Ein Versprechen aus Liebe - Marcia Willett - E-Book

Ein Versprechen aus Liebe E-Book

Marcia Willett

4,8
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe, Freundschaft und Intrigen im idyllischen Devon - Im malerischen Dartmouth lebt die sechzigjährige Evie glücklich in einem liebevoll restaurierten Bootshaus am Flussufer. Seit dem Tod ihres Ehemanns ist sie zudem Besitzerin einer prachtvollen Villa, auf die mehrere Familienangehörige längst einen begehrlichen Blick geworfen haben. Als ein verschollen geglaubtes Testament auftaucht, muss Evie eine folgenreiche Entscheidung treffen, um den würdigsten Erben zu bedenken.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Zweiter Teil

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Über die Autorin

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte. Ihre Bücher erscheinen in 18 Ländern. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Devon, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.

Marcia Willett

Ein Versprechen aus Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Röhl

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Marcia WillettTitel der Originalausgabe: »Summer on the River«Originalverlag: Bantham Press, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © getty-images/Richard CumminsUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2967-4

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Miriam

Erster Teil

1. Kapitel

Die Zeit der Loganbeeren ist fast vorbei. Während Evie die weichen, blutroten und von der Sonne gewärmten Früchte pflückt, die man so leicht versehentlich zerdrückt, hört sie das warnende »Tix-Tix-Tix« der Amsel, die halb versteckt in dem Efeu an der Mauer sitzt. Sie sieht zu ihr auf und erhascht gerade noch einen Blick auf einen schwarzen Flügel und einen golden aufblitzenden Schnabel.

»Ich weiß, dass du da bist«, sagt sie. »Hast dich selbst bedient, stimmt’s?«

Sie lässt die Beeren in ein Weinglas fallen, in dem auch ein paar Wicken stecken, richtet sich auf und sieht über die Dächer hinweg zur Hafeneinfahrt, wo zwei winzige weiße Boote über das wie blaue Seide schimmernde Meer gleiten. Sie kreuzen hin und her, und ihre Segel versuchen, den unbeständigen Wind einzufangen. Der steil ansteigende Garten hinter dem alten Kaufmannshaus ist in einer Reihe von Terrassen angelegt und von hohen Steinmauern umgeben, sodass er warm und vor starkem Wind geschützt ist. Auf der höchsten Ebene stehen auf Bodenplatten aus Schiefer ein weiß gestrichener, schmiedeeiserner Tisch und vier Stühle, die von einer niedrigen Lavendelhecke halb abgeschirmt werden. Der kleine umgrenzte Bereich über einer Wildnis aus Blumen und Büschen erinnert an ein Aquarell.

Evie setzt sich an den Tisch. Sie lächelt vor Vergnügen, als sie die Hand ausstreckt und mit den Fingern durch die hohen lilablauen Blütenstände des Lavendels fährt und seinen Duft einatmet. Tommy hat es geliebt, hier mit einer guten Flasche Wein zu sitzen und den Verkehr auf dem Fluss zu beobachten, der zwischen den bewaldeten Klippen aufs Meer zufließt. Wenn sie unter sich waren, nannte sie ihn Tommy. Thomas David Fortescue: der liebe Junge. So haben ihn seine Tanten immer genannt. Die drei hatten ihn großgezogen, als seine Mutter jung an Krebs gestorben war und sein Vater in London die Weinimportfirma der Familie leitete. »Bin ich an der Reihe, den lieben Jungen für diesen Feiertag … die Herbstferien … den Urlaub zu nehmen?« Im Lauf der Zeit zogen zwei der Tanten – die eine Witwe, die andere unverheiratet – in das Kaufmannshaus, damit das Leben des lieben Jungen so ungestört wie möglich verlief, und er wuchs so auf, wie seine Natur es ihm eingab: ruhig, optimistisch, großzügig. Die Gleichaltrigen nannten ihn TDF, obwohl einige von ihnen, die schöne Erinnerungen an die Tanten und glückliche Schulferien in Dartmouth bewahrten, ihn später immer noch als den »lieben Jungen« bezeichneten. Ihm machte das nichts aus, er genoss den Scherz, obwohl seine Frau es gelegentlich ärgerlich fand, das ihren eigenen Freunden oder Neulingen in ihrem Kreis erklären zu müssen. Sie rief ihn Thomas.

Marianne hatte London immer Dartmouth vorgezogen, obwohl es praktisch war, Freunde zu einer Party am Wochenende, zur Regatta oder manchmal zu Weihnachten hierher einzuladen. Mit seinen eleganten Räumen, dem dramatischen Panoramablick auf den Fluss, dem strahlenden Licht und seiner Weitläufigkeit war das Haus perfekt für Feiern geeignet.

Als ihr gemeinsamer Sohn Charlie älter wurde, wurde Marianne umtriebiger denn je, organisierte das Gesellschaftsleben ihres Sohnes und empfing seine Freunde. Tommy fuhr immer öfter allein nach Dartmouth.

Als Evie an diesem Abend Ende August an dem Tisch auf der Terrasse sitzt, sieht sie ihn vor sich: groß, schlank, schwarzes Haar, braune Augen. Zum ersten Mal war sie ihm auf der Straße vor dem Haus begegnet, nachdem sie die steile Treppe hinaufgestiegen war, die von dem ausgebauten Bootshaus, das sie kaufen wollte, dort hinaufführte. Sie hatte gerade das Straßenpflaster erreicht und blieb stehen, um zu Atem zu kommen, als Tommy aus dem eleganten Stadthaus gegenüber trat. Er ließ die Schlüssel in seine Tasche fallen, drehte sich um, erblickte sie und lächelte ihr zu.

Fast fünfundzwanzig Jahre später lacht Evie bei der Erinnerung: Dieses Lächeln hatte bei ihr ein ganz eigenes Erdbeben ausgelöst. Es war freundlich, fast amüsiert, als hätte er irgendwie erraten, dass sie sich in großer Aufregung befand. Er zog die Augenbrauen hoch, und es war, als forderte er sie auf, ihm davon zu erzählen. Und so tat sie es.

»Sehen Sie doch«, sagte sie, winkte ihn über die Straße und beugte sich über die Mauer, um auf das kleine, frisch umgebaute Bootshaus am Ufer zu zeigen, das sich im Sonnenschein und im Glanz des Wasserlichts über dem Fluss erhob. »Ist das nicht wunderschön? Ich werde es kaufen!«

»Donnerwetter!«, sagte er eifrig wie ein Kind und nahm an ihrer Freude Anteil. »Wie schön für Sie! Dann werden wir ja Nachbarn.«

»Leben Sie dort?« Mit einer Kopfbewegung wies sie über die Straße zu dem Kaufmannshaus. Sie war beeindruckt – und so hoffnungsvoll, dass ihr Herz schneller klopfte. Er war sehr nett.

»Größtenteils in London«, erklärte er betreten. »Ich komme nach Dartmouth, sooft ich kann. Meine Frau langweilt sich hier sehr schnell, und sie segelt nicht. Ich liebe es aber.«

Oh, verflixt!, dachte sie. Er hat eine Frau. Na schön.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie gemeinsam den Hügel in Richtung Fairfax Place hinuntergingen.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Ich habe Sie noch nicht in der Stadt gesehen, meine ich. Sind Sie von hier?«

»Nein. Ich wohne seit fünf Jahren in einem gemieteten Haus in der Nähe von Totnes. Früher habe ich Geschichte an der Universität Bristol unterrichtet. Mein Spezialgebiet war der Bürgerkrieg. Und dann habe ich angefangen, einen Roman darüber zu schreiben und …«

Sie zögerte, denn sie wollte nicht allzu viel davon erzählen – wie erfolgreich die Bücher waren, dass sie sich entschieden hatte, ihren Beruf aufzugeben, um sich aufs Schreiben zu konzentrieren –, doch er sah sie jetzt noch aufmerksamer an.

»Sagen Sie mir nicht, dass Sie Evelyn Drake sind.«

Sie lachte über seine Aufregung. »Ja, genau die bin ich. Aber behalten Sie das bitte für sich!«

»Ich liebe Ihre Bücher über den Bürgerkrieg«, erwiderte er. »Ich habe jedes einzelne gelesen. Und was habe ich da von einer Fernsehserie gehört?«

Sie nickte, gleichermaßen begeistert wie peinlich berührt. »Ein unglaublicher Glücksfall. Und jetzt hat mir ein amerikanischer Verleger einen Vertrag für die ersten beiden Bücher angeboten; deswegen kann ich es mir auch leisten, das Bootshaus zu kaufen. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das Ganze nur träume.«

Er musterte sie genauer. »Sind Sie verheiratet?«, fragte er leichthin. Sie schüttelte den Kopf. »Gibt es jemanden an Ihrer Seite?« Noch ein Kopfschütteln. »Dann trete ich also niemandem auf die Füße, wenn ich Sie zu einem Drink einlade?«

»Ich muss die Schlüssel zum Immobilienmakler zurückbringen, aber danach würde ich mich freuen«, sagte sie, und das war der Anfang gewesen.

