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Was ist mehr wert: Ein voller Geldtransporter oder ein echter Cézanne? Für keines von beiden lohnt es sich zu sterben. Trotzdem nehmen vier Freunde das Risiko auf sich und wollen ein Bild des Provencemalers entführen. Auf dem Weg von einem verwunschenen Luberonschloss - wo es von seinen Besitzern seit Generationen vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde – zu einer Kunstausstellung nahe Aix en Provence gelingt ihnen der Coup. Doch es bleiben Leichen zurück. Commissaire Papperin und sein Team müssen sich mit den verschrobenen Weltanschauungen des verarmten französischen Landadels auseinandersetzen. Gleichzeitig führen sie ihre Ermittlungen in die Welt des Prekariats, der frustrierten und arbeits- und hoffnungslosen Welt der Kleinkriminellen in den Vororten der Arbeiterstädte des Midi.
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Seitenzahl: 363
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IGNAZ HOLD
IN HAUCH VON TOD UND THYMIAN
Buch
Was ist mehr wert: Ein voller Geldtransporter oder ein echter Cézanne? Für keines von beiden lohnt es sich zu sterben. Trotzdem nehmen vier Freunde das Risiko auf sich und wollen ein Bild des Provencemalers rauben. Kann der Coup gelingen? Jedenfalls bleiben Leichen zurück. Commissaire Papperin und sein Team müssen sich mit den verschrobenen Weltanschauungen des verarmten französischen Landadels auseinandersetzen. Gleichzeitig führen sie ihre Ermittlungen in das Milieu des Prekariats, der frustrierten, arbeits- und hoffnungslosen Welt der Kleinkriminellen in den Vororten der Arbeiterstädte des Midi.
Autor
Ignaz Hold ist ein Pseudonym. Der Auto, ein reiselustiger Wissenschaftler, hat seit einem Vierteljahrhundert in der Provence eine zweite Heimat gefunden und kennt diesen Fleck Europas wie seine Westentasche. Er erholt sich, wann immer sein Beruf es ihm erlaubt, vom Stress des Universitätsalltags in seinem Haus in der Haute Provence. Dorthin, in die ländliche Idylle eines provenzalischen Dorfes, zieht er sich zurück, um zu schreiben. Neben nüchternen Fachbüchern entstehen dort seine Provencekrimis, in denen er den ganzen provenzalischen Mikrokosmos mit all seinen Problemen, Charakteren und landschaftlichen Reizen einfängt und in spannende Krimis einfließen lässt.
Ignaz Hold
EIN HAUCH VON TOD UND THYMIAN
Commissaire Papperins vierter Fall
Ein Provencekrimi
ambiente-krimis
Verlag ambiente-krimis, Bad Aibling und Münchenwww.ambiente-krimis.de Erste Auflage 2015 ISBN 978-3-945503-10-2 Copyright © 2015 by Ignaz Hold Alle Rechte vorbehalten e-book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck Umschlagfoto: Ignaz Hold
Prolog
Kein Windhauch regt sich. Die Mittagssonne brennt unbarmherzig auf die einsame Landschaft nieder. Weder die Pinien mit ihren luftigen Nadelkronen, noch die zahlreichen Steineichen mit ihren kleinen, graugrünen Blättern können verhindern, dass die vom wolkenlosen Himmel herabstürzende Hitze die hüfthohe Macchie und den roten Erdboden aufheizt.
Ein Wildschwein auf der Suche nach Nahrung schleicht durch das Unterholz. Außer strohtrockenen und stacheligen Sträuchern ist nichts Fressbares zu finden. Steinhart ist der Boden. Kein Pilz kann diese knochentrockene Erdkruste durchstoßen. Von Trüffeln, der Wildschweine Leibspeise, keine Spur. Die wird es erst wieder im Winter geben, jetzt ist es viel zu heiß. Die Bache trottet weiter. Der scharfe Duft der herbes de provence dringt in ihre Nase. Ihr Geruchsorgan wittert ein weiteres Aroma. Nur ganz schwach nimmt sie es neben dem würzigen, alles überdeckenden Thymianduft wahr. Sie folgt ihrer Nase, durchdringt ein dichtes Gebüsch. Am Rand des Dickichts bleibt sie abrupt stehen. Mitten in der Lichtung steht ein Auto. Der neuartige Geruch wird stärker, erreicht aber bei weitem nicht die Intensität des Thymians. Neugier und Hunger treiben sie an. Sie nähert sich vorsichtig dem Auto, umrundet es.
