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Der Einkäufer einer Supermarktkette stirbt nach der Verkostung von Premium-Ölivenöl. Das Öl im Tank des Großhändlers Huiles Alimentaires wurde vergiftet. Weitere Menschen müssen sterben. Der Umsatz von provenzalischem Olivenöl bricht ein. Zahlreiche Olivenbauern und Ölmühlen gehen Pleite. Commissaire Papperin ermittelt in einem Milieu, das ihm sehr vertraut ist, denn seine Familie betreibt selbst seit Generationen eine Ölmühle. Er stößt auf ein düsteres Geflecht von Intrigen, Habsucht, Hass und Liebe.
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Seitenzahl: 613
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IGNAZ HOLD
KALTGEPRESST
Buch
Kurz nach der Verkostung der neuen Olivenöle im Lager der provenzalischen Großhandelsfirma Huiles Alimentaires stirbt der Einkäufer einer bekannten Supermarktkette. Herzinfarkt – diagnostiziert der herbeigerufene Arzt. Doch Commissaire Papperin hat da so seine Zweifel, und richtig: Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung stellt sich heraus: Der Mann wurde vergiftet, und zwar mit einem seltenen und höchst schwierig herzustellenden Gift. Schnell wird klar, von welchem Olivenbauern und Ölproduzenten das vergiftete Öl stammt.
Commissaire Papperin und sein Team stehen vor der Frage:
Was wollte der Täter erreichen? Richtet sich seine Tat gezielt gegen den Toten? Oder sollte dem Großhändler Schaden zugefügt werden? Oder ist der Wettbewerbsdruck unter den Olivenbauern so stark, dass sie mit solch kriminellen Mitteln versuchen, einen Konkurrenten vom Markt zu verdrängen? Die Ermittlungen führen Papperin und sein Team zu idyllisch gelegenen südfranzösischen Bauernhöfen, in landschaftlich reizvolle Olivenhaine, und in das trost- und erbarmungslose Milieu des internationalen Olivenölgroßhandels.
Autor
Ignaz Hold ist ein Pseudonym. Der Autor, ein reiselustiger Wissenschaftler, hat seit einem Vierteljahrhundert in der Provence eine zweite Heimat gefunden und kennt diesen Fleck Europas wie seine Westentasche. Er erholt sich, wann immer sein Beruf es ihm erlaubt, vom Stress des Berufsalltags in seinem Haus in der Haute Provence. Dorthin, in die ländliche Idylle eines provenzalischen Dorfes, zieht er sich zurück, um zu schreiben. Neben nüchternen Fachbüchern entstehen dort seine Provencekrimis, in denen er den ganzen provenzalischen Mikrokosmos mit all seinen Problemen, Charakteren, landschaftlichen und kulinarischen Reizen einfängt und in spannende Krimis einfließen lässt.
Ignaz Hold
KALTGEPRESST
Commissaire Papperins siebter Fall
Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden und orientieren sich nicht an lebenden oder toten Vorbildern oder Geschehnissen. Etwaige Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
ambiente-krimis,
Michael Heinhold
Am Feilnbacher Bahnhof 10
83043 Bad Aibling
Erste Auflage 2018
Copyright © 2018 by Ignaz Hold
Alle Rechte vorbehalten
e-book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Umschlagfoto: Michael Heinhold
ISBN der e-book-Ausgabe: 978-3-945503-21-8
« L’huile d’olive fait fuir tous les maux! »
Sonntag, 23.April
Es war ein seltsamer Anruf gewesen, kurz nach dem Abendessen. Pierre Corbelle war ausgesprochen schlecht gelaunt und missmutig, hatte er doch kurz vor dem familiären dîner seinen aktuellen Kontostand bei der Crédit Agricole ausgedruckt und den Auszug in den Bankordner eingeordnet. Der Blick auf die mit Débit überschriebene Spalte war mehr als beunruhigend. Der negative Saldo seines Girokontos, der nouveau solde débiteur, wies eine bestürzende Größenordnung auf. Etwas mehr als drei Monatsgehälter. Er sah keine Chance, diesen Schuldenstand abzubauen. Die fixen Kosten – Zinsen, Tilgung, Strom, Unterhaltskosten für Auto und Boot, Telefon, Fernsehen, Versicherungen – verschlangen den Großteil seines Monatslohns. Es blieb nicht viel zum Leben übrig. Warum hatten sie auch diese teure Wohnung gekauft? Aber seine Frau Jaqueline wollte unbedingt in ein vornehmeres Stadtviertel ziehen. Sie hatte ihn richtiggehend erpresst:
„Du leistest dir den Luxus eines Motorbootes mit Liegeplatz im Hafen von Port Miou bei Cassis. Aber ich soll mit dieser winzigen Wohnung in den quartiers nord vorlieb nehmen. Nein, Pierre! Ich will raus aus der banlieue, diesem Arbeiterviertel.“
Früher waren sie hochzufrieden mit der Wohnung gewesen. Er hatte damals gerade seine erste Stelle als kaufmännische Bürokraft in einem Großhandelsunternehmen angetreten. Entsprechend niedrig war sein Gehalt gewesen.
„Aber inzwischen bist du stellvertretender Leiter der Vertriebsabteilung. Ich bin schon mehrmals von meinen Freundinnen angesprochen worden, wieso wir noch in diesem Viertel wohnen. Was macht das für einen Eindruck?“, hatte ihn seine Frau bedrängt. „Es schadet auch deiner beruflichen Karriere, wenn wir so substandardmäßig wohnen. Du willst doch auch einmal vom sous-directeur zum directeur aufsteigen, oder etwa nicht?“
Schließlich hatte er nachgegeben und sie hatten sich diese Wohnung im achten Arrondissement, dem vornehmen Quartier Borély, geleistet. Er hatte sich von den niedrigen Darlehenszinsen für Immobilienkredite blenden lassen. Dummerweise hatte der Bankberater der CA zusätzlich zu den Zinsen auf 2,5% Tilgung jährlich bestanden. Und inzwischen hatten sie die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass der Betrag, der nach Abzug aller Fixkosten von seinem Gehalt übrigblieb, bei weitem nicht für ihre laufenden Lebenshaltungskosten ausreichte. Dazu stellten sie zu hohe Ansprüche an das Leben – vor allem seine Frau und seine beiden Töchter.
Dieses Dilemma hatte ihm schon zahllose schlaflose Nächte bereitet. Einen neuen, besser bezahlten Job zu suchen, war bei der derzeitigen Wirtschaftslage aussichtslos. Und seinen Chef nochmal um eine Gehaltserhöhung bitten? Das hatte dieser vor einiger Zeit gerade erst abgelehnt. Gut, er könnte seine Sea-Ray Sundancer verkaufen und den Liegeplatz aufgeben. Aber das wollte er nun wirklich nicht. Das Boot war sein Refugium, seine persönliche Rückzugsmöglichkeit, wo er sich beim Hochseefischen erholen und seine beruflichen und privaten Sorgen verdrängen konnte.
Und dann war dieser Anruf gekommen!
***
Pierre und Jaqueline Corbelle hatten gerade ihre Cognacschwenker gehoben und sich zum digestif nach dem dîner zugeprostet, als das Handy in seiner Hosentasche erst zu vibrieren begann und dann lautstark mit einem melodischen Glockenklang auf sich aufmerksam machte. Eine unbekannte Stimme meldete sich.
„Spreche ich mit monsieur Pierre Corbelle, sous directeur bei Huiles Alimentaires du Sud?“
„Oui?“
Offensichtlich handelte es sich um etwas Berufliches, wunderte sich Pierre. Zu so später Stunde zuhause wegen einer geschäftlichen Sache angerufen zu werden, war mehr als ungewöhnlich. Aber es musste sich wohl um etwas Wichtiges handeln. Ein Kunde, fragte er sich, der eine Lieferung beanstandete und sich beschweren wollte? Aber so etwas lief doch nicht über sein privates Handy. Was also wollte der unbekannte Anrufer? Pierres Gedanken wurden von der Stimme unterbrochen:
„Ich muss mich für die späte Stunde dieses Anrufs entschuldigen. Mein Name ist Dr.Bruno Marbon. Ich bin Rechtsanwalt und handle im Auftrag von PCI-Personnel-Consultants-International.“
Pierre Corbelle kannte die große amerikanische Personalvermittlungsagentur zwar, aber nur dem Namen nach. Soweit er wusste, hatte auch sein Arbeitgeber keinerlei Kontakte mit den US-Headhuntern. Dafür war die Huiles Alimentaires SARL seines Chefs viel zu klein. Was also wollten die von ihm, fragte er sich verwundert. Vielleicht, dachte er, und ein schwacher Hoffnungsschimmer begann in seinem Hinterkopf aufzuglimmen, vielleicht will er mir einen Job anbieten.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er höflich.
„Wir hätten Ihnen einen Job anzubieten“, sagte die etwas näselnde Stimme. „Genau gesagt einen Nebenjob, ein Geschäft.“
Mit einer herrischen Handbewegung verjagte Pierre Jaqueline und seine beiden Töchter aus dem Esszimmer und erkundigte sich unsicher:
„Ja? Um was genau geht es?“
„Das sollten wir persönlich besprechen, und nicht am Telefon. Ich schlage vor, wir treffen uns zu einem kleinen Business-Lunch. Dienstag um dreizehn Uhr in der Brasserie Américaine? D’accord?“
Dienstag, 25.April
Pierre Corbelle war nervös und aufgeregt, als er kurz vor der vereinbarten Uhrzeit seinen Citroën in die Parklücke vor dem Restaurant bugsierte. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit gelang ihm dies erst beim dritten Versuch. Noch hatte er seiner Frau nichts von der Verabredung gesagt. Erst wollte er sich anhören, was der geheimnisvolle Dr.Marbon ihm anzubieten hatte. Das alles kam ihm etwas mysteriös vor. Aber womöglich war dies die Chance, auf die er immer gehofft hatte – nachdem das mit dem Lotto und dem Eurojackpot nie klappen wollte. Trotzdem blieb er skeptisch und misstrauisch.
