Ein Hauch von Frühling - Marcia Willett - E-Book

Ein Hauch von Frühling E-Book

Marcia Willett

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Beschreibung

Daisy ist so verliebt in den geheimnisvollen Paul, dass ihre Gedanken nur noch um ihn kreisen. Dabei hätte die junge Ballerina allen Grund, über ihre Zukunft nachzudenken. Ihre Tanzlehrerin ahnt, dass sich ein Drama anbahnt. Denn sie weiß nur zu gut: Liebe macht blind. Vor der malerischen Kulisse Südenglands entfaltet die Autorin einen warmherzigen Roman über Liebe und Freundschaft.

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Seitenzahl: 487

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Über die Autorin:

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte und sich zu einer außergewöhnlichen Erzählerin entwickelte, die THE TIMES als »eine authentische Stimme ihrer Zeit« feierte.

Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann in Südengland, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.

Marcia Willett

Ein Hauch von Frühling

Roman

Aus dem Englischenvon Rita Seußund Sonja Schuhmacher

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der Originalausgabe: »Echoes of the Dance«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Marcia Willett

Originalverlag: Bantam Press

a division of Transworld Publishers, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2008/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Regina Maria Hartig

Titelillustration: © getty-images / David Clapp / © Shutterstock / Vilnis Lauzums

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-0159-5

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Annie Keay

Erster Teil

EINS

Onkel Bernard wurde es in seiner Schublade allmählich langweilig. Zwar gefiel es ihm, höher zu sitzen als die anderen Hunde – er fand es völlig in Ordnung, als alter Knabe mit leichten Gebrechen gewisse Privilegien zu genießen –, aber jetzt freute er sich auf das Vormittagsritual, das einen gemütlichen Spaziergang versprach. Er zappelte ungeduldig herum. Bevis, der sich auf den Fliesen ausgestreckt hatte und sich die Maisonne auf den Pelz scheinen ließ, warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, rührte sich aber erst, als ein Auto vorfuhr. Beide Hunde spitzten die Ohren, als sie die vertrauten Geräusche hörten: das Knirschen der Reifen, das Schlagen der Wagentür, Roly Carradines Schritte, die sich dem Haus näherten.

Kaum hatte Roly die Haustür geöffnet, klingelte das Telefon auf dem Fensterbrett. Roly stellte seine prall gefüllte Plastiktüte auf einen Stuhl, tätschelte kurz Bevis’ Rücken und nahm ab.

»Mim! Wie war’s?«, fragte er interessiert. »Nachdem du mir von der Kostümprobe erzählt hast, hab ich mich nicht mehr getraut anzurufen… Wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen…« Roly ließ sich, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, auf einen Korbstuhl sinken, lauschte der aufgeregten Stimme seiner Schwester und kraulte Bevis, den großen Retriever, hinter den Ohren. Nun wurde ihr Tonfall ernster, und Roly runzelte besorgt die Stirn. »Wer? Wie heißt sie? Daisy Quin? Ja. Ja, der Name sagt mir was… Eine schwere Verletzung?… Ja, warum nicht. Wie lange will sie bleiben?… Nein, ist schon in Ordnung. Und du kommst dann auch?… Schön… Pass auf, können wir später noch mal telefonieren? Ich bin gerade reingekommen, Onkel Bernard winselt, weil er rauswill. Ich habe nämlich einen Pflegehund geholt, der noch hinten im Auto sitzt… So gegen fünf? Tschüs!«

Einen Augenblick blieb Roly mit nachdenklicher Miene sitzen, bis ihn Onkel Bernard, empört über einen solchen Mangel an Respekt, mit einem scharfen Bellen an seine Pflichten erinnerte.

»Tut mir leid, alter Junge.« Roly schob Bevis beiseite und trat an die lädierte alte Holzkommode, in deren oberster Schublade ein Zwergrauhaardackel thronte. »Raus mit dir!«

Er setzte den Hund auf den Boden und beobachtete, wie der Dackel ein wenig steif in den Hof hinausstolzierte. Bevis folgte ihm, um einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen, der ängstlich im Fond des Kombis wartete. Seit Roly sich vor ein paar Jahren für den Vorruhestand entschieden und sein Fotoatelier in London geschlossen hatte, nahm er für den Tierschutzverein Hunde in Pflege. Bevis und Onkel Bernard waren es daher gewohnt, dass immer wieder neue Artgenossen bei ihnen lebten, die wegen Scheidung der Besitzer ihr Zuhause verloren hatten. Manchmal kamen auch verstörte Welpen, die man ausgesetzt hatte, sobald sich einige Wochen nach Weihnachten ihr Charme abgenutzt hatte; andere wieder waren herrenlos geworden, weil ihre Herrchen oder Frauchen gestorben waren oder ins Altersheim umsiedeln mussten. Sie alle durften bei Roly bleiben, bis sie eine neue Bleibe gefunden hatten.

Das alte Steinhaus oberhalb der Furt, inmitten wenig begangener Feldwege und Pfade, die teils ins Moor und zum Rough Tor hinaufführten, war das ideale Quartier für diese heimatlosen Tiere. Bevis, selbst ein Scheidungsopfer, hatte Ähnlichkeit mit einem freundlichen Vertrauensschüler, der sich um nervöse Neulinge kümmert, die zum ersten Mal von zu Hause weg sind, während Onkel Bernard – von Geburt an geliebt und verhätschelt – sich wie ein resoluter Internatsleiter gebärdete, der ungemütlich wurde, sobald sich ein Zögling schlecht benahm.