Dahinter, inmitten der buschigen Thymiansträucher liegt ein Mensch. Das Wildschwein zuckt zurück, will fliehen. Doch der Mensch bewegt sich nicht, deshalb wagt es sich näher heran. Er ist tot. Dunkelrot klafft am Kopf eine blutverkrustete Verletzung. Die Bache beschnuppert die Wunde, stupst die Leiche mit ihrer harten, spitzen Schnauze mehrmals an und lässt dann von ihr ab. Ein anderer, angenehmerer Duft als der Verwesungsgeruch zieht ihr in die Nase. Er kommt aus dem Auto: Bananen! Das Wildschwein mit dem struppigen schwarzen Fell hat den Plastikbeutel mit Obst entdeckt, der auf dem Rücksitz des verlassenen Autos liegt. Es zerrt ihn aus dem Wagen und verschwindet damit in Windeseile im dichten Gestrüpp.
Teil I
Kapitel 1
Lockruf des Geldes
Mittwoch, 4.August
Im Centre Commercial von Brignoles herrschte immer noch Hochbetrieb, obwohl es schon langsam Abend wurde, und die Öffnungszeiten des großen Supermarché sich dem Ende zu neigten. Die Angestellten im Fastfood-Restaurant neben dem Haupteingang des Einkaufszentrums hatten alle Hände voll zu tun, um gerade freigewordene Tische abzuräumen, bevor die nächsten Gäste, von der Selbstbedienungstheke kommend, mit vollbeladenen Tabletts zu den wenigen freien Plätzen drängten.
Es war Hochsommer. Draußen, am Parkplatz vor dem Lokal herrschte brütende Hitze. Die Luft stand still, kein Windhauch regte sich. Die Sonne war zwar schon ein Stück zum Horizont hinab gesunken und spiegelte sich vielfach in den Scheiben der riesigen Glasfront des Gebäudes. Ihre Strahlen brannten nach wie vor unbarmherzig auf die zahllosen Autos nieder und brachten die Luft in den Wageninneren zum Kochen.
Ganz vorne neben der sich automatisch öffnenden und schließenden Glastür saßen zwei Männer an einem schmalen Zweiertischchen. Jedes Mal, wenn neue Kunden das Schnellrestaurant betraten, und die Schiebetüren weit auseinander glitten, umhüllte ein Hitzeschwall die beiden, bis sich nach dem Schließen die angenehme Kühle des klimatisierten Raumes wieder um sie verbreitete.
Sie beobachteten gelangweilt das hektische Treiben im Restaurant. Der eine, ein gedrungenes Kraftpaket, dessen Brustmuskeln sein schwarzes, eng anliegendes T-Shirt bei jeder Bewegung zu beachtlichen Wölbungen formten, nahm einen großen Schluck aus seinem mit Bier gefüllten Pappbecher. Dann beugte er sich über die vor ihm liegende Zeitung – L’Équipe, Frankreichs meistgelesenes Sportjournal. Der Zeigefinger seiner rechten Hand fuhr die zahlreichen und mit kleinen Zahlen bedruckten Tabellen entlang. Schließlich stoppte er. Verärgert kratzte er sich mit der linken an seinem kahlgeschorenen Kopf.
„Schon wieder nichts! Immer muss der Falsche siegen.“
„Was’n los, Luc?“, fragte sein Gegenüber und zog die Zeitung näher zu sich. „Hat dein Gaul wieder nicht gewonnen?“
Suchend glitten seine Augen über die aufgeschlagene SPORTHIPPIQUE-Seite des Blattes. Die unzähligen Namen und Zahlen sagten ihm eigentlich nichts, denn er hatte mit Pferderennen nichts am Hut. Der Zeigefinger seines Freundes lag auf einer Tabelle mitten im Blatt. Es handelte sich um die Ergebnisse des großen Trabrennens Grand National du Trot in Marseille-Borély vom Vortag.
„Vierter ist er geworden, und ich hab auf Sieg gesetzt – merde, merde!“
„Ach, ärgere dich nicht. Das nächste Mal gewinnst du wieder. Komm, trinken wir noch eins.“
Er stand auf, nahm seinen Pappbecher und wartete bis sein Freund ausgetrunken hatte. Dann ging er zur Theke. Im Vorbeigehen drückte er die beiden Becher durch die chromglänzende Klappe in den großen Abfallcontainer. Kurz darauf kam er mit zwei neuen voll frisch gezapftem Bier zurück zu Luc an den kleinen Tisch am Eingang.
