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Commissaire Jean-Luc Papperin erhält einen telefonischen Hilferuf von einer entfernten Verwandten aus der Bretagne. Ominöse Anrufe bedrohen sie machen ihr Angst. Nur widerwillig ändert Papperin seine Urlaubspläne und fährt zu ihr nach Saint Malo. Dort wird er Zeuge der mysteriösen Anrufe. Eine Männerstimme gibt unerklärliche Zahlenkombinationen durch. Nur langsam kommt er hinter das Geheimnis. Eine Leiche, die von der tosenden Brandung an den Strand gespült wird, eine verhängnisvolle Bootsfahrt voller Gefahren und die technische Hilfe seines Teams in Aix en Provence führen auf die Spur des Anrufers und zur Aufklärung eines grauenhaften Verbrechens.
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Seitenzahl: 277
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IGNAZ HOLD
KALTES MEER
Buch
Commissaire Jean-Luc Papperin erhält einen telefonischen Hilferuf von einer entfernten Verwandten aus der Bretagne. Ominöse Anrufe bedrohen sie und machen ihr Angst. Nur widerwillig ändert Papperin seine Urlaubspläne und fährt zu ihr nach Saint Malo. Dort wird er Zeuge der mysteriösen Anrufe. Eine Männerstimme gibt unerklärliche Zahlenkombinationen durch. Nur langsam kommt er hinter das Geheimnis. Eine Leiche, die von der tosenden Brandung an den Strand gespült wird, eine verhängnisvolle Bootsfahrt voller Gefahren und die technische Hilfe seines Teams in Aix en Provence führen auf die Spur des Anrufers und zur Aufklärung eines grauenhaften Verbrechens.
Autor
Ignaz Hold ist ein Pseudonym. Der Autor, ein reiselustiger Wissenschaftler, hat seit über einem Vierteljahrhundert in der Provence eine zweite Heimat gefunden und kennt diesen Fleck Europas wie seine Westentasche. Er erholt sich, wann immer sein Beruf es ihm erlaubt, vom Stress des Alltags in seinem Haus in der Haute Provence. Dorthin, in die ländliche Idylle eines provenzalischen Dorfes, zieht er sich zurück, um zu schreiben. Neben nüchternen Fachbüchern entstehen dort seine Provencekrimis, in denen er den ganzen provenzalischen Mikrokosmos mit all seinen Problemen, Charakteren, landschaftlichen und kulinarischen Reizen einfängt und in spannende Krimis einfließen lässt.
Ignaz Hold
KALTES MEER
Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden und orientieren sich nicht an lebenden oder toten Vorbildern oder an tatsächlichen Geschehnissen.
Etwaige Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
ambiente-krimis,
Michael Heinhold
Am Feilnbacher Bahnhof 10
83043 Bad Aibling
Erste Auflage 2020
ISBN 978-3-945503-24-9
Copyright © 2020 by Ignaz Hold
Alle Rechte vorbehalten
e-book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Umschlagfoto: Michael Heinhold
… mais la menace du plus fort me fait toujours passer du côté du plus faible.
… aber die Bedrohung durch den Stärksten bewirkt bei mir stets, dass ich mich auf die Seite des Schwächeren stelle.
Aus: Mémoires d’Outre Tombe, François-René de Chateaubriand
Prolog
Tiefdunkle Wolken ballten sich über dem wild bewegten Meer zusammen. Der eisige Wind peitschte die Wellen vor sich her und setzte ihnen weiße Schaumkronen auf. Wie eine in steter Bewegung befindliche Berglandschaft rollten die grauschwarzen Wogen mit ihren schmutzig-weißen Gischtkämmen vorüber, bis sie im nebligen Dunst in der Ferne mit den tief hängenden Wolkenschwaden zu einer grauen Masse verschmolzen. Dunkles Wasser weit und breit. Kein Land, kein Schiff, nichts, was die trostlose Eintönigkeit des Ozeans durchbrach. Eine unendliche, sturmgepeitschte und gefährliche Wüste aus Nässe, Wind und Wolken.
Das Wasser war kalt. Immer wieder schlugen die schaumbekrönten Wellenkämme über seinem Kopf zusammen und drückten ihn tief unter Wasser. Immer wieder kämpfte er sich nach oben, japste nach Luft und suchte mit seinen Augen die nächste Woge, deren brodelnde Gischt ihn überspülte und wieder in die Tiefe riss. Langsam verließen ihn die Kräfte. Seine Beine und Arme schmerzten wegen der Anstrengung. Sie begannen vor Kälte steif zu werden. Er konnte sie kaum noch bewegen. Immer schwächer wurden die Schwimmstöße, mit denen er die Wasseroberfläche zu erreichen versuchte.
Warum nur hatte er nicht nachgegeben, nicht still gehalten? Nein! Er musste sich einmischen, seinem Sinn für Gerechtigkeit, für Vergeltung nachgeben. Sich für die unmenschliche Behandlung rächen. Er hatte seinem Gegner die Faust in die Magengrube gerammt. Seinen ganzen Frust und seine aufgespeicherte Wut hatte er in diesen Stoß gelegt. Glasklar hatte er noch vor Augen, wie sein Gegenüber wankte. Doch was dann folgte, war aus seinem Gedächtnis verschwunden, ausgelöscht, als hätte jemand den delete-button in seinem Gehirn gedrückt. Aber wieso war er jetzt hier, in diesem eisigen Wasser, das ihn zu verschlingen drohte? Woher kam der brüllende Schmerz in seiner Brust? Er schloss die Augen und ließ sich einen Augenblick gehen. Die Erinnerung überkam ihn. Gleißende Sonne, endlose Hügel mit von der Sonne verbranntem, braunen Gras, hier und da ein Schatten spendender Baum, eine junge Frau in buntem, wehendem Gewand kam ihm entgegen – seine Schwester? Nein, seine Frau! Er sah sie nur unscharf, schemenhaft. Sie winkte ihm. Er lief freudig auf sie zu, sank glücklich in ihre Arme.
