Während der folgenden Monate, unauffällig ermutigt von Gillian, hatte er die Initiative ergriffen, sie zum Essen eingeladen, sie auf Partys begleitet und sogar ins Theater in Plymouth ausgeführt. Noch nie war Henry so gesellig gewesen. Selbst jetzt, dachte er, während Mr Ridley – der auf dem Rasenmäher saß – aus seinem Blickfeld verschwand, selbst jetzt konnte er sich nicht recht daran erinnern, wie es zu dem Antrag gekommen war. Irgendwie war irgendetwas gesagt worden, gewiss nicht geplant oder beabsichtigt, und Gillian hatte ihn zu seiner Überraschung umarmt und geküsst und das angenommen, was sie für einen Heiratsantrag gehalten hatte. Er war zu entzückt gewesen, zu verblüfft über sein Glück, um sie zu desillusionieren. Er hätte Jahre gebraucht, um den Mut zu einem förmlichen Antrag aufzubringen. Stattdessen würde er sie nun heiraten, kaum mehr als sieben Monate, nachdem er sie kennengelernt hatte. Henry schüttelte den Kopf, blickte auf seine Armbanduhr und stieß einen leisen Entsetzensschrei aus. Er trank den Rest des inzwischen kalt gewordenen Tees aus, nahm seine Autoschlüssel von dem unordentlichen Schreibtisch und eilte hinaus. Er hatte sich Tagträumen hingegeben, und jetzt würde er sich beeilen müssen, um den Zug noch zu erwischen.
Gillian stand am Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie ihre Mutter und ihre Patentante über den Rasen schlenderten. Sie war ihrer Patentante dankbar, dass sie ihr erlaubte, in ihrem Haus zu heiraten, und dass sie die Kosten übernahm. Es war schon viele Jahre her, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen und eine neue Familie gegründet hatte. Ihre verschwenderische, extravagante Mutter – die nie in ihrem Leben gespart hatte und sich weigerte, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, sie könne sich eine Arbeitsstelle suchen, um die Zahlungen ihres Ex-Manns aufzustocken – war gänzlich außerstande, die Art Hochzeit zu bezahlen, die Gillian vorschwebte. Ihr Vater, der zu lange unter Gillians freimütigen Verunglimpfungen seines Charakters und seines Benehmens gelitten hatte, ignorierte die recht schroffe Bemerkung seiner Tochter, dass es seine Pflicht sei zu zahlen, setzte sie davon in Kenntnis, dass er am Tag der Hochzeit außer Landes sein werde, und schickte ihr einen Scheck über zweihundert Pfund. Gillian zahlte den Scheck auf ihr Konto ein und malte den Charakter ihres Vaters noch schwärzer, indem sie überall erzählte, dass er sich nicht nur geweigert habe, an der Hochzeit seiner Tochter teilzunehmen, sondern dass er ihr auch finanziell in keiner Weise unter die Arme greife. Ihre Mutter hatte sofort ihre älteste Freundin angerufen und über ihre Probleme geklagt. Wie, fragte Lydia, könne Angus nur so unväterlich sein und sich weigern, seine Tochter zum Altar zu führen, und wie könne sie in einer kleinen Wohnung in Exeter und mit dem jämmerlichen bisschen Geld, das Angus ihr gab, etwas Gescheites ausrichten? Und sei es auch nur, um den oft gehörten Beschwerden über die verschwenderischen und unnötigen Summen Geld, die seine neue Frau und seine Sprösslinge ausgaben, ein Ende zu bereiten, übernahm Elizabeth Merrick die ganze Verantwortung und verfluchte im Stillen den Tag vor dreiundzwanzig Jahren, als sie mit der kleinen Gillian in den Armen in der Kirche gestanden und die Gelegenheit versäumt hatte, den Säugling in der steinernen Schüssel des Taufbeckens zu ertränken. Dies würde jetzt ihr letzter Akt von Pflichterfüllung sein, und sie hatte die Absicht, es großzügig und mit Stil zu tun, ja, sie ging sogar so weit, ihren alten Freund und Steuerberater, den Gillian ihr Leben lang kannte, zu überreden, Angus’ Rolle bei der Zeremonie zu übernehmen.