„Merci, Maurice – santé!“, prostete der seinem Freund zu.
Eine gute Weile schwiegen beide vor sich hin. Plötzlich knalle Luc seinen Becher auf die Tischplatte, so dass das Bier überschwappte.
„Ist schon scheiße mit dem Geld. Nie reicht es. Und mit dem da“, dabei deutete er auf die Rennergebnisse, „zahlt man auch mehr drauf als man gewinnt.“
„Du hast gut reden. Du hast wenigstens einen Job. Lagerist in einem Transportunternehmen. Da kriegst du doch ordentlich Gehalt. Was soll ich da sagen? Die aide sociale, die reicht hinten und vorne nicht.“
Sie versanken wieder in Schweigen. Die Aussichten zu Geld zu kommen waren nicht gerade rosig. Es stimmte schon, der Jüngere von ihnen, Luc Percier, hatte einen Job und konnte auch kräftig zupacken. Aber um in die höheren Gehaltsstufen zu gelangen, musste man mehr bieten als Muskeln. Und selbst wenn – sein schlechter Abschluss am Collège, der Mittelschule von Vitrolles, qualifizierte ihn auch nicht gerade zu Höherem. Dazu kamen seine Vorstrafe und der kurze Sonderurlaub im Knast, die einen weiteren Aufstieg auf der sozialen Leiter unmöglich machten.
Seinem Freund Maurice Gaullefrond ging es eigentlich viel besser. Er hatte eine ordentliche Ausbildung, Lycée und Studium an der staatlichen Universität von Aix-Marseille. Das allerdings hatte er ohne Abschluss abgebrochen. Deshalb und wegen seiner Fächerkombination – Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften – wäre er auch mit einem Masterdiplom am Arbeitsmarkt chancenlos gewesen. Früher, als Student, hatte er noch große Pläne gehabt. Er sah sich als Direktor eines der berühmten Museen an der Côte d’Azur, oder als Intendant des Grand Theâtre de Provence in Aix oder des Theâtre National de Marseille. Doch das waren alles Luftschlösser geblieben. Keiner von seinen großen Träumen war wahr geworden. Er hatte sein Studium verbummelt, das ausschweifende studentische Nachtleben hingebungsvoll genossen, bis man ihn schließlich nach fast zwanzig Semestern von der Uni verwiesen hatte. Seither lebte er von der Sozialhilfe. Ab und zu konnte er sich mit kleineren Gelegenheitsjobs etwas dazuverdienen, etwa als Fremdenführer bei besonderen kulturellen Anlässen. Kürzlich durfte er Touristen durch eine Sonderausstellung im Musée Granet in Aix führen. Aber die Chancen, eine Daueranstellung als Fremdenführer zu bekommen, waren gleich Null – bei seiner Vorgeschichte. Außerdem war er mit seinen siebenundvierzig Jahren viel zu teuer, im Vergleich mit den jungen Bewerbern um solche Stellen.
Freunde waren Maurice und Luc geworden, weil sie im selben Wohnblock am Rande von Brignoles wohnten. Vor allem aber wegen ihrer Begeisterung für das Pétanquespiel, der provenzalischen Variante des Boulesports.
Weil sein Kumpel nach wie vor in die Sportzeitung vertieft war, nahm sich Maurice ein auf dem Nebentisch liegen gebliebenes Exemplar der regionalen Tageszeitung Var Matin und begann lustlos darin zu blättern. Plötzlich lachte er auf:
„He, Luc. Schau mal, das ist toll!“
Er schob die Zeitung zu seinem Freund hinüber und deutete auf einen Artikel.
„Da gibt es Leute, die können die GPS-Daten von einem Navi aus der Ferne so umprogrammieren, dass das Auto ganz woanders hingeleitet wird als der Fahrer will.“
„Na und? Was habe ich davon?“
„Da könntest du einen LKW von deinem Unternehmen, der irgendwas Wertvolles geladen hat, zu einem geheimen Ort dirigieren, wo man ihn dann ausrauben kann.“
„Blödsinn, das klappt nicht. Die in der Zentrale sehen doch am Computer genau, wo unsere LKW sind.“
„Non! Da steht, das kann man so programmieren, dass die Kontrolleure in der Zentrale glauben, der sei auf dem richtigen Weg, obwohl er ganz woanders ist.“
„Mmmh, glaub ich nicht!“
„Doch, irgend so Wissenschaftler im INRTR haben das hinbekommen.“
„INRTR, was ist das?“
Maurice suchte im Zeitungsartikel, ob die Abkürzung irgendwo ausgeschrieben stand.