Pünktlich um ein Uhr betrat er das Restaurant und blickte sich suchend um. Es war kein vornehmer Gourmettempel. Aber auch kein billiges Touristenlokal. Eher etwas, wo leitende Angestellte und Manager der umliegenden Unternehmen ihre Mittagspause verbrachten. Die meisten weiß eingedeckten Tische waren belegt. Pierre Corbelle ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Wer von den vielen Restaurantgästen könnte der Anrufer sein? Es gab zwei Tische, an denen nur eine Person saß. Er war sich unschlüssig, welche der beiden die richtige war. Da erhob sich an dem Tisch ganz hinten im Lokal ein Mann und winkte ihm zu. Er war mittelgroß und schlank. Er trug helle Jeans, ein dunkelblaues Sakko und ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen. Sein Gesicht war braun gebrannt und wurde von sehr kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und einem dunklen, leicht ins Graue changierenden Dreitagebart umrahmt. Während Pierre Corbelle auf ihn zuging, versuchte er den Mann zu taxieren und einzuordnen. Typischer Businessman der jüngeren Generation – etwa dreißig, so wie er selbst. Könnte ein Bankangestellter, Unternehmensberater oder Wirtschaftsprüfer sein, aber Anwalt passte auch. Der Händedruck war kräftig, aber nicht schmerzhaft. Er machte einen professionellen Eindruck auf Corbelle. Trotzdem blieb seine anfängliche Skepsis bestehen, wenngleich sie von einem schwachen Hoffnungsschimmer unterwandert wurde.
Was genau wollte dieser Rechtsanwalt von ihm?
Nach der förmlichen Begrüßung nahmen sie Platz und ein Kellner kam mit der Speisekarte an den Tisch.
„Ich empfehle Ihnen das Tagesmenü, mit dem plat du jour. Das ist hier immer sehr gut und frisch“, sagte der Anwalt. Auf seinen fragenden Blick zum Kellner leierte dieser die Speisenfolge herunter:
„Terrine de lapin avec sa confiture de figues, tranche de gigot avec des légumes du marché et après un dessert à la carte. “
Dr.Marbon und Corbelle nickten fast gleichzeitig. Beide maßen sie dem Essen offensichtlich wenig Bedeutung zu. Es ging um etwas Wichtigeres. Als Getränk bestellten sie zum Missvergnügen des Kellners nur de l‘eau plate, stilles Mineralwasser.
Voller Ungeduld wartete Corbelle darauf, dass Dr.Marbon ihm endlich sagen würde, was er ihm anzubieten hatte.
***
Der Business-Lunch war zunächst bei belanglos dahinplätscherndem Small Talk vorüber gegangen. Dann, beim café, hatte Dr.Marbon endlich sein Anliegen dem in finanziellen Nöten steckenden sous directeur Pierre Corbelle geschildert. Er war erstaunlich gut über Corbelles Geldprobleme informiert gewesen.
„Aus Gründen, für die Sie sich am besten nicht interessieren“, hatte er nach einiger Zeit die Katze aus dem Sack gelassen, „sind meine Auftraggeber bereit, Ihnen für eine kleine Gefälligkeit dreißigtausend Euro zu bezahlen.“
Dem sous-directeur schwante, dass es sich dabei um etwas Illegales handeln musste. Er wollte das Angebot schon entrüstet ablehnen. Doch dann erschien sein Kontostand vor seinen Augen. Er schloss den Mund wieder und verkniff sich die geharnischte Replik, die er dem Anwalt entgegenschleudern wollte. Vielleicht sollte er sich doch erst einmal anhören, woraus diese Gefälligkeit bestand.
„Welche Gegenleistung müsste ich denn für diesen Betrag erbringen?“
„Das ist eine längere Geschichte. Es geht um unlauteren Wettbewerb, um Betrügereien, mit denen meine Klienten um viel Geld gebracht wurden – um sehr viel Geld. Geschäftlich wurden sie ruiniert.“
„Und jetzt wollen sie sich rächen?“
„Sagen wir: Sie wollen für Gerechtigkeit sorgen“, antwortete der Anwalt. Nach einigem Zögern fügte er hinzu: „… indem sie ihren Gegner um den Ertrag der letzten Ernte bringen.“
Dann bestätigte Dr.Marbon, was Corbelle langsam klar zu werden begann.
„Ihre Großhandelsfirma Huiles Alimentaires SARL ist exklusiv mit dem Vertrieb des Olivenöls des betroffenen Unternehmens – Lascaut & Fils – beauftragt. Es handelt sich um hochpreisiges kaltgepresstes Qualitätsöl, huile d’olives extra vierge – pression à froid.“
„Und ich soll dafür sorgen, dass sich dieses Öl nicht mehr verkaufen lässt?“, führte Corbelle den Gedanken seines Gegenübers fort. „Indem ich es … “
„Exactement! Indem Sie es manipulieren, seine Qualität herabsetzen. Wir würden Ihnen die erforderlichen Ingredienzen zur Verfügung stellen, die Sie dem Öl beimischen.“
Ausführlich machte der Anwalt klar, dass das Öl nicht ungenießbar gemacht werden sollte, sondern dass seine Qualität auf das Niveau von billigem Öl reduziert werden sollte, so, wie es zuhauf in Supermärkten und von Lebensmitteldiscountern angeboten wurde. Niemand würde dadurch gesundheitlichen Schaden nehmen. Aber das Öl ließe sich nicht mehr verkaufen – zumindest nicht zu dem hohen Preis. Außerdem würde die Lebensmittelbehörde dem Unternehmen das strenge Qualitätssiegel AOP – Appellation d’Origine Protégée entziehen.
„Sie sehen also, es ist zwar nicht ganz legal, was wir vorhaben. Aber eine Lappalie im Vergleich zu dem, was diese Leute meinen Klienten angetan haben“, versuchte der Anwalt, rechtliche Bedenken zu bagatellisieren.
Mit dem Betrag könnte er das Konto fast glatt stellen, überlegte Corbelle. Langsam begann seine Abwehrhaltung zu bröckeln. Trotzdem müsste er seine Sea-Ray verkaufen und sich von dem Erlös ein kleineres, billigeres Boot anschaffen. Die Differenz könnte dann reichen, um das Konto völlig auszugleichen. Zukünftig müsste seine Frau ihre Ansprüche eben deutlich herunterschrauben. Aber wollte er wirklich auf das große Boot verzichten, auf das er so stolz war? Und würde Jaqueline wirklich …?
Sein Gegenüber hatte sein Zögern bemerkt.
„Wenn alles zur Zufriedenheit meiner Klienten abläuft, denken diese auch an eine Verlängerung der Geschäftsbeziehungen mit Ihnen.“
„Wollen Sie sich noch an jemand anderem rächen?“
„Nein, aber eventuell die nächste Ernte …“
Dann könnte er das Boot doch behalten, überlegte Corbelle.
„Fünfzig! Und ich mache es“, versuchte er, den Preis zu steigern. Doch der Anwalt schüttelte den Kopf.
„Dreißigtausend, mehr zuzusagen bin ich nicht befugt.“
Er war hart geblieben und schließlich hatten sie sich auf diesen Betrag geeinigt. Dr.Marbon zog aus der Innentasche seines Sakkos ein längliches weißes Briefcouvert.
„Das sind fünftausend als Anzahlung. Den Rest erhalten Sie nach Erledigung des Auftrags. Ich werde mich dann bei Ihnen melden. Sollte es unerwartete Probleme geben, erreichen Sie mich unter dieser Nummer.“ Er gab seinem Gegenüber eine kleine graue Visitenkarte, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Lokal.
***
Auf der Rückfahrt in seine Firma hatte Pierre Corbelle viel nachzudenken. Welch merkwürdiges Treffen! Jetzt im Nachhinein kam ihm das alles völlig surreal vor. Vielleicht wollte jemand nur einen Scherz mit ihm treiben. Er zog die kleine Karte aus seiner Hemdentasche und hielt sie sich, die Hand oben am Lenkrad, vor Augen.
Dr.Bruno Marbon
Avocat
+39-6347782
Keine Adresse, kein Hinweis, dass er für die internationale Gesellschaft arbeitete, als deren Vertreter er sich damals am Telefon vorgestellt hatte. Vielleicht war wirklich alles nur ein Spaß, ein verspäteter Aprilscherz. Oder er war Opfer der TV-Sendung invisiblecaméra cachée – versteckte Kamera. Aber wer sollte sich diesen Ulk mit ihm erlauben? Und außerdem gaben die sich doch immer zu erkennen.
Und das Geld? An seiner Brust fühlte er den leichten Druck des dicken Couverts in der Innentasche seines Blazers. Er hatte sich im Restaurant nicht getraut, es zu öffnen und nachzuzählen. Jetzt nahm er den Umschlag und betrachtet ihn. Er war nicht zugeklebt. Er schob die Lasche nach oben und ein Bündel von hellgrünen Scheinen leuchtete ihm entgegen. Er hielt am Straßenrand an und zählte: Fünfzig grüne Hunderteuroscheine. Der Anwalt meinte es also wirklich ernst. Es handelte sich nicht um einen Scherz und ihm, Pierre Corbelle, bot sich die Chance, seinem finanziellen Dilemma zu entkommen.
Aber wie konnte er das hinbekommen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen?
Das Mittel unbemerkt dem Öl der Firma Lascaut et Fils beizumischen war kein Problem. Als stellvertretender Leiter der Vertriebsabteilung war es üblich, dass er länger als alle Arbeiter im Unternehmen blieb. Niemand würde deshalb sehen, wenn er sich abends am Container des Ölproduzenten Lascaut et Fils zu schaffen machte. Den Nachweis, dass das Öl im Lager der Huiles Alimentaires manipuliert worden war, würde man nicht führen können. Genauso gut konnte es bereits in diesem Zustand angeliefert worden sein. Für ihn persönlich bestand also kein Risiko.