Stumm hebt Evie ihr Glas mit den Loganbeeren und Wicken auf ihn und ihre gemeinsamen Jahre, zehn als seine Geliebte und nach Mariannes Tod zwölf als seine Frau. Während dieser Zeit hatten sie abwechselnd im Kaufmannshaus und im Bootshaus gelebt, doch als der liebe Junge zwei Tage nach einem Aorten-Aneurysma im Krankenhaus von Dartmouth starb, war Evie wieder ins Bootshaus gezogen und hatte das Kaufmannshaus an Freunde vermietet, die umzogen und deren neues Haus noch nicht verfügbar war.

Jetzt stellt sie das Glas wieder auf den Tisch und sieht über den in Terrassen angelegten Garten hinunter zum Haus, aus dem eine Gestalt tritt. Die Mieter sind ausgezogen, und Ben wohnt hier, während er sich von dem nicht lange zurückliegenden Scheitern seiner Ehe erholt. Bens Vater und Tommy waren Cousins. Mit Ben hat Evie die Flasche Wein geleert, die auf dem Tisch steht, und er ist derjenige, der nun durch den Garten zu ihr kommt. Charlie und er sind einander so ähnlich, dass sie Brüder sein könnten. Sie sind schlank, groß und dunkel, genau wie Tommy. Evie liebt sie beide gleichermaßen.

Was soll ich tun?, fragt sie sich nicht zum ersten Mal.

Ben betrachtet ihr Glas und zieht die Augenbrauen hoch. »Nicht mehr viel Platz für Wein.«

Sie schüttelt den Kopf und steht auf. »Ich möchte auch nichts mehr, mein Lieber. Kommst du zum Abendessen ins Bootshaus?«

»Nicht heute Abend, ich muss ein Projekt fertigstellen, aber danke.« Er weist auf die Loganbeeren und die Wicken. »Brauchst du dafür ein anderes Gefäß?«

»Ich suche mir auf dem Weg ins Bootshaus etwas in der Küche.«

Er bückt sich, um sie zu küssen, und sie geht vorsichtig auf der im Zickzack verlaufenden Treppe durch den Garten und in die Küche.

Das Kaufmannshaus ist Evie nie wirklich ein Zuhause gewesen. Sogar, als sie mit Tommy hier wohnte, war sie sich der Familientradition zu bewusst, des Umstands, dass sie nur übergangsweise hier lebte, um sich zu entspannen und es richtig zu genießen. Die Fortescues waren immer zwischen Dartmouth und London gependelt, aber nachdem die Tanten gestorben waren und Tommy Marianne geheiratet hatte, war das Kaufmannshaus weniger ein Haus gewesen, in dem die Familie lebte, als vielmehr ein Feriendomizil. Marianne lud manchmal Freunde und Kunden ein, um sie zu beeindrucken, und als Kinder verbrachten Charlie und Ben jeden Sommer ein paar Wochen in Dartmouth. Deswegen redeten und lachten Evie und Tommy im Bootshaus miteinander und erzählten sich dort ihre Geschichten. Es war keine Affäre im üblichen Sinn des Wortes – obwohl der Sex gut war, als es so weit kam – und hatte nichts damit zu tun, dass der Reiz des Verbotenen und die Heimlichkeit die Flammen der Anziehung angefacht hätten. Es war viel einfacher: so, als hätte jeder von ihnen jemanden gefunden, den er brauchte, um eine schmerzhafte Lücke zu füllen und dem Leben wieder einen Sinn zu verleihen. Es war etwas ganz anderes als Tommys Leben in London; sie waren diskret, und falls jemand unter den Hiesigen etwas erriet, sprach er nicht darüber. Seit Generationen lebten Fortescues in Dartmouth, und die Zuneigung und Loyalität den Tanten und Tommy gegenüber war immer noch sehr stark.

Gleichzeitig war es wahrscheinlich falsch, überlegt Evie nun, während sie die Wicken und Loganbeeren in eine kleine Tonschale gibt. Aber ich kann es einfach nicht bereuen. Tommy stand so mit beiden Beinen auf dem Boden. Obwohl ich mich dann frage, warum er mich brauchte. Ich vermute, wir haben einander etwas gegeben, was uns fehlte. Wir waren vollkommen auf einer Wellenlänge. Bücher, Musik, Filme, es war außerordentlich; fast, als wären wir zusammen aufgewachsen und hätten denselben Wissens- und Erfahrungsstand. Es war so einfach, mit ihm zusammen zu sein.

Vermutlich hatte Charlie später, nachdem Tommy und sie verheiratet waren, erraten, dass es schon vorher eine Art Beziehung gegeben hatte. Viel später konnte sie mit ihm darüber sprechen, doch während dieser frühen Jahre hatte Evie sich bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen die Familie sich in Dartmouth aufhielt, sorgfältig zurückgehalten.

»Schade eigentlich«, hatte Tommy einmal gemeint. »Marianne ist eine notorische Trophäenjägerin. Sie wäre vollkommen aus dem Häuschen darüber, dich bei einer ihrer Wochenend-Partys zu Gast zu haben.«

Aber Evie schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich könnte die Rolle nicht spielen. Und du auch nicht. Außerdem wäre es ihr oder Charlie gegenüber nicht fair. Besonders Charlie gegenüber nicht. Mir gefällt, was du mir von ihm erzählst.«

Charlie lebt, ganz wie seine Mutter, lieber in London. Er hat sich inzwischen dort glücklich im Haus der Familie in Kensington niedergelassen und leitet die Weinimportfirma. Er war hocherfreut, als Evie und sein Vater heirateten. Zu dem Zeitpunkt war er selbst noch nicht lange verheiratet, stolzer Vater und in einer großmütigen Stimmung, in der er jedermann glücklich sehen wollte. Er und Evie fanden rasch zu einer ungezwungenen, lockeren Beziehung. Charlie pflegte sich über ihre Witze vor Lachen auszuschütten, während seine Frau verkniffen lächelte und verblüfft über Evies zwanglose Herangehensweise an das Leben und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Meinungen und der Kritik anderer war.

»Ich kann nicht umhin, mich zu fragen«, meinte Evie einmal zu Tommy, »ob Angela so ganz die Richtige für deinen Charlie ist.«

»Ach, Ange ist schon okay«, gab er tolerant zurück. »Sehr vernünftig. Und was das Geschäft angeht, ein Gewinn. Sehr aufgeweckt und tüchtig.«

Evie schnitt eine Grimasse. »Er könnte eine Sekretärin mit diesen Eigenschaften einstellen.«

Tommy wirkte nachdenklich. »Charlie ist ein komischer Kerl. Er ist durch und durch ein vernünftiger Mensch, doch er ist nicht immer so selbstbewusst, wie er im Allgemeinen wirkt. Seine Mutter hatte großen Einfluss auf ihn. Marianne war zutiefst überzeugt von Ange – wir kennen die Familie seit Jahren –, und ich glaube, Charlie hat sich einfach an sie gewöhnt. Er hat gesehen, dass sie gut darin sein würde, für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen.«

Und so kam es auch. Wie Marianne vor ihr kannte Angela die richtigen Leute, schloss die richtigen Freundschaften und konnte gut mit den Kunden umgehen – auch wenn ihr Mariannes Großzügigkeit fehlte. Trotzdem florierte die Firma weiter und damit auch Charlies Zukunftsperspektiven.

Was wusste ich schon!, fragt Evie sich, schließt die Haustür hinter sich und überquert die Straße. Tommy hatte recht, und mich ging es nichts an.

Aber jetzt geht es sie was an. Tommy hat es zu ihrer Sache gemacht. Charlie hat das Haus in Kensington geerbt, die Firma und das Vermögen; doch das Kaufmannshaus hat er Evie vermacht. Charlie ist verwirrt, aber höflich; Ange schäumt vor Wut.

»Ziemlich ungewöhnlich«, meinte sie nach der Testamentseröffnung zu Evie. »Das Haus ist seit Generationen in Familienbesitz.«

»Evie gehört zur Familie«, rief Charlie ihr sanft ins Gedächtnis, und Ange errötete auf ihre typische unvorteilhafte Art, bei der ihr das Blut von der Brust ausgehend ins Gesicht schießt, wenn sie verärgert ist.

»Du weißt genau, was ich meine«, murrte sie.

Evie hätte ihr am liebsten beigepflichtet, musste aber schweigen; sie war ebenso schockiert wie Ange. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass Tommy dies verfügen würde.