„Institut National de Recherche Télématique Routière. Die Technik kommt wohl aus Amerika. Spoofing nennen die das.“
„Das hilft mir jetzt auch nicht. Weil, das kann ich nicht, das Programmieren. Und du auch nicht.“
„Stimmt auch wieder. Trotzdem, wäre toll wenn man sowas könnte!“
Die beiden vertieften sich wieder in ihre Zeitungen.
***
Die Angestellten des Restaurants begannen damit, die Stühle auf die Tische zu stellen. Reinigungspersonal wischte den braun gefliesten Boden mit überbreiten Wischmops. Luc und Maurice saßen noch immer an ihrem Platz neben der Türe und schauten den Arbeiten zu. Eine Bewegung vor dem Fenster und Motorengeräusch lenkten ihre Aufmerksamkeit nach draußen. Ein grauer Lieferwagen war vorgefahren und hielt direkt vor dem Eingangsportal zum Supermarkt, wo an sich ein striktes Halteverbot galt. Trans-Sécur stand in dicken schwarzen Buchstaben auf der fensterlosen Seitenwand des gepanzerten Fahrzeugs. Eine schmale Türe wurde geöffnet und sofort wieder geschlossen, nachdem ein kräftiger Mann in schwarzer Uniform ausgestiegen war. Mit demonstrativ sichtbarer Pistole im Holster ging er in den Supermarkt.
„Der holt jetzt die Tageseinnahmen ab“, murmelte Luc. „Wieviel das wohl ist?“
Maurice Gaullefrond fasste dies als Aufforderung auf, das überschlagsmäßig zu schätzen.
„Die haben zwanzig Kassen, aber die sind meistens nur zur Hälfte besetzt. Und vor jeder steht eine Schlange von ein paar Leuten. Sagen wir mal, so eine Kassiererin braucht drei Minuten für einen Kunden, dann sind das von acht bis zwanzig Uhr …“
„Mehr!“, unterbrach ihn Luc. „Viel mehr, weil die quatschen doch mit jedem Kunden mindestens nochmal so lange.“
„Na gut, dann fünf Minuten. Das sind dann zwölf Stunden durch fünf Minuten, äh … Moment, das hab ich gleich!“ Er wischte mit dem Zeigefinger den Taschenrechner auf seinem Smartphone herbei.
„12 mal 60 durch 5Minuten … da schafft eine Kasse 144Kunden am Tag. Zehn Kassen machen 1.440Kunden. Wenn jeder für 50Euro einkauft, dann sind das …“ Er tippte wieder in sein Smartphone. „72.000Euro.“
„Die kaufen doch viel mehr. Du siehst doch, wie voll die Einkaufswagen sind, die sie vor sich herschieben.“
„Meinetwegen! Dann kaufen sie halt für 100 € ein. Das gibt dann fast 150.000 € Tageseinnahmen.“
„Der fährt doch nicht nur zu einem Kunden. Der kassiert doch mindesten bei zehn Supermärkten ab. Dann sind da eineinhalb Millionen in dem Auto drin. So einen Karren müsste man knacken! Dann hätten wir ausgesorgt.“
Inzwischen war der Geldbote mit einem silbern blitzenden Metallkoffer aus dem Supermarkt zurückgekommen. Die Tür zum Transporter öffnete sich, eine Hand reckte sich heraus, übernahm den Geldkoffer und zog ihn ins Innere des gepanzerten Wagens. Nur einen Augenblick später war auch der Kofferträger darin verschwunden, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
„Jetzt fährt er zum nächsten und kassiert dort wieder so einen Batzen Knete.“ Sehnsüchtig blickte Luc dem zwischen den schier endlosen Reihen parkender Autos verschwindenden Geldtransporter nach.
„Gib nochmal die Zeitung her!“
Kapitel 2
Kunstinteresse könnte nicht unterschiedlicher sein
Sonntag, 8.August
Die Mittagssonne brannte in den gepflasterten Innenhof der Ancien Moulin à Huile Frédéric Papperin.
