Ein Haus voller Lügen - Ian Rankin - E-Book
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Ein Haus voller Lügen E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Über zehn Jahre nach seinem Verschwinden wird die Leiche eines Privatdetektivs in einem Waldstück bei Edinburgh gefunden. Alles weist darauf hin, dass bei den damaligen Ermittlungen nicht alles mit rechten Dingen zuging. Und so soll DI Siobhan Clarke nicht nur den Mord aufklären, sondern auch Untersuchungen in den eigenen Reihen anstellen. Schon bald wird klar, dass fast jeder der Beteiligten – Polizisten, Verdächtige, Angehörige – etwas zu verbergen hat. Und alle eine Menge zu verlieren. Ein Mann scheint besonders viel über die Zusammenhänge zu wissen: John Rebus, Detectiv Inspector a.D. Und gerade ihm könnte die Wahrheit gewaltigen Schaden zufügen ...

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Buch

In einem einsamen Waldstück wird die Leiche des Privatdetektivs Stuart Bloom gefunden – über zehn Jahre, nachdem der Mann als vermisst gemeldet wurde. Besonders heikel dabei ist, dass die Gegend damals bereits gründlich durchsucht wurde, ohne jedes Ergebnis. Nur eine der zahlreichen Unstimmigkeiten, die mit den ursprünglichen polizeilichen Ermittlungen einhergehen.

Detective Inspector Siobhan Clarke wird beauftragt, die wenig effektiven Ermittlungen von damals noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie muss feststellen, dass die Beteiligten – Polizisten, Angehörige und Verdächtige – ihr durchweg mit Misstrauen und Vorsicht begegnen. Und dass fast jeder etwas zu verbergen scheint.

Hilfesuchend wendet Siobhan sich an ihren alten Freund und Kollegen John Rebus, DI im Ruhestand, bestens vernetzt in Edinburghs legaler und nicht ganz so legaler Welt. Doch auch Rebus selbst war an den ursprünglichen Ermittlungen zu Stuart Blooms Verschwinden beteiligt. Und bald ist sich Siobhan nicht mehr sicher, ob nicht Rebus selbst am wenigsten Interesse hat, dass seine Kollegen die ganze Wahrheit erfahren …

Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

IAN RANKIN

Ein Haus voller Lügen

Kriminalroman

Aus dem Englischen

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »In A House Of Lies« bei Orion Books, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019 Copyright © der Originalausgabe 2018 by John Rebus Ltd. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Kerstin von Dobschütz Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Helen Sotiriadis / stocksy Th · Herstellung: Han Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-25294-6V002 www.goldmann-verlag.de

Dienstag

1

Der Wagen wäre gar nicht gefunden worden, wäre Ginger nicht neidisch auf Jimmy gewesen.

An jenem Morgen waren sie zu viert im Wald. Es war Februar, und sie hatten Winterferien, ein paar Tage lang keine Schule. Mit den Fahrrädern waren sie so weit gefahren, wie es ging, aber dann war der Weg völlig überwuchert gewesen. Wurzeln und herabgefallene Äste hatten ihn stellenweise in einen Hindernisparcours verwandelt. Alle vier Jungs waren elf Jahre alt und zusammen in einer Klasse. Ginger, Alan, Rick und Jimmy. Jimmys Fahrrad war das teuerste – er hatte immer die teuersten Sachen. Die teuersten Klamotten, den teuersten Rucksack, das teuerste Fahrrad. Seine Eltern kauften nur das Beste. Sein Zimmer war voller Spielekonsolen und allem Möglichen, was gerade angesagt war. Und deshalb wartete Ginger jetzt, bis Jimmy, nachdem sie so viel gerannt und herumgesprungen waren, schwitzend und keuchend am Rand der tiefen Senke stand, dann gab er ihm einen Schubs. Gar keinen besonders festen. Ginger hatte Jimmy erschrecken wollen, damit er vielleicht ein paar Meter den Abhang herunterrutschte, aber sich immer noch ohne Hilfe wieder hochziehen konnte, während sich die anderen über ihn kaputtlachten, zuschauten und filmten. Aber der Hang war steil und rutschig, und Jimmy fiel und schlitterte bis ganz nach unten, stürzte in die Brennnesseln, die Farnsträucher und das Dornengestrüpp.