Roly öffnete die Heckklappe und hockte sich neben die Hündin, die, nervös mit dem Schwanz klopfend, die ungewohnte Szene beäugte, die sich ihr bot. Roly streichelte das zitternde Tier, und die Hündin kuschelte sich schutzsuchend an ihn.

»Das ist Bevis«, erklärte er ihr. »Er ist wirklich ein netter Kerl. Ich wünschte, ich könnte das auch von Onkel Bernard behaupten, aber ich möchte dich am Anfang unserer Beziehung nicht gleich anlügen.« Bevis streckte schwanzwedelnd die Schnauze vor, und Roly seufzte erleichtert. »Braver Junge! Sieh zu, dass sie sich wohl bei uns fühlt. Ihr Frauchen ist letzte Woche gestorben, sie steht noch unter Schock. Übrigens heißt sie Floss.«

Roly ließ die Heckklappe offen, sodass Floss hinausspringen konnte, wann sie wollte, und blieb einen Augenblick in der Sonne stehen. Auf der anderen Seite des Hofs, im rechten Winkel zum Haus, befand sich, ein wenig zurückgesetzt, ein kleines Stallgebäude; eine Treppe führte zum Eingang im oberen Stockwerk. Hier konnte man wunderbar Gäste unterbringen, und früher hatte Roly mit der Ferienwohnung sein Einkommen aufgebessert. Aber heutzutage konnten Urlauber offenbar selbst am Rand des Bodmin Moor nicht auf Geschirrspüler, Whirlpool und anderen Luxus verzichten, und die Wohnung wurde mittlerweile vor allem von Freunden genutzt, die mit Mim in regelmäßigen Abständen aus London kamen, um sich vom Stadtleben zu erholen. Nun stand sie Daisy Quin zur Verfügung.

»Weißt du noch, was ich dir von ihr erzählt habe?«, hatte seine Schwester gefragt. »Sie war damals meine Lieblingsschülerin. Daisy muss man einfach gernhaben, sie ist ein Schatz und außerdem eine hochbegabte Tänzerin. Letztes Jahr hat sie bei dieser Truppe angefangen, und inzwischen hatte sie Soloparts übernommen. Ein harter Schlag…«

Was genau passiert war, hatte er nicht gefragt: Mims Worte, die ihm ihren eigenen schlimmen Unfall in Erinnerung riefen, ließen ihn verstummen.

»Sie hat einen Muskelriss am Rücken, und das Gewebe ist arg entzündet«, hatte Mim rasch hinzugefügt; offenbar ahnte sie, warum er schwieg. »Es ist vor sechs Wochen bei den Proben passiert, und die Sache ist auch deshalb so ernst, weil sie schon zum dritten Mal eine Rückenverletzung hat, und jedes Mal dauert die Heilung länger. Jedenfalls ist die Truppe jetzt ohne sie auf Tournee gegangen. Sie kann schon wieder laufen, und ich dachte, ein Urlaub in Cornwall würde ihr guttun. Ist es dir recht?«

Natürlich war es ihm recht. Ein wenig menschliche Gesellschaft konnte zur Abwechslung nicht schaden. Er warf einen Blick in den Plastikbeutel, der Floss’ irdische Besitztümer enthielt, und wurde von dem inzwischen wohlvertrauten Mitgefühl überwältigt: eine gute Leine aus Leder, ein grünes Frisbee, zwei Hartgummibälle und ein zerkauter Teddy, dem beide Ohren fehlten. Das waren ihre Spielsachen. Ganz unten in der Tüte lagen eine ordentlich gefaltete Tartandecke und ein Futternapf aus Edelstahl. Roly nahm einen der Bälle heraus und ging zum Auto zurück. Bevis beobachtete aufmerksam, wie Floss mit der Entscheidung haderte, ob sie herausspringen sollte oder nicht.

»Braves Mädchen!«, sagte Roly aufmunternd. »Komm schon! Schau, was ich da habe!«

Er ließ den Ball einige Male hüpfen, und Bevis rannte dem Spielzeug aufgeregt bellend nach; selbst Onkel Bernard machte kehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Floss sprang aus dem Wagen, jagte mit Bevis dem Ball hinterher, und Roly griff nach seiner Mütze, schloss die Heckklappe und ging mit den Hunden hinaus auf den Weg, der zur Furt hinunterführte.

Das klare Wasser, das vom Hochmoor kam, reichte kaum aus, um die steinige Furt zu bedecken. Trotzdem zog Onkel Bernard es vor, die alte Granitbrücke zu benutzen, als wolle er sich von dem kindischen Umhergetolle der beiden größeren Hunde distanzieren, die ausgelassen im Bach tobten. Floss trank gierig das eiskalte Wasser, bis Bevis sie zum Spielen aufforderte und eine unbekümmerte Rauferei begann, bei der reichlich geplanscht wurde. Schließlich warf Roly den Ball weit über die Furt hinaus, und beide Retriever jagten hinterher. Als er den Wanderweg einschlug, hörte er den leisen, schnalzenden Ruf eines Schwarzkehlchens und entdeckte den hübschen Vogel, der in den Zweigen eines leuchtend blühenden Ginsterbusches thronte. Sein warnendes »Tack-tack« verriet, dass er das im Gebüsch verborgene Nest seines Weibchens bewachte.