Nur eine kurze Weile leuchtete das Rot seiner Fleecejacke auf der heranrollenden Woge. Dann wurde es von der Gischt überspült und versank in der Tiefe. Und mit ihm der in Trugbildern glücklicherer Zeiten halluzinierende Mann.
Kapitel 1
Sonntag, 17.August
Cabanosque stöhnte unter der hochsommerlichen Hitzewelle. Auch wenn die Sonne schon tief am Horizont stand und ihre Strahlen vom grellen Weiß langsam in ein milderes Orange wechselten, blieb es dennoch unerträglich heiß. Kein Lufthauch regte sich. Die aufgeheizte und ausgedörrte Erde strahlte die tagsüber gespeicherte Hitze wieder ab und machte jede Bewegung zu einem schweißtreibenden Vorhaben. Nur die Zikaden schienen sich wohl zu fühlen. Ihr lauter Gesang, eher ein Ohren betäubendes Schnarrkonzert, erklang aus allen Bäumen und schallte über die hügelige Landschaft.
Wie jeder, der sich nicht unbedingt im Freien aufhalten musste, hatte auch Jean-Luc Papperin den Tag im Haus verbracht. Dort war es zwar nicht kühl, aber doch wesentlich angenehmer als in der unmenschlichen Sonnenglut draußen. Die dicken Mauern der alten Ölmühle hielten die Hitze fern und sorgten für erträgliche Temperaturen. Obwohl Sonntag war, hatte commissaire Papperin die meiste Zeit am Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Sein Team und er hatten gerade einen Aufsehen erregenden, schwierigen und brutalen Raubmord erfolgreich aufgeklärt, und jetzt mussten Berichte geschrieben und die Unterlagen für die Staatsanwaltschaft und das Gericht zusammengestellt werden. Es war typisch für den Kommissar, dass er nicht alle diese ungeliebten Tätigkeiten auf seine Mitarbeiter abgewälzt, sondern sich selbst einen Großteil der Arbeit mit nach Hause genommen hatte.
Jetzt, gegen Abend, war er fast fertig und hatte auch keine Lust mehr, weiter auf den Bildschirm seines Computers zu starren. Morgen im Kommissariat in Aix en Provence würde er mit seinem Team nochmals alles durchsprechen und dann würden sie gemeinsam den Abschlussbericht fertigstellen. Er klappte sein Notebook zu, streckte die Arme in die Luft und räkelte sich in seinem Bürostuhl.
„Zeit zum Abendessen“, dachte er und fragte sich, ob die Gazpacho inzwischen genügend abgekühlt war. Bei dieser Hitze kam ein warmes dîner nicht in Frage. Deshalb hatte er in einer längeren Schreibtischpause alles vorbereitet, was für diese kalte, spanische Gemüsesuppe erforderlich war: Tomaten, Paprika, Gurken, Zwiebeln, Knoblauch fein gewürfelt und das alles sämig püriert und mit Olivenöl, etwas Zitronensaft, Salz, Pfeffer, Chili und einem Schuss Aceto Balsamico abgeschmeckt. Er verließ seine Wohnung in der ersten Etage des Seitenflügels der Ölmühle, durchquerte den Innenhof mit der großen, Schatten spendenden Platane und betrat den séjour im Haupthaus, einen Wohn- und Küchenraum gigantischen Ausmaßes.
„Maman! Sollen wir draußen oder drinnen essen?“, rief er seiner Mutter zu, die an dem großen, rechteckigen Esstisch aus Kastanienholz saß und im Var Matin las.