»Das war ich nicht«, sagte Ginger, was grundsätzlich auch seine Haltung im Klassenzimmer, auf dem Spielplatz und zu Hause bei seinen Eltern und seinen beiden Schwestern war. Alan fluchte leise, als er über den Rand spähte. Rick hielt ihn hinten an der Kapuze fest, als fürchtete er, Ginger sei noch nicht ganz fertig.

»Das war ich nicht!«, wiederholte Ginger lauter.

Alle drei sahen, wie Jimmy sich wieder aufrappelte. Er suchte seine Handrücken nach Brennnesselausschlag ab, betastete sein Gesicht, dann hob er einen abgebrochenen Ast auf.

»Das wird er dir heimzahlen«, warnte Alan Ginger.

Aber Jimmy nahm den Ast, um die Farnsträucher zu teilen, damit alle sehen konnten, was sich dort verbarg.

»Da hat jemand sein Auto zu Schrott gefahren!«, rief Jimmy ihnen zu.

»Machen die andauernd«, behauptete Rick. »Schaffst du’s, da wieder rauszuklettern?«

Jimmy ignorierte ihn. Er ging um den Wagen herum, legte ihn so gut wie möglich frei. Die Fenster waren noch vorhanden, aber von einer dünnen Moosschicht überzogen. Er zog den Ärmel über die Faust und wischte darüber. Die anderen Jungs sahen einander an. Alan kletterte als Erster den Hang herunter, dann folgten Rick und Ginger seinem Beispiel.

»Irgendwas, das sich mitzunehmen lohnt?«, fragte Alan.

Jimmy presste das Gesicht an die Scheibe. Er wollte die Fahrertür öffnen, aber sie klemmte.

»Ich glaube, das ist ein Polo«, brummte Ginger. Dann der Genauigkeit halber: »Ein VW Polo.«

Rick rieb sich Moos über die Handflächen. »Bin in die Brennnesseln gekommen«, jammerte er.

Alan war um das Auto herum auf die Beifahrerseite gegangen und zog die Tür auf. Die Scharniere quietschten widerwillig.

»Sieht aus, als wär nichts drin«, sagte er und stieg ein. Der Schlüssel steckte im Zündschloss, er drehte ihn, aber nichts tat sich. »Tot«, verkündete er.

»Den hat jemand geklaut und hier abgestellt«, vermutete Ginger und trat gegen den Kotflügel, weil ihm der Wagen bereits langweilig wurde.

Rick hatte den Reißverschluss seiner Hose heruntergezogen und urinierte auf einen Farnstrauch.

»Pisse hilft auch gegen Brennnesseln«, belehrte Alan ihn und kassierte einen gestreckten Mittelfinger als Antwort.

Jimmy stand jetzt hinten am Wagen und drückte den Knopf zum Entriegeln des Kofferraums. Die Klappe sprang zwei Zentimeter weit auf, hakte dann aber.

»Hilf mir mal«, befahl er Ginger, doch als eine Scheibe zersprang, zuckten beide zusammen. Sie drehten sich zu Rick um, der den Stein geworfen hatte und sich jetzt grinsend den Schmutz von den Händen klopfte.

»Verdammte Scheiße!«, schrie Jimmy.

»Kommt weg hier«, erwiderte Rick.

Ginger spähte durch das Loch in der Heckscheibe. »Dahinten liegt was«, behauptete er, wartete, bis die anderen herankamen.

»Sieht aus wie ein Skelett«, meinte Alan.

»Bestimmt irgendeine Verarsche«, sagte Rick. »Sieht doch voll unecht aus – oder?«

»Wie sieht denn ein echtes aus, Professor?«, schoss Jimmy zurück. Er machte Fotos mit seinem Handy. Jetzt kramten auch die anderen ihre Handys aus den Taschen, taten es ihm gleich.

»Da hängen Haare dran«, sagte Ginger. »Haare und ein Hemd.«

»Lasst uns abhauen«, schlug Rick vor. »Wird schon jemand finden.« Er wandte sich ab und kletterte den Hang wieder hinauf. »Worauf wartet ihr?«, rief er den anderen zu.