Es war heiß, und die klare Luft war vom schweren, betörenden Duft der goldenen Blüten erfüllt. Roly atmete tief durch, und als er die wohltuende Sonnenwärme auf seinen Schultern spürte, stellte sich ganz unverhofft ein Glücksgefühl ein. In Momenten wie diesem wurde ihm der wahre Grund für seine Rückkehr nach Cornwall wieder bewusst: der Entschluss, Schuld und Angst abzuschütteln oder diese destruktiven Kräfte wenigstens zurückzudrängen. Jetzt waren die Hunde wieder bei ihm, brachten den Ball und balgten sich darum, wer die Jagd anführen durfte. Der Gummiball, den Roly Bevis abnahm und den Weg hinaufschleuderte, fühlte sich feucht und schleimig an; Roly wischte sich leicht angeekelt die Hand an seiner alten Kordhose ab. Trotzdem musste er lachen, als er die beiden vergnügt über das steinige Gelände toben sah. Onkel Bernard hatte eine Hasenfährte aufgenommen und ging, die Nase am Boden, eigener Wege. Roly blieb stehen und ließ den Blick über die zerklüfteten Granitfelsen von Brown Willy und Rough Tor gleiten, die sich vor dem Horizont erhoben, während unten im Tal Dörfer und Farmen, kleine verstreute Festungen aus Naturstein und Schiefer, der rauen Natur trotzten.

Hoch oben zog dröhnend ein Düsenjet seine Bahn – es sah aus, als hätte jemand mit Kreide ein weißes Band in den Himmel gemalt. Roly sah dem Flugzeug nach, bis es im Westen in den weißen Wolkenhaufen verschwand. Dort glitzerte in der Ferne das Meer. Er rief Onkel Bernard und begann mit dem Aufstieg.

Nach einem späten Mittagessen fiel Roly wieder ein, dass er versprochen hatte, seine Exfrau anzurufen. Mit einem unwilligen Seufzer lehnte er sich im Sessel zurück, faltete die Zeitung zusammen, stand schließlich auf und begann, den Tisch abzuräumen. Wenn er allein war, benutzte er den Geschirrspüler nicht, und er wusste, dass seine Entscheidung, gleich abzuwaschen, eine Verzögerungstaktik war. Trotzdem drehte er das Wasser an und griff nach dem Spülmittel. Er hatte keine Lust, mit Monica zu sprechen, und noch weniger wollte er über seinen Sohn Nat diskutieren, der, wie seine Mutter meinte, zu wenig Lerneifer an den Tag legte.

»Es ist nicht so, dass es ihm an Ehrgeiz fehlt«, hatte Roly ihr schon mehrfach erklärt, »er hat nur nicht den Ehrgeiz, der dir vorschwebt. Er lehnt deine Wertvorstellungen ab.«

»Nur weil du beschlossen hast, dich im tiefsten Cornwall zu vergraben…«

»Nein, das stimmt nicht! Ich habe mich nicht vergraben. Jahrelang habe ich in London gelebt und nur einen Teil des Jahres hier draußen verbracht. Jetzt mache ich es umgekehrt. Ich bin wirklich glücklich, Monica. Kannst du das von dir auch behaupten? Und wenn du es nicht bist, wie willst du dann beurteilen, was für Nat am besten ist? Anscheinend ist er doch vollkommen zufrieden. Ich habe mir einige Gärten angesehen, die er angelegt hat. Damit bereitet er den Menschen Freude. Gib’s doch zu – wenn er für Ground Force arbeiten würde und du vor deinen Freunden prahlen könntest, dass er im Fernsehen gärtnert, dann wärst du stolz auf ihn!«

Diese Gespräche führten meist in die Sackgasse, und Roly langweilten die endlosen Variationen desselben Themas. Andererseits wusste er, wie wichtig es für Monica war, mit ihm in Kontakt zu bleiben, und dass sie solche Ausreden brauchte, um ihn anzurufen und ein Treffen zu verlangen. Und weil ihn nach wie vor Schuldgefühle quälten, konnte er ihr das nicht abschlagen.

»Sie hat dich verlassen«, rief Mim ihm immer wieder in Erinnerung. »Beim ersten Anzeichen eines Problems hat sie sich aus dem Staub gemacht.«

»Ach, sei still!«, gab er dann ärgerlich zurück. »So einfach ist das nicht…« Mim zuckte nur die Schultern. Vernünftig wie sie war, ließ sie sich von solchen Ausbrüchen nicht aus der Ruhe bringen.

Vielleicht verstand Mim ihn ja deshalb so gut, weil sie schon als Kinder aufeinander angewiesen gewesen waren. So wie er sie in ihren turbulenten Teenagerjahren unterstützt hatte, als sie eigensinnig ihr Ziel verfolgte, Tänzerin zu werden, hatte sie ihm beigestanden, als in seinem Leben alles schiefging, als er dem Alkohol verfiel und sein Selbstvertrauen, seine Kunden, seine Frau und sein Kind verlor… Nicht dass Mim Monica eine Träne nachgeweint hätte – sie hatten einander nie gemocht –, aber den kleinen Nat zu verlieren war auch für Mim bitter gewesen.

Roly trocknete den letzten Teller ab, hängte das Geschirrtuch an den Herd und begab sich zur Terrassentür, die in den Wildgarten hinter dem Haus führte. Hier hatte er als Junge mit seiner Mutter in den letzten Monaten ihrer langen Krankheit herumgewerkelt; hier hatten sie, als er klein war, unter den ausladenden Ästen des blühenden Kirschbaums gesessen und die Fische in den großen Teichen beobachtet, und hier hatte er zum ersten Mal den Fischreiher im Garten entdeckt. Bis zu jenem Frühling vor über fünfzig Jahren hatten die überhängenden Äste die Teiche geschützt, und man hatte den Raubvogel nur am Fluss gesehen, aber dann hatten die Winterstürme zwei Obstbäume gefällt und einen freien Platz geschaffen, auf dem der Fischreiher gefahrlos landen konnte.