„Draußen ist es schöner. Es ist zwar immer noch sehr warm, aber wenn die Sonne erst untergegangen ist, dann wird es richtig angenehm“, meinte sie und fragte nach einem langen Blick nach draußen auf den runden Steintisch unter der Platane: „Soll ich schon mal den Tisch decken?“
Papperin nickte zustimmend und wandte sich dem anderen Ende des Raumes zu, den man wegen seiner Ausmaße eher mit Saal oder Halle beschreiben konnte. Früher, vor dem Umbau der alten Ölmühle, hatte er als Lagerraum gedient, in dem die großen Holzbehälter – später waren sie durch graue Plastikcontainer ersetzt worden – standen, in die die Ölbauern aus der näheren und weiteren Umgebung ihre Olivenernte schütteten, die sie – früher mit Pferde- oder Eselskarren, später mit Traktoren – zum Pressen in die Ölmühle brachten. Nach dem Unfalltod seines Vaters vor einigen Jahren hatte Jean-Luc seine Mutter Odile überzeugt, das Geschäft mit den Fremdlieferanten aufzugeben und sich auf die Herstellung von hochwertigem Olivenöl aus der eigenen Olivenplantage zu beschränken. Beim Umbau der Ölmühle und bei den Investitionen in neue, moderne Maschinen hatte er, damals commissaire de police in Paris, sie tatkräftig unterstützt. So wurde die alte Lagerhalle zum Wohnraum umfunktioniert. Der Betonboden wurde mit den für die Gegend charakteristischen Tomettes de Salerne gefliest – sechseckigen, bräunlich-roten Kacheln aus terre cuite. Die beiden alten Rundbogentore zum Innenhof des Anwesens wurden durch Fenstertüren mit Sprossen ersetzt. Die Decke des rund sechzig Quadratmeter großen Raumes, die von klobigen, alten Holzbalken getragen wurde, hatte man so belassen. Ihre dunkle Farbe stand in schönem Kontrast zu den weiß getünchten Wänden. Die nördliche Seite des Raumes, gegenüber den Licht spendenden Fenstertüren im Süden, wurde von einer alten, bäuerlichen Anrichte beherrscht, die gut zweihundert Jahre alt sein mochte und in der Mitte der Wand stand. Rechts und links davon, unter vier kleinen Fenstern, befanden sich zwei weiße Designerküchentheken, auf denen mehrere ultramoderne Küchenmaschinen standen. Besonders die silbern glänzende Espressomaschine, Jean-Luc Papperins ganzer Stolz, fiel ins Auge. In seinem Kommissariat in Aix en Provence bekam er den Espresso in einer traditionellen Alu-Schraub-Caffettiera vorgesetzt. Seine Sekretärin beherrschte diese Art des Zubereitens zwar hervorragend – sie hatte diese Kunst aus Siena in Italien mitgebracht, wo sie ein gutes Jahrzehnt lang mit ihrem erstem Ehemann, einem Italiener, gelebt hatte. Doch zuhause war ihm diese altmodische Art Espresso zu kochen zu umständlich. Bei seinem hochmodernen Halbautomaten wurde jede Tasse portionsgenau mit frisch gemahlenen Bohnen zubereitet. Er musste nur das Pulver im Siebträger mit dem erforderlichen Druck von etwa zwanzig Kilogramm pressen, um ein optimales Ergebnis zu erhalten. Alles andere erfolgte automatisch. Der pechschwarze Kaffee lief in einem dünnen Faden in die kleine Tasse und hinterließ dort eine zart-schaumige crema.
Doch jetzt war nicht die Zeit für einen Espresso. Er wandte sich zum Kühlschrank und entnahm ihm die Glasschüssel mit der Gazpacho-Suppe. Das Glas war eiskalt und beschlug sofort, als es an die warme Raumluft kam.
„Halt! Es fehlen noch die Croutons“, dachte er und schob die Schüssel wieder zurück in den frigidaire. Während er ein altes Baguette in kleine Würfel schnitt und diese mit Olivenöl und viel Knoblauch hellbraun und knusprig anbriet, und der würzige Duft des gehackten Knoblauchs seine Nase umschmeichelte, schweiften seine Gedanken ab. „Meine Provence, mein Zuhause“, dachte er zufrieden. Es war schon die richtige Entscheidung gewesen, das Kommissariat in Paris zu verlassen, mit dem vielen Stress, seinem hektischen Betrieb und den vielen grausamen, erschütternden und trostlosen Verbrechen, mit denen er dort zu tun hatte. Gut, auch in Aix en Provence gab es Ganoven und Morde. Aber nicht so gehäuft wie in der Hauptstadt. Vor allem das organisierte Verbrechen, die sich bekämpfenden Mafiaclans, italienische, chinesische und russische Mafia, die ausufernde Drogenszene, der abscheuliche Menschenhandel, all das hatte seinen Beruf zu einem Alptraum gemacht, der ihn bis in den Schlaf verfolgt hatte. In den letzten Jahren war die islamistische Bedrohung hinzugekommen, die mit ihren Menschen verachtenden und bestialischen Attentaten das Leben in der Metropole beeinflusste und ein latentes Klima der Angst in der Bevölkerung schuf. Das alles war in der Provence nicht so drastisch. Vielleicht in Marseille und an der Côte d’Azur. Aber nicht in seinem Wirkungsbereich, der mittleren und nördlichen Provence. Seit zwei Jahren war er jetzt schon commissaire de police in Aix und Leiter der Mordkommission der Police judiciaire. Dass er das Kommissariat seines früheren Chefs hatte übernehmen können, von dem er als junger brigadier das Polizeihandwerk gelernt hatte, hatte sich als glückliche Fügung des Schicksals ergeben. So war er in seine Heimat zurückgekehrt, konnte auf dem Anwesen seiner Familie wohnen, die seit Generationen eine Ölmühle in Cabanosque unweit von Aix betrieb, die Moulin à Huile Frédéric Papperin. Sein Leben schien in ruhige, geordnete Bahnen zu münden, der Termin der Hochzeit mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Nia Griffon war festgelegt und beide hatten sich auf ein glückliches Familienleben mit Kindern gefreut, als ein unerwarteter Schicksalsschlag diese Pläne durchkreuzt hatte. Das Flugzeug, mit dem Nia aus Paris kommen wollte, war auf einmal von den Radarschirmen der Flugsicherung verschwunden. Man hatte nichts mehr von ihm und seinen Passagieren gehört. Trotz intensivster internationaler Bemühungen hatte man schließlich die Suche aufgeben müssen. Die Maschine galt als verschollen. Besatzung und Passagiere wurden amtlich für tot erklärt. Jean-Luc Papperins Leben war entgleist. Er hatte eine Affäre mit seiner jungen Brigadierin Jeannine Dalmasso angefangen, die beinahe in einem Chaos geendet und das harmonische Klima in der Mordkommission, seinem so erfolgreichen Team, zu zerstören drohte. Nur dank der einfühlsamen Intervention von Monique Dépardieu, der langjährigen Kommissariatssekretärin, konnte die Katastrophe vermieden werden. Seitdem herrschte wieder ein gutes und produktives Arbeitsklima. Jeannine und Jean-Luc hatten sich ausgesprochen und eine sachliche, berufliche Zusammenarbeit vereinbart, die gut zu funktionieren schien. Aber so ganz waren seine Gefühle für sie nicht erloschen. Ein kleiner Funken glühte in seinem Innersten weiter. Seit dem letzten Weihnachten aber, als er den Aufsehen erregenden Mord am Père Noël aufzuklären hatte, war eine neue Frau in sein Leben getreten: Die Wissenschaftlerin Chau Iris Le Tran, in die er sich sofort verliebt hatte. Leider musste er mit ihr eine Fernbeziehung führen. Sie arbeitete zur Zeit an der Universität in Ho-Chi-Minh-City, dem früheren Saigon. Deshalb konnten sie sich nur während der meist sehr kurzen Urlaube treffen, die ihm sein Job bei der Police judiciaire ließ.