Eine gewisse Gefahr könnte darin bestehen, dass man ihn mit Dr.Marbon gesehen hatte und ihn deshalb in Verbindung mit dem Klienten des Anwalts brachte. Er ließ jeden einzelnen der Gäste, die in dem Restaurant waren, vor seinen Augen vorbeiziehen. Es war niemand darunter, den er kannte. Ein Glück, dass Marbon ein Lokal ausgewählt hatte, das weit entfernt sowohl von seinem Wohnort im achten Arrondissement als auch von seiner Firma in Vitrolles gelegen war. Pierre Corbelle kam immer mehr zur Überzeugung: Sein persönliches Risiko war minimal, wenn nicht sogar gleich Null.
Donnerstag, 5.Mai
„Selbstverständlich können wir Ihnen auch hochwertige Olivenöle anbieten. Wir vertreten exklusiv einige regionale Produzenten, deren Produkte mit den IGP- und AOP-Siegeln ausgezeichnet sind, den höchsten Qualitätszertifikaten des Institut National de l’Origine et de la Qualité – INAO.“
Paolo Verdancio, Vertriebsleiter und Chefverkäufer von Huiles Alimentaires SARL, wies stolz auf die zahlreichen Urkunden, die, goldgerahmt und hinter Glas, eine Wand des Verkaufsraumes zierten. Gut ein Dutzend Zertifikate, die die regionale Herkunft und Verarbeitung der Oliven garantierten, und die mit dem runden blauen IGP-Siegel, indication géographique protégé oder dem roten Siegel der AOP – appellation d’origine protégé – versehen waren. Sein Gesprächspartner betrachtete die Dokumente mit sichtlichem Interesse, meinte dann aber:
„Das kann ich nur nach der Papierform nicht entscheiden. Das muss ich probieren. Können wir eine dégustation machen?“
Als zentralem Einkäufer einer bekannten Lebensmitteldiscounterkette, deren Direktion beschlossen hatte, das Sortiment um hochwertige Qualitätsprodukte zu erweitern, oblag ihm die Aufgabe, die passenden Produkte auszuwählen. Das war ein verantwortungsvoller, aber auch nicht risikoloser Job. Denn wenn die von ihm ausgewählten Artikel im Verkauf ein Flop wurden, dann würde er die Konsequenzen zu spüren bekommen. Das konnte bis zur fristlosen Entlassung gehen.
„Aber selbstverständlich“, stimmte Paolo Verdancio zu. „Ich zeige Ihnen unser Lager mit den Containern, in denen die Öle lagern – streng getrennt nach den jeweiligen Produzenten. Dort können Sie die Produkte verköstigen und vergleichen.“
Er führte den Einkäufer durch eine matt metallisch glänzende Schiebetür ins angenehm gekühlte Lager. Auf einer Stahlempore, etwa einen Meter über dem Boden der Halle, machte er Halt und deutete auf zwei Reihen glänzender Edelstahlcontainer, die an den Seitenwänden des etwa dreißig Meter langen Raumes standen. Die Behälter waren fortlaufend durchnummeriert. Unter der in die Tankwand geprägten Nummer klebte jeweils ein Zettel mit händischer Beschriftung, die aber aus der Entfernung nicht zu entziffern war.
„Hier vorne in den Containern haben wir die Qualitätsöle von unseren Premiumlieferanten, von denen wir vorhin gesprochen haben.“ Er deutete auf etwa ein Dutzend etwas kleinerer Stahlzylinder.
„Weiter nach hinten zu und auf der ganzen linken Seite in den großen Tanks lagern wir die preisgünstigeren Massenöle. Gehen wir jetzt hinunter zu den Premiumölen.“
Sie stiegen die kurze Stahltreppe hinab. Vor dem Container mit der Nummer 01 blieb der Vertriebsleiter stehen und erklärte: „In der Regel bekommen wir die Öle von den Herstellern in Tanks geliefert. Für unsere Abnehmer füllen wir das Öl dann in kleinere Gebinde ab. Je nach Kundenwunsch in Glasflaschen, Blech- oder Kunststoffkanister. Diese werden von uns mit den individuellen Etiketten versehen, die die Produzenten uns zur Verfügung stellen. Das hier“, er schaute auf den Zettel unter der Containernummer, „ist das Öl von Pierre O., einem größeren oléiculteur aus der Gegend von Barjols. Es zeichnet sich durch besondere Fruchtigkeit und einen dezenten, scharfen Nachgeschmack im Abgang aus.“
Der Vertriebschef stieg auf einen kleinen Schemel aus Stahl und öffnete die Klappe oben am Tank. Mit einer Spezialpipette aus Glas zog er eine Probe des Öls auf. Er forderte den Einkäufer mit einer Handbewegung auf, sich aus einem Becher einen der kleinen Plastiklöffel zu nehmen und füllte diesen aus seiner Pipette.
„Wenn Sie möchten, können Sie eine Scheibe Baguette dazu essen. Marcelle!“, rief er nach oben in den Verkaufsraum. „Bring bitte etwas Brot!“
Nach einiger Zeit kam eine junge Frau die kurze Treppe herunter und stellte ein Körbchen voller backfrisch duftender Baguettescheiben auf das am Tank angeschweißte Ablagebrett. Der Einkäufer nahm sich ein Stück des Weißbrots und der Ölhändler träufelte aus seiner Pipette das kostbare Öl darauf. Mit leicht zusammengekniffenen Augen und nach oben gewandtem Blick kaute der Tester das ölgetränkte Brot. Dann nickte er zufrieden, machte sich ein paar Notizen in sein Merkbuch und fragte:
„Und jetzt zum Nächsten?“
Am zweiten Öltank wiederholte sich die Prozedur. Wieder notierte sich der Tester seinen Eindruck und sie gingen zum dritten Premiumölcontainer.
„Das hier, das Öl von Lascaut &Fils, erfüllt nicht nur die höchsten Qualitätsanforderungen der INOA. Es hat besonders viele Goldmedaillen bei mehreren Wettbewerben auf Olivenöl- und Lebensmittelmessen gewonnen. Es ist eines unserer besten Öle, nach Ansicht meines Chefs sogar das Spitzenprodukt – das Beste, was wir im Sortiment haben. Das spiegelt sich natürlich im Preis wieder.“ Stolz füllte der Vertriebschef die Pipette und gab das wertvolle Öl in den Probierlöffel. Mit Kennermiene schlürfte der Tester die gold-grün leuchtende Flüssigkeit.
„Die schmeckt deutlich anders, als die beiden vorigen Produkte. Cremiger, aber etwas bitterer“, meinte er. „Kann ich davon etwas mehr versuchen?“
Der Verkäufer holte aus einem Regal ein Probierglas und füllte es aus seiner Pipette. Wieder schlürfte und kaute der Einkäufer das Öl, atmete seinen Geruch ein, schwenkte das Glas, um die Konsistenz zu prüfen.
„Sie haben Recht, das ist etwas Besonderes. Das könnte etwas für uns sein, wenn wir uns über den Preis einigen“, setzte er hinzu. Nach einer kurzen Weile, in der er den Tank und den Handzettel mit der Beschriftung nachdenklich betrachtet hatte, meinte er. „Aber vielleicht doch nicht. Im Abgang ist es mir etwas zu bitter. Gehen wir erstmal zu den Ölen der restlichen Produzenten.“ Er schrieb seine Eindrücke wieder in sein Merkbuch und folgte dann monsieur Verdancio, der mit seiner Pipette bereits vor dem nächsten Tank stand und auf den Einkäufer wartete. Dieser ging nur langsam auf ihn zu. Plötzlich blieb er stehen, begann heftig zu atmen und stützte sich mit der rechten Hand am Stahltank ab.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte der Verkäufer besorgt und beobachtete, wie sich zahlreiche kleine Schweißperlen auf der Stirn seines Kunden bildeten.
„Non, non! C’est okay!“, stieß dieser etwas atemlos hervor. „Mein Herz macht mir in letzter Zeit etwas Probleme. Der Stress der letzten Wochen, viel zu wenig Schlaf. Ich sollte beruflich kürzer treten, damit liegt mir mein Kardiologe schon seit längerem in den Ohren. Aber der hat gut reden. Wenn ich nicht hundert Prozent Leistung bringe, dann kann ich meinen Job vergessen.“
„Setzen Sie sich und ruhen Sie sich ein wenig aus!“ Der Ölhändler fasste den immer noch tief ein- und ausatmenden Mann am Arm und wollte ihn zu einem Hocker auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges führen.
„Nein, es geht schon wieder. Machen wir weiter!“
Die Olivenölverkostung wurde fortgesetzt, allerdings in etwas gemächlicherem Tempo, um der Atemnot des Einkäufers Rechnung zu tragen.
Nach einer guten halben Stunde war die dégustation beendet und die beiden Männer gingen zurück in den Verkaufsraum und von dort ins Büro des Vertriebschefs.
„Jetzt lasse ich Ihnen erst mal ein Glas Wasser bringen“, bot monsieur Verdancio an, der mit Sorge auf das blasse Gesicht seines schwer atmenden Kunden sah.
„Marcelle! Un verre d’eau! Vite! Vite!“
Als die mit einer Flasche Vittel und einem Glas herbeieilende Angestellte in den Raum kam, sah sie ihren Chef besorgt über den Besucher gebeugt, während dieser zusammengesunken im Sessel hing und beide Hände auf seine linke Brustseite presste. Während der Vertriebschef versuchte, dem nach Luft japsenden Mann ein Paar Schluck Wasser einzuflößen, hatte die junge Frau den Ernst der Lage sofort erfasst. Sie stürzte zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern die 15, die Notrufnummer des SAMU, des Service d’Aide Médicale d’Urgence.