Da war der Bursche ja wieder, verdammt! Roly hob die Hand, um gegen das Glas zu schlagen, aber wie immer hielt ihn sein Instinkt davon ab. Stattdessen stand er genauso reglos da wie der schöne, imposante Vogel, der sich in einiger Entfernung hinter dem Teich auf der Weide niedergelassen hatte. Roly trat ein wenig zur Seite, um besser sehen zu können, da erhob sich der Reiher in die Luft, schlug gemächlich mit den Flügeln und machte sich auf den Weg flussabwärts, wo er wie jedes Jahr mit seinem Weibchen brütete.

Roly wandte sich von der Terrassentür ab, setzte sich in den Korbsessel und griff widerwillig zum Telefon.

ZWEI

Ich habe mir überlegt, nach Cornwall zu fahren«, verkündete Monica.

Roly wurde das Herz schwer, aber er versuchte, Ruhe zu bewahren. »Im Augenblick ist es schwierig«, erwiderte er. »Mim kommt übers Wochenende, und sie hat eine ehemalige Schülerin eingeladen.«

»Keine Sorge.« Monicas beleidigter Tonfall deutete an, dass sie mit einer solchen Reaktion durchaus gerechnet hatte. »Ich hab nicht vor, mich bei dir einzunisten.«

Roly widerstand der Versuchung, sich für seine Bemerkung zu rechtfertigen, und schwieg trotzig.

»Ich übernachte bei Nat«, erklärte sie.

»Schön«, sagte er fröhlich. »Das ist doch gut für euch beide. Dann siehst du selbst, wie es ihm geht, und bist nicht auf Berichterstatter vor Ort angewiesen. Was macht Jonathan?«

»Er hat viel zu tun.« Ihr Ton war scharf, aber nicht frei von Wehmut. »Ich kriege ihn kaum zu Gesicht. Er arbeitet an seinem Lehrbuch für Bilanzbuchhalter, und die verdammten Klienten lassen ihm keine Ruhe.«

»Stell dir vor, Nat hätte denselben Job, wie es ja dein Wunsch war.« Roly konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen. »Er ist ganz zufrieden mit seinem Leben. Aber du kannst dir ja bald selbst ein Bild machen.«

»Ich möchte doch nur, dass er glücklich wird, Roly.« Sie hüllte sich in vornehmes Schweigen, bevor sie fortfuhr: »Etwas anderes habe ich nie gewollt.«

Er versagte sich jede Anwandlung von Mitgefühl, die sie sofort als Schwäche gedeutet und ausgenutzt hätte. »Ich frage mich, wieso wir eigentlich alle denken, wir hätten sozusagen ein von Gott verbrieftes Recht auf Glück«, gab er munter zurück. »Wir brauchen uns doch nur umzuschauen, dann sehen wir, dass dieser Zustand ziemlich schwer zu erreichen ist. Zufriedenheit vielleicht, aber Glück…? Kennst du den Ausspruch von Alexander Pope? ›Hoffnung sprießt ewig in des Menschen Brust auf Erden: Glücklich ist er nie, doch wünscht er immer, es zu werden.‹« Er kicherte. »Ganz schön zynisch, findest du nicht?«

»Mit Literatur habe ich nichts am Hut«, gab sie kühl zurück. »Ich finde es jedenfalls nicht zynisch, wenn man dem eigenen Kind Glück wünscht.«

Roly seufzte leise und verdrehte die Augen. »Natürlich nicht«, sagte er. »Nur hängt es davon ab, wie man Glück definiert. Anscheinend glaubt Nat nicht, dass er als Juniorpartner in Jonathans Steuerberatungskanzlei glücklich werden kann. Aber darüber müssen wir ja jetzt nicht reden. Wann kommst du?«

»Ich muss noch mit Nat sprechen. Irgendwann nächste Woche, wenn er Zeit für mich hat. Dann fahre ich rüber und besuche euch.«

Wieder hatte ihre Stimme diesen wehmütigen Unterton – als wolle sie andeuten, dass sich ihre Mitmenschen ihr gegenüber nicht gerade fair verhielten und ihr das Leben etwas schuldig geblieben war.

»Das wäre nett. Du meldest dich dann. Jetzt muss ich aber los, die Hunde brauchen Auslauf. Bis bald.«

Er stellte den Apparat wieder aufs Fensterbrett und warf den Hunden einen schuldbewussten Blick zu. Nach dem langen Spaziergang hatten sie sich auf dem Boden ausgestreckt und schliefen friedlich. Monica weckte – wie der Fischreiher – widersprüchliche Gefühle in ihm: Ein schlechtes Gewissen und der Wunsch, sie zu besänftigen, standen im Widerstreit mit einer instinktiven Abneigung gegen Monicas eisernen Willen.

»Im tiefsten Innern ist Monica hohl«, hatte Mim einmal bemerkt. »Es ist schrecklich. Wir stehen unter Zwang, ihre innere Leere mit Geschenken aufzufüllen, mit Freundlichkeit, ja sogar mit uns selbst. Monica saugt das alles auf und will immer mehr, denn so viel man ihr auch gibt, es ist nie genug. Sie ist unersättlich. Sei vorsichtig, Roly!«

Er hatte versucht, die Warnung seiner Schwester mit einem Lachen abzutun – es klang ja wirklich dramatisch. Aber er ahnte, dass sie recht hatte. Mim hatte nur mit den Schultern gezuckt – sie hackte nie auf einer Sache herum – und war voller Anmut und Grazie gegangen. Der Unfall hatte ihrem leichten Schritt nichts anhaben können. Sie besaß Eleganz und Stil; ihr wäre es nie in den Sinn gekommen, sich an andere zu klammern. Ihr einziges Ziel war Perfektion bei ihrer Arbeit. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war frappierend. Phantasie, Impulsivität und eine vergeistigte Ausstrahlung hatten aus Mim eine herausragende Balletttänzerin gemacht – und auch ihrer Mutter Claire diese magische Anziehungskraft verliehen.