Commissaire Jean-Luc Papperin saß auf der Steinbank unter der riesigen, Schatten spendenden Platane und genoss sein freies Wochenende. Das erste Mal seit Wochen hatte er so richtig ausschlafen und sich nach einem schnellen Frühstück seinem Hobby, dem Kochen, widmen können. Das alles war völlig überraschend gekommen. Sein Kommissariat in Aix en Provence musste während der vergangenen vierzehn Tage auf Hochtouren arbeiten. Sie hatten zwei Raubüberfälle auf Juweliere zu lösen, und die Ermittlungen schienen sich in einer Sackgasse festgefahren zu haben. Tagelang hatten sie nach den beiden Tätern gefahndet, aber keinerlei brauchbare Hinweise finden können. Die beiden Banditen waren jeweils zur Mittagszeit, kurz bevor die Schmuckhändler ihre Geschäfte für die Mittagspause zusperrten, mit einem Motorrad vorgefahren und in den Laden gestürmt. Während einer der Räuber die anwesenden Personen mit einer Schusswaffe in Schach hielt, konnte der andere in aller Ruhe die Vitrinen mit den wertvollen Schmuckstücken ausräumen. Das Ganze wäre ein übliches Szenario gewesen, das in Marseille und in neuerer Zeit leider auch in Aix immer wieder vorkam, wenn nicht – beim zweiten Überfall – ein Angestellter besonders mutig sein und dem Bewaffneten die Pistole aus der Hand schlagen wollte. Reflexartig hatte dieser abgedrückt. Das Projektil hatte die Aorta des Verkäufers zerfetzt, wie sich später bei der Obduktion herausstellte. Die beiden Verbrecher waren mit der Beute auf dem Motorrad geflüchtet. Die sofort gerufene Rettung war zu spät gekommen. Der Notarzt hatte nur noch den Tod des Mannes feststellen können. Er war verblutet. Alle im Laden anwesenden Personen – der Inhaber und zwei weitere seiner Angestellten sowie zwei Kunden – waren derart unter Schock gestanden, dass es zu lange gedauert hatte, bis sich jemand um den Verletzten zu kümmern begann.
Alles hatte danach ausgesehen, dass auch das bevorstehende Wochenende der Ermittlungsarbeit zum Opfer fallen würde, bis sich, völlig überraschend, einer der Täter bei der Polizei gemeldet hatte. Der Mord sei nicht geplant gewesen, betonte er in seinem Geständnis. Und dass sich sein Kumpel jetzt auch noch damit rühmte, das könne er nicht ertragen, nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Deswegen wolle er aussagen und bitte um Behandlung nach der Kronzeugenregelung. Der gesamte Fall konnte noch am Samstag abgeschlossen, der zweite Täter, der den Todesschuss abgegeben hatte, verhaftet, und die Akte am Abend dem Ermittlungsrichter übergeben werden. So kam es, dass Papperin und alle Mitarbeiter seines Kommissariats plötzlich einen freien Sonntag vor sich hatten.
Wegen dieser unerwarteten Entwicklung war man in der Ölmühle vom Aufkreuzen des Kommissars total überrascht gewesen. Odile Papperin, Jean-Lucs Mutter, hatte nichts Besonderes eingekauft, und schon gar nichts, was den kulinarischen Ansprüchen ihres Sohnes entsprochen hätte. Aber Cabanosque war ein kleines Dorf, und Odile mit fast allen Einwohnern befreundet. Ein Anruf bei Cyril Bastin, dem poissonnier des Ortes, und die Schilderung des überraschenden Auftauchens von Jean-Luc hatten genügt, und dieser war in seinen Fischladen gefahren, hatte einen großen Steinbutt hergerichtet, ausgenommen und ihn persönlich seiner guten Kundin und Freundin Odile in die Ölmühle gebracht.
Jetzt konnte Jean-Luc in seinem Hobby voll aufgehen. Kochen entspannte ihn, half ihm zu vergessen, was sein Beruf ihm manchmal zumutete: Verstümmelte Leichen, entführte Kinder, missbrauchte Frauen. Es war fast, als trete er bei dieser Tätigkeit einen Schritt zurück vom Abgrund des Verbrechens, mit dem er sonst Tag für Tag konfrontiert wurde.