***
Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis der Notarztwagen des Service d’Aide Médicale d’Urgence mit gellender Sirene und Blaulicht eingetroffen war. Der Arzt und zwei Sanitäter hatten die vier Marmorstufen, die zum gläsernen Eingangsportal hinaufführten, im Eilschritt genommen und waren in das Haus gestürmt. Die junge Angestellte hatte sie mit totenblassem Gesicht ins Büro ihres Chefs geleitet.
Dort bot sich dem Arzt und seinen Helfern ein dramatisches Bild.
Ein etwas dicklicher Mann lag auf dem sandfarbenen Fliesenboden. Sein Sakko und sein Hemd waren aufgerissen. Ein zweiter Mann kniete keuchend vor ihm und presste beide Hände rhythmisch auf den Brustkorb des Liegenden. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er war so auf die Herzmassage konzentriert, dass er die eintretenden Mediziner nicht bemerkte. Erst als der Notarzt ihm mehrmals auf die Schulter klopfte und ihm in laut ins Ohr rief „Jetzt lassen Sie mich bitte ran!“, blickte er auf und machte dem Rettungsteam Platz.
„Er ist plötzlich ganz blass geworden, hat seine Hände auf die Brust gepresst, hat gestöhnt und ist dann in Ohnmacht gefallen.“
Während einer der beiden Helfer die Herzmassage fortsetzte, hörte der Arzt den Bewusstlosen mit dem Stethoskop ab.
„Défi!“, rief er dem zweiten Helfer zu, der bereits den mobilen Defibrillator aus dem roten Hartschalenkoffer entnommen hatte. Er entwirrte die Kabel und reichte dem Notarzt die beiden Klebeelektroden.
Trotz der sofort eingeleiteten Stromstoßbehandlung ließ sich die Herztätigkeit nicht mehr reaktivieren.
„Exitus!“, resignierte der Arzt. Dem können wir nicht mehr helfen. „Veranlassen Sie bitte das Nötige!“, forderte er die beiden Helfer auf. „Abtransport in die Rechtsmedizin nach …“ Er überlegte, was näher bei Vitrolles lag: Aix oder Marseille?
„Nach Aix!“, entschied er sich. Dann wandte er sich an den Verkaufsleiter des Ölgroßhandels.
„Wie bei jedem plötzlichen Tod muss auch dieser hier forensisch untersucht werden. Auch wenn es nach meiner Meinung eindeutig ein Herzinfarkt war, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Eventuell wird auch die Polizei auf Sie zukommen.“
„Wieso die Polizei?“, wunderte sich Paolo Verdancio.
„Ich muss jeden überraschenden Todesfall an die Kriminalpolizei melden. Das ist Vorschrift“, klärte ihn der Notarzt auf. „Auch wenn der Tote im typischen Infarktalter und zudem übergewichtig war. Aber meist ist das eine reine Formsache. Nur wenn die am rechtsmedizinischen Institut etwas Verdächtiges feststellen, dann wird daraus ein Fall für die police judiciaire. Kannten Sie den Toten näher?“
„Nein, es war ein neuer Kunde. Wir hatten gerade die dégustation beendet, und er hatte vor, eine größere Lieferung von Premiumölen zu ordern. Wir wollten hier“, dabei deutete der Verkaufsleiter auf den Besprechungstisch, „die Einzelheiten besprechen. Bereits bei der Verkostung hatte er offensichtlich Herzprobleme. Er atmete schwer und fasste sich immer wieder an die Brust. Er hat auch gesagt, dass ihn sein Arzt ermahnt hat, beruflich kürzer zu treten.“
„Dann dürfte das ein klarer Fall sein, der die Polizei nicht weiter betrifft.“
Montag, 9.Mai
„Jean-Luc, hier ist etwas vom Chef der police technique et scientifique gekommen, von deinem Freund Dr.Berlinotte. Hast du deinen PC schon hochgefahren oder soll ich es ausdrucken?“
Monique Dépardieu, die Sekretärin von commissaire Jean-Luc Papperin hatte wie jeden Morgen zu Dienstbeginn die eingegangene elektronische Post gesichtet und ihrem Vorgesetzten das Wichtigste durch die stets offenstehende Verbindungstür zu seinem Chefzimmer zugerufen. Obwohl sie von der Stellenbeschreibung her nur Sekretärin war, nahm sie de facto eine wesentlich weitergehende Position ein. Schon vor Papperins Berufung zum Leiter der Mordkommission in Aix en Provence war sie Vertraute und rechte Hand seines Vorgängers gewesen. Damals war Papperin als sous-brigadier ein kleiner Mitarbeiter im Kommissariat. Als junger Berufsanfänger wurde er von ihr, der heimlichen Chefin der Abteilung, geduzt, während er sie respektvoll gesiezt hatte. Und das war so geblieben, auch nachdem er als erfolgreicher Kommissar von der Zentrale der police judiciaire in Paris zum Leiter der brigade criminelle und zum Nachfolger seines früheren Chefs in Aix befördert worden war. Schließlich war sie mit ihren fast sechzig Jahren auch wesentlich älter als ihr Chef. Auch ihr Auftreten und ihr Aussehen unterstrichen ihre hervorgehobene Position. Ihre halblangen grauen Haare waren stets sorgfältig zu einer aparten, aber strengen Frisur gestylt. Mit Vorliebe trug sie elegante Kostüme in dezenten Farben, meist hellgrau oder blau. Ihre fachliche Kompetenz wurde von allen Mitarbeitern des Kommissariats geschätzt, und ihre menschliche Fürsorge und Wärme geliebt.
„Nein, ich schau es mir selber an, mein Rechner läuft schon. Danke Monique!“
Nach ein paar Mausklicks hatte er die Mail seines Freundes gefunden und las sie aufmerksam durch.
„Haben Sie das auch gelesen, Monique? Da hat man jemanden vergiftet und wollte das als tödlichen Herzinfarkt kaschieren.“
Papperin wunderte sich, weshalb die police scientifique mit diesem vermutlich eindeutigen Fall befasst war. Den Nachweis eines einfachen Giftmordes zu führen, dazu sollte eigentlich jeder Rechtsmediziner in der Lage sein. Der Wissenschaftler Dr.Berlinotte mit seinen sündteuren und technisch modernsten Laboren brauchte doch mit so etwas nicht befasst zu werden. „Das muss mir Florian genauer erklären“, dachte Papperin.
„Monique, bitte verbinden Sie mich mit Florian. Er soll mir sagen, was an dem Fall so Besonderes dran ist.“
Das Telefonat brachte die gewünschte Aufklärung. Nachdem der Pathologe bei der obligatorischen Autopsie keinerlei Hinweise auf einen Herzinfarkt hatte finden können, hatte er die entnommenen Organe auf Vergiftungen untersucht, war aber auch hierbei nicht fündig geworden. Deshalb hatte er das wissenschaftliche Labor der police scientifique eingeschaltet, da diesem wesentlich weitergehende Analysemöglichkeiten zur Verfügung standen.
„Nach sehr aufwendigen und im Übrigen auch sehr teuren Tests haben wir die Todesursache schließlich herausgefunden“, sagte Papperins Chemikerfreund mit der für ihn typischen, stolzen Überheblichkeit in der Stimme.
„Es handelt sich um ein Gift aus der Gruppe der Acetylcholinrezeptorblocker, ein seltener und äußerst schwer nachzuweisender Stoff. Aber für mich war das selbstverständlich kein Problem.“
„Um welches Gift genau?“, hakte Papperin nach, der mit dem Fachausdruck nichts anfangen konnte.
Auf diese Frage erhielt er die ernüchternde Antwort:
„Das verstehst du sowieso nicht. Erspare mir also die wissenschaftlichen Details und die chemische Formel. Für euch genügt es, wenn ihr folgendes wisst: Es handelt sich um ein Nervengift, das letztendlich zur Lähmung der Brustmuskulatur und des Herzmuskels und damit zum Tod führt. Genaueres wird in meinem Bericht stehen. Aber der ist etwas für Fachleute. Ihr Kriminalisten könnt das kapieren, und auch unsere hochgepriesene Richterschaft wird das nicht verstehen. Für euch Laien muss die Schlussfolgerung ausreichen. Und die habe ich dir gerade klar gemacht. So! Und jetzt muss ich wieder arbeiten. Den endgültigen Bericht schicke ich dir, sobald er fertig ist. Salut, Jean-Luc!“
Dann war die Leitung tot.
„Monique! Rufen Sie unsere Leute zur Lagebesprechung. Sagen wir in einer halben Stunde. In der Zwischenzeit werde ich versuchen, an weitere Fakten zu diesem Fall zu kommen.“
„Da ist etwas von der gendarmerie nationale in Rognac gekommen“, meldete seine Sekretärin. „Der Notarzt hat die anscheinend informiert.“
„Dann werde ich als erstes mit den Gendarmen telefonieren. Und wenn Sie bitte …“
„Ich weiß schon – Espresso und etwas zum Naschen dazu.“
***
Papperins Team hatte sich zur Lagebesprechung eingefunden. Erwartungsvoll saßen sie um den ovalen Konferenztisch in seinem Dienstzimmer. Nur der Kommissar hatte nicht am Tisch Platz genommen. Halb lehnte er an seinem Schreibtisch, halb saß er darauf und wedelte mit drei A-4-Seiten, die er gerade ausgedruckt hatte. Mit der sommerlichen Jeans, dem zerknitterten Leinensakko über dem dunkelblauen Polohemd und seiner schwarzen, wuscheligen Haarpracht hätte man ihn nicht für den Leiter der Mordkommission gehalten, der wichtigsten Abteilung der police judiciaire von Aix. Von ihm ging so gar kein autoritäres Gehabe aus, keine strenge hierarchiebetonte Aura: Hier der über jede Kritik erhabene Vorgesetzte und dort seine Befehlsempfänger. Fehlanzeige! Eher konnte man ihn für einen sous-brigadier oder brigadier im Team der Polizistenkollegen halten, aber nicht für den Chef dieser Truppe. Doch genau das machte das Arbeitsklima und die herausragende Effizienz seiner Abteilung aus. Anders als im traditionellen hierarchischen Obrigkeitsdenken, das nach wie vor in weiten Teilen der öffentlichen Verwaltung herrschte, hatte er kollegiale Teamarbeit im gleichberechtigten Miteinander eingeführt. Entscheidungen wurden nicht dekretiert, sondern in demokratischer Diskussion erarbeitet. Selbstverständlich war er der Chef, stellte im Zweifel die Weichen, und musste für Fehler den Kopf hinhalten.