Gillian wandte sich vom Fenster ab und wandte sich wieder der vergnüglichen Aufgabe zu, ihre neue Garderobe durchzusehen, die sie zu einem kleinen Teil dem Scheck ihres Vaters verdankte. Sie hatte ihren Job in einer Weinbar ebenso aufgegeben wie ihr Zimmer in einer Wohnung, die sie sich mit zwei anderen Mädchen geteilt hatte, und war mit Lydia zu Elizabeth gefahren, um dort die letzten beiden Wochen ihres Junggesellinnendaseins zu verbringen. Sie amüsierte sich gut. Obwohl sie mit Freuden bei Henry eingezogen wäre, bevor sie ihn heiratete – es war Henry nie in den Sinn gekommen, dies vorzuschlagen –, war sie doch entzückt über diesen großzügigen Abschied, für den an nichts gespart worden war. Sie fand, dass sie das Nethercombe schuldig war und dass auf diese Weise keiner von Henrys Freunden würde sagen können, sie habe ihn seines Geldes oder seiner Ländereien wegen geheiratet. Denn in diesem Punkt irrte Henry sich gänzlich. Gillian gehörte zu den Menschen, die trotz sichtbarer Beweise glaubten, jemand, der auf einem Gut wie Nethercombe lebte, müsse eo ipso irgendwo Geld versteckt haben. Simons Bemerkungen waren mehr als deutlich gewesen und weckten in ihr das Gefühl, dass es sich lohnte, sich immer wieder um Henry zu bemühen, auch wenn sie manchmal schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er jemals zur Sache kommen würde. Jetzt aber hatte sie das Gefühl, die Zügel in der Hand zu halten und das, wonach sie sich sehnte, in Reichweite zu haben. Sie liebte Henry nicht und war scharfsichtig genug, auch seine Gefühle für sie nicht mit dem großen Feuer der Liebe zu verwechseln. Henry war ganz und gar nicht der Typ Mann, der einer großen Leidenschaft zum Opfer fiel, aber er würde fürsorglich, liebevoll und treu sein – und ihm gehörte Nethercombe. Gillian war zufrieden damit, und sie wusste, dass sie erfahren genug war, um zu verhindern, dass Henry jemals Verdacht schöpfte, sie würde ihn vielleicht nicht lieben. Sie beabsichtigte, nach ihren eigenen Regeln fair zu spielen.
Ihre Mutter rief sie zum Tee, und mit einem kleinen, zufriedenen Nicken in Richtung ihrer hübschen neuen Kleider ging Gillian hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Gussie, die vorsichtig aus dem Zug stieg, sah Henry, bevor er sie sah. Sie lächelte, während sie beobachtete, wie er ängstlich die sich öffnenden Türen absuchte, und sie kam, wie sie es immer tat, zu dem Schluss, dass er genauso aussah wie sein Vater damals: untersetzt, breitschultrig und mit glattem Haar. Sie hatte ihn fast erreicht, als er sich umdrehte. Sofort malte sich ein entzücktes Lächeln auf sein Gesicht, das Herzlichkeit und Erleichterung verriet. Er nahm ihren Koffer, und sie musste sich ein wenig bücken – denn Gussie war eine hochgewachsene Frau, und Henry war nur durchschnittlich groß –, um ihm einen förmlichen Kuss zu geben.
»Henry, mein Lieber. Das ist ja so aufregend. Ich freue mich so sehr darauf, Gillian kennenzulernen. Meinen herzlichsten Glückwunsch.«
Sie folgte ihm hinaus zu dem zerbeulten Peugeot Kombi, dessen Rücksitze heruntergeklappt waren, um Platz für verschiedene landwirtschaftliche Gerätschaften zu bieten, und er öffnete ihr die Tür.
»Ich freue mich so sehr, dass du kommen konntest«, sagte er, als er hinter dem Steuerrad Platz genommen hatte. »Es wird ein schönes Gefühl sein, dich hinter mir zu wissen. In der Kirche. Von meiner Familie sind nicht mehr viele übrig, wie du weißt.«
Sie tauschten Neuigkeiten aus, während er aus dem Bahnhof in Totnes fuhr, an der Ampel wartete und nach links abbog, den Hügel hinauf.