Claire hatte erkannt, dass man aus der großen Natursteinscheune an der Furt etwas machen konnte, die John Carradine zusammen mit dem Stall und ein wenig umliegendem Land behalten hatte, als die Farm seines Vaters verkauft wurde. Er hatte vorgehabt, die Scheune abzureißen und ein neues Haus für seine hübsche junge Frau zu bauen, aber Claire war entsetzt gewesen.

»Abreißen, Johnnie?«, hatte sie gerufen. »Aber die Scheune ist doch wunderschön. Können wir sie nicht einfach als Wohnhaus nutzen?«

Sie hatte ihn durch das große Tor in das Gebäude geführt, übersprudelnd vor Ideen, und er hatte sich widerstrebend auf ihre Vorschläge eingelassen: an einem Ende eine Küche einzubauen, von der einige Stufen zu einem großen Essbereich hinunterführen sollten, am anderen Ende einen großen offenen, mit Schieferplatten eingefassten Kamin. Einen Architekten wollte sie nicht beauftragen, lieber besprach sie ihre Vorstellungen stundenlang mit dem örtlichen Bauunternehmer. Es hatte eine Weile gedauert, bis die ratlosen Arbeiter verstanden, was Claire wollte, aber sie war hartnäckig geblieben und hatte ihren ganzen Charme eingesetzt. Ihre Begeisterung hatte schließlich alle angesteckt. Das Ergebnis war ihr Traumhaus: ein großer, lichtdurchfluteter Wohnbereich, freundlich und gemütlich. Der Besucherstrom aus London riss nicht ab; immer waren Freunde da, die um den massiven rechteckigen Tisch saßen oder es sich auf den bequemen Sofas vor dem Holzfeuer gemütlich machten. Die Freunde wiederum zeigten sich für die Gastfreundschaft erkenntlich, indem sie die Wildnis hinter dem Haus bändigten. Sie hatten den Bach angestaut, sodass die großen Teiche entstanden waren, hatte Büsche gepflanzt und Blumenzwiebeln gesteckt.

Roly hatte die Geschichte viele Male gehört. Er erinnerte sich, wie die Freunde seiner Eltern gekommen waren, einige mit dem Auto, andere mussten in Bodmin vom Bahnhof abgeholt werden. Anfangs wunderten sie sich, warum Claire eine vielversprechende Bühnenkarriere aufgegeben hatte, um sich mit einem jungen Tierarzt am Rande eines wilden Hochmoors in Cornwall niederzulassen. Später, als Roly alt genug war, um den Gesprächen folgen zu können, war dies kein Thema mehr.

Er machte es sich in seinem Korbsessel bequem und dachte an seine Mutter.

Mit halb geschlossenen Augen konnte er sie mit der kleinen Miriam auf dem Arm über den Küchenboden tanzen sehen, und er hörte ihre Stimme – Begin the Beguine oder These Foolish Things. Mim lehnte sich nach hinten und wollte herumgewirbelt werden, und Roly, der ihnen zusah, lachte lauthals und vergaß darüber seine Zeichnung. Er drehte sich auf dem Lehnstuhl um, damit er die beiden beobachten konnte. Claude, der behäbige Clumber-Spaniel seines Vaters, bellte aufmunternd, als Mim vor Freude über den wilden Tanz kreischte. Im Radio lief ein Unterhaltungsprogramm, die Musikstücke folgten übergangslos aufeinander. Schließlich sank Claire mit geröteten Wangen und nach Atem ringend auf einen Stuhl, aber Mim zog die Mundwinkel nach unten.

»Tanzen!«, schrie sie herrisch. »Ich will tanzen!«

»Du kleiner Tyrann«, entgegnete die Mutter lachend. »Ich kann nicht mehr. Du musst selber tanzen, wenn du weitermachen willst.« Sie stellte Mim auf den Boden, wo sie eine Zeit lang mit weit aufgerissenen Augen der Musik lauschte. Dann legte sie los, erst unsicher, aber bald drehte sie sich im Kreis, hüpfte umher und reckte verzückt die Arme.

»Willst du nicht auch tanzen?« Claire beugte sich über den Tisch, die blonden Haare fielen ihr ins Gesicht, aber Roly schüttelte nur den Kopf.

Er wollte nicht tanzen, er wünschte nur, er könnte ein Bild von seiner Mutter zeichnen, wie sie ihn so ansah, mit zerzaustem Haar und leuchtenden Augen. Er wollte diesen Blick einfangen und für immer aufbewahren. Instinktiv griff er nach seinem Farbstift, aber sie wandte sich mit einem Lächeln ab und lachte laut über Mims Possen, sodass er versuchen musste, sich ihr Gesicht und ihr Haar einzuprägen und dieses Leuchten in ihren Augen, das von innen zu kommen schien.

