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Gesichter Nach dem Tod seiner Frau ist Dean Evers nach Florida gezogen. Gut geht es ihm nicht, er nimmt Tabletten und trinkt zu viel. Eines Abends, als er mal wieder einsam Baseball schaut, sieht er im Publikum seinen alten Zahnarzt. Der Mann ist seit Jahren tot. Eine Halluzination? Dean gießt sich vorsichtshalber nach. Weitere Bekannte tauchen auf dem Bildschirm auf: alles Menschen, denen Dean irgendwann im Leben übel mitgespielt hat. Auch seine tote Frau ist dabei, die ihm gleich noch per Handy erklärt, was für eine Hölle ihre Ehe war. Und dann sieht Dean das Gesicht, das er am wenigsten sehen möchte und das ihn zu einem verzweifelten Schritt treibt.
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Seitenzahl: 61
Stephen King • Stewart O'Nan
Ein Gesicht in der Menge
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt E-Book
Im Sommer nach dem Tod seiner Frau begann Dean Evers, sich öfter Baseball anzusehen. Wie viele der Winterflüchtlinge aus New England, die der Nordostwind an die Golfküste Floridas geweht hatte, war er Red-Sox-Fan und hatte doch großherzig die Devil Rays, die ewigen Prügelknaben, zu seinem zweiten Team erkoren. Obwohl ehemals Trainer in der Little League, war er nie ein großer Fan gewesen – nicht so besessen wie sein Sohn Pat –, doch wenn der Sonnenuntergang den westlichen Himmel in ein kitschiges Rot tauchte, schaltete er jetzt Abend für Abend das Spiel der Rays ein, um seine leere Eigentumswohnung mit Leben zu erfüllen.
Er wusste, dass es nur ein Zeitvertreib war. Sechsundvierzig Jahre war er mit Ellie verheiratet gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten, und jetzt hatte er niemanden mehr, der sich noch daran erinnerte. Es war ihre Idee gewesen, nach St. Pete zu ziehen, doch kaum fünf Jahre nach dem Umzug hatte sie ihren Schlaganfall. Das Schreckliche war, dass sie in guter Verfassung gewesen war. Sie hatten im Club ein erfrischendes Tennismatch gespielt. Ellie hatte ihn wieder geschlagen, und er musste die Drinks bezahlen. Sie saßen unter einem Sonnenschirm und nippten an ihren gekühlten Gin Tonics, als Ellie plötzlich zusammenzuckte und die Hand aufs Auge presste.
«Hirnfrost?», fragte er.
Sie regte sich nicht, saß stocksteif da, das andere Auge starr in die Ferne gerichtet.
«El», sagte er und streckte die Hand nach ihrer nackten Schulter aus. Obwohl es der Arzt für unmöglich hielt, erinnerte Evers sich später daran, dass ihre Haut ganz kalt gewesen war.
Sie fiel mit dem Gesicht auf den Tisch und stieß dabei die Gläser um, woraufhin die Kellner, der Geschäftsführer und der Bademeister angestürmt kamen, ihren Kopf auf ein zusammengefaltetes Handtuch betteten, sich neben sie knieten und bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter ihren Puls kontrollierten. In der rechten Körperhälfte ging alles verloren, doch sie war am Leben, das war alles, was zählte, nur dass sie, kaum einen Monat nachdem ihre Physiotherapie beendet war und sie aus der Reha kam, einen zweiten, diesmal tödlichen Schlaganfall hatte, während er sie gerade duschte, eine Szene, die so oft vor seinem geistigen Auge ablief, dass er beschloss, in eine neue Wohnung zu ziehen, und so war er hier gelandet, in einem Hochhaus mit Blick auf die Bucht, wo er niemanden kannte und ihm jegliche Ablenkung willkommen war.
Er aß, während er sich das Spiel ansah. Inzwischen machte er sich das Abendessen selbst, weil er es satthatte, allein in Restaurants zu sitzen oder sich für viel Geld etwas bringen zu lassen. Er lernte noch immer die elementaren Grundlagen. Er konnte Pasta machen und Steaks grillen, eine rote Paprika klein schneiden, um einen Fertigsalat zu garnieren. Doch er hatte kein Geschick, ganz oft entmutigte ihn das Ergebnis, und er fand keinen Gefallen am Kochen. An diesem Abend gab es ein gewürztes Schweinekotelett, das er im Publix besorgt hatte. Bloß in eine heiße Pfanne legen und braten, nur dass er nie wusste, wann das Fleisch durch war. Er brachte das Kotelett zum Brutzeln, mischte einen Salat zusammen und deckte den Couchtisch, um fernsehen zu können. Das Fett am Boden der Pfanne begann anzubrennen. Er drückte den Finger aufs Fleisch, um zu überprüfen, ob es schon weich war, war sich aber nicht sicher. Er nahm ein Messer und schnitt hinein, doch in der Mitte war es noch blutig. Es würde eine Mordsarbeit sein, die Pfanne sauber zu machen.