„Wir haben einen neuen Fall“, begann der Kommissar und deutete auf die bedruckten Seiten in seiner linken Hand. „Ich habe gerade mit der für Vitrolles zuständigen gendarmerie in Rognac gesprochen. Dort ist im Lager eines Ölgroßhändlers …“
Er blickte kurz in die Papiere.
„Huiles Alimentaires SARL heißt das Unternehmen. Dort starb ein Kunde nach einer Premiumölverkostung scheinbar an einem Herzinfarkt. Die gendarmerie war vom Notarzt vorschriftsmäßig hinzugezogen worden und hat auch schon erste Recherchen und Zeugenbefragungen durchgeführt.“
Hier wedelte er mit den Ausdrucken. „Aber da kam nichts Brauchbares dabei heraus. Vor allem, weil man zu diesem Zeitpunkt noch von einem Herzinfarkt ausging. Aber inzwischen hat unser Chefchemiker nachweisen können, dass der Mann in Wirklichkeit vergiftet wurde. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um Mord, und deshalb haben jetzt wir den Fall.“
Nun begann die übliche Diskussion. Das Vorgehen wurde besprochen und Aufgaben wurden verteilt. Während der intensiven Debatte schenkte die Sekretärin immer wieder Espresso nach, den sie auf altmodische Weise in einer caffettiera, der klassischen italienischen Schraubkanne auf dem Herd in der kleinen Teeküche zubereitete. Außerdem hatte sie eine Schale mit madeleines auf den Tisch gestellt, dem klassischen französischen Sandgebäck in der Form kleiner Jakobsmuscheln.
Papperin selbst wollte nach Vitrolles fahren, zuerst zur Gendarmerie und anschließend zum Ölgroßhandelsunternehmen und sich mit dem Verkaufspersonal dort unterhalten. Brigadier Jeannine Dalmasso sollte die Ehefrau des Toten aufsuchen und sich nach Feinden ihres Mannes und nach möglichen Motiven für einen Mord erkundigen. Es stand zwar fest, dass der Mann an Gift gestorben war – Papperin zweifelte keine Sekunde an der Diagnose seines Freundes Florian Berlinotte. Aber von vorneherein durften sie andere Optionen nicht außer Acht lassen. Suizid kam ebenso in Betracht wie die Möglichkeit, dass der Mann das Gift aus Versehen zu sich genommen hatte, zum Beispiel, weil er es mit etwas anderem verwechselt hatte, etwa einem Medikament. Das war eine sehr zentrale Frage ihrer Ermittlungen.
„Muss ich als Leiter der Mordkommission nicht selbst zur Witwe fahren?“, fragte sich Papperin. Aber dann entschied er sich doch dagegen. Einerseits vertraute er Jeannine, ihren Fähigkeiten und ihrem psychologischen Einfühlungsvermögen. Wer aus seinem Team, wenn nicht sie, war geeignet, im Gespräch mit der Ehefrau eines Verstorbenen, eines potenziellen Mordopfers zumal, eine vertrauliche Atmosphäre herzustellen – von Frau zu Frau. Dabei würde er als Mann nur stören. Außerdem war das persönliche Verhältnis zu seiner Brigadierin seit dem letzten Fall etwas angespannt. Zwar hatten sie ihre Liebesbeziehung einvernehmlich beendet und waren zu ihrer früheren professionellen und höchst erfolgreichen Zusammenarbeit zurückgekehrt. Das klappte auch sehr gut. Trotzdem schien sie es ihm übel zu nehmen, dass er jetzt eine neue Liebe gefunden hatte. Er hatte Chau LeTran an Weihnachten bei seinem letzten Fall, dem Mord am Père Noël in Aix, zuerst als Verdächtige und später als treue Helferin kennen und lieben gelernt. Leider war das nur von kurzer Dauer gewesen, und sie lebten jetzt eine Fernbeziehung, denn sie war Professorin an der Ho-Chi-Minh-City-University in Vietnam. Kurzum: Eine gewisse verklemmte Atmosphäre herrschte zwischen ihm und seiner Brigadierin Jeannine, wenn sie zu zweit alleine auf Recherche unterwegs waren. Also ließ er sie das besser alleine machen.
„Als nächstes müssen wir mehr über das verwendete Gift wissen. Sobald der Bericht von Dr.Berlinotte da ist, setzen Sie, Claude, sich bitte mit ihm in Verbindung“, wandte Papperin sich an seinen dienstältesten Mitarbeiter und Stellvertreter, Claude Lavalle, seit kurzem zum capitaine de police befördert. Der schwergewichtige rothaarige Mann nickte.
„Ich habe auch schon daran gedacht: Wie kommt man an so ein seltenes Gift? Wer hat Zugang zu solchen Quellen. Vermutlich braucht man Fachkenntnisse um so etwas richtig anzuwenden. Das meinen Sie, oder?“
„Ja“, bestätigte Papperin, „und vor allem auch: Wie schnell wirkt das Gift. Wurde es ihm während der dégustation verabreicht, oder konnte er es schon irgendwann lange vorher zu sich genommen haben?“
Während er seiner Sekretärin die Espressotasse zum Nachschenken hinhielt, überlegte er, was man jetzt, ganz am Anfang dieses Falles, noch unternehmen konnte. Er trank einen kleinen Schluck von dem brühheißen und extrem starken Kaffee und wandte sich dann an den IT-Freak seines Kommissariats.
„Guy-deux, sobald der Bericht von Dr.Berlinotte da ist und wir genaueres über das Toxin wissen, setzen Sie sich bitte an Ihren Computer und recherchieren im Internet, wo und wie man in Frankreich an solch ein Gift kommen kann. Wenn wir unterstellen, dass es tatsächlich Mord war, dann sollten Sie sich in der kriminellen Szene umsehen, vor allem im Darknet.“ Papperin war sich sicher, wenn es im Internet etwas zu finden gab, dann würde Guy-deux es auch aufspüren. Offiziell hatte er ein ungutes Gefühl, wenn sein IT-Spezialist sich auf meist nicht ganz legalem Wege im Netz bewegte, sich in fremde Computer einklinkte und so an streng gehütete Geheimdaten gelangte. Inoffiziell war Papperin aber froh über diese Fertigkeiten seines Mitarbeiters. Auch wenn sie die so erlangten Informationen gerichtlich nicht verwenden konnten, nicht selten waren sie auf diesem Weg erst auf die entscheidenden Hinweise gestoßen, die zur Lösung eines Falles geführt hatten. Seinen Spitznamen Guy-deux hatten ihm seine Kollegen verpasst, um ihn von brigadier Guy Malmotte, dem zweiten Mitarbeiter mit dem Vornamen Guy zu unterscheiden.
„Guy und François“, wandte sich Papperin den Brigadieren Malmotte und Legrand zu. „Sie beide machen am Fall Maye weiter. Lassen Sie sich den Festgenommenen nochmal vorführen und versuchen Sie, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. So, und jetzt geht’s an die Arbeit! Merci Monique für den Kaffee und die Madeleines!“
***
Papperin parkte seinen alten Peugeot 405 in Rognac am Boulevard Jean Jaures vor dem für Vitrolles zuständigen Gendarmerieposten. Er hatte sein Kommen telefonisch angekündigt, deshalb wurde er bereits erwartet. Ein Offizier vom Rang eines sous-lieutenant, wie Papperin an den Abzeichen auf seiner Uniform feststellte, führte ihn durch den Wacheraum, in dem zwei Gendarmen auf die Tastatur ihrer Computer einhackten, in ein kleines, rauchgeschwängertes Büro. Er bot ihm den einzigen Besucherstuhl an und nahm selbst hinter seinem Schreitisch Platz. Wie die meisten Amtsstuben im Lande war auch dieser Raum karg eingerichtet. Vor dem Bild des Président de la République stand ein in die Jahre gekommener hölzerner Schreibtisch. Darauf befanden sich ein Telefonapparat, eine Tastatur, ein moderner Flatscreen-Computerbildschirm, ein Postein- und -ausgangskorb aus grauem Plastik und ein unübersichtliches Chaos von Handzetteln, Broschüren und Drucksachen. Das wichtigste Inventarstück schien der große Keramikascher zu sein, der von Zigarettenkippen überquellend, zuoberst auf dem Papierchaos thronte. Ein zweitüriger Stahlschrank in teilweise abgestoßener grauer Lackierung vervollständigte die spartanische Einrichtung.
Der Uniformierte steckte sich eine Gitanes an und schaute den Kommissar durch den Zigarettendunst desinteressiert an.
„Eigentlich habe ich Ihnen am Telefon schon alles Wichtige gesagt“, eröffnete er das Gespräch und blätterte in dem Gendarmerieprotokoll, dass Papperin schon kannte.
„Der Tote, Olivier Dubois, 56Jahre alt, verheiratet, wohnhaft in Avignon, 12 rue des Magnolias, war Einkäufer des Lebensmitteldiscounters …“, las der Gendarm die Papperin bereits bekannten Daten aus dem Protokoll vor.