Jetzt hält Evie die Schale fest, steigt die steile Treppe hinunter, die zu dem gepflasterten Gemeinschaftsareal hinter dem Bootshaus führt, und schließt die Tür auf. Licht, das vom Fluss hereindringt, überflutet den polierten Holzboden, bebt auf den weißen Wänden und steigt bis zu den Balken an der hohen Decke des weiträumigen Wohnraums auf. Sie stellt die Schale neben dem Spülbecken ab, geht quer durch den Raum zu den beinahe deckenhohen Glastüren, die auf den Holzbalkon führen, und tritt hinaus. Wenn sie dem Fluss den Rücken zukehrt und nach oben sieht, kann sie hoch über sich an der Straße das Kaufmannshaus und seine eleganten Nachbargebäude erkennen. Um sie herum stehen weitere ausgebaute Bootshäuser, die sich unregelmäßig zwischen Fischerhütten verteilen, die unterhalb der Straßenebene errichtet sind und die sich in den Fels über dem Fluss schmiegen. Einige haben Anlegestellen mit schweren Holztoren, die sich bei Flut schließen lassen und wo kleine Boote liegen können; ein paar Eigentümer haben hohe Steinsäulen bauen lassen, in die ein Aufzug integriert ist, sodass man nicht die steile Treppe zur Straße hinaufsteigen muss. Einige besitzen kleine, von hohen Steinmauern umgebene Höfe. An diesen Wänden wachsen bunte Blumen, Baldrian, Fieberkraut, Malven und Hortensien entspringen den Spalten zwischen den Steinen und gedeihen in der Salzluft prächtig.

Wenn sie über den Fluss hinausschaut, kann Evie auf dem Hügel über dem Jachthafen Kingswear mit seinen in Stufen aufsteigenden Häusern erkennen, schmale Reihenhäuser in Eiscremefarben: Mintgrün, Rosarot, Vanillefarben oder Kaffeebraun.

Die Sonne ist hinter dem Hügel untergegangen, und der Balkon liegt im Schatten. Zu dieser Zeit fehlt ihr Tommy am meisten, am frühen Abend, wenn die Arbeit getan ist und es Zeit ist, die Kerzen anzuzünden, das Abendessen zu kochen und über die Ereignisse des Tages zu reden. Im Winter lässt Evie dann die hübschen, handbemalten Jalousien vor den Fenstern herunter, die nach Norden, flussaufwärts, gehen, und schließt die Vorhänge vor den großen Glastüren. Durch die Verbindungstür, die von dem Hauswirtschaftsraum hinter der Küche abgeht, tritt sie in das kleine, angrenzende Fischercottage, in dem sie schreibt und in dem ihr gemütliches, warmes Arbeitszimmer untergebracht ist, geschützt vor den Winterstürmen und den hohen Frühlingsfluten, die vom Meer her heranstürzen. Hier liegen auch die Schlafzimmer; sie sind nicht besonders groß, aber vollkommen ausreichend. Der Kontrast ist außerordentlich: das bunt gescheckte, verwinkelte Cottage mit seinen unerwarteten Stufen und der riesige, lichterfüllte Raum, in dem man sich wie in einer Ausdehnung des Flusses fühlt.

Evie öffnet einen Schrank und findet eine Vase für die Wicken; sie leert die Loganbeeren auf einen kleineren Teller. Die Schale muss zurück ins Kaufmannshaus. Evie legt größten Wert darauf, dass nie etwas durcheinandergerät.

»Es gehört jetzt auch dir«, pflegte Tommy nach ihrer Heirat zu sagen, doch sie schüttelte den Kopf.

»Es gehört deiner Familie, nicht mir.«

»Aber du bist meine Familie«, protestierte er dann. »Das ist unser Zuhause, liebste Evie. Entspann dich! Sei nicht immer so unabhängig! Du bist doch glücklich, oder? Ich weiß, dass du dein Bootshaus liebst, aber du magst auch diesen alten Kasten, nicht wahr?«

Ja, sie liebte ihn: Das Kaufmannshaus war reizend und elegant und dennoch warm und freundlich. Sie liebte den großen, behaglichen Frühstücksraum, der von der Küche abging, und den hellen, sonnigen Salon im ersten Stock, dessen hohe Schiebefenster zum Fluss hin lagen. Sie liebte den geschützten, in Terrassen angelegen Garten mit seiner großartigen Aussicht, den Obstbäumen, die an den Steinmauern wuchsen, und den Duft der Lavendelhecke am Ende eines heißen Tages. Es war ein Haus für eine Familie – aber das war nicht ihre Familie, wie Ange stets betonte. Jedes Mal, wenn sie und Charlie zu Besuch kamen, mit Alice als kleinem Baby und später auch mit Millie, nutzte Ange jeden Anlass, um ihre Stellung als Tommys Schwiegertochter, Frau seines geliebten Sohnes und Mutter seiner anbetungswürdigen Enkelinnen geltend zu machen. Angela hatte Dartmouth schon besucht, als Marianne noch lebte, kannte das Haus genau und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Evie das Gefühl zu vermitteln, eine Außenseiterin zu sein. Nicht vor Charlie oder Tommy – dazu war sie zu klug –, aber Ange unterstrich ihre Besitzansprüche mit unterschwelligen Anspielungen und Handlungen.

Natürlich wäre sie nie auf die Idee gekommen, Tommy könnte Evie das Haus vermachen.

Jetzt streift Evie das Problem ab – oder sie läuft davor davon. Sie nimmt ihre Tasche und geht wieder hinaus. Sie überquert das gepflasterte Areal, das ihr Nachbar mit Beetpflanzen in Terrakottatöpfen wunderschön hergerichtet hat, und steigt die Treppe zur Straße über ihr hinauf. Sie will zum Flussufer gehen, Boote und Menschen beobachten und vielleicht im Hotel Royal Castle etwas essen. Heute Abend will sie nicht allein sein. Morgen kommt Claude zurück, Tommys ältester und bester Freund. Nachdem sie als Jungen zusammen auf dem Internat waren, ihre Ferien bei den Tanten im Kaufmannshaus verbracht und Ausflüge nach London unternommen haben, blieb ihre Freundschaft stark und hat Heirat, Kinder und räumliche Trennung überlebt. Claude ist seit fast vier Jahren Witwer und verbringt inzwischen viel Zeit bei Evie in Dartmouth. Als pensionierter Marinekommandant hält er sich gern in dieser Stadt auf, die ihn an seine Zeiten als Kadett an der Königlichen Marineschule Britannia erinnert, und beobachtet die jungen Rekruten auf dem Fluss.

Evie empfindet Claude gegenüber eine besondere Zuneigung. Er war der einzige von Tommys Freunden, der von ihrer Affäre wusste. Claude hat nie ein Urteil gefällt, sie niemals kritisiert, sondern sie nur herzlich in seine Beziehung zu seinem ältesten Freund einbezogen.

»Er versteht sich nicht besonders gut mit Marianne«, sagte Tommy dazu nur. »Ich würde mich freuen, wenn ihr Freunde würdet.«

Und das sind sie; und morgen früh wird sie ihn vom Bahnhof in Totnes abholen. Claude kommt zur Regatta immer her.

Sie schlendert am Ufer entlang, wo sich immer noch Besucher aufhalten, und begibt sich dann – vorbei am Innenhafen, wo kleine Boote liegen – in die Stadt. Evie überquert die Straße und stößt die Tür des Hotels Royal Castle auf. In der lang gestreckten Bar mit der niedrigen Decke und den dicken Eichenbalken ist es ruhig, denn es ist noch ziemlich früh für Touristen oder Einheimische, und sie kann sich ihren Lieblingstisch am Fenster sichern. Sie lässt die Jacke über dem Stuhl hängen und tritt an die Bar, um sich etwas zum Abendessen und ein Glas Pinot Grigio zu bestellen. Eine laute, fröhliche Gruppe drängt sich herein, und sie lächelt den jungen Leuten zu, als sie sich an ihnen vorbeizwängt und ihren Wein zum Tisch trägt.

Evie entspannt sich auf ihrem Stuhl, sieht auf die schwimmende Anlegestelle hinaus und fragt sich, wie oft sie schon mit Kaffeetasse und Weinglas hier gesessen und über ihren aktuellen Roman nachgedacht hat.

»Wird es dir nicht manchmal einsam?«, pflegte Tommy gelegentlich zu fragen. Dann umarmte er sie fest, und seine Stimme klang nervös, weil er fürchtete, sie könnte Ja sagen und ihm vorwerfen, sie allein zu lassen, sie auszunutzen.

Dann lachte sie und spottete über seine Angst. »Wo ich den Kopf voll mit meinen Figuren habe?«, fragte sie. »Machst du Witze?«

Und zum Teil stimmte das auch: Ständig drängten sich in ihren Gedanken Gesprächsfragmente, Handlungsstränge oder alte Verbindungen, die die Beziehungen zwischen den Charakteren durchzogen.

Hier, im Royal Castle, hat sie schon Menschen beim Essen, Trinken, Lachen und Reden zugesehen; sie hat Gesichtsausdrücke, Gesten, Körpersprache beobachtet und tut es noch immer – und während sie sich innerlich Notizen macht, ist sie sich auch der lange dahingegangenen Generationen bewusst, die diesen mittelalterlichen Hafen bewohnt haben, von dem Handelsexpeditionen ausgegangen sind und wo die Pilgerväter auf ihrem Weg nach Amerika eine Weile vor Anker lagen.