Roly schrak auf, als Bevis sachte sein Knie anstupste. »Meine Güte!«, murmelte er. »Tut mir leid, alter Junge. Bin ich etwa eingenickt?«

Floss beobachtete ihn von ihrer Decke aus, und wieder überwältigte ihn das Mitgefühl. Wie es wohl sein mochte, wenn man plötzlich aus seinem Zuhause herausgerissen wurde und bei Fremden leben musste? Es war eine Gratwanderung, einen Pflegehund freundlich aufzunehmen, dabei aber nicht zuzulassen, dass er sich zu sehr an den Gastgeber oder seine Hunde band; schließlich sollte der Pflegling irgendwann in ein neues Heim umsiedeln. Roly kraulte Floss hinter den Ohren, und sie setzte sich schwanzwedelnd auf. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine gute Stunde, bis Mim wieder anrief.

»Kommt«, sagte er. »Wir gehen zur Farm rauf und sehen, ob es frische Sahne gibt.«

Er holte Floss’ Leine, hob Onkel Bernard aus seiner Schublade, und dann spazierten sie hinaus in die warme Frühlingssonne.

Nach dem zweiten Gespräch mit Mim konnte er sich ein genaueres Bild von Daisy Quin machen. Es sei von Anfang an klar gewesen, hatte seine Schwester ihm erklärt, dass Daisys Karriere sich eher auf den Tanz als auf Gesang oder Schauspiel konzentrieren würde, obwohl sie das beste Allroundtalent gewesen sei, das sie je auf der Schule gehabt hätten. Mim, die selbst einst nur für den Tanz gelebt hatte, hatte Daisy ermutigt, ihre Begabungen auszuschöpfen und sich ein breites Spektrum an Kenntnissen anzueignen, auf die sie zurückgreifen konnte, falls etwas schiefging. Niemand wusste besser als Mim, wie wichtig es war, flexibel zu bleiben, denn das Tanzen war ein unsicheres Metier.

Eine Freundin, die eine erfolgreiche Bühnenschule leitete, hatte Mim nach dem Unfall überredet, bei ihr einzusteigen. Sie rechnete sich aus, dass Mims Name noch mehr Eleven anlocken würde, und sie versprach, dass Mim die Tanzklassen in eigener Regie leiten könne.

»Nun siehst du selbst«, hatte Jane West geradeheraus gesagt, »wie wichtig Vielseitigkeit ist.«

Offenbar kommt es jetzt darauf an, dass auch Daisy ihre Flexibilität unter Beweis stellt, hatte Roly zu Mim gesagt.

»Ja…«, hatte sie zögernd geantwortet. »Ich habe da eine Idee, kann sie aber noch nicht ganz fassen. Daisy war schon immer anders – sie ist etwas ganz Besonderes. Ich muss sie wiedersehen.«

Roly machte keinen Versuch, mehr aus seiner Schwester herauszubekommen, dafür kannte er sie zu gut. Aber das Gespräch steigerte seine Neugier noch, und er freute sich jetzt schon auf die Begegnung mit Daisy Quin.

DREI

Am Freitagmorgen wachte Daisy in aller Frühe auf. Sie hörte die Amsel im Henrietta Park singen – Pavarotti des Parks nannte sie sie – und die Schreie der Möwen, die flussaufwärts zogen. Als sie sich verschlafen räkelte, fuhr ihr ein stechender Schmerz in den Rücken und ins Bein und erinnerte sie schlagartig an ihre Verletzlichkeit und Angst. Die Physiotherapeutin hatte offengelassen, wann sie wieder ganz gesund sein würde und ob überhaupt die Chance bestand. Da Daisys Vertrag mit dem Ende der Proben auslief, war es wieder das alte Lied: kein Auftritt, keine Gage.

Unbeholfen richtete sie sich auf, blieb noch einen Moment auf dem Bett sitzen und streckte sich vorsichtig, bevor sie in der Küche Teewasser aufsetzte. Es war ein Glückstreffer, dass sie gemeinsam mit Suzy und Jill die Wohnung in der Henrietta Street gefunden hatte. In den letzten zwei Jahren hatte sie sich in Bath zu Hause gefühlt, und die Aussicht, von hier wegzugehen, war bitter. Noch dazu ausgerechnet jetzt...

Daisy trat mit ihrer Tasse ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Sie war von Natur aus optimistisch und kämpfte beherzt gegen die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit an, die sich einstellten, wenn sie über die Folgen ihres schlimmen Unfalls vor sechs Wochen nachdachte. Lieber beschäftigte sie sich mit ihrer bevorstehenden Reise nach Cornwall und dachte lächelnd und voller Dankbarkeit an Mim, die spontan so viel Mitgefühl gezeigt hatte. Bedächtig trank sie ihren Tee, betrachtete die Schattenmuster, die die blühenden, von der Sonne beschienenen Bäume auf das Pflaster malten, hatte aber sehr wohl den Kleinwagen bemerkt, der am Straßenrand parkte.

Beinahe hätte sie ihn verpasst, als er aus dem Haus trat. Plötzlich war er da, dort unten auf dem Gehsteig, die Aktentasche in der einen, den Autoschlüssel in der anderen Hand. Er öffnete die Wagentür, zögerte, dann warf er rasch einen Blick herauf. Mit einem Mal fürchtete Daisy, er könnte denken, dass sie nach ihm Ausschau hielt. Genau das tust du ja, sagte sie sich nun, aber statt sich wegzuducken, hob sie zum Gruß die Tasse. Er winkte zurück, stieg ein und fuhr los.

Als sie sich von dem hohen Schiebefenster abwandte, fühlte sie sich geradezu in Hochstimmung, kam sich aber gleichzeitig ziemlich albern vor. Schließlich kannten sie einander kaum.

»Ich bin Ihr neuer Nachbar«, hatte er sich vorgestellt, als sie sich eines Abends Mitte März im Treppenhaus begegnet waren. »Paul Maynard.«

»Daisy Quin«, hatte sie geantwortet und ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Sein Haar war dunkel, seine Augen munter und aufgeweckt. Eigentlich war alles an ihm aufgeweckt – seine Gesten, wie er sich bewegte, wie er sprach.