„Im Anschluss an die Ölverkostung in der Firma Huiles Alimentaires in Vitrolles im Gewerbegebiet Parc d’activités Les Cadestaux ist er nach circa zwanzig bis dreißig Minuten im Büro des Verkaufsleiters kollabiert. Laut Notarzt Dr.Laberneau aus Vitrolles ist der Tod durch einen Herzinfarkt eingetreten. Der Mann war bei Eintreffen des Arztes bereits tot. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen blieben erfolglos. Aber das alles haben wir Ihnen bereits gemailt“, meinte der sous-lieutenant und blickte den Kommissar gelangweilt an.
„Mehr gibt es nicht zu sagen. Sie hätten sich den Weg hierher sparen können.“
Was die bei der Verkostung anwesenden Zeugen ausgesagt haben, wollte Papperin wissen. Hierzu stand nichts im Protokoll.
„Nun, bei der Verkostung war nur eine Person außer dem Opfer anwesend: Der Vertriebsleiter der Huiles Alimentaires, monsieur Paolo Verdancio. Aber der stand unter Schock. Aus dem war kein vernünftiges Wort heraus zu bekommen. Noch jemand war anwesend, eine Angestellte“, der Gendarm legte die glimmende Zigarette auf den Aschenbecher und suchte in den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch, bis er einen Notizzettel fand. „Mademoiselle Marcelle Maugain. Allerdings hielt sich die nur im Verkaufsraum auf und war im Lager bei der Probe nicht dabei. Später, im Büro hat sie die Erste-Hilfe-Maßnahmen verfolgt und mit der Notrufstelle telefoniert.“
Papperin notierte sich die für ihn neuen Namen und bedankte sich. Der Besuch war wirklich unnötig gewesen. Aber wenigstens hatte er noch zwei Namen erfahren, die man im Protokoll zu nennen vergessen hatte. Eine Schlamperei, die eigentlich nicht passieren dürfte. Erleichtert, dem Zigarettenmief entkommen zu sein, trat er auf die Straße und ging tief Luft holend zu seinem alten Peugeot.
***
Das Lager- und Verkaufsgebäude der Firma Huiles Alimentaires SARL lag keine zwei Kilometer von der Gendarmeriestation entfernt. Auch hier wurde Papperin schon erwartet. Eine junge Frau kam die paar Stufen vom Eingangsportal herunter und ging zu dem neu angekommenen Auto.
„Sind Sie der Kommissar aus Aix?“, fragte sie mit ungläubigem Blick auf den alten Peugeot. Sie hatte wohl ein modernes, schickes Polizeifahrzeug erwartet mit entsprechender Beschriftung und Blaulichtanlage auf dem Dach. Papperin wäre auch gerne mit einem Dienstwagen gekommen, aber es waren gerade alle im Einsatz gewesen. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sein in die Jahre gekommenes Privatauto zu nehmen, dem man sein Alter deutlich ansah. Etliche Schrammen im Lack und kleine Dellen bezeugten dies. Schon mehrfach war er von seinen Vorgesetzten darauf angesprochen worden, er müsse sich endlich ein neues, respektables und seinem beruflichen Stand angemessenes Privatauto zulegen. Aber das hatte er stets abgelehnt. Er hing an seinem treuen, alten 405-4x4Allrad-Peugeot. Er hatte ihn sich seinerzeit in Paris zur Feier seiner Beförderung zum Kommissar geleistet. Und er sah nicht ein, weshalb er sich ein neues Auto kaufen sollte, solange das alte noch so hervorragend und zuverlässig lief.
„Oui, je suis commissaire Papperin. Bon jour!“, begrüßte er die Frau. „Und Sie sind mademoiselle Maugain?“, riet er.
Sie nickte erstaunt, dass der fremde Kommissar ihren Namen wusste, und geleitete ihn die kurze, breite Marmortreppe hinauf zum Verkaufsraum des Unternehmens.
„Man hat uns Ihren Besuch angekündigt“, sagte die Frau, während sich die Glasschiebetür automatisch öffnete. Unser stellvertretender Verkaufsleiter, vice-directeur Corbelle, erwartet Sie in seinem Büro. Sie klopfte an eine der vom großen Verkaufsraum abgehenden Türen, öffnete sie einen Spalt und meldete mit leiser Stimme:
„Monsieur le directeur, der commissaire aus Aix ist da.“
„Entrez, entrez!“, forderte eine kräftige Stimme den Kommissar auf. Ein etwas untersetzter, aber sportlich wirkender junger Mann hatte sich hinter seinem Schreibtisch erhoben und ging mit ausgetrecktem Arm auf Papperin zu.
„Bon jour monsieur le commissaire! Bitte nehmen Sie Platz. Dürfen wir Ihnen einen café anbieten oder etwas Stärkeres?“
„Non, merci“, lehnte Papperin ab. „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, sondern um Informationen zum Tod eines Ihrer Kunden zu erhalten: Olivier Dubois, der am letzten Donnerstag nach einer Ölverkostung hier gestorben ist – vergiftet wurde. Deshalb wurde die Kriminalpolizei eingeschaltet und deswegen bin ich hier.“
Mit Verwunderung sah Papperin, wie sein Gegenüber erstarrte. Blässe überzog sein Gesicht, so dass der schwarze Schnauzer einen krassen Kontrast zum fahlen Gesicht des Mannes bildete.
„Das … das ist mir neu!“, stotterte er. „Wir dachten, er sei einem Herzanfall erlegen. Das hat der Notarzt gesagt.“
„Das stimmt schon“, meinte Papperin, der erstaunt zur Kenntnis nahm, wie sehr diese Neuigkeit den Ölverkäufer erschütterte.
„Aber der Herzstillstand wurde durch Gift verursacht. Waren Sie dabei? Haben Sie die dégustation gemacht?“
„Non! Ich war an dem Tag auf einem Auswärtstermin. Das war Paolo.“
Als er Papperins fragende Miene sah, erklärte er: „Unser Vertriebsleiter, directeur Verdancio, mein Chef. Er hat die Verkostung durchgeführt. Er bittet um Entschuldigung. Er verspätet sich etwas. Aber er hat gesagt, er würde um elf Uhr hier sein.“
Der sous-directeur warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Also in etwa einer halben Stunde.“
Papperin musterte sein Gegenüber. Der Mann, er mochte etwa dreißig sein, hatte seine Fassung wieder gewonnen, die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt.
„Dann zeigen Sie mir in der Zwischenzeit am besten die Örtlichkeiten. Wo fand die dégustation statt, und wo starb monsieur Dubois?“
Der stellvertretende Verkaufschef führte Papperin durch den Verkaufsraum und durch die Metallschiebetür in die Lagerhalle. Auf der Stahlempore blieb er stehen und erklärte dem Kommissar, wie die Lagerung und der Vertrieb des Olivenöls organisiert waren. Praktisch eine Wiederholung dessen, was sein Kollege Verdancio mit dem Kunden Dubois vor vier Tagen getan hatte.
„Soweit ich weiß, war monsieur Dubois nur an Premiumprodukten interessiert. Deswegen können wir die großen Container dort hinten und links vom Mittelgang vergessen. Die Verkostung hat sich nur auf die zwölf kleineren Tanks hier vorne bezogen. Da lagern wir die IGP- und die AOP-Öle.“
„Und hat er von jedem der zwölf Öle gekostet?“, wollte Papperin wissen.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das müssen Sie Paolo fragen.“
„Ich bin da, Pierre. Jetzt übernehme ich“, hörten sie eine etwas atemlose Stimme rufen. Als hätten sie dies so abgesprochen, erschien der Genannte just in diesem Augenblick auf der Empore. Er war die Eingangstreppe hinaufgelaufen, durch den Verkaufsraum geeilt und hatte laut schnaufend in der Tür zum Lager Halt gemacht.
„Monsieur le commissaire, bon jour. Je m’excuse mille fois!“, entschuldigte er sich, um dann sofort das Heft in die Hand zu nehmen.
„Sie wollen sicher wissen, wie das war bei der dégustation. Und wie ich den Zusammenbruch und das Ableben unseres Kunden Olivier Dubois erlebt habe?“, wandte er sich an den Kommissar.
„Pierre, du kannst jetzt gehen. Danke, dass du mich einstweilen vertreten hast“, fertigte er seinen Kollegen kurz ab. Dann fasste er Papperin mit der rechten Hand an dessen Ellenbogen und wies mit seiner Linken hinunter auf den Tank mit der Nummer 01.
„Kommen Sie, ich werde Ihnen alles genau erklären. Aber gestatten Sie zunächst die Frage, weshalb sich die police judiciaire für einen Herzinfarkt interessiert – auch wenn dieser tödlich verlaufen ist. Die Polizei, genauer gesagt die örtlich zuständige Gendarmerie, hat doch alles schon aufgenommen und den Fall, soweit man mir gesagt hat, ad acta gelegt.“
„Weil der Mann vergiftet wurde und deshalb Mordverdacht besteht. Um das zu klären, haben wir, die Kriminalpolizei, den Fall übernommen.“
Wie vorher schon bei seinem Stellvertreter hatte diese Information auch beim Verkaufsleiter zuerst ungläubiges Erstaunen und dann Entsetzen hervorgerufen. Er hatte sich aber schnell wieder gefangen.
„Verstehe! Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Da wir noch nicht wissen, wann und wo er das Gift zu sich genommen hat, beziehungsweise wie es ihm verabreicht wurde, möchte ich mich zunächst detailliert über den Verlauf der dégustation informieren.“
„Sie wollen damit doch nicht unterstellen, dass er das Gift hier zu sich genommen hat? Dass eines unserer Öle …“
Der ablehnende, fast feindliche Blick, den der Verkaufschef Papperin zuwarf, veranlasste diesen, zu beschwichtigen.
„Nein, ich will gar nichts unterstellen. Aber Sie werden verstehen, dass wir alle denkbaren Möglichkeiten im Auge haben müssen. Auch wenn sie äußerst unwahrscheinlich sind. Es handelt sich um reine Routine.“ Es gelang ihm schließlich, sein Gegenüber zu überzeugen.