Während sie an ihrem Wein nippt, wird sie sich nach und nach bewusst, dass sie dieses Mal unter Beobachtung steht: Jemand behält sie im Auge. Ein eigenartiges Gefühl wie ein kalter Luftzug scheint ihre Haut zu streifen. Ganz beiläufig sieht sie sich um und bemerkt einen dünnen, blonden Mann in der entfernten Ecke an dem Tisch neben der Tür. Mit kaltem Blick beobachtet er sie; seine Miene ist nicht zu deuten, aber auf jeden Fall nicht freundlich. An ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit ist sie gewöhnt. Menschen erkennen sie von dem Foto auf den Schutzumschlägen ihrer Bücher wieder, von Literaturfestivals oder aus dem Lokalfernsehen. Oft fängt sie Blicke auf, die besagen: Kenne ich Sie nicht von irgendwoher? Aber was ihr nicht vertraut ist, ist dieses Gefühl von Feindseligkeit, von ausgesprochener Abneigung.

Sie erwidert seinen Blick, versucht, sich an einem leisen, freundlichen Lächeln, doch das ändert nichts an dem starren, feindseligen Ausdruck seiner Augen, und sie wendet sich wieder ab, um aus dem Fenster zu sehen. Merkwürdigerweise fühlt sie sich unruhig, sogar nervös. In dieser kleinen Stadt sind die Menschen freundlich, Einheimische wie Besucher, und sie ist verunsichert. Evie fragt sich, ob er vielleicht ein Nachfahre einer der großen Familien aus dem Westcountry ist, über die sie geschrieben hat und die in einem ungünstigen Licht erschienen ist.

Ihr Essen wird serviert, und die fröhliche Gruppe setzt sich an die umstehenden Tische, sodass Evie für ihren Beobachter verdeckt ist. Sie isst schnell und wird von törichten Ängsten geplagt: Was, wenn er ihr folgt, wenn sie geht? Vielleicht sollte sie ins Kaufmannshaus zurückkehren und Bens Gesellschaft suchen? Aber als sie mit dem Essen fertig ist und betont gleichgültig in die Ecke blickt, sieht sie, dass der Beobachter fort ist.

In ihre Erleichterung mischen sich fantastische und ängstliche Gedanken, die sie ungeduldig beiseiteschiebt. Trotzdem schlendert sie nicht am Innenhafen oder am Ufer entlang, sondern geht über den Fairfax Place direkt nach Hause nach Southtown und wirft gelegentlich einen Blick hinter sich.

Im Bootshaus angekommen, lacht sie über ihre Ängste – trotzdem ist sie froh darüber, dass Claude am nächsten Morgen kommt.

2. Kapitel

Vom Zug aus sieht alles anders aus. Geheime Orte, fern von Straßen und Dörfern, kurze Blicke in andere Welten. Verkümmerte Bäume, die sich um einen dunklen Teich drängen und dabei die Füße im brackigen, öligen Wasser haben, und ein Reiher, der wachsam im Schilf steht. Schwäne, die Brust an Brust auf ihre hellen, eleganten Spiegelbilder hinabsehen und über überflutetes Tiefland gleiten. Ein unerwartetes Rechteck aus Kleingärten fliegt vorbei, produktiv und unordentlich, und ein bunt gestrichenes Kanalboot namens Bess, das an einem Weg vertäut liegt, der an einem Kanal vorbeiführt. Jetzt tauchen in der Ferne die runden kleinen Hügel von Devon und ordentliche Felder auf – smaragdgrün, maisgold und altrosa. Sie sehen aus wie verknautschte Teppichläufer, die zum Trocknen in der Sonne ausgelegt sind.

Claude liebt diese Zugfahrt nach Westen, die ihm aus seiner Kindheit so vertraut ist und immer noch jenes Gefühl von Magie und Verheißung birgt. Diese Reise scheint die Stadien seines Lebens zu bezeichnen: Er ist mit TDF in die Schulferien gefahren, nach dem Urlaub an die Marineakademie zurückgekehrt oder jedes Jahr aus Hampshire zur Regatta hergekommen. Er hat TDF geliebt – und beneidet. Er war alles, was Claude nicht war: groß, gut aussehend, gesellschaftlich gewandt, beliebt. Claude war als Junge klein, stämmig und rothaarig gewesen und hatte – zumindest in seinen eigenen Augen – ausgesehen, als hätte man ihn auseinandergenommen und allzu hastig wieder zusammengesetzt. Als er älter wurde, fühlte er sich in Anwesenheit von Mädchen immer unsicher. Trotzdem verübelte er TDF seine vielen Talente nie. Der liebe Junge hatte Claude in seinen magischen Kreis gezogen; er hatte den Glanz seiner eigenen Beliebtheit über seinen Freund geschüttet und ihm Eleganz verliehen. Claude vermisst ihn, doch er ist dankbar für Evie, die TDF so glücklich gemacht hat.

Als der Zug Exeter verlässt, beugt sich Claude vor, um auf den Meeresarm hinauszusehen, wo Boote im glänzenden Schlamm liegen und Reiher langbeinig hinter der auslaufenden Flut herstelzen. Dann sieht er in Richtung Binnenland, zu dem weitläufigen Parkgelände von Powderham Castle, um einen Blick auf die schattenhaften Umrisse der Rehe zu erhaschen, die dort im von Sonnenflecken gesprenkelten Schatten der Bäume grasen.

Er lehnt sich wieder auf seinem Platz zurück, während der Zug weiter nach Dawlish und Teignmouth fährt. Wenn Claude ehrlich ist, konnte er Marianne nie besonders gut leiden, obwohl er versuchte, das nicht zu zeigen. Sie war zu organisiert, zu vernünftig. TDF erriet das natürlich und sorgte dafür, dass er und Claude sich am Wochenende gelegentlich im Kaufmannshaus trafen, wenn Marianne mit ihren endlosen sozialen Anliegen oder ihren Plänen für Charlies Vorankommen beschäftigt war. Claudes eigene Frau Jilly, die großzügig und warmherzig und an die Trennungen und Tücken des Lebens bei der Marine gewöhnt war, ließ ihn gern zu einem gelegentlichen Treffen mit TDF nach Dartmouth ziehen. Nicht einmal sie wusste über Evie Bescheid. Um ehrlich zu sein, hatte Claude die privilegierte Stellung genossen, die es bedeutete, von den beiden als Einziger ins Vertrauen gezogen zu werden. Trotz des gewaltigen Erfolgs der Fernsehserie und ihrer Bücher war Evie sehr zurückhaltend, und beide hießen ihn als den einzigen Freund willkommen, mit dem sie das Glück ihrer ungewöhnlichen Beziehung teilen konnten. Er hatte Evie gleich gemocht; sie war amüsant, entspannt, unabhängig. Claude verstand, warum sein Freund mit ihr zusammen war. Sogar nachdem Evie und TDF verheiratet waren, blieb Claude etwas Besonderes für sie. Jilly, die mit ihrer Familie beschäftigt war, hatte es erstaunlich und interessant gefunden, dass TDF wieder geheiratet hatte – und ausgerechnet die bekannte Schriftstellerin! Sie war erfreut darüber, dass Claude die Freundschaft zu seinem Kameraden aus Kinderzeiten aufrechterhielt, aber sie konzentrierte sich viel stärker auf ihren neuen Enkel und ihren Garten. Als ihr Schwiegersohn sich um eine Lehrtätigkeit in Winchester bewarb und sie auch bekam und ihre Tochter ihr drittes Kind erwartete, war es Jillys Vorschlag gewesen, dass die wachsende Familie in das große Haus ziehen solle, während sie und Claude im Anbau leben würden. Fünf Jahre später war Jilly tot. Während Claude noch immer gegen seine Trauer und Einsamkeit kämpft, ist er froh und dankbar, in der Nähe seiner Familie zu sein und gleichzeitig eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Trotzdem sind diese Ausflüge nach Dartmouth ein besonderes Vergnügen: Er wirft seine Verantwortung als Vater und Großvater ab und ist einfach nur Claude.

Die Gleise verlaufen oberhalb eines glatten Sandstrandes. Ein Hund rennt durch den Sand und scheucht die Möwen auf, die auf den verrottenden Holzbuhnen sitzen, die ins Meer hinausreichen. Der Zug fährt durch Felstunnel aus rotem Sandstein, hält in Newton Abbot und setzt sich dann wieder in Richtung Totnes in Bewegung.

Claude steht auf, nimmt seine Tasche von der Gepäckablage und geht den Waggon entlang. Er fährt nie mit dem Auto nach Dartmouth. Das Parken ist schwierig, und außerdem genießt er die Zugfahrt, die er immer sehr früh antritt. Er reist grundsätzlich erster Klasse. Diesen ganz besonderen Luxus gönnt er sich als Teil des Vergnügens. Evies eigenes Auto steht in der Garage, die zum Kaufmannshaus gehört, und dort ist auch, gut verstaut, Claudes kleines Motorrad untergebracht. Er liebt seinen rot-weißen Peugeot-Roller und benutzt ihn, um in der Stadt herumzugondeln oder für Ausflüge an der Küste entlang. Manchmal begleitet ihn Evie auf dem Rücksitz, klammert sich an ihn wie ein Äffchen und schüttet sich vor Lachen aus, während er die steilen Hügel und engen Kurven von Strete und Stoke Fleming überwindet. Sie halten dann am Strandcafé in Strete Gate an und genießen die verblüfften Blicke, die Claude erntet, wenn er den Helm abnimmt und sein graues Haar zum Vorschein kommt. Er flitzt gern auf dem Weg zum Stokeley Farm Shop die Torcross Line entlang, um im angeschlossenen Café-Restaurant einen Tee mit Sahne zu trinken, und fährt dann zurück nach Slapton Ley, um dort zu parken und spazieren zu gehen.