Ginger und Alan sahen einander an, konnten sich nicht entscheiden. Dann hörten sie Jimmys Stimme und drehten sich zu ihm um. Er hielt sich das Handy ans Ohr und bat, zur Polizei durchgestellt zu werden.

2

Siobhan Clarke parkte auf der Zufahrtsstraße hinter einer Reihe anderer offizieller Fahrzeuge. Ein Streifenpolizist wollte erst ihren Dienstausweis sehen, bevor er ihr zeigte, wo es zur Fundstelle im Wald ging. Sie öffnete die hintere Tür ihres Vauxhall Astra und tauschte ihre Schuhe gegen ein paar Gummistiefel.

»Sehr schlau«, sagte der Streifenbeamte mit Blick auf sein eigenes matschverkrustetes Schuhwerk.

»Ich mache das nicht zum ersten Mal«, erklärte ihm Clarke.

Die Türen des Transporters von der Spurensicherung waren geöffnet, ein Kriminaltechniker kramte nach etwas, das benötigt wurde.

»Leitet Haj die Untersuchungen?«, fragte sie und bekam ein bestätigendes Nicken zur Antwort. Sie nickte zurück und ging weiter. Einen besseren Kriminaltechniker gab es bei Police Scotland nicht. Clarkes Handy vibrierte in ihrer Hand. Eine 0131-Nummer. Das Netz reichte gerade noch, sie nahm den Anruf an.

»Hallo?«

Schweigen am anderen Ende. Sie schaute auf das Display. Anruf beendet. Clarke kannte die Nummer nicht, worüber sie sich jedoch nicht mehr wunderte. Am vorangegangenen Tag war dies bereits dreimal und auch am vorvergangenen Tag schon einige Male passiert. Verwählt, vermutete sie, aber allmählich gaben ihr die Anrufe doch Rätsel auf. Sie kam an vier Fahrrädern vorbei. Die Jungs waren mit dem Auto ins Präsidium gebracht worden, um dort ihre Aussagen zu machen. Die Fahrräder sollten ihnen später gebracht werden – vorausgesetzt, jemand dachte daran.

Clarke brauchte fünf Minuten bis zur Senke. Zuerst hörte sie die Stimmen, dann sah sie die Gestalten. An den umstehenden Bäumen waren ein paar dicke Seile befestigt. Gerade kletterte ein Kollege der Spurensicherung nach oben, hatte einige Mühe an dem steilen Hang, während sich ein anderer mithilfe des Seils hinaufhangelte.

»Der Stärkere überlebt«, brummte ein Beamter neben Clarke.

Clarke spähte über den Rand und sah den Wagen. Inzwischen war er fast vollständig freigelegt, wurde von allen Seiten fotografiert, der Boden um das Fahrzeug herum wurde abgesucht. Man hatte Bogenlampen aufgestellt und an einen tragbaren Generator angeschlossen – es war erst früher Nachmittag, aber das Licht ließ bereits nach.

»Ich vermute, ein Arzt wurde nicht mehr gebraucht.«

»Nicht so richtig«, meinte der Beamte. »Aber die Pathologin ist unten.«

In der Senke trugen alle dieselben weißen Overalls mit Kapuze, aber Clarke erkannte Deborah Quant trotzdem, die sie ihrerseits sah und ihr zuwinkte. Offenbar fragte der Mann neben ihr, wem sie gewunken hatte, denn auf ihre Antwort hin hob auch er grüßend die Hand. Wenig später kletterte er scheinbar mühelos aus der Senke nach oben. Er schob die Kapuze zurück und streckte Clarke eine Hand entgegen.

»Ich bin DCI Sutherland«, sagte er. »Aber Graham tut es auch. Sie sind DI Clarke?«

»Siobhan«, sagte Clarke.