Nun ging der directeur mit dem Kommissar von Container zu Container und berichtete minutiös, was er alles gemacht hatte. Wie er jeweils den Tankverschluss oben auf den Containern geöffnet und mit der Spezialpipette die Ölproben entnommen hatte. Papperin inspizierte die Verkostungslöffelchen aus Plastik und die Probiergläschen. Er ließ sich genauestens schildern, welchen Eindruck der Verkaufsleiter von seinem Kunden beim Versuchen der verschiedenen Produkte jeweils hatte, wie dessen Gesichtsausdruck dabei war, und welche Bemerkungen er zu den Ölen gemacht hatte.
„Eigentlich war das wie bei jeder Verkostung. Nein, mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“ Doch dann stutzte der Verkaufschef.
„Doch, da war etwas. Irgendwann hat der Mann zu wanken begonnen, so als ob ihm schwindelig wurde. Er hat sich an die Brust gefasst und heftig schnaufen müssen. Das sei sein schwaches Herz, hat er gemeint. Das hat aber mit unseren Produkten nichts zu tun“, versuchte der Direktor sein Unternehmen sofort aus der Schusslinie zu nehmen.
„Wo genau war das?“, wollte Papperin wissen.
„Warten Sie mal“, überlegte der oberste Verkäufer.
„Wir kamen gerade von diesem Tank hier.“ Er deutete auf den Container mit der Nummer 03.
Lascaut &Fils, 31Janvier, konnte Papperin auf dem handschriftlichen Zettel lesen, der unter die in den Edelstahl geprägte Ziffer geklebt war.
„Kurz vor oder nach der Probe aus diesem Tank muss das gewesen sein“, glaubte sich der Ölverkäufer zu erinnern. „Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Wir haben dann weitergemacht, und da ging es ihm ganz offensichtlich wieder gut.“
Dann setzte der Verkaufschef die Vorstellung der Premiumöle fort und führte den Kommissar zum Container mit dem Öl des nächsten Produzenten. Beim vorletzten Container stutzte der Kommissar.
11-Moulin à huile Frédéric Papperin las er auf dem mit der Hand beschriebenen Zettel. In der zweiten Zeile standen der Name Odile Papperin und ihre Handynummer.
„Wie ich sehe vertreiben Sie auch das Öl meiner Mutter.“
„Ich habe mich schon gefragt, ob Sie mit unserer Kundin verwandt sind, als ich vorhin Ihren Namen gehört habe“, meinte der Manager mit Erstaunen in der Stimme. Mit einem bedauernden Achselzucken fuhr er fort: „Das ist eines unserer besten Produkte. Wir bräuchten eigentlich viel mehr davon. Aber sie liefert uns nicht mehr. Vermutlich vertreibt sie das meiste direkt von ihrem Unternehmen aus.“
Papperin nahm sich vor, seine Mutter gelegentlich danach zu fragen.
Nachdem sie mit den zwölf Premiumölcontainern durch waren, gingen sie zurück ins Büro des Direktors.
„Er hat wirklich von jedem dieser Öle eine Probe zu sich genommen?“, fragte Papperin.
„Ja, von einigen hat er mehr versucht, von anderen weniger.“
„Können sie das etwas präzisieren?“
„Vom 03 wollte er mehr als von den anderen. Das ist unser bestes Produkt.“
Lascaut &Fils, erinnerte sich der Kommissar.
„Und unser teuerstes“, setzte der Verkäufer hinzu. „Aber das fand er letztendlich doch etwas zu bitter im Nachgeschmack.“
Hier wurde Papperin hellhörig.
„Und sofort danach ist er zusammengebrochen?“, fragte er.
„Non, non! Kollabiert ist er erst beim abschließenden Verkaufsgespräch. Hier in meinem Büro. Bevor er umgekippt ist, habe ich ihn zum Glück stützen und festhalten und ihn langsam auf den Boden gleiten lassen können. Dann habe ich sofort mit den Erste-Hilfe-Maßnahmen begonnen.“
Er deutete auf den sandfarbenen Fliesenboden, auf dem die vergeblichen Reanimationsversuche stattgefunden hatten. Er berichtete weiter von der Ankunft des SAMU und den ebenfalls erfolglosen Maßnahmen des Notarztes.
***
Sehr zum Entsetzen von monsieur Verdancio hatte Papperin die Spezialisten des service technique gerufen, die aus jedem der zwölf Tanks mit den Premiumölen Proben entnommen hatten. Vollends ausgeflippt war der Verkaufsleiter, als Papperin anordnete, die Container zu verschließen und mit amtlichen Plomben zu versehen. Solange nicht feststand, ob in einem der Tanks vergiftetes Öl enthalten war, wollte er mit dieser Maßnahme weitere Entnahmen unmöglich machen und so verhindern, dass vergiftetes Öl auf den Markt gelangte. Außerdem forderte er den Verkaufsdirektor auf, den Verkauf von denjenigen Kanistern, Dosen oder Flaschen zu stoppen, auf die die betroffenen zwölf Öle schon abgefüllt waren, und die zur Auslieferung bereit standen.
„Und wer kommt für den Schaden auf, für den Umsatzverlust, den Sie uns durch diese Maßnahme zufügen. Das kann uns ruinieren!“, erregte sich der Manager.
„Es ist doch nur für ganz kurze Zeit, bis feststeht, dass Ihre Produkte okay sind“, versuchte Papperin den aufgebrachten Mann zu beruhigen.
„Hoffentlich hält sich der Verlust in Grenzen, den Odile dadurch erleidet“, dachte er bei sich. Aber selbstverständlich konnte er hierauf keine Rücksicht nehmen, keine Ausnahme zulassen.
„Auch eine nur mögliche Weiterverbreitung des Giftes müssen wir unterbinden. Das gebietet nicht nur der gesunde Menschenverstand, es ist auch rechtlich geboten.“
„Sie haben gut reden, Sie sind fein heraus! Oder übernimmt die Polizei den Schaden? Und was sagen unsere Lieferanten und Kunden, wenn wir vertragsbrüchig werden und das Öl nicht verkaufen beziehungsweise nicht liefern können? Nein, das geht nicht! Das werde ich mit allen Mitteln verhindern! Marcelle!“, schrie der Verkaufsleiter mit sich überschlagender Stimme.
„Marcelle, rufen sie sofort bei maître Haubertin an! Er muss unverzüglich kommen und dem Herrn hier klar machen, dass nicht geht, was er vorhat.“
Bei diesen Worten stellte er sich mit ausgebreiteten Armen vor die kurze Stahltreppe, die von der Empore in die Lagerhalle und zu den betroffenen Ölcontainern hinabführte.
Papperin konnte die Sorge und die Erregung des Managers durchaus verstehen. Wenn das Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten kam, dann würde auch er als directeur des ventes, als der für den Vertrieb verantwortlicher Ressortchef, das zu spüren bekommen. Selbst wenn sein Fixgehalt davon nicht betroffen wäre, seine Boni und Umsatzgratifikationen würden wohl deutlich zurückgehen.
„Ich sollte mich besser mit dem Unternehmenschef unterhalten, und nicht mit einem der untergeordneten Fachgebietsleiter“, dachte der Kommissar. Also fragte er:
„Wer ist eigentlich der Chef hier, der PDG? Und wem gehört das Unternehmen?“
„Im registre de commerce ist Clément Audibert als Geschäftsführer der Huiles Alimentaires SARL eingetragen. Er ist offiziell président directeur général. Ihm gehört das Unternehmen. Er ist Alleingesellschafter der SARL. Aber“, fügte der Verkaufschef sofort hinzu, da er ahnte, dass der Kommissar lieber mit dem obersten Chef sprechen wollte als mit einem Untergebenen, „de facto liegt alles auf meinen Schultern. Der Eigentümer interessiert sich nicht besonders für uns hier. Er ist mehr Abenteurer als Geschäftsmann. Zurzeit ist er mit seiner Yacht auf Weltumsegelung. Solange das Unternehmen gute Gewinne macht, die ihm regelmäßig auf sein Privatkonto überwiesen werden, lässt er mir freie Hand. Er vertraut mir voll. Il m‘a donné procuration!“
„Okay, dachte Papperin, wenn der Inhaber nicht greifbar war und der Verkaufsleiter Prokura hatte, dann war das doch der richtige Ansprechpartner für den Kommissar.
„Bien! Dann warten wir auf Ihren Rechtsanwalt!“
***
Endlich kam der Anwalt des Unternehmens. Er argumentierte, bei dem Vorhaben des ‚geschätzten Herrn Kommissars‘ handele es sich um eine unverhältnismäßige Maßnahme, der deshalb jegliche Rechtsgrundlage fehle. Es schloss sich eine längere juristische Diskussion an, die erst mit der Ankündigung des Rechtsanwalts ein Ende fand, er werde umgehend eine entsprechende einstweilige Verfügung bei Gericht beantragen. Und solange dürfe der Geschäftsbetrieb seines Mandanten nicht gestört werden.
„Erstens wäre es viel zu spät, bis Sie mit Ihrem Antrag durch kommen“, unterbrach Papperin die Ausführungen des Juristen.
„Und zweitens können wird das schneller haben. Ich werde diese Verfügung beibringen.“
Er zückte sein Handy und wählte die Nummer seines Studienfreundes Paul Vergier, des Untersuchungsrichters am cour de justice von Aix.
„Salut Paul! Ich brauche ganz schnell eine décision provisoire von dir. Es eilt sehr, weil wir andernfalls in Kauf nähmen, dass Teile der Bevölkerung vergiftet werden könnten.“
Dann schilderte er den Sachverhalt.