Als der Zug langsamer wird, späht er durchs Fenster und hält Ausschau nach Evie. Er sieht, dass sie in ihrer üblichen Aufmachung an der Schranke wartet: Sie trägt Jeans, ein weites Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, Bootsschuhe. Ihr dichtes, von Grau durchzogenes Haar, das leicht gelockt und zerzaust ist, hat sie an den Schläfen zurückgesteckt, und sie ist tief gebräunt. Sie sieht eher aus wie eine Seglerin als wie eine Autorin – und man würde nicht vermuten, dass sie über sechzig ist.

Er lächelt und hebt die Hand, obwohl er weiß, dass sie ihn nicht sehen kann, und wird plötzlich von der üblichen Mischung von Emotionen erfüllt: von Entspannung und Vorfreude, Frieden und Aufregung, dem Gefühl, nach Hause zu kommen.

Sie steigen in Evies kleines Auto und fahren vom Bahnhofsparkplatz den Hügel hinauf und weiter nach Dartmouth.

»Und, was macht die Familie?«, fragt Evie.

»Die Kinder haben Freunde zu Besuch«, antwortet er, »die selbst Kinder und Babys haben, also ist das Haus voller kleiner Leute. Wunderschön, lustig und alles, doch auch sehr schön, von dort wegzukommen und ein wenig Ruhe und Frieden zu genießen.«

»Dartmouth wird aber langsam voll«, warnt ihn Evie. »Na ja, wenigstens sehen wir alles aus der Vogelperspektive und müssen das Haus nicht verlassen.«

»Du könntest das Kaufmannshaus während der Regatta vermieten. Es würde dir ein kleines Vermögen einbringen.«

»Aber Ben wohnt dort«, protestiert sie, »und jetzt redet Charlie davon, dass sie vielleicht kommen. Anscheinend will Ange ein paar Freunde mitbringen.«

Er sieht aus dem Autofenster. »Sie tut immer noch so, als gehörte es ihr, was?«

»Gewissermaßen stimmt das ja auch, oder?«

»Du meinst, sie erwartet, dass du es ihnen hinterlässt?«

»Wem soll ich es schließlich sonst vererben? Eigene Familie habe ich nicht. Trotzdem ist es nicht ganz so einfach …«

Er ist sich der Spannung bewusst und rudert zurück. Angesichts der starken Familientradition und des Umstands, dass Evie selbst wohlhabend genug war, hat es ihn ein wenig verwirrt, dass TDF Evie das Haus vermacht hat, aber er hatte bisher nicht besonders viel darüber nachgedacht.

»Wie geht es Ben?«, fragt er. »Was höre ich da? Seine Ehe ist am Ende?«

»Anscheinend ist es Kirsty leid geworden, ohne Aussicht darauf, sich jemals zu verbessern, in einer kleinen Souterrain-Wohnung zu leben. Aber, wichtiger noch, bei einem ihrer Besuche bei ihren Eltern in Schottland hat sie einen Exfreund wiedergetroffen und ist jetzt eine feste Beziehung zu ihm eingegangen.«

»Du meine Güte!«, meint Claude. »Dann ist es also wirklich vorbei?«

Evie zuckt mit den Schultern. »Die Wohnung in London steht zum Verkauf, und Kirsty zieht zurück nach Edinburgh, sobald sie verkauft ist.«

»Na, das sind traurige Nachrichten. Wie geht es Laura?«

»Die liebe Laura hat ein Prädikatsexamen hingelegt, großartig. Ich habe dir davon erzählt, oder? Ben ist so stolz auf sie! Sie hat uns vor ein paar Wochen besucht und ist dann weitergefahren, um zusammen mit ein paar Freunden mit dem Rucksack durch die Welt zu reisen.«

»Und wie hat sie das alles aufgenommen?«

»Als sie hier war, haben sie und Ben sich lange unterhalten. Man sieht, dass sie am Boden zerstört ist, aber sie versucht, sehr vernünftig damit umzugehen. Wir haben alle zusammen zu Abend gegessen.«

»Ich freue mich, dass Ben in Dartmouth ist. Wenigstens hat er hier etwas moralische Unterstützung.«

»Er scheint Kirsty keine Schuld zu geben. Ich glaube, er hat es schon eine ganze Weile kommen sehen, aber der Teil mit dem Exfreund war ein kleiner Schock. Ben hat diesen optimistischen, entspannten Zug der Fortescues, doch selbst er muss sich der Tatsache stellen, dass es wirklich vorbei ist.«

»Ben hat immer schwer gearbeitet. Ich bin froh, dass er bei seiner Kunst und seiner Fotografie geblieben ist«, meint Claude. »Er ist sehr talentiert und verdient inzwischen gut damit.«

»Hm. Vielleicht nicht gut genug für Kirsty.«

»Weiß Charlie Bescheid?«

»Da bin ich mir sicher. Du weißt ja, wie nahe sich die beiden stehen. Ben freut sich wahrscheinlich darauf, mit ihm über alles zu reden.«

»Kommen sie mit dem Auto?«

Autos sind während der Regatta immer ein Problem. Der Jahrmarkt wird den ganzen Parkplatz an der Mayor’s Avenue einnehmen, die Schilder Parken in der Stadt verboten werden an den Einfahrten zu allen Zufahrtsstraßen stehen, und Park and Ride wird die einzige Möglichkeit sein, in die Stadt zu gelangen. Garagen, Einfahrten und jegliche Lücke, in die man ein Auto quetschen kann, werden zu Spitzenpreisen vermietet. Evie hat eine Freundin, die ihnen ihre Einfahrt zur Verfügung stellt, wenn Charlie zur Regatta kommt, aber dieses Jahr müssen sie auch Bens Wagen berücksichtigen.

»Doch andererseits hat Ben vorher nicht hier gewohnt, oder? Wie ist es für ihn, dass sie auftauchen? Schließlich gehört das Haus dir, und du überlässt es Ben. Hat Ange immer noch das Gefühl, das gottgegebene Recht zu haben herzukommen, wann immer sie wollen, und dein Auto aus der Garage zu verbannen?«

»Ja, allerdings. Sie hat darauf bestanden, dass unser altes Schlafzimmer mit dem eigenen Bad ihnen stets zur Verfügung steht und das auf der anderen Seite des Treppenabsatzes den Mädchen oder Gästen.«

»Das ist ein bisschen heftig, oder?«

Evie zuckt mit den Schultern und biegt in Halwell von der Hauptstraße ab. »Ben ist oben im zweiten Stock sehr zufrieden. Die Aussicht dort ist großartig, und da ist der kleine Hobbyraum neben seinem Schlafzimmer, wo er seinen Computer und all seine Kunstmaterialien aufbewahrt. Er hat in letzter Zeit wunderschöne Grußkarten hergestellt, mit denen er hier in der Gegend ganz erfolgreich war, und er hat natürlich seine fotografische Arbeit. Wenn er sich gelegentlich nicht willkommen fühlt, kann er bei uns unterkriechen, doch ich glaube nicht, dass Charlie es so weit kommen lässt.«

Claude schnaubt verächtlich. »Ich finde es trotzdem unverschämt von Ange.«

Evie wirft ihm einen Seitenblick zu. »Das liegt daran, dass du sie nicht leiden kannst. Irgendwie bringen wir das schon in Ordnung. Wir haben noch fast eine ganze Woche Zeit.«

Eine Weile fahren sie in freundschaftlichem Schweigen durch die vertraute Landschaft. Ihm ist es schon immer leichtgefallen, zusammen mit Evie zu schweigen; banales Geschwätz ist da nicht nötig. Er weiß, dass sie ihn quer durch die Stadt chauffieren wird, obwohl das nicht ihr normaler Weg zum Bootshaus ist. Es ist ihnen zur Gewohnheit geworden, nach seiner Ankunft den College Way entlangzufahren, am Ufer entlang, und dann nach rechts in die Oxford Street und weiter nach Southtown abzubiegen, sodass Claude das Gefühl hat, wirklich nach Hause zu kommen. Die Erinnerungen drängen sich heran: Krabbenfischen mit TDF am Ufer während der Schulferien; draußen auf dem Fluss als frischgebackener Kadett mit seinen Kameraden in einem Patrouillenboot; die große Parade zum Abschluss ihrer Ausbildung und der Sommerball als Fähnrich zur See, voller Stolz und mit Jilly in ihrem hübschen Ballkleid. Vor über fünfzig Jahren war das, ruft er sich ins Gedächtnis.