»Es ist schön, wieder hier zu sein«, sagte Gussie, blickte zur Burg hinauf und bemerkte einige neue Gebäude am Stadtrand. »Ich freue mich so darauf, Nethercombe zu sehen.«
Henry bedachte sie mit einem ängstlichen Seitenblick. Die Worte schienen ihr direkt aus dem Herzen zu kommen. Sie sah dünner und abgezehrter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Natürlich wurde sie älter … Henry spürte das schmerzhafte Stechen von Gewissensbissen. Er sollte sie häufiger hierher einladen. Er erinnerte sich daran, dass Gussie Nethercombe stets geliebt hatte, und sein Herz flog ihr von Neuem zu. Jetzt, wo er eine Frau hatte, die das Haus behaglicher machen würde, sollte sie öfter zu Besuch kommen. Er würde sie einladen, hier Urlaub zu machen. Vielleicht über Weihnachten …
Gussie, die keine Ahnung von Henrys Plänen hatte, stieß einen wohligen Seufzer aus und lehnte sich zurück, um die vertraute Landschaft zu betrachten. Es war wunderbar, wieder auf dem Land zu sein, und das Wochenende dehnte sich herrlich lang vor ihr aus. Während sie durch Avonwick fuhren und die A38 querten, konnte Gussie in der Ferne die hohen Tors von Dartmoor sehen. Nethercombe lag innerhalb des Nationalparks, und seine Felder, die von Henrys beiden Pächtern bewirtschaftet wurden, zogen sich an den Ausläufern des Moorgebirges hoch. Das Haus selbst lag jedoch im Schutz des bewaldeten Tals. Gussie richtete sich auf, als sie in eine schmale Straße einbogen, von der die Auffahrt von Nethercombe abzweigte. Henry benutzte den von Bäumen gesäumten Hauptweg zum Haus nicht mehr, sondern fuhr an den Stallungen vorbei, die er auszubauen hoffte, zwischen Rasenflächen und Rhododendren hindurch und um das Haus herum. Er schaltete den Motor aus und lächelte Gussie an.
»Zu Hause«, sagte er. »Willkommen zurück.«
Der Morgen der Hochzeit dämmerte trocken und mild, wenn auch bewölkt, herauf, und Gussie und Henry fuhren zur Kirche, zusammen mit den Ridleys, die schüchtern – aber auch sehr stolz – auf der Rückbank des frisch polierten Kombis saßen, den Mr Ridley nach Nethercombe zurückfahren würde, wenn der Trauzeuge Henry und Gillian zum Flughafen brachte. Gussie strich sich den Rock ihres Kleids mit dem Paisley-Muster glatt, rückte Nells Strohhut zurecht und warf einen Seitenblick auf Henry, der, bemüht, seine Nerven zu beruhigen, Time was, when Love and I were well acquainted vor sich hin summte.
Die kleine Granitkirche war düster und kühl, und die Blumen schufen leuchtende Seen aus Farbe. Die Ridleys schlüpften entschlossen in die hinterste Reihe, aber Gussie folgte, das Kinn erhoben, die Schultern durchgedrückt – »Soldatentochter, Soldatenschwester« –, dem Zeremonienmeister zu der Reihe direkt hinter der, in der Henry und sein Trauzeuge sitzen würden, nachdem sie in der Vorhalle fotografiert worden waren. Henry hatte ihr erzählt, dass er es gern hätte, wenn sie in der Kirche hinter ihm saß, und dort wollte sie auch sein. Sie nickte der Familie der Braut zu und ließ sich zum Gebet auf die Knie nieder, wobei sie sich des Geraschels und der Aufregung um sie herum sehr wohl bewusst war.