Und als er sich schließlich hinsetzte und anfing zu essen, war das Kotelett zäh. «Grauenhaft», nörgelte er. «Aus dir wird kein Gourmetkoch mehr.»
Die Rays spielten gegen die Mariners, was hieß, dass die Tribünen leer waren. Wenn die Sox oder die Yankees kamen, war das Tropicana Field ausverkauft, doch sonst war nie besonders viel los. In den schlechten alten Zeiten war das verständlich gewesen, doch inzwischen war der Club ein ernsthafter Gegner. Während David Prize die gegnerischen Hitter locker abfertigte, sah Evers zu seinem Entsetzen, dass mehrere Fans in den gepolsterten Stühlen hinter der Home Plate mit ihren Handys telefonierten. Ein Jugendlicher musste natürlich winken wie ein Schiffbrüchiger, was vermutlich der Person am Handy galt, die zu Hause zuschaute.
«Seht nur», sagte Evers. «Ich bin im Fernsehen, also existiere ich.»
Der Junge winkte mehrere Pitches lang. Er saß direkt über der Schulter des Schiedsrichters, und als Price einen Backdoor Curve einstreute, zoomte die Kamera bei der Wiederholung auf die Met-Life-Schlagzone und zeigte das idiotische Grinsen des Jungen in Vergrößerung, während er in Zeitlupe winkte. Zwei Reihen hinter ihm saß ganz allein in seinem weißen Arztkittel, das dünne, pomadisierte Haar angeklatscht, stabil und unerschütterlich wie ein Tiki-Gott, Evers’ früherer Zahnarzt aus Shrewsbury, Dr. Young.
Der junge Dr. Young hatte ihn seine Mutter genannt, denn auch als Evers noch ein Kind war, war er schon alt gewesen. Er war Marinesoldat im Pazifik gewesen und hatte auf Tarawa einen Teil seines Beines und seine gesamte Hoffnung verloren. Den Rest seines Lebens rächte er sich nicht an den Japanern, sondern an den Kindern von Shrewsbury, in deren Zahnschmelz er mit der gnadenlosen Spitze seines Edelstahl-Hakens Schwachstellen fand und denen er Spritzen in den Gaumen jagte.
Evers hörte auf zu kauen und beugte sich vor, um sicherzugehen. Das fettige, angeklatschte Haar und die Mount-Rushmore-Stirn, die Bifokalbrille mit den Aschenbechergläsern und die schmalen Lippen, die weiß wurden, wenn er einem mit dem Bohrer auf den Pelz rückte – ja, er war es, und keinen Tag älter als damals, als Evers ihn vor über fünfzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.
Das konnte nicht sein. Er wäre inzwischen mindestens neunzig. Doch in dem Humidor, der Florida war, wimmelte es von Männern in seinem Alter, viele von ihnen unter dem Leinenhemd und ihrer Sonnenbräune so gut erhalten wie Mumien.
Nein, dachte Evers, er ist Raucher gewesen. Noch etwas, das Evers an ihm nicht ausstehen konnte, der schale Geruch seines Atems und seiner Kleidung, wenn er über ihm auftauchte und die richtige Position suchte. Die rote Schachtel passte in die Tasche seines Kittels – Lucky Strikes, filterlos, die echten Sargnägel. L.S.M.F.T., so lautete der alte Slogan: Lucky Strike Means Fine Tobacco. Vielleicht war es ein jüngerer Bruder oder ein Sohn. Ein noch jüngerer Dr. Young.
Mit einem Fastball, den Price am Batter vorbeiwarf, ging das Inning zu Ende, und der eingeblendete Werbespot holte Evers zurück in die Gegenwart. Sein Schweinekotelett war so zäh wie der Handschuh eines Catchers. Er warf es in den Müll und nahm sich ein Bier. Der erste kühle Schluck machte ihn nüchtern. Es war ausgeschlossen, dass es sein Dr. Young war, mit den vom Kater zittrigen Händen und dem deutlichen Gin-Geruch in seinem Zigarettenatem. Heutzutage würde man sein Leiden PTBS nennen, aber für ein Kind, das seinen Instrumenten ausgeliefert war, spielte das keine Rolle. Evers hatte ihn verachtet, hatte sich bestimmt irgendwann gewünscht, dass er, wenn nicht tot, so doch nicht mehr da wäre.
Als die Rays am Schlag waren, winkte der Jugendliche wieder, doch die Reihen hinter ihm waren leer. Evers hielt Ausschau und rechnete damit, dass Dr. Young mit einem Bier und einem Hot Dog zurückkehren würde, doch während die Innings verstrichen und Price immer mehr Strikeouts gelangen, blieb der Platz leer. Ein Stück weiter winkte jetzt eine Frau in glitzerndem Top ihren Leuten zu Hause.