In der Stadt geht es geschäftig wie in einem Bienenstock zu. Die Vorbereitungen zur Regatta laufen auf Hochtouren. Quer über die Straßen sind Wimpel gespannt, und ein paar Häuser sind mit riesigen Nationalflaggen geschmückt. Evie fährt langsam, damit er die kleinen Boote auf dem Fluss sehen kann, die Touristen, die glücklich im Sonnenschein am Ufer entlangschlendern, angelnde Kinder, die von wachsamen, lauten Möwen beobachtet werden. Fast gegenüber dem Kaufmannshaus ist ein Parkplatz frei, und Evie schießt mit einem triumphierenden Aufschrei hinein.

Claude steigt aus, steht eine Weile auf die Mauer gestützt da und sieht flussabwärts zum Meer hinaus. Die Fähre der südlichen Linie löst sich von der Anlegestelle in Kingswear. Ihr Schlepper hupt, um den anderen Verkehr auf dem Wasser zu warnen, und dreht sich mitten auf dem Fluss elegant, als er auf sein Gegenstück trifft, das von Bayard’s Cove kommt, sodass die beiden einen langsamen, eleganten Tanz aufzuführen scheinen.

»Kaffee?«, schlägt Evie vor und öffnet die Heckklappe.

Das ist noch so ein kleiner Brauch. Sie werden im Bootshaus Kaffee trinken und Schokoladencroissants essen – und dann wird Claude allein einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen. Da er früh aufbricht, ist er immer hungrig, wenn er ankommt. Er nimmt seine Tasche aus dem Auto und schlägt die Tür zu.

»Es ist gut, wieder da zu sein«, sagt er.

Während Evie den Kaffee kocht, streift er herum. Sein Zimmer ist nicht besonders groß, aber er ist an Kajüten, Offiziersmessen und das Leben auf Kriegsschiffen gewöhnt, und für ihn ist es ganz bequem. Evie hat das dritte Zimmer zu einem Bad und einem kleinen Ankleidezimmer umbauen lassen, sodass er das Badezimmer ohne Verlegenheit benutzen kann. Rasch packt er aus und räumt alles an seinen Platz; er reist immer mit leichtem Gepäck.

Zurück in der Küche, fühlt er sich zu den großen Glastüren gezogen, die den Sonnenschein und den Fluss einlassen. Claude tritt hinaus auf den Balkon. Es ist, als stünde er am Bug eines Schiffes, das zwischen den kleineren Booten flussabwärts segelt: eine Flotte kleiner Jollen mit braunen Segeln; die blau angestrichene Passagierfähre – das ehemalige Lotsenschiff Achieve –, die in Richtung Burgruine pflügt; eine der Jachten der Marineakademie – die Martlet –, die aufs Meer zuhält.

Als er sich umdreht, um zum Kaufmannshaus aufzusehen, hört er, dass es an der Tür klingelt.

»Vielleicht Ben«, ruft Evie. »Ich habe vorgeschlagen, dass er herüberkommt und Hallo sagt.«

Und es ist Ben, der durch die großen, mit Sonnenflecken übersäten hellen Räume hereinkommt und TDF so ähnlich sieht, dass Claude fast den Tränen nahe ist.

»Ben.« Ihre Hände treffen sich mit starkem, herzlichem Druck. »Schön, dich zu sehen!«

Ihm fällt ein, was Evie ihm erzählt hat, und er weiß nicht recht, was er sagen soll. Jede Gesprächseröffnung scheint voller Fallstricke zu stecken, die Ben in Verlegenheit bringen könnten.

»Toll, dass du wieder da bist«, sagt Ben. Er ist gelassen; das heißt, kein Stress. »Hat Evie dir erzählt, dass Charlie zur Regatta kommt?«

»Ja. Und ich habe ihr gesagt, ich finde es ungehörig, dass sie immer noch so tun, als gehörte das Haus ihnen.«

Ben schüttet sich vor Lachen aus, und Evie, die mit dem Kaffeetablett zurückkommt, schüttelt den Kopf über Claude.

»Nicht, dass es ihn etwas angeht«, meint sie zu Ben. »Ich habe ihm gesagt, das ist ein Haus für eine Familie.«

Claude brummt missbilligend und setzt sich an den Holztisch.

»Und«, setzt Evie hinzu, füllt seinen Kaffeebecher und reicht ihn ihm, »du wirst höflich zu Ange sein. Etwas anderes steht nicht zur Debatte.«

Claude schneidet eine Grimasse. »Ich komme einfach nicht mit ihr zurecht. Sie vermittelt mir den Eindruck, wieder ein Schuljunge zu sein.«

»Ange ist schon in Ordnung«, meint Ben tolerant. »Sie muss einfach das Gefühl haben, dass sie die Kontrolle hat. Es ist schließlich nur ein Wochenende, und Charlie hat mir eine SMS geschrieben, dass ihre Freunde doch nicht kommen können. Ich glaube, er und Ange wollen weiter zu Anges Mutter nach Polzeath. Die Mädchen sind schon dort.«

Angesichts von Bens guter Laune verfliegt Claudes Gereiztheit. Bei TDF war es genauso: Sein gelassener Optimismus hat Claudes zornigen Ausbrüchen die Spitze genommen. Er nippt an seinem Kaffee, nimmt ein Schokoladencroissant an, entspannt sich und reckt sich im warmen Sonnenschein.

»Gott, tut das gut, hier zu sein!«, sagt er.

Mit einem Mal fühlt er sich ungeheuer müde. Der frühe Aufbruch, die Fahrt und dann dieser magische Ort haben immer diese Wirkung auf ihn: als wären zum Zerreißen angespannte Saiten in ihm durchtrennt worden. Gleich wird er hinausgehen und durch die Stadt spazieren, und seine Energie wird zurückkehren. Aber jetzt gerade bedeutet es für ihn die höchste Seligkeit, hier mit Evie und Ben am Flussufer zu sitzen und in der Sonne Kaffee zu trinken.

3. Kapitel

»Er sieht gut aus, nicht wahr?«, sagt Ben, als Claude sich mit großen Schritten den Hügel hinab entfernt und in Richtung Stadt schlendert.

Er mag Claude sehr gern. Ben und Charlie betrachten ihn als eine Art Onkel, aber ohne die Zwänge, die in der Beziehung zu jemandem bestehen, der tatsächlich ein Blutsverwandter ist. Claude käme nicht auf die Idee, ihnen Vorschriften zu machen oder Ratschläge zu erteilen, doch in seiner Gesellschaft empfinden sie eine behagliche Vertrautheit, ein Gefühl von Sicherheit. Bei Evie verhält sich das ähnlich. Ben weiß, dass Charlie sie überhaupt nicht als seine Stiefmutter betrachtet, aber zwischen den beiden besteht eine enge, ungezwungene Beziehung, von der er – Ben – bisher fast genauso profitiert hat wie Charlie.

Charlie und er sind gute Kameraden. Seine eigene Mutter starb, als er noch recht klein war, und Charlies Mum hat immer dafür gesorgt, dass Ben mit einbezogen wurde, zu Partys und zu Weihnachten eingeladen wurde oder in den Ferien fast immer nach Dartmouth kommen konnte. Sein Vater war Fotojournalist, immer knapp bei Kasse, aber glücklich; und er grollte Charlie nicht, weil sein Vater – der liebe Junge – eine Weinimportfirma geerbt hatte, das Kaufmannshaus, ein Haus in Kensington und die mit alldem verbundenen Annehmlichkeiten.

»An mich wäre das verschwendet gewesen«, pflegte er zu sagen. »Ich bin kein Geschäftsmann. Unsere Seite der Familie war schon immer künstlerisch begabt. Und außerdem ist TDF immer bereit zu helfen, wenn alle Stricke reißen.«

Ben hat das künstlerische Talent seines Vaters geerbt, und er ist wohl bekannt für seine Arbeiten in den Hochglanz-»Haus und Garten«-Zeitschriften, aber er hat nie genug verdient, um die Hypothek für die Art von Haus zu zahlen, wie es Kirsty anstrebt, und nach Lauras Geburt wurde es noch wichtiger, dass er finanziell seinen Beitrag leistete. Kürzlich hat er sich Geld von Charlie geliehen, um einen Teil seiner Fotoausrüstung zu aktualisieren.

»Sag um Gottes willen Ange nichts davon!«, schärfte Charlie ihm ein. »Wir bekommen das irgendwie hin.«

Inzwischen sieht es so aus, als gehörte ein Teil seines Anteils an der Wohnung in London (ein Drittel, nicht besonders viel, nachdem die hohe Hypothek abbezahlt ist) Charlie. Da kann er Gott nur für Evie und das Kaufmannshaus, die regelmäßigen Fotoshootings und sein neues Projekt danken. Er liebt neue Projekte.

Ben wirft ihr einen Blick zu und sieht, dass sie ihn beobachtet.

»Also, wie ist der Plan?«, fragt sie fröhlich.

Er hat die Theorie, dass sie ebenso einfach in seinen Gedanken lesen kann wie auf dem Bildschirm ihres Laptops, und grinst ihr zu.