»Und du kennst unsere Pathologin?«

Clarke nickte. »Was wissen wir über das Opfer?«

»Männlich. Deborah will sich bislang noch nicht festlegen, wie lange er schon tot ist. Aber anscheinend lassen sich Schädelverletzungen feststellen.«

Clarke sah sich demonstrativ um. »Gar nicht so einfach, mit dem Auto herzufahren.«

»Ich vermute, früher war die Stelle ein bisschen besser zugänglich als jetzt. Wir wissen nicht, ob er noch gelebt hat, als er da unten gelandet ist, oder bereits gefesselt im Kofferraum lag.«

»Wie alt ist der Wagen?«

»Wissen wir noch nicht genau. Die Nummernschilder wurden entfernt. Keine Spur von einer Steuermarke, nichts im Handschuhfach, keine Hinweise an der Kleidung. Wir werden alles dem Labor übergeben und abwarten müssen, was die sagen.«

»Kann es kein irgendwie ungewöhnlicher Selbstmord gewesen sein?«

Sutherland zuckte mit den Schultern. »Deborah glaubt nicht, dass die Schädelverletzungen durch den Aufprall entstanden sind. Sie befinden sich am Hinterkopf, was eher auf eine Waffe als auf eine andere Art von Aufprall oder Stoß schließen lässt.«

»Und er war gefesselt?«

»Na ja, nicht direkt.« Er gab etwas in sein Handy ein und drehte es um, sodass sie das Display sehen konnte. Das Foto zeigte das Innere des Kofferraums, eine Nahaufnahme von zwei Beinen und Füßen. Schmutzige Jeans, die brüchig wirkten, und weiße Turnschuhe, die sich ebenfalls bereits auflösten. Die Knöchel waren mit Handschellen aneinandergefesselt. Clarke blickte Sutherland fragend an, aber er zuckte nur mit den Schultern.

Das Büro des leitenden Teams in dieser Ermittlung befand sich auf der Wache in Leith. Sutherland hatte gesagt, er wolle Clarke dort treffen.

»Kennst du die Station?«, hatte er gefragt.

»Allerdings.«

Sie hatte in ihrem eigenen Büro am Gayfield Square angerufen und erklärt, dass sie vorübergehend nicht zur Verfügung stehe.

»Versetzt zur Mordkommission«, meinte DC Christine Esson. »Bild dir bloß nicht ein, dass ich nicht neidisch bin.«

»Ich erzähl dir später, wie’s beim MIT war.«

»Die wollen bestimmt nur, dass ihnen jemand zeigt, wo sie was Warmes zu essen und zu trinken bekommen.«

»Danke für deine Zuversicht, Christine.« Clarke hoffte, dass Esson ihrer Entgegnung das darin enthaltene Lächeln anhörte, beendete die Verbindung und betrat das MIT-Büro. Abgesehen von einigen Tischen und Stühlen war es leer. Aufgrund der Umstrukturierungen bei Police Scotland war das jetzt immer so – der regionale CID spielte nur noch eine untergeordnete Rolle, dafür rückte im Bedarfsfall ein engagiertes Team von außen an, dem man Räumlichkeiten zur Verfügung stellen musste. Clarke kannte Graham Sutherland nicht, hatte aber von ihm gehört. Sie fragte sich, wie er auf sie gekommen war.

Sie hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Sutherland war eingetreten, den Blick auf sie gerichtet. Er war groß, athletisch gebaut. Ungefähr Anfang fünfzig. Kurze helle Haare, ein Gesicht, das offenbar vor noch nicht allzu langer Zeit ein bisschen Sonne abbekommen hatte, dazu ein Blick, dem man ansah, dass ihm nicht viel entgehen würde. Sein anthrazitfarbener Anzug wirkte fast neu, dazu trug er ein gebügeltes weißes Hemd, eine dunkelblaue Krawatte.

»Alles wie gehabt«, meinte er, während er den Raum betrachtete. »Ich wette, die Fenster lassen sich nicht öffnen und die Hälfte der Steckdosen funktioniert nicht.«

»Wahrscheinlich klemmen auch noch ein paar Schreibtischschubladen.«

Er warf ihr ein kurzes Lächeln zu. »Die anderen werden bald hier sein. Ich weiß nicht, ob du jemanden vom Team kennst.«

»Was gewissermaßen die Frage aufwirft, Sir …«

»Ich habe dich doch gebeten, Graham zu sagen.«

»Du kennst die Stadt nicht, aber es gibt sicher besser qualifizierte Fremdenführer als mich.« Sie hielt die Arme verschränkt. Er sah ihr direkt in die Augen.