„Gib mir mal den Anwalt“, bat Richter Vergier den Kommissar. Nach einem längeren und offensichtlich sehr unmissverständlichen Einreden des Richters auf den Rechtsanwalt, hatte er diesen schließlich überzeugt. Papperin hatte am Gesicht des Juristen, an dessen wechselndem Mienenspiel, verfolgen können, wie die Argumente des Richters die Abwehrhaltung des maître Haubertin zum Einsturz brachten.
Dienstag, 10.Mai
Jean-Luc und Odile Papperin saßen in der frühen Morgensonne am Frühstückstisch im Innenhof der alten Ölmühle. Obwohl es erst kurz nach sieben Uhr war, strahlte die Sonne bereits ihre wohlige Wärme aus. Zwei knusprige, golden glänzende Croissants und ein backfrisches Baguette standen vor ihnen auf der großen runden Tischplatte aus dickem Granit. Wie jeden Morgen hatte Julien, einer der drei Bäcker von Cabanosque, das frische Backwerk in einer Tüte an das Einfahrtstor des Papperin‘schen Anwesens gehängt. Während Jean-Lucs Mutter ihrem Sohn Kaffee einschenkte, ging ihm die Episode in der Ölgroßhandelsfirma durch den Kopf. Es war gestern sehr spät gewesen, als er nach Hause gekommen war. Odile war schon zu Bett gegangen. Sie wusste noch nichts von dem Vorfall bei der Huiles Alimentaires SARL in Vitrolles und dass auch ihr Öl von dem temporären Verkaufsverbot betroffen war, das er gemeinsam mit juge Vergier durchgesetzt hatte.
„Gestern habe ich gesehen, dass unser Öl auch von einem Großhändler angeboten wird, der Firma Huiles Alimentaires in Vitrolles. Sag mal, verkaufen wir eigentlich viel über dieses Unternehmen?“
„Es geht. Eher nicht so viel. Das meiste verkaufe ich direkt. Ich habe einen festen Kundenstamm. Wieso interessiert dich das?“
Jetzt erzählte Jean Luc seiner Mutter, was sich gestern in Vitrolles ereignet hatte.
„Wenn das mit dem Verkaufsverbot bekannt wird, das wird hohe Wellen schlagen. Das kannst du aber glauben“, fürchtete sie.
„Aber es kann sich doch höchstens um einen Tag handeln, bis Florian, der das Zeug analysiert, Entwarnung gibt. Solange werden die von Huiles Alimentaires das schon geheim halten. Das ist ja auch in ihrem eigenen Interesse.“
„So, dein Freund Berlinotte macht das. Dann tritt ihm mal kräftig auf die Füße, dass er sich beeilt. Sonst könnte der Schaden immens werden.“
Papperin nahm sich vor, seinen Freund gleich nach dem Frühstück anzurufen. Er tunkte sein Croissant in den bol à café. Der durch den Milchschaum gemilderte, bittere Geschmack des Kaffees verband sich wunderbar harmonisch mit dem Butter- und Hefearoma des Gebäcks.
„Erklär mir mal“, forderte er mit genussvoller Miene und vollem Mund seine Mutter auf, „wie das so funktioniert mit der Vermarktung von Olivenöl. Ich habe zwar damals beim Umbau des alten Hauses und bei der Modernisierung der Maschinen viel mitgearbeitet. Aber vom laufenden Betrieb habe ich wenig Ahnung. Dazu lässt mir mein Job nicht genügend Zeit.“
Odile Papperin seufzte. Nur zu gut konnte sie sich an die Zeit erinnern. Ihr Mann Arnaud war gerade bei einem Jagdunfall zu Tode gekommen, und sie stand plötzlich allein da, als Inhaberin einer alten bastide und einer dringend renovierungsbedürftigen moulin à huile, eines Olivenölproduktionsunternehmens, das die Familie Papperin seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts betrieb. Jean-Luc, ihr einziges Kind, war weit weg gewesen. Er hatte gerade seine erste Stelle als Kommissar der police nationale in Paris angetreten und war von den Anforderungen seines neuen Jobs mehr als ausgelastet. Trotzdem war er in jeder freien Minute nachhause in die Provence gekommen und hatte ihr bei der Reorganisation des Unternehmens und der Modernisierung der veralteten Produktionsanlagen enorm geholfen. Er hatte das Heft voll in die Hand genommen, Angebote eingeholt, mit den Herstellern um Preise und Liefertermine verhandelt, die Arbeiten überwacht und sich auch noch um das nötige Geld gekümmert. Ihm hatte sie den mehr als günstigen Kredit bei der Crédit Agricole zu verdanken. Ohne seinen Einsatz damals, gäbe es das Unternehmen nicht mehr. Davon war sie überzeugt. Bei seiner Beförderung nach Aix vor ein paar Jahren hatte sie zunächst gehofft, mit Jean-Luc jetzt eine Hilfe und einen Mitarbeiter im laufenden Geschäftsbetrieb zu haben, aber seine neue Position bei der police judiciaire ließ ihm keine Zeit, sich auch noch um das Tagesgeschäft der Ölmühle zu kümmern. Selbstverständlich unterstützte er sie auch weiterhin bei zentralen Fragen, wie Investitions- und Finanzierungsentscheidungen. Und als studierter Jurist half er ihr bei allen rechtlichen Dingen. Aber das Tagesgeschäft, den laufenden Betrieb, den musste sie alleine managen.
Sie lächelte ihren Sohn an und meinte dann:
„Das ist eigentlich ganz einfach. Den meisten Umsatz machen wir mit dem Direktgeschäft. Außer der reinen Produktionsanlage haben wir deshalb die Abfüll- und Etikettiermaschinen und den Lieferwagen. Das kennst du alles, du hast es ja selbst geplant und angeschafft. Damit fährt Alphonse, oder ich fahre selbst, zu unseren Kunden, die ich seit langem schon persönlich kenne – Restaurants, Hotels und ein paar Einzelhandelsläden. Das sind allerdings in der Regel kleinere Spezialitätengeschäfte. Die großen Handelsketten beliefern wir nicht. Zumindest nicht wir selbst. Das machen die von Huiles Alimentaires für mich. Sie kommen einmal im Jahr nach der Ernte mit einem Tankwagen und kaufen unser Öl. Keine großen Mengen. Das ist für mich nur ein kleines Zubrot. Unser Hauptgeschäft machen wir mit unseren eigenen Kunden. Ich schätze mal, das ist bei allen meinen Kollegen so. Zumindest bei den kleineren Familienbetrieben.“
„Okay, das habe ich verstanden. Das heißt also, wenn jemand einem Produzenten Schaden zufügen will, dann ist anzunehmen, dass er nicht nur den Inhalt des entsprechenden Containers bei Huiles Alimentaires vergiftet hat, sondern auch das Öl, das der jeweilige Produzent für den Direktverkauf bei sich im Unternehmen lagert.“
Aufs Neue schenkte Odile ihrem Sohn Kaffee nach. Sie dachte über diese Schlussfolgerung von Jean-Luc nach.
„Ja, das ist zu vermuten.“
Wenn das tatsächlich der Fall war und allgemein bekannt würde, dann wäre das eine Katastrophe, überlegte sie. Nicht nur für das betroffene Unternehmen. Das wäre wohl ruiniert. Aber auch alle anderen wären betroffen – Ölproduzenten und Ölhändler. Das Vertrauen der Kunden ginge verloren, und darunter würden sie alle leiden.
„Ist es denn sicher, dass der Mann an vergiftetem Olivenöl gestorben ist?“, fragte sie, sich an einen Hoffnungsstrohhalm klammernd. „Oder kann er das Gift auch auf andere Weise verabreicht bekommen haben?“
In diesem Moment begann Papperins Smartphone vor ihm auf der steinernen Tischplatte zu vibrieren und leise zu brummen. Es zitterte sich langsam auf die Tischkante zu. Kurz darauf erklang Joe Dassins bekannter Schlager „Aux Champs Élysées – aux Champs Élysées“, den Papperin als Kleingelton ausgewählt hatte. Das Display zeigte Florian als Anrufer an.
„Allô Florian! Hast du schon …“ Papperins wissbegierige Frage wurde von seinem Freund unterbrochen.
„Ja, ich hab die Analyseergebnisse. Zuerst: Das Öl von deiner Mutter ist sauber, lupenrein! Aber im Öl aus dem Tank Nr.03, Lascaut &Fils, konnte ich das Gift nachweisen. Die anderen Tests sind negativ. Jean-Luc, jetzt eilt es. Ihr müsst auf alle Fälle verhindern, dass dieses Öl verkauft wird. Die Giftkonzentration ist zwar nicht allzu hoch, so dass es nicht unbedingt zum Tod führen muss. Aber für geschwächte Personen mit angeschlagener Gesundheit kann sie durchaus tödlich sein.“
„Soweit wir wissen, war der Tote herzkrank“, erinnerte sich Papperin an die Schilderung des Verkaufsdirektors.
„Also, da habt ihr es! Ich beneide dich nicht um das, was dir jetzt bevorsteht. Jetzt machen wir Schluss, damit die Leitung frei ist. Ich schätze, du hast jetzt einige brandeilige Telefonate zu führen. Salut Jean-Luc!“
Papperin war aufgesprungen und ging aufgeregt im sonnendurchfluteten Innenhof hin und her. Er öffnete das elektronische Telefonbuch seines Smartphones und tippte auf die Nummer seiner Dienststelle. Gleichzeitig kramte er in seiner Hosentasche nach seinem Autoschlüssel.
„Warum plötzlich diese Hektik? Trink doch erst einmal deinen Kaffee in Ruhe aus.“
„Maman, ich muss dringend telefonieren und dann sofort ins Kommissariat.“
„Was ist? Hat Dr.Berlinotte Gift gefunden? Und bei wem?“
„Lascaut et Fils, hat er gesagt. Jetzt muss ich mich schleunigst darum kümmern, dass das Öl nicht in den Handel gerät. Merde, wo ist mein Autoschlüssel?“
„Der liegt drinnen auf der Anrichte!“
„Allô Monique!