»Ich habe ein paar neue potenzielle Abnehmer für die Karten. Einige Kunstgewerbe-Läden und Galerien, bei denen ich es noch nicht versucht habe. Wahrscheinlich hast du keine Lust mitzukommen? Nicht, solange Claude hier ist.«

Manchmal fährt sie mit ihm, wenn er die Buchhändler und Galeristen aufsucht, die seine Karten anbieten oder mit dem Gedanken spielen, sie in ihr Sortiment aufzunehmen. Sie plaudert mit den Buchhändlern, die sie sehr gut kennen, obwohl sie seit fünf Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat.

»Ich habe alles schon geschrieben«, erklärt sie, wenn sie sie drängen, ein neues herauszubringen. »Nichts mehr zu sagen.«

Ben glaubt nicht daran. Vielleicht hat sie den Bürgerkrieg als Thema ausgeschöpft, aber er hat das Gefühl, dass Evie immer noch etwas zu erzählen hat.

»Nein, heute kann ich nicht«, antwortet sie. »Aber viel Glück.«

Er nickt. »Bis später.«

Zur Mittagszeit ist er im Stokeley Farm Shop, einer Kombination aus Hofladen, Gartencenter und Restaurant. Im Laden ist viel los; aber er überprüft die Kartenaufsteller und sieht, dass nur noch eine seiner Karten übrig ist: der Leuchtturm von Start Point, eine seiner eigenen Aufnahmen. Ben ist entzückt. Er hat für den Fall der Fälle noch weitere Päckchen in seiner Tasche und ist zuversichtlich, dass er die Besitzer überreden kann, mehr zu nehmen. Doch zunächst einmal bestellt er sich einen Americano und lässt sich auf das lange, mit grauem Cord bezogene Sofa gegenüber den großen, offenen Glastüren fallen, die auf den Innenhof führen, wo Menschen in der Sonne sitzen. Er ist furchtbar gern in dem Café des Stokeley Farm Shop mit seinen hohen Holzdecken und dem großen Pizzaofen. Im Inneren des Cafés ist es fast leer, und er entspannt sich. Er lehnt sich an die Kissen aus rotem Cord und ist sich eines neuen und sehr eigenartigen Gefühls bewusst: außerordentliches Wohlbefinden, durchzogen von Augenblicken grenzenloser Traurigkeit.

Es war ein heftiger Schock, als Kirsty ihm erklärte, ihre Ehe sei vorüber, obwohl sie sich schon einige Zeit nur noch dahingeschleppt hatte. Der wirkliche Schock bestand natürlich darin, dass sie jemand anderes gefunden hatte, einen Mann, den sie von Kindheit an und später an der Uni in London gekannt und der sie auf einer Freunde-Seite im Internet wiedergefunden hatte. Bei dem Gedanken an diesen Mann, der Kirsty von ganz früher kennt, durchfährt Ben kurz ein Stich der Eifersucht: Er kommt sich vor wie ein Narr, weil sie ihn während des letzten Jahres betrogen hat.

Er streckt die Beine aus und denkt zurück an die ersten Jahre und daran, wie glücklich sie waren: Kirsty war nach dem Universitätsabschluss in London geblieben, und sie und Ben lernten sich auf einer Party kennen und verliebten sich ineinander. Sie arbeitete in der IT-Branche bei einer amerikanischen Firma; seine eigene Karriere begann gerade, Gestalt anzunehmen, und er hatte das Glück gehabt, einen großen Auftrag zu ergattern, was möglicherweise Kirstys Hoffnungen übermäßig angestachelt hatte. Sie wohnten zur Miete in einer kleinen Souterrainwohnung, die sie nach Lauras Geburt mithilfe von Kirstys Eltern kaufen konnten. Zweiundzwanzig Jahre später lebten sie immer noch dort. Ben kann sich nicht recht erinnern, an welchem Punkt Geldsorgen, Elternpflichten und einfach der tägliche Trott die leidenschaftliche Liebe der frühen Zeit zu zermürben begannen. Allerdings ist er sich des Umstands bewusst, dass ein Gefühl der Leere und Ziellosigkeit aufkam, nachdem Laura zur Universität gegangen war. Vielleicht war sie ja der Kitt gewesen, der Kirsty und ihn aus Vertrautheit und Notwendigkeit zusammengehalten hatte. Ohne sie war der Alltag irgendwie sinnlos geworden. Kirsty begann, regelmäßig nach Edinburgh zu fahren, um ihre Eltern zu besuchen – das behauptete sie jedenfalls –, während Ben mehr und mehr Aufträge annahm, die ihn ins West Country führten, wo er sich gern aufhielt.

Er war immer schon gern allein; nur dann ist er wirklich er selbst und für eine Weile der Verantwortung für andere Menschen ledig, die sich auf ihn verlassen. Sein tief sitzendes schlechtes Gewissen macht es ihm unmöglich, sich vollständig zu entspannen, solange in seinem Umkreis jemand Anspruch auf ihn erhebt.

In seine große Liebe zu Kirsty und Laura hat sich immer diese Angst gemischt, sie zu enttäuschen, die seine Beziehung zu ihnen beeinträchtigt hat, sosehr er auch versucht hat, sie zu rationalisieren. Keine von beiden hätte ahnen können, welch tiefes Gefühl von Frieden ihn überkam, wenn er ins Auto stieg, um zu einem Fotoshooting oder einem Auftrag zu fahren, die von ihm verlangten, ein paar kostbare Tage fern von zu Hause zu verbringen. Diese kurzen Auszeiten versetzten ihn in die Lage, erfrischt zurückzukehren, bereit, seine Pflichten als Ehemann und Vater wieder aufzunehmen. Da er so oft zu Hause arbeitete, konnte er auf Laura aufpassen, als sie klein war, sie zur Schule bringen und von dort abholen, zu Aufführungen und Sportveranstaltungen gehen, und zwischen beiden entstand eine starke, enge Bindung.

Während er dasitzt und auf seinen Kaffee wartet, erinnert er sich an ihre letzte Begegnung. Er hatte sie in Totnes vom Zug abgeholt und zum Kaufmannshaus gefahren. Eine merkwürdige Fahrt war das. Keiner von ihnen war schon bereit, über das zu reden, was ihnen so sehr auf dem Herzen lag. Stattdessen sprach Laura über ihren Plan, mit dem Rucksack zu reisen und dann auf einer Skihütte in der Schweiz zu arbeiten; doch während Laura neben ihm saß, nahm Ben die ganze Zeit über ihre Anspannung wahr. Schnell und nervös strich sie sich das kurze dunkle Haar zurück und krampfte im Schoß die Hände zusammen.

Als sie im Haus, in der Eingangshalle, standen, ließ sie ihre Tasche zu Boden fallen und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich liebe dieses Haus«, erklärte sie und sah sich um. »Es fühlt sich immer so einladend an. Ich bin froh, dass du hier wohnst, Dad.«

»Ich auch«, sagte er fröhlich. »Keine Ahnung, warum ich mich hier zu Hause fühle, aber so ist es. Liegt wohl an den vielen Sommerferien, die ich hier mit Charlie verbracht habe, als wir klein waren, obwohl ich in London genauso viel mit ihm zusammen war. Dartmouth ist etwas ganz Besonderes für mich.«

Lächelnd sahen sie einander an, und dann schlug ihre Miene um, und er streckte ihr die Arme entgegen. Sie stürzte sich hinein und vergrub den Kopf an seiner Schulter.

»Mum hat mir alles erklärt«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Sie hat mir von Iain erzählt. Ich kann dir sagen, das war ein richtiger Schock. Wie geht’s dir damit?«

Sie lehnte sich zurück und sah betrübt zu ihm auf. Ihre braunen Augen wirkten ängstlich und standen voller Tränen, und er zog sie noch einen Moment fest an sich und gab sie dann frei.

»Lass uns etwas trinken!«, sagte er und ging voran in die Küche. »Kaffee? Tee? Etwas Stärkeres?«

»Hast du Früchtetee?«, fragte sie. »Wenn nicht, habe ich welchen in meiner Tasche.«

»Warte.« Er öffnete eine Schranktür und nahm eine Pappschachtel heraus. »Da. Such dir etwas aus!«

Sie wählte einen Teebeutel aus und ließ ihn in einen Becher fallen. »Honig?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Einen kurzen Moment lang fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt: Toast mit Honig, Honigbrote – Laura hatte Honig schon immer geliebt. Er nahm das Glas aus dem Regal, schob es ihr hin und gab ihr einen Löffel. Dann ging er durch den Bogengang voran ins Frühstückszimmer. Zusammen setzten sie sich an den großen Tisch, und er fragte sich, wie er seine Worte wählen sollte, um ihren Schmerz zu lindern.