»Liebe Gemeinde, liebe Freunde, wir sind hier im Angesicht Gottes zusammengekommen …«
Sie hat es geschafft, dachte Simon Spaders, der beschlossen hatte, sich als Freund des Bräutigams zu betrachten, jetzt, wo Henry ihn gebeten hatte, die Pläne für den Umbau zu zeichnen. Er betrachtete Henrys festes Kinn, das sich vor dem weißen Chorhemd des Pfarrers markant abzeichnete, und fragte sich, ob die Sache so leicht zu bewältigen sein würde, wie Gillian es sich vorstellte. Er schürzte nachdenklich die Lippen und ließ den Blick über die beiden erwachsenen Brautjungfern gleiten. Lucy wirkte sehr ernst. Diese eigenartige grünblaue Farbe stand ihr gut. Ich finde sie sympathisch, dachte er. Jetzt, wo Gillian anderweitig gebunden ist, könnte ich vielleicht an Lucy Gefallen finden …
»… um die menschliche Fleischeslust zu befriedigen …«
Das klingt gar nicht nach Henry, dachte Lydia, die ihren künftigen Schwiegersohn im Lauf der vergangenen Wochen liebgewonnen hatte. Er ist ganz und gar nicht dieser Typ. Ich denke, Gillian wird, was das angeht, ziemlich enttäuscht sein. Ich hoffe doch, dass sie weiß, was sie tut. Oje … Ihre Gedanken schweiften ab, und neidisch musterte sie Elizabeth’ wunderschön geschnittenes Kleid. Vielleicht hätte ich das Blauseidene anziehen sollen …
»… zuerst eingesetzt für die Zeugung von Kindern …«
Das kann er vergessen, dachte Gillian, wobei sie den Ausdruck sanfter Süße auf ihrem Gesicht beließ und Gott für die Pille dankte. Verdammt will ich sein, wenn ich mich so binde …
»… damit sie sich gegenseitig Gesellschaft, Hilfe und Trost seien in guten …«
Wie hübsch das klingt, dachte Henry. Wie wunderbar, jemanden zu haben, mit dem ich Nethercombe teilen kann. Er stellte sich vor, wie er und Gillian es sich an einem Winterabend in der Bibliothek gemütlich machten, seine alten Platten hörten und über die Dinge des Tages sprachen. Er warf einen Seitenblick auf seine Braut, und das Strahlen auf ihrem Gesicht entzückte ihn …
»… Wenn irgendjemand etwas gegen diese Ehe einzuwenden …«
Das Problem ist, lieber Gott, dachte Gussie, die regelmäßig mit dem Allmächtigen plauderte, den sie als stets gegenwärtigen spirituellen Freund und Ratgeber betrachtete, wenn ich jetzt vortreten und sagen würde: »Das ist alles falsch«, würde niemand es verstehen. Aber es ist völlig falsch, gerade so, als wäre Henry ein Mr Rochester und hätte eine Ehefrau auf dem Dachboden von Nethercombe versteckt. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber es ist einfach falsch …
»… Ich, Henry, nehme dich, Gillian …«
Aber wirst du in der Lage sein, sie zu halten, fragte Elizabeth sich und betrachtete den schmalen, geraden Rücken ihrer Patentochter. Gillian ist noch nie lange bei einer Sache geblieben, und, offen gesagt, ich kann sie mir nicht als Ehefrau eines Landbesitzers vorstellen. Nun, es ist nicht mein Problem. Während Lydia ein zartes, spitzengesäumtes Taschentuch hervorholte und begann, mütterliche Gefühle zur Schau zu stellen, versteifte Elizabeth sich ein wenig und tauschte ein winziges Lächeln mit dem hochgewachsenen, distinguierten Mann rechts von ihr. Wie nett von Richard, sich bereit zu erklären, Gillian zum Altar zu führen. Ich bin froh, dass er mit zum Empfang geht. Wie schön die Blumen sind …
»Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau …«
Und viel Glück, dachte Lucy, die erste Brautjungfer, Gillians alte Schulfreundin und ehemalige Mitbewohnerin. Und jetzt kann sie verflixt noch mal die Miete zahlen, die sie mir noch schuldet. Er ist ganz süß, auf eine brüderliche Art und Weise. Ganz und gar nicht Gillians Typ, selbst mit dem großen Haus. Ich hätte gedacht, dass eher Simon ihr Typ ist, und sie war so versessen auf ihn. Der Trauzeuge wirkt ziemlich locker …
»… erkläre ich euch hiermit zu Mann und Frau …«
Nell legte ihr Buch zur Seite, schaute auf die Uhr und schob die Fischpastete in den Ofen. Sie war sehr stolz auf ihre Fischpastete. Gussie hatte ihr das Rezept gegeben und neben ihr gestanden, als sie die Pastete zum ersten Mal zubereitete, und sie war entzückt gewesen zu hören, dass John das Essen in höchsten Tönen gelobt hatte. Nell, erstaunt darüber, dass sie etwas auf den Tisch brachte, das John wirklich gern aß, hatte die Pastete danach in regelmäßigen Abständen serviert, und falls John der Fischpastete müde war, so hatte er nichts gesagt. Überhaupt fragte Nell sich, ob John je bemerken würde, was er aß. Den Sommer über war er so aufgeregt über den Erfolg seiner Partnerschaft mit Martin gewesen, dass alles andere daneben zur Bedeutungslosigkeit verblasst war. Endlich entwickelten sich die Dinge zu seinen Gunsten, und Nell hatte ihm recht gegeben, dass ihr Schicksal sich anscheinend gewendet hatte. Die Leute investierten ihr Geld immer noch in Immobilien, und seit John sich mit Martin zusammengetan hatte, waren die Preise für Häuser um dreißig Prozent gestiegen.
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