Er schnitt die Seitenflossen des flachen Fisches ab, wusch und beträufelte ihn mit Olivenöl aus der eigenen Ölmühle und streute dann ganz wenig Salz darauf und etwas von dem Thymian, der überall im Garten und in allen Mauernischen wucherte. Auf weitere Gewürze verzichtete er, damit der feine Eigengeschmack des Fisches nicht überdeckt wurde. Als Beilagen bereitete er das zu, was die Vorratskammer hergab: Kartoffeln, in Spalten geschnitten und in Olivenöl gewendet, mit Salz und etwas Pfeffer gewürzt. Mit frischen Rosmarinnadeln aus dem Garten bestreut, kamen sie als erstes in den Herd, da ihre Backzeit am längsten dauerte. Kurze Zeit später schob er den Fisch neben die Rosmarinkartoffeln in den Grillofen. Als Gemüse gab es eine einfache provenzalische Ratatouille: Paprika, Courgettes, Auberginen, mit Schalotten und viel Knoblauch in Olivenöl in der Pfanne gegart.
Jean-Luc Papperin lehnte sich zufrieden zurück, wohlig gesättigt von dem hervorragenden Essen, das er, Odile und Antoine, ihr Angestellter und – wie Papperin vermutete – heimlicher Liebhaber, im Freien am Marmortisch unter der großen Platane genossen hatten, und müde von dem eiskalten Rosé aus dem Weingut Grand Jas bei Entrecasteaux.
„Machst du noch einen Kaffee, maman? Un espresso? S’il te plaît!“, bettelte er.
Während sie auf die kleinen Tassen mit dem starken schwarzen Getränk warteten, zündete sich Antoine eine Gauloises an, und Papperin vertiefte sich in den Var-Matin, zu dessen Lektüre er in den letzten Tagen vor lauter Stress nicht gekommen war.
„Hör mal, maman, in Château Barbaresque soll es demnächst eine exklusive Sonderausstellung ‚Les peintres du Midi‘ geben. Da sollen Bilder von berühmten Künstlern, die in der Provence gemalt haben, zu sehen sein. Darunter einige aus Privatsammlungen, die bisher noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Von Ende September bis Januar geht das. Da will ich unbedingt hin. Interessiert dich das auch? Und weiß du, wo der Ort liegt?“
„Nein, kenne ich nicht. Keine Ahnung, wo das ist. Aber es klingt sehr interessant.“
Während Odile Papperin nickte, dachte sich Jean-Luc, das könnte auch etwas für Nia sein, seine im fernen Paris arbeitende Freundin. Seit ihrem traumatischen Erlebnis letztes Jahr auf der Insel Porquerolles, bei dem Nia fast erschossen worden wäre, hatten sie sich nicht allzu oft gesehen, meistens, wenn er zu dienstlichen Konferenzen in die Zentrale der police judiciaire nach Paris kommen musste. Und natürlich im Urlaub. Diese Begegnungen waren immer sehr intensiv und herzlich gewesen, aber viel zu selten. Nia litt, so glaubte Jean-Luc, sehr unter einem inneren Zwiespalt. Einerseits war sie seiner Brigadierin Jeannine Dalmasso überaus dankbar – hatte diese ihr doch das Leben gerettet, als sie schneller geschossen hatte als der Drogenhändler. Andererseits schienen in ihr immer wieder Eifersucht zu nagen und der Zweifel, ob die Affäre zwischen Jean-Luc und Jeannine wirklich beendet war. Aber das war Vergangenheit. Wie konnte er Nia davon überzeugen? Wenn sie doch nur zu ihm in die Provence ziehen würde! Er wünschte sich so, dass alles wieder wie früher würde, als sie ein unzertrennliches Paar waren.
Papperin beschloss, Nia am Abend anzurufen und sie zu bitten, zur Eröffnung zu kommen, um mit ihm diese Ausstellung zu besuchen.