»Ich habe Gutes über dich gehört, Siobhan. In Edinburgh finde ich mich alleine zurecht, aber ich hoffe, dass du mir bei dem Fall helfen kannst. Außerdem …« Er brach ab, schluckte herunter, was er hatte sagen wollen.

»Außerdem?«, versuchte sie, ihm auf die Sprünge zu helfen.

»Ich weiß, dass du mit der Anti-Corruption-Unit aneinandergeraten bist. Du warst nicht die Erste und wirst auch nicht die letzte sein, die mit der ACU Ärger hat.« Er trat einen Schritt auf sie zu, neigte leicht den Kopf. »So wie ich das sehe, sind wir bei der Polizei so was wie eine Familie. Das muss man denen bei der ACU manchmal in Erinnerung rufen.«

»Ich bin auf niemandes Wohlwollen angewiesen, Graham.«

Er nickte langsam. Auf der Treppe wurden Stimmen laut. »Nein, aber der Haufen, der da gleich durch die Tür kommt. Lass uns die Vorstellungsrunde hinter uns bringen und dann endlich mit der Arbeit anfangen, okay?«

»Okay.«

Clarke schloss die Toilettentür und setzte sich, tippte die Namen in ihr Handy, um sie sich besser zu merken. Neben ihr selbst gab es noch einen weiteren DI – Callum Reid. Er hatte rote Haare, Sommersprossen und hätte Clarkes Sohn sein können, so jung wirkte er. Er war mit einer Landkarte ins Zimmer getreten, hatte sie auseinandergefaltet und an die Wand gepinnt. Darauf waren die Wälder, Dörfer und Städte im Umkreis des Fundorts zu sehen.

»Bis wir ein Whiteboard bekommen, wird das genügen müssen«, hatte er verkündet.

Sutherland warf Clarke einen Blick zu, der ihr verriet, dass Reid sich erwartungsgemäß verhielt. Mr Tüchtig, tippte sie neben seinen Namen in ihr Handy. Die beiden Detective Sergeants erinnerten entfernt an ein Komiker-Duo aus dem Fernsehen der Siebzigerjahre. George Gamble war ein stattlicher Mann in einem karierten Dreiteiler, das Gesicht leicht gerötet und die Haare verstrubbelt. Tess Leighton war knapp zehn Zentimeter größer als er und so dünn, dass Clarke sich fragte, ob sie vielleicht magersüchtig war. Ihr Teint wirkte fast weiß, dazu hatte sie dunkle Schatten unter den Augen. Die beiden DCs dagegen wirkten wie Bruder und Schwester. Beide blond gefärbt, ungefähr gleich groß und gleich alt, schätzungsweise Mitte zwanzig. Phil Yeats hatte sich mit der Bemerkung vorgestellt: »Yeats wie der Dichter, nicht wie die Weinbar.«

»Er wird nicht müde, das zu betonen«, ergänzte DC Emily Crowther und gab Clarke die Hand.

Das Team war erst kürzlich zusammengestellt worden, handverlesen von Sutherland persönlich, der bereits einige Male bedeutende Ermittlungen geleitet hatte. Als er dies Clarke gegenüber ausführte, hörte sie auch den Subtext heraus: Enttäusch mich nicht. Dann hatten sie sich alle vor der Karte versammelt, Callum Reid hatte den Wald mit einem dicken schwarzen Filzstift eingekreist.

Nachdem sie die Namen ihrer neuen Kollegen eingegeben hatte, blieb sie noch sitzen und tippte sich mit der Kante ihres Telefons ans Kinn. Wenigstens wusste sie jetzt, warum man sie hinzugezogen hatte: um der ACU zu zeigen, dass man bei der Polizei zusammenhält. ACU: die Anti-Corruption-Unit bei Police Scotland. Den größten Teil des vergangenen halben Jahres hatten sie versucht, Clarke etwas anzuhängen. Jetzt hatten sie’s aufgegeben. Aber sie vermutete, dass sie schon bald wieder auf der Matte stehen würden. Clarke wusste, dass man sich dort ärgerte, nicht das gewünschte Ergebnis erzielt zu haben. Du warst nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein. Damit hatte Sutherland ihr zu verstehen gegeben, dass er in der Vergangenheit selbst mit der ACU aneinandergeraten war. Sollte ihre kurzfristige Versetzung seine Art sein, den Kollegen, die ihn genervt hatten, den Stinkefinger zu zeigen? Sie hoffte es nicht. Schließlich hatte er außerdem gesagt, er habe Gutes über sie gehört. Und verdammt noch mal zu Recht – sie war eine gute Polizistin, ein guter Detective, und das meiste von dem, was sie konnte, hatte sie durch harte Arbeit gelernt.