„Jean-Luc, der Tisch ist gedeckt. Machst du einen Rosé auf? Aber was tust du? Hier riecht es verbrannt“, riss die Stimme seiner Mutter ihn aus seinen Gedanken. Entsetzt schaute er in die Pfanne, aus der beißender Rauch quoll. Schnell drehte er den Gasherd ab. Die croûtons hatten eine tiefschwarze statt der erhofften goldbraunen Farbe angenommen. Mit einem gemurmelten „merde!“ leerte er die Pfanne in den Abfall. Dann muss es eben ohne croûtons gehen, dachte er und holte die Glasschüssel und eine Flasche Rosé vom Château du Grand Jas aus dem Kühlschrank.
Das dîner im Freien war sehr geruhsam verlaufen. Die eisgekühlte Gemüsesuppe schmeckte nicht nur sehr gut, sie stellte auch einen erfrischenden Kontrast zu der immer noch sehr heißen Lufttemperatur dar. Dazu der fruchtige Wein, der im mit Eiswürfeln gefüllten Sektkühler der Wärme trotzte und hervorragend mit der Suppe harmonisierte. Statt der missglückten Croutons gab es einfache Baguettescheiben.
„Weiß du schon, wann deine Freundin Chau mal wieder nach Frankreich kommt, diese Vietnamesin?“, wollte Odile Papperin von ihrem Sohn wissen. „Eigentlich sieht sie gar nicht asiatisch aus, mit Schlitzaugen und so.“
„Maman! Chau ist keine Vietnamesin. Ihre Eltern sind Franzosen. Ihr Vater ist im diplomatischen Dienst in Saigon. Dort wurde sie geboren. Aber sie ist Französin! Das habe ich dir schon x-mal gesagt. Merk dir das doch endlich mal!“, korrigierte Papperin seine Mutter, um dann fort zu fahren: „Sie kommt Anfang September, wenn die dort Uniferien haben. Semester- oder Trimesterferien, oder wie das Studienjahr dort eingeteilt wird. Wir haben den Urlaub bereits voll geplant. Mein Chef hat ihn auch schon genehmigt. Wir machen eine Rundreise durch Spanien.“
Inzwischen war die Sonne vollends hinter den Hügeln versunken. Das goldgelbe Licht, welches die Landschaft überflutet hatte, war verschwunden. Die Berge, Täler, Gebäude und die gesamte Vegetation versanken in dämmerigem Grau. Nur der Himmel leuchtete noch blau und hell. Ein kleiner Punkt glänzte silbern am Firmament, ein Flugzeug, das, von der Sonne angestrahlt, stetig gen Süden strebte und einen weißen Kondensstreifen nach sich zog.
Papperin trug das gebrauchte Geschirr zurück ins Haus und kam mit einem Olivenholzbrett zurück, auf dem ein fromage de chèvre frais und ein Schüsselchen mit schwarzen Oliven standen. Er stellte es auf den runden Steintisch.
„Bist du dir eigentlich sicher, dass es wirklich das Richtige für dich ist?“, fragte Odile ihn nachdenklich. „Schon wieder eine Fernbeziehung mit einer Frau, die tausende von Kilometern von hier wohnt und arbeitet. Das hattest du doch bereits einmal mit Nia.“ In Gedanken fügte sie hinzu: „Wieso nimmt er nicht seine nette Kollegin. Die kommt von hier, ist aus der Provence. Und die beiden passen wirklich zusammen. Es hatte doch schon so gut begonnen.“ Aber sie hütete sich, diese Gedanken laut auszusprechen, denn sie wusste, wie wütend Jean-Luc auf solch eine Einmischung ihrerseits reagierte. So etwas wollte sie nicht noch einmal provozieren.