»Ich glaube, deine Mum und ich haben uns schon einige Zeit auseinanderentwickelt«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich hast du das bemerkt. Es ist traurig, aber es ist passiert.«

»Hm«, meinte sie, rührte den Honig in ihren Tee und sah ihn dabei nicht an. »Mir war aufgefallen, dass irgendwie jeder von euch sein Ding gemacht hat. Ihr wart ziemlich distanziert.« Sie sieht aus ungläubigen Augen zu ihm auf. »Aber ich meine, ein anderer Mann? Ich kann es kaum glauben. Es war sogar ein bisschen peinlich, als sie mir davon erzählt hat. Ganz aufgeregt war sie, als wäre sie ein junges Mädchen oder so, und hat erwartet, dass ich mich darüber freue. Ich finde, Mum ist sehr egoistisch. Als wäre nur ihr eigenes Leben wichtig, und das war’s dann. Ehe vorbei. Ende der Durchsage. Was ist mit uns? Was ist mit dir? Sie gibt dir einfach den Laufpass, weil sie jemand anderes kennengelernt hat?«

Mit einem Mal erkannte Ben, wie einfach es wäre, Lauras Mitgefühl zu erwecken, sich ihrer positiven Voreingenommenheit zu bedienen. Ihre Liebe zu ihm und ihre Missbilligung gegenüber ihrer Mutter, der Schmerz, den sie ihrer Tochter zugefügt hatte, könnten Laura so einfach auf seine Seite ziehen. Er könnte den Märtyrer spielen, seine Wunden zeigen und sich von ihr trösten lassen. Oder er könnte edel und tapfer sein und ihre Bewunderung gewinnen. Ihm war nicht klar gewesen, wie gefährlich eine solche Situation sein könnte oder wie schwer es ihm fiel, sie nicht auszunutzen und sie zu seinem eigenen Vorteil zu manipulieren.

»Ich glaube, wir haben beide gesehen, dass es zu Ende ging«, sagte er behutsam. »Doch wir haben uns nicht die Mühe gemacht, etwas dagegen zu unternehmen. Man könnte meinen, es wäre sogar gut, dass wir uns dadurch der Sache stellen müssen, statt endlos weiter dahinzutreiben. Du hast recht, wir haben uns voneinander entfernt, aber es ist in Ordnung für mich, Liebes, solange auch du damit umgehen kannst. Für dich ist es genauso schwer.«

»Ich bin sehr traurig darüber. Natürlich«, sagte sie unglücklich. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Okay, ich bin kein Kind mehr, und ich weiß, dass ihr beide in den letzten paar Jahren, seit ich zur Uni gegangen bin, viel Zeit getrennt verbracht habt. Doch das jetzt hat uns auseinandergerissen, stimmt’s? Wir haben kein gemeinsames Zuhause mehr. Mum wird offensichtlich klarkommen. Sobald die Wohnung verkauft ist, geht sie zurück nach Edinburgh, in ein neues Leben. Sie hat eine neue Wohnung, einen neuen Mann, und Granny und Grandpa wohnen nicht weit weg. Aber was ist mit uns?«

»Du hast hier immer ein Zuhause bei mir. Das weißt du doch, Schatz.«

Sie nickte, immer noch den Tränen nahe. »Mum hat sogar ein kleines Gästezimmer in ihrer Wohnung, und sie sagt, ich könnte es benutzen, und Granny hat noch einen Teil meiner Sachen eingelagert. Aber ich bin durch meinen Job auf der Skihütte sowieso den größten Teil des nächsten Jahres im Ausland. Und dann gehe ich hoffentlich auf die Pädagogische Hochschule.«

»Ich bin mir sicher, dass wir das zusammen hinbekommen. Und sei nicht so hart zu deiner Mum! Wir beide waren sehr glücklich, sie hat schwer gearbeitet, um uns über Wasser zu halten, und wir hatten alle wirklich gute Zeiten. Für sie war es nicht immer leicht, verstehst du? Und ich missgönne ihr die neue Chance nicht. Ja, das mit Iain war ein Schock und hat mich in meinem Stolz verletzt, doch darüber komme ich hinweg. Du bist jetzt erwachsen, Laura. Du hast einen blendenden Start hingelegt und schlägst dich so gut, dass ich gern zugebe, dass ich es genieße, mein eigenes Ding zu machen. Und ich bin gern hier.«

Seine kühle Einschätzung beruhigte sie.

»Solange es dir gut geht«, meinte sie immer noch leicht zweifelnd. Aber sie wollte sich überzeugen lassen. »Und du hast Evie auf der anderen Straßenseite.«

»Allerdings. Sie hat uns für später zum Abendessen eingeladen, also kannst du ihr erzählen, wie es dir geht, und alles über diesen Job auf der Skihütte.«

Jetzt serviert ihm eine Kellnerin den Kaffee. Als er sich mit einem Lächeln bedankt, die langen Beine einzieht und sich ein wenig mehr aufsetzt, wird ihm bewusst, dass er beobachtet wird. Ein kleines Mädchen steht an der offenen Tür und starrt ihn durchdringend an. In der Hand hält sie eine Hundeleine, an deren Ende sich ein schwarzer Labrador befindet.

»Nein, Otto«, sagt die Kleine energisch zu dem Hund. »Du darfst da nicht hinein. Hör auf zu ziehen!«

Plötzlich setzt sich der Hund, klappt die weichen Ohren nach vorn und beobachtet jemanden im Inneren, und Ben wirft einen Blick zur Theke, um festzustellen, was seine Aufmerksamkeit erweckt hat. Dort steht eine Frau, die ihm den Rücken zuwendet. Während sie aussucht und bestellt, blickt sie hinaus zu dem Mädchen und dem Hund und lächelt aufmunternd. Ben schätzt, dass sie Anfang vierzig ist; das dichte blonde Haar ist zu einem lockeren Knoten zusammengedreht. Sie hat ein hübsches Profil und trägt einen langen, geblümten Rock. Nachdem sie bestellt hat, geht sie nach draußen, nimmt Ottos Leine und steuert mit den beiden einen Tisch unter dem Sonnenschirm an.

Die Kleine macht sich los und läuft zurück; an der Tür bleibt sie stehen und starrt Ben so eifrig und sehnsüchtig an, dass er sich wundert. Er lächelt ihr zu, tut aber nichts, um sie zu ermuntern. Aus dem Laden hinter ihm taucht eine andere Frau auf, die eine Jutetasche voll mit Lebensmitteln und Gemüse trägt. Sie bückt sich, um mit dem Mädchen zu sprechen, das immer noch Ben ansieht. Die Frau blickt sich um; ihre Miene schlägt von lächelnder mütterlicher Zärtlichkeit zu Gereiztheit um. Sie wirft Ben ein beinahe entschuldigendes kleines Lächeln zu, fasst die Kleine an der Hand und zieht sie davon, auf die blonde Frau und den Hund zu, die an dem Tisch unter dem Sonnenschirm auf sie warten.

Es ist eine eigenartige kleine Szene, und Ben beobachtet die drei, während er seinen Kaffee austrinkt. Er ist froh darüber, dass er für keine von ihnen verantwortlich ist, und genießt den Luxus, allein zu sein.

Jemima Spencer stellt Otto den Wassernapf, der hier immer für die Hunde der Gäste bereitsteht, neben den Tisch und setzt sich wieder zu ihrer Freundin Miranda unter den Sonnenschirm. Maisie hat sich ein Stück Kuchen genommen und sitzt unter dem Tisch bei Otto, der jeden ihrer Bissen äußerst aufmerksam verfolgt.

»Maisie macht mich wahnsinnig«, murmelt Miranda, »und jetzt hat Dave mich sitzen lassen. Ehrlich, Mimes, ich fühle mich richtig, richtig mies.«

Jemima wartet und trinkt ihren Kaffee; es ist immer ein Fehler, vorschnell zu reagieren, wenn Miranda sich Sorgen macht. Wenn sie Mitgefühl zeigt, wird Miranda den Eindruck haben, bevormundet zu werden; wenn sie sie ihrer Unterstützung versichert, wird Miranda gekränkt sein. Am besten lässt sie sie einfach reden, damit sie sich aussprechen kann. Sie hat Miranda über eine gemeinsame Freundin kennengelernt, die wenig später weggezogen ist, und sie sind sich nach dem Weggang der Freundin nähergekommen. Doch in letzter Zeit ist Miranda ziemlich bedürftig und anspruchsvoll geworden. Trotzdem hat Jemima sie und die kleine Maisie lieb gewonnen; sie respektiert Mirandas Engagement in ihrem Beruf als Krankenschwester und versucht weiter, die beiden durch ihre Freundschaft zu unterstützen. Sie rückt herum, damit sie sich konzentrieren kann und Miranda weiß, dass ihr ihre volle Aufmerksamkeit gilt.

»Natürlich haben er und Maisie sich einfach nicht verstanden. Ich dachte, sie würde sich vielleicht freuen, nachdem sie jetzt so fixiert darauf ist, ihr Vater könnte aus dem Nichts heraus auftauchen. Ich frage mich, ob es richtig von mir war, ihr zu erzählen, dass er mich einfach verlassen hat, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr. Hast du gesehen, wie sie den armen Kerl da drinnen angestarrt hat? Eigentlich hat er sogar sehr nett ausgesehen. Jedenfalls ist der arme Dave einfach nicht damit fertiggeworden …«