»Hallo, Daisy Quin. Wohnen Sie im ersten oder im zweiten Stock?«

»Im ersten«, gab sie zurück. »Mit Suzy und Jill. Wir sind Tänzerinnen bei der Upstage Dance Company.«

Er machte ein so überraschtes Gesicht, dass sie lachen musste.

»Irgendjemand muss es ja machen«, scherzte sie, und er stimmte in ihr Lachen ein.

»Ballett finde ich super«, hatte er gesagt. »Ein Riesenspaß. Ich übernehme im nächsten Trimester die Kunstabteilung an der Beechcroft School. Da habe ich noch viel Arbeit vor mir. Bis bald, Daisy Quin.«

Er hatte seine Wohnungstür aufgeschlossen und war so schnell verschwunden, dass sie sich merkwürdigerweise im Stich gelassen fühlte. Ja, bei jedem anderen wäre ihr dieses Verhalten geradezu unhöflich erschienen, aber Paul Maynard hatte so eine Art – sie konnte nicht glauben, dass er sich absichtlich schlecht benommen hatte. Nachdenklich war sie aus dem Haus gegangen, sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Merkwürdig war auch, dass sie nicht mit Jill und Suzy über ihn sprach. Sie brachte es nicht über sich, die üblichen witzigen Bemerkungen über den neuen Nachbarn zu machen, die unter den Umständen völlig normal gewesen wären. Stattdessen wartete Daisy ab, ob ihre Mitbewohnerinnen ihm nicht auch einmal über den Weg liefen.

Aber die beiden erwähnten ihn nicht, und ein paar Tage später sah Daisy ihn in der Argyle Street. Sie kam gerade von der Floristin an der Pulteney Bridge und trug einen großen Strauß Tulpen im Arm. Als sie die Straße überqueren wollte, stand er plötzlich neben ihr. Er lächelte hocherfreut, als hätte er gehofft, ihr zu begegnen.

»Daisy. Wie nett! Und was für tolle Blumen.«

»Tulpen sind meine Lieblingsblumen.« Sie erwiderte sein Lächeln und war albernerweise überglücklich, dass er sich an ihren Namen erinnerte. In die Freude, ihn wiederzusehen, mischte sich Verwirrung. »Vor allem wenn sie so schön dunkelrot sind.«

»In dem Fall schlage ich vor«, erwiderte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, »dass wir ins Chocolat gehen und etwas Leckeres trinken, was meinen Sie? Ihre Blumen würden gut zum Interieur passen.«

Die spontane Einladung überraschte sie, aber angesichts seiner ungezwungenen, natürlichen Art wäre es kindisch und unbeholfen gewesen, sie auszuschlagen.

»Ich geh da unheimlich gern hin«, gestand sie, »aber ich darf mir das nicht zu oft gönnen. Das Kokosnuss-Toffee-Eis ist einfach himmlisch.«

Sie überquerten gemeinsam die Straße, lasen, was auf der Tafel vor der Tür stand – »Wer sagt denn, dass nur Schweine Trüffel mögen?« –, und traten in das kleine Café. Als sie an dem runden Tischchen saßen – Daisys Tulpen lagen auf einem der dunkelrot gepolsterten Chromstühle –, studierten sie die Karte, auf der Orangen-Geranien-Eisschokolade als Getränk des Monats angepriesen wurde.

»Wer könnte da widerstehen?«, sagte Daisy voller Vorfreude. »Können Sie sich auch für Orangen und Geranien begeistern?«

Er grinste sie an. »Ab heute schon.«

Sie lachten, und plötzlich wurde sie schüchtern, was sie gar nicht von sich kannte. Er war schätzungsweise um die fünfunddreißig – gut zehn Jahre älter als sie –, und sie vermutete, dass seine entspannte Art daher rührte, dass er mit sich zufrieden war. Er wirkte nicht übertrieben selbstbewusst, er war einfach er selbst und glücklich damit. Er bestellte die Getränke und begann von einer Ausstellung zu erzählen, die er im Holburne Museum gesehen hatte. Er wirkte so ungekünstelt, so vollkommen natürlich, dass sie bald ihre Scheu ablegte.

Danach gingen sie zurück zur Henrietta Street, und Paul ließ sie ebenso abrupt wie bei der ersten Begegnung im Treppenhaus stehen.

Er war fast den ganzen April nicht da – Daisy sah weder ihn noch sein Auto –, wahrscheinlich war er über die Schulferien weggefahren. Doch als sie eines Abends nach einem strapaziösen Termin beim Masseur heimkam, stand er plötzlich neben ihr vor der Haustür. Als sie vor ihm in den Flur trat, sah er sofort, dass es ihr nicht gut ging.

»Was ist los?«, fragte er. »Haben Sie sich bei der Arbeit überanstrengt?«

Sie grinste gequält und erzählte ihm von dem Sturz während der Probe kurz nach der letzten Begegnung mit ihm, von der Diagnose und dass sie die dreimonatige Europatournee der Truppe nicht mitmachen konnte. Dabei gelang es ihr nicht, zu verbergen, dass ihr angeborener Optimismus schwer angeschlagen war, und Paul zeigte aufrichtiges Mitgefühl.