„Das ist meine Sache. Das geht dich nichts an maman!“, wies er sie auch prompt zurecht. Um von dem sich abzeichnenden Streit abzulenken, wechselte er schnell das Thema und fragte versöhnlich: „Sag mir lieber, was du als Dessert willst. Haben wir Eis im Haus?“
„Nicht viel, nur sorbet de citron.“
„Bien! Dann mache ich mir eine coupe colonel. Für dich auch?“
„Non, ich habe mit dem Rosé schon genug Alkohol gehabt. Bring mir nur zwei Kugeln vom sorbet!“
Nicht lange danach saßen die beiden wieder friedlich in der immer grauer und dunkler werdenden Abenddämmerung. Odile löffelte ihr Zitroneneis. Papperin zog schweigend am Strohhalm, der in seiner coupe colonel steckte: Zwei Kugeln Zitronensorbet, in reichlich Wodka schwimmend, und verziert mit einer Zitronenscheibe und zwei Blättern marokkanischer Minze. Plötzlich drang das elektronische Gedudel des Telefons aus dem Haus und zerstörte die harmonische Abendstille. Papperin, verärgert über diese Belästigung, murmelte:
„Lass es klingeln. Das hört schon wieder auf.“
„Und wenn es etwas Wichtiges ist? Du solltest lieber rangehen!“
Papperin schaute auf die dunklen Eingangstore zum Wohnzimmer, dann auf seine eisgekühlte coupe colonel. Nein! Er würde nicht ins Haus gehen und sich die Ohren von irgend so einem unwichtigen Anrufer vollquatschen lassen, während das Zitroneneis schmelzen und sich mit dem Wodka zu einer lauen Brühe erwärmen würde.
„Es wird schon nichts Wichtiges sein. Wenn es mein Kommissariat ist … das hat Zeit bis morgen. Und wer sonst könnte …?“
„Dann gehe ich halt!“, seufzte Odile, deren Neugier über ihre Bequemlichkeit siegte. Sie stand auf, schob sich noch schnell einen Löffel Zitroneneis in den Mund und verschwand im Haus. Papperin blieb sitzen. Während er verträumt in den Abendhimmel schaute, die nach und nach erscheinenden Sterne betrachtete und immer wieder am Strohhalm saugte, vernahm er aus dem Haus die Stimme seiner Mutter, die sich angeregt mit jemandem unterhielt. Es musste ein guter Bekannter oder Freund sein, denn aus dem nur schwer verständlichen Gebrabbel hörte er immer wieder ein tu oder ein toi heraus. Wer das wohl war, fragte er sich. Da kamen viele in Betracht, denn seine Mutter duzte sich mit fast allen Einwohnern von Cabanosque.
„Das ist mir eigentlich egal“, murmelte er und widmete sich wieder der Sternenbetrachtung und seiner coupe colonel.
Nach mehr als einer halben Stunde – inzwischen war es richtig dunkel geworden – kam seine Mutter in den Hof zurück. Sie hielt ihrem Sohn das Telefon hin.
„Hier, für dich. Es ist Isabelle.“
Papperin überlegte kurz, dann winkte er ab.
„Welche Isabelle? Ich kenne keine Isabelle.“
„Na Isabelle Dumeau. Deine Cousine in Saint Malo.“
Da Papperin sie ratlos und fragend ansah, ergänzte sie:
„Na, dein Vater Arnaud hatte doch eine Schwester. Die hat damals in die Bretagne geheiratet. Brioc Caradec, einen bretonischen Fischer. Der ist bei einem Sturm auf hoher See ertrunken. Dann hat sie wieder geheiratet, einen städtischen Angestellten in Dinard. Die beiden haben eine Tochter, deine Cousine Isabelle. Und die hat geheiratet und heißt jetzt Dumeau, weil sie den Namen ihres Mannes angenommen hat, Servan Dumeau.“
„Und was soll ich damit zu tun haben?“, fragte Papperin. „Die kenne ich nicht, habe sie noch nie gesehen.“ Bei diesen Worten schob er das Telefon in der Hand seiner Mutter mit einer brüsken Bewegung von sich.
„Aber sie ist mit dir verwandt. Und sie hat Probleme, wegen der sie dich als Kriminalkommissar um Rat und Hilfe bittet. Jetzt komm schon! Nimm es und rede mit ihr!“
Widerwillig nahm Papperin das Telefon aus Odiles Hand und presste es an sein Ohr.
„Allô?“, murmelte er ins Mikro.
„Commissaire Jean-Luc Papperin?“, klang es fragend aus dem Gerät.
„Oui!“
„Bon soir monsieur Papperin! Entschuldigen Sie den Anruf zu so später Stunde. Wir kennen uns noch nicht, aber wir sind verwandt, Cousin und Cousine. Darf ich Sie duzen?“
„Meinetwegen!“, brummte Papperin in den Hörer.
„Meine Tante hat dir schon gesagt, dass wir hier Probleme haben. Dass ich deine Hilfe als commissaire der Police judiciaire brauche.“
„Ja, das hat sie. Aber sie hat nicht gesagt, worum es geht. Was haben Sie … äh … hast du … für Probleme?“
„Also, das ist so: Wir, Servan – mein Mann – und ich, wir bekommen seit einiger Zeit anonyme Anrufe, die mir Angst machen.“
„Morddrohungen?“, fragte Papperin.
„Nein, keine Morddrohungen. Überhaupt keine Drohungen. Eine Stimme sagt nur so komische Zahlen und legt dann wieder auf.“
„Ich fürchte, das betrifft mich nicht. Ich bin nur für Morde zuständig, als Leiter der Mordkommission hier im Süden.“
„Das weiß ich schon. Aber trotzdem hoffe ich, dass du mir helfen kannst. Die Gendarmerie hier in Saint Malo nimmt mich nicht ernst. Die sagen, solange kein Verbrechen passiert ist, seien sie nicht zuständig.“
„Wieso bist du sicher, dass etwas Kriminelles dahintersteckt, dass sich die Polizei überhaupt damit befassen muss?“
„Was heißt sicher? Ich weiß nur, dass uns jemand Angst machen will. Er bedroht uns. Das ist doch kriminell, oder etwa nicht?“
„Meine liebe …“ Papperin stockte, da ihm der Name seiner Cousine entfallen war.