***
Die beiden Türme des Château Gramellons am östlichen Ausläufer der Montagne du Luberon leuchteten hellrosa in der tiefstehenden Abendsonne. Vicomte und Vicomtesse de Gramellons saßen sich an den Schmalseiten des langen Esstisches im Speisesaal des Schlosses gegenüber und aßen schweigend ihre Vorspeise, eine cremige Kürbissuppe mit einem Inselchen crème fraîche darauf, verziert mit einem grünen Basilikumblatt. Außer einem gelegentlichen, leisen Klacken, wenn ein Löffel den Teller berührte, war kein Geräusch zu hören. Erst als Vicomtesse de Gramellons die silberne Glocke ergriff, die neben ihrem Teller stand, und sie sanft hin und her schwenkte, erfüllte ein freundlicher, heller Klang den hohen Raum. Er stand in starkem Kontrast zu der Düsternis des Saales mit seiner tiefblauen Seidentapete, deren verblasstes Goldmuster die schwermütige Atmosphäre ebenso wenig auflockern konnte, wie die fein ziselierten Schnitzereien an den massigen, aus dunklem Holz gefertigten Möbeln. Auf das Klingeln erschien eine junge Frau in schwarzem Rock, schwarzer Bluse und einem weißen Spitzenhäubchen im blondgefärbten Haar. Mit einer laschen Handbewegung deutete der Vicomte an, dass abgedeckt werden solle.
„Gerne, monsieur le Comte!“
Die Frau, die offensichtlich die Funktion eines Dienstmädchens hatte, nahm die Teller in der devoten Manier einer Untergebenen und trug sie aus dem Raum. Nachdem sie die schwere Doppelflügeltür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich der Vicomte an seine Frau:
„Mein Cousin, der Comte de Barbaresque hat mir geschrieben und angefragt, ob ich unseren Cézanne zu seiner Sonderausstellung auf das Château Barbaresque schicken möchte. Soll ich? Was meinst du dazu?“
„Woher weiß der von unserem Cézanne? Das sollte doch eigentlich geheim bleiben. Allein schon wegen der fehlenden Alarmvorrichtungen hier im Château. Wenn das Gott und die Welt wissen, können wir uns vor Dieben, Einbrechern und Bittstellern nicht mehr retten.“
Der Vicomte versuchte das zu erklären. Wahrscheinlich habe er bei einem Treffen mit seinem Verwandten einmal aus Versehen verlauten lassen, dass sie einen Cézanne besäßen. Ein Gemälde, das der Künstler persönlich seinem Großvater geschenkt hatte, als er einen längeren Aufenthalt auf diesem Schloss verbracht hatte.
„Musstest du wieder mal angeben, prahlen, mit dem einzig Wertvollen, das wir besitzen! Du hättest besser nichts gesagt. Außerdem hat er es nicht deinem, sondern meinem Großvater geschenkt.“
Eine Weile saßen sich die beiden schweigend gegenüber. Das Dienstmädchen servierte den Hauptgang. Anschließend, beim Dessert, ergriff der Vicomte wieder das Wort.
„Möchtest du meine Meinung hören?“
Als seine Frau nickte, fuhr er fort:
„Ich habe mir das gut überlegt. Wenn sich in der Fachwelt herumspricht, dass wir ein bisher unbekanntes Unikat, ein Originalgemälde des Künstlers besitzen, dann wird das Interesse der Kunsthändler und Sammler geweckt. Und wenn wir uns dann konsequent weigern, es zu verkaufen, wird sein Wert immer weiter steigen – kürzlich wurde ein Bild von Cézanne für etwas mehr als zwanzig Millionen Dollar versteigert. Damit könnten wir unsere Schulden tilgen, das Haus hier renovieren und ein sorgenfreies Leben führen.“
„Niemals! Niemals werde ich das Bild hergeben. Du weißt, es gehört mir, mir alleine und ich hänge daran. Es gehört hierher, auf das Schloss, und hier wird es immer bleiben. Es ist ein herrliches Gefühl, solch einen Schatz zu besitzen und niemand weiß davon. Nein, es wird nicht verkauft! Basta!“
„Aber chérie, denk doch an unsere prekäre finanzielle Lage!“
Kapitel 3
Ein Komplize wird gesucht
Donnerstag, 12.August
Im Städtchen Pertuis an der Durance herrschte Hochbetrieb. Man bereitete sich auf die regionalen Pétanquemeisterschaften vor, die von Freitag bis Sonntag auf dem riesigen Bouleplatz am Stadtrand stattfinden sollten. Die Begeisterung für diesen in Südfrankreich so beliebten Sport hatte alle Bevölkerungsschichten in der Stadt und in der ganzen Region gepackt. Von überall her aus der Provence kamen Pétanquespieler mit ihren Freunden und Familien angereist.
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