»Das ist schlimm«, sagte er. »Bestimmt sind Sie am Boden zerstört. Und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht mit mir ins Ballett gehen möchten, ins Theatre Royal, gegen Ende des Monats. Aber das ist wahrscheinlich das Letzte, was Sie jetzt unternehmen möchten, oder?«

»Haben Sie etwa Karten für das Royal New Zealand Ballet?« Mit einem Schlag war ihr Kummer vergessen. »Wie gern ich das sehen würde! Ich hatte gedacht, ich wäre um die Zeit im Ausland, deshalb habe ich mich nicht um Karten gekümmert, und jetzt ist es ausverkauft.«

»Ein Freund von mir hat keine Zeit, er hat mir seine Karten überlassen. Romeo und Julia, nicht wahr?«

Sie seufzte auf vor Freude. »Es ist eine neue Produktion, in der Choreographie von Christopher Hampson. Er ist wirklich phantastisch, und die Kritiken sind überschwänglich…«

Ihre Stimme versagte, und er lächelte über ihren Enthusiasmus.

»Das fasse ich als Ja auf. Ich sage Ihnen noch Bescheid, an welchem Abend es ist, ich muss mir die Karten erst näher ansehen. Und das mit Ihrem Unfall tut mir wirklich leid.«

Er holte seinen Schlüssel aus der Tasche, lächelte ihr kurz zu und verschwand. Wieder hatte sie das Gefühl, er habe sie einfach stehen lassen. Die tröstliche Wärme, die er verbreitete, war ihr urplötzlich entzogen, als hätte man eine Decke von ihren Schultern gerissen. Langsam stieg sie die Treppe hoch und versuchte ihre Gefühle zu analysieren. Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Paul dämpfte immerhin ihre Niedergeschlagenheit. Er war so…so freundlich. Nein, das traf es nicht ganz. Er wirkte so zugänglich – in kürzester Zeit fühlte man sich ihm vertraut –, aber sobald er verschwunden war, hatte sie den Eindruck, es sei gar nichts gewesen. Zum Beispiel war es ausgeschlossen, zu ihm hinunterzugehen, anzuklopfen und ihn auf einen Drink in ihre Wohnung einzuladen. Aber warum? Es schien, dass Paul Maynard, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden war, bereits bestimmte Regeln für ihre Beziehung aufgestellt hatte: Er lud sie ins Chocolat und ins Ballett ein, aber nicht in seine Wohnung.

Daraus wurde sie nicht schlau: Wie einfach wäre es doch gewesen zu sagen: »Komm rein, ich suche schnell die Eintrittskarten« oder so etwas. Stattdessen hatte sie wieder eine charmante Abfuhr bekommen; ein flüchtiges Lächeln, ein kurzes Winken, und fort war er. Vielleicht herrschte in seiner Wohnung ja noch das große Durcheinander, schließlich lebte er noch nicht lange hier. Oder er musste gleich wieder weg, oder es wartete Arbeit auf ihn.

Nächstes Mal, nahm sich Daisy vor, nächstes Mal lade ich ihn auf eine Tasse Tee zu mir ein.

Aber wann sie sich wieder über den Weg laufen würden, stand in den Sternen, denn das Royal New Zealand Ballet gastierte erst Ende des Monats in Bath. Bis dahin waren es noch drei Wochen. Für einen Augenblick bereute sie es, dass sie Mims Einladung angenommen hatte, aber sie kam schnell wieder zur Vernunft. Es wäre verrückt gewesen, die Bekanntschaft mit Paul übertrieben ernst zu nehmen.

Zwei Tage später fand sie einen zusammengefalteten Zettel unter ihren Briefen auf dem Regal in der Eingangshalle. Darauf stand: »Freitag, 28. Mai, um 19.30 Uhr. Wie wär’s, wenn wir uns um 19 Uhr treffen? Kommen Sie runter und klopfen an, wenn Sie fertig sind. P.M.«

Sie hoffte, ihm zu begegnen, um über die Verabredung zu sprechen, aber am Ende beschloss sie, ihm schriftlich zu antworten: »19 Uhr passt gut. Ich freue mich schon. Daisy.« Nach kurzer Überlegung hatte sie hinzugefügt: »Ab Sonntag bin ich für eine Woche in Cornwall.«

Daisy hatte seinen Zettel mehrmals durchgelesen. Sie fand es ziemlich förmlich, nur mit den Initialen zu unterschreiben, konnte aber ein gewisses Kribbeln im Bauch nicht leugnen.

Als sie jetzt an diesem strahlenden Frühlingsmorgen seinem Auto nachsah, fragte sie sich, ob sie sich etwa in ihn verliebt hatte.

VIER

Daisy hatte beschlossen, für die Fahrt nach Cornwall einen Wagen zu mieten. Ein Luxus, aber die Aussicht, Stunden in einem unbequemen Zugabteil zuzubringen, war unerträglich. Wenn sie selbst fuhr, konnte sie wenigstens ab und zu eine Pause einlegen. So sah in absehbarer Zukunft ihr Tagesablauf aus: viel Ruhe und gelegentlich sanfte Dehnübungen, damit das gerissene Gewebe allmählich heilen konnte. Daisy stöhnte frustriert. Mäßigung war ihre Sache nicht; sie war ein großzügiger, begeisterungsfähiger Mensch, der sich gern von Impulsen leiten ließ. Vorsichtig zu sein lag ihr nicht, und Zurückhaltung empfand sie als langweilig. Bisher war ihre überschäumende Energie in ihre Arbeit eingeflossen. Sie hatte mit acht Jahren an der Bühnenschule angefangen, später war sie unter anderem als Backing-Tänzerin in einem Musikvideo aufgetreten, hatte in einer Gruppe von sechs Tänzerinnen in mitgemacht, und seit zwei Jahren war sie nun bei der Upstage Dance Company.

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