„Isabelle“, flüsterte ihm Odile zu.
„Meine liebe Isabelle! Wenn wir bei jedem merkwürdigen Telefonanruf gleich den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen würden, dann kämen wir nicht mehr dazu, uns um die tatsächlichen Verbrechen zu kümmern.“
„Aber ich …“
„Was sagt er denn genau, euer Anrufer?“
„Er sagt nichts. Nur Zahlen.“
„Wie? Zahlen?“
„Na einfach lange Zahlenkolonnen, wie 4857180210331930. Er ruft mehrmals hintereinander an, im Abstand von etwa einer halben bis dreiviertel Stunde, und sagt immer dasselbe – dieselben Zahlen. Wir können nichts damit anfangen. Telefonnummern sind es nicht, das haben wir schon ausprobiert. Aber irgendetwas muss das doch zu bedeuten haben. Auf alle Fälle macht es uns Angst.“
„Meines Erachtens solltet ihr diese Anrufe einfach ignorieren. Das bloße Nennen von Zahlen ist doch keine Drohung. Wenn er wirklich etwas Kriminelles mit euch im Sinn hat, dann wird der Anrufer schon irgendwann mal deutlich sagen, was er will. Euch drohen oder euch erpressen.“
„Ich wüsste nicht, womit uns jemand erpressen könnte. Trotzdem: Ihr von der Polizei könnt doch mit einer Fangschaltung den Anrufer ausfindig machen. Dann wüssten wir wenigstens, wer da anruft.“
„Das mit den Fangschaltungen war früher einmal. Heutzutage macht man das nicht mehr. Ihr könnt doch jederzeit von eurem Telefonanbieter einen Einzelverbindungsnachweis einholen. Habt ihr das noch nicht?“
„Nein. Wie geht das?“
„Ihr kriegt doch die Telefonrechnung digital übers Internet. Wenn ihr ‚Einzelverbindungsnachweis‘ anklickt, dann habt ihr alle ausgehenden und eingehenden Anrufe.“
„Davon verstehe ich nichts. Das muss Servan machen … mein Mann“, fügte sie erklärend hinzu. „Aber der ist heute mit Kunden auf Tour und kommt erst morgen gegen Mittag wieder.“
„Dann macht das, wenn er zurück ist! Einfach facture détaillée in eurem Account anklicken. Dann wisst ihr, wer euch da anruft und könnt ihn zur Rede stellen.“
„Merci, Jean-Luc. Das hilft uns. Ich hoffe es wenigstens. Alors! Merci et au revoir!“
Erleichtert, das Problem von madame Dumeau so schnell vom Tisch zu haben, legte Papperin das Telefon vor sich auf den Tisch und widmete sich wieder seiner coupe colonel. Während er den inzwischen lauwarmen Rest des Sorbet-Wodka-Gemischs über seine Zunge gleiten ließ, überlegte er, wie seine unbekannte neue Cousine wohl aussah. Sie musste etwa so alt sein wie er selbst. Ihre Stimme hatte – trotz aller Sorge, die aus ihr sprach – jugendlich geklungen. Vielleicht war sie doch ein paar Jahre jünger als er – dreißig oder zweiunddreißig. Und wie sie wohl aussah? Schlank? Dick? Groß oder eher klein? Hatte sie das südländische, Papperin’sche Aussehen geerbt, oder hatte sich das Erbgut der bretonischen Linie ihrer Vorfahren durchgesetzt?
„Und? Hast du ihr helfen können?“, durchbrach Odiles Stimme seine Überlegungen.
„Ich weiß nicht. Hoffentlich!“
„Was hat sie denn für ein Problem? Ich hab ja nur das gehört, was du ihr geantwortet hast. Was genau sie wollte, habe ich nicht mitbekommen.“
„Kennst du sie eigentlich?“, überging Papperin die an ihn gestellte Frage.
„Nicht mehr als du. Vorhin am Telefon habe ich das erste Mal mit ihr gesprochen. Der Kontakt mit der Schwester deines Vaters – ihrer Mutter – war schon nicht sehr eng, als Arnaud noch lebte. Nach dem Unfalltod deines Vaters ist er völlig zum Erliegen gekommen. Nein, ich habe keine Ahnung, was sie beruflich macht oder wie sie aussieht. Vorhin am Telefon haben wir über unser Verwandtschaftsverhältnis gesprochen, über Arnauds Schwester, ihre Mutter. Von Isabelle selbst weiß ich nur, dass sie verheiratet ist, aber keine Kinder hat. Aber jetzt sag schon, was sie für ein Problem hat. Ich habe nur mitbekommen, dass es sich nicht um Mord handelt, sondern um Anrufe von einem Unbekannten.“
„Das ist auch schon alles. Ich habe ihr erklärt, wie sie an die Rufnummer des mysteriösen Anrufers gelangt. Und jetzt hoffe ich, dass der Fall damit für mich erledigt ist.“
Papperin stand auf nahm sein Glas und das leere Eisschüsselchen seiner Mutter.