Clarkes Handy vibrierte. Eingehender Anruf. Dieses Mal tauchte ein Name auf dem Display auf, keine Nummer. Sie grinste matt, als sie sich meldete.

»Habe gerade an dich gedacht«, sagte sie.

»War’s ein Polo?« John Rebus klang aufgeregt.

»Was?«

»Der Wagen im Wald. Frag nach, ob’s ein roter VW Polo war.«

»Woher weißt du das?«

»Im Radio hieß es, eine Leiche lag drin.«

Clarkes Augen verengten sich. »Willst du mir sagen, du weißt, wer das ist?«

»Ich behaupte nicht, dass er’s ist, aber er könnte es sein.«

»Und wirst du mir verraten, wer?«

Einen Augenblick lang herrschte Stille. »Wurde dir der Fall übertragen?«

»Ich wurde dem MIT zugeteilt.«

»Gut. Dann bist du also in Leith?« Sie musste unwillkürlich grinsen, was er offenbar spürte. »Hör mal, ich bin vielleicht pensioniert, aber mein Gehirn befindet sich nach wie vor im aktiven Dienst.«

»Dein Gehirn vielleicht, du aber nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Inzwischen ist nur noch einer von uns beiden Detective. Also nenn mir den Namen, dann überprüfe ich das.«

»Weißt du, ich denke, das liegt an der modernen Technik.«

»Was?«

»Dass ihr in deiner Generation alle so ein schlechtes Gedächtnis habt. Ihr wisst nicht mehr, wie man Informationen aufbewahrt.«

»John …« Sie seufzte. »Nenn mir einfach den Namen.«

»Du hast nicht mal gefragt, wie’s mir geht.«

»Wir haben uns doch erst vor einem Monat gesehen.«

»Vielleicht hat sich mein Zustand ja verschlechtert.«

»Hat er sich denn verschlechtert?«

»Nicht so, dass du’s merken würdest.«

»Freut mich zu hören.« Sie hielt inne. »John? Bist du noch dran?«

»Schon unterwegs.«

»So geht das ni…« Doch Rebus hatte bereits aufgelegt.

Clarke stand auf und entriegelte die Kabinentür, wusch sich die Hände, dann ging sie zurück ins Büro. Das Team tat beschäftigt, wartete aber eigentlich noch auf die Ankunft der Computer und zusätzlichen Mitarbeiter.

Reid erklärte, dass sie einen Fernseher bräuchten, um zu verfolgen, wie der Fall in den Medien dargestellt wurde. Leighton ergänzte, sie sollten auch die sozialen Medien als Informationsquelle berücksichtigen. Es fehlte ein Schreibtisch, weshalb Yeats und Crowther sich einen teilten, was ihnen jedoch nichts auszumachen schien. Sie plauderten miteinander, bis sie merkten, dass Graham Sutherland sein Telefonat beendet hatte.

»Deborah Quant sagt, wir brauchen einen forensischen Anthropologen. Sie kontaktiert …«, er schaute auf die Notiz, die er sich gemacht hatte, »… Aubrey Hamilton in Dundee.«

»Aber es wird doch eine Autopsie geben, oder nicht?«, fragte Callum Reid. Er stand bei seiner Karte, als wollte er sichergehen, dass niemand sonst Besitzansprüche darauf anmeldete.