„Ich trag das rein, hole mir mein Buch und setz mich dann zum Lesen wieder raus. Und was machst du?“
„Ich werde ein bisschen fernsehen.“
***
Inzwischen war es spät geworden. Die Nacht war stockfinster. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes war nicht in der Lage, die Dunkelheit auch nur ein klein wenig zu erhellen. Papperin saß auf der Steinbank unter der Platane und las im Licht seiner Handytaschenlampe in dem Buch, das er am Samstag in der maison de la presse von Cabanosque gekauft hatte. Er wollte nicht in der blendenden Helle der Hofbeleuchtung sitzen, sondern die Stille der provenzalischen Sommernacht genießen. Deshalb die Taschenlampe. Vor ihm stand ein Glas mit Rosé, aus dem er ab und zu trank. Es herrschte eine tiefe Ruhe. Das Schnarrkonzert der Zikaden war längst schon verstummt. Gelegentlich drang der kunstvolle Koloraturgesang einer Nachtigall an sein Ohr. Und aus der Ferne vom Bach her erklang schwach das Quaken von Kröten. Sonst war nichts zu hören. Immer wieder ließ Papperin das Buch auf die Tischplatte sinken, schaltete das Handylicht aus und schaute träumerisch in den Himmel. Wegen des schwachen Mondes leuchteten die Sterne besonders hell und blinkten und flimmerten als unzählige silberne Punkte am tiefschwarzen Firmament. Papperin suchte den Orion und den großen Wagen, die einzigen Sternbilder, die er kannte. Er fragte sich, wie es dort oben auf den fernen Fixsternen wohl aussah. Würde es der Menschheit jemals gelingen, dorthin zu kommen? Als rational denkender Mensch wusste er, dass das unmöglich war. Die Reise würde unendlich viele Lebensalter dauern, so dass kein Mensch das je erleben könnte. Aber er fand es aufregend, sich das vorzustellen.
Plötzlich zerschnitt schrilles Gedudel die harmonische Stille. Das Telefon vor ihm auf dem Granittisch blinkte. Verärgert nahm er das Gerät in die Hand. Eine ihm nicht geläufige Nummer leuchtete auf dem Display. Er war versucht, den Anruf einfach wegzudrücken. Wer konnte um diese späte Stunde etwas von ihm wollen? Wahrscheinlich einer der eigentlich verbotenen Werbeanrufe. Unverschämtheit, dachte er. Aber meistens kamen die doch untertags. Als das Gedudel nicht aufhören wollte, siegte endgültig seine Neugier über den Ärger. Er drückte auf den grünen Knopf am Festnetztelefon und hielt das Gerät ans Ohr.
„Oui?“, brummte er missgelaunt ins Mikro.
„Jean-Luc, ich bin es nochmal. Isabelle! Entschuldige, dass ich so spät anrufe, aber…
„Was ist?“
„Also, ich habe das selbst versucht, und hab es auch ohne Servans Hilfe geschafft. Das mit der facture détaillée.
„Lass mich raten: Du hast herausgefunden, wer der Anrufer ist, und jetzt willst du Entwarnung ge…“
„Nein! Im Gegenteil! Es gibt keinen Anrufer!“
„Wie das?“
„Na, auf dem Papier, in der Liste der Einzelverbindungen. Wie du gesagt hast, sind dort alle Telefonate verzeichnet: Die bei uns eingehenden und die von uns ausgehenden Telefonate. Mit Datum, Uhrzeit und Gesprächsdauer. Bis auf zwei Fälle stehen auch die Telefonnummern dabei.“
„Und?“, fragte Papperin, den die Sache langsam zu interessieren begann.
„Nun, die bewussten Telefonate fehlen völlig. Nachdem ich langsam Angst bekommen hatte, habe ich bei den letzten Anrufen die genaue Uhrzeit aufgeschrieben. Von diesen Gesprächen steht nichts in den factures détaillées von Orange. Die fehlen einfach in der Liste.“
Papperin lag die Frage auf der Zunge, ob seine Cousine wirklich sicher sei, dass die Anrufe tatsächlich stattgefunden hatten. Aber laut sagte er das nicht.
Als hätte sie seine Gedanken lesen können, sagte seine Cousine:
„Ich fühle mich etwas verlassen. Servan, mein Mann, hält mich für paranoid. Das bilde ich mir alles nur ein, sagt er. Deswegen rufe ich dich auch heute an, weil er nicht zuhause ist. Wenn er von diesem Anruf wüsste, dann würde er mich fürchterlich verar … äh … auslachen.“
Nach einigem Nachdenken meinte er:
„Da gibt es dann eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist eurem Provider bei der Erstellung der Liste ein Fehler unterlaufen. Oder aber der anonyme Anrufer ist technisch so versiert, dass er sich in das IT-System eures Telefonanbieters einhacken kann. Das wäre dann höchst kriminell. Wer ist eigentlich euer Telefonprovider?“
„Orange France. Von denen haben wir Telefon, Internet und TV“
„Denen sollte eigentlich kein Fehler unterlaufen. Frag trotzdem mal nach. Gib ihnen die genauen Anrufzeiten an. Die sollen schauen, ob sie die Telefonate nicht doch finden“
Es trat eine längere Gesprächspause ein. Andernfalls, überlegte Papperin, müsste schon eine gehörige Portion krimineller Energie dahinter stecken. Um das zu bewirken, bräuchte es IT-Spezialisten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand wegen ein paar anonymer Anrufe einen derart hohen Aufwand betreiben würde.
„Ruf die Orange-Leute an und mach ihnen ordentlich Dampf. Gleich morgen früh. Ich nehme an, dass sich dann alles klären wird.“
„Okay, das werde ich machen. Hoffentlich brauchen die nicht endlos lange mit der Suche, sondern werden schnell fündig. Merci, Jean-Luc. Und entschuldige bitte, dass ich dich so spät nochmal gestört habe.“
„Kein Problem! Gern geschehen!“, schwindelte Papperin und beendete das Gespräch.
Kapitel 2
Montag, 18.August
Da es viel zu tun gab, hatte sich Papperin schon früh auf den Weg nach Aix zu seinem Kommissariat gemacht. Die Sonne war gerade aufgegangen, als er durch die Mautstelle an der Auffahrt zur A 8 fuhr. Es waren nur wenige Fahrzeuge auf der Autobahn. Sie würde sich erst zwischen sieben und acht Uhr füllen, wenn die Berufspendler aus dem Umland nach Aix zu ihrer Arbeitsstelle unterwegs waren. Papperin kurbelte die Seitenfenster seines betagten Peugeots herunter und genoss den kühlen Fahrtwind, der durch das Auto blies und seine krausen, schwarzen Haare verstrubbelte. Die sanfte Hügellandschaft vor ihm wurde von den frühen Sonnenstrahlen vergoldet. Das trostlose Braun der von der Sommerhitze verbrannten Wiesen strahlte jetzt einen satten Ockerton aus. Das dunkle Grün der Pinienwälder leuchtete saftvoll und kräftig. In wenigen Stunden, wenn die Sonne höher stand, würden diese Kontraste in der flimmernden Hitze wieder verblassen. Weit vor ihm leuchtete das Felsmassiv der Montagne Sainte Victoire. Die nackten, grau-weißen Felswände waren noch in goldenes Licht getaucht und verliehen der Landschaft beinahe einen leicht kitschigen Hauch. So wie sie auf Ansichtskarten und den unzähligen Malereien zu sehen war, die sogenannte Künstler am Cours Mirabeau den vorbei schlendernden Touristen anzudrehen versuchten.
Papperin liebte diese frühe Morgenstimmung. Er genoss den würzigen Geruch der Luft. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die die fast leere Straße auf ihn ausübte. Nahezu automatisch senkte sich sein Fuß und trat das Gaspedal tiefer durch. Ihm war schon klar, wie peinlich es wäre, wenn er, ein Vertreter der Staatsmacht und höherer Polizeibeamter mit 160km/h in eine Radarfalle geriete. Vermutlich würden die Kollegen von der Gendarmerie nationale den Fall niederschlagen, so dass er um eine Strafe herumkäme. Aber er konnte sich das hämisch Grinsen und Getuschel der für die Verkehrsüberwachung zuständigen Beamten von der polizeilichen Konkurrenz lebhaft vorstellen.
Es würde ihm immer ein Rätsel bleiben, wieso die staatlichen Polizeien zweigeteilt waren. Einerseits in die militärisch organisierte Gendarmerie nationale, die im Wesentlichen dem Verteidigungsminister unterstand, und andererseits in die Police nationale, deren oberster Chef der Innenminister war. Gut, die Gendarmerie war mehr im ländlichen Raum anzutreffen, während der Schwerpunkt der police nationale im städtischen Bereich lag. Aber die Zuständigkeiten waren nicht klar abgegrenzt und überschnitten sich sowohl fachlich als auch regional. Das Ergebnis war ein meist unproduktives Konkurrenzdenken, das die tägliche Arbeit oft stark behinderte. Auch die jüngste Reform, die Gendarmerie wenigstens teilweise auch dem Innenministerium zu unterstellen, hatte an diesem ineffizienten Zustand kaum etwas geändert.
Vorsichtshalber reduzierte er den Druck auf das Gaspedal etwas und setzte seine Fahrt nur wenig über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit fort. An der Ausfahrt Pont de l’Arc verließ er die autoroute und kurvte durch das Stadtgebiet von Aix. Auch hier waren die Straßen noch weitgehend wie leergefegt, so dass er nach nur wenigen Minuten in die Tiefgarage seiner Dienststelle einfahren konnte.
***
Mit einem fröhlichen „Bon jour tout le monde!“ betrat er sein Kommissariat, in dem seine Mitarbeiter bereits auf ihren Chef warteten. Wie vereinbart, waren sie früh gekommen, um die anschließende Besprechung vorzubereiten. Auf dem großen ovalen Konferenztisch in Papperins Chefzimmer warteten die Notebooks aufgeklappt, verkabelt und mit dem polizeilichen Intranet verbunden auf den Arbeitsbeginn. Mitten auf dem Tisch standen ein Korb mit knusprigen und verführerisch duftenden Croissants, daneben sechs Espressotassen und ein kleiner Stapel knallroter Papierservietten.
„Bon jour Jean-Luc! Der Kaffee ist schon fertig“, begrüßte Monique Dépardieu, seine Sekretärin, den Kommissar. Sie war schon bei Papperins Vorgänger, dem legendären commissaire Lafontaine Sekretärin der brigade criminelle, der Mordkommission von Aix. Damals war Papperin ein kleiner sous-brigadier in dieser Abteilung gewesen. Seit dieser Zeit duzte sie ihn. Und das hatte sie auch beibehalten, als er die Nachfolge von commissaire