Sutherland nickte. »Hamilton soll Professor Quant assistieren. In der Zwischenzeit haben wir schon mal Fingerabdrücke von den Kindern genommen, damit wir sie später eliminieren können. Wobei Haj wohl lieber die Kinder eliminieren würde als deren Fingerabdrücke – so wie die über den Tatort hergefallen sind und überall Glasscherben verteilt haben.«

»Was halten wir von den Handschellen?« George Gamble hatte das Jackett ausgezogen, die Daumen in seine Westentaschen gesteckt.

»Gute Frage.« Sutherland sah alle nacheinander an. »Irgendwelche Ideen?«

»Scheint gute Qualität zu sein«, erwiderte Tess Leighton gedehnt. Sie saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl, wie eine ungehaltene Miss Jean Brodie vor ihrer Klasse.

»Es sind echte«, stimmte Sutherland zu.

»Das heißt aus Polizeibeständen?«

»Können wir noch nicht sicher sagen.«

»Aber um die Fußgelenke«, warf Callum Reid ein und schüttelte den Kopf. »Das macht doch keinen Sinn.«

»Es sei denn, man will verhindern, dass jemand wegläuft«, ergänzte Phil Yeats.

Sutherland fuhr nachdenklich mit dem Finger über seine Nasenwurzel. »Fällt dir noch was dazu ein, Siobhan?«

Clarke räusperte sich. »Ich habe einen Informanten, der glaubt, den Namen des Toten zu kennen.«

Plötzlich lag eine gewisse Energie im Raum. Reid ließ seine Karte Karte sein und marschierte auf Clarke zu. »Sag schon«, verlangte er.

»Er wollte ihn mir nicht nennen.«

»Dann unterhalten wir uns mit ihm!« Reid blickte zu Sutherland, erwartete, dass er nickte oder die Aufforderung sonst wie bekräftigte, aber sein Chef sah Clarke unverwandt an.

»Mit wem hast du gesprochen, Siobhan?«

»Einem ehemaligen Kollegen, der schon seit einigen Jahren pensioniert ist. Wie ich ihn kenne, schneit er in den nächsten zehn bis fünfzehn Minuten hier herein.«

»Willst du uns ein bisschen was über ihn erzählen, bis es so weit ist?«

»In zehn oder fünfzehn Minuten?« Clarke schnaubte leise. »Ich glaube kaum, dass ich ihm in der Zeit gerecht werden kann.«

Sutherland lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Versuch’s.«

»Die wollten mich unten an der Anmeldung nicht durchlassen«, beschwerte Rebus sich, als Clarke ihn die Treppe hinaufführte. »Früher …«

Clarke blieb stehen, drehte sich um und sah ihn an. »Geht’s dir wirklich gut, John? Ich meine, ganz ehrlich?«

»Ich hab immer noch COPD, falls du das meinst. Das geht nicht weg.«

»Ich weiß, und es wird immer schlimmer.«

»Trotzdem bin ich noch da.« Rebus streckte die Arme aus. »Wie der sprichwörtliche …«

»Falsche Fünfziger? Elefant im Porzellanladen?«

»›Geist in der Maschine‹ wollte ich eigentlich sagen, aber dann ist mir eingefallen, dass das gar kein Sprichwort ist.« Er hielt inne, musterte seine Umgebung. »Genau noch so wie früher.«

»Nichts ist mehr wie früher, John«, bügelte sie ihn ab und setzte sich treppauf in Bewegung. Bis sie oben angekommen waren, schnaufte Rebus schwer. Er brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, tastete seine Tasche nach dem Inhalator ab.

»Ich hab jetzt endgültig mit dem Rauchen aufgehört«, erklärte er Clarke.

»Wie sieht’s mit dem Trinken aus?«

»Nur hin und wieder eine medizinische Dosis, Euer Ehren.« Er zog die Schultern zurück und setzte eine Miene auf, die sie aus alten Zeiten kannte, dann schoss er an ihr vorbei in den Büroraum. Sutherland war bereits aufgesprungen. Er ging Rebus entgegen, traf ihn in der Mitte und schüttelte ihm die Hand.

»Man begegnet nicht jeden Tag einer lebenden Legende«, sagte er.

»Meinen Sie sich oder mich?«, erwiderte Rebus.

Sutherland deutete ein Lächeln an und führte Rebus zu einem freien Stuhl. Phil Yeats lehnte an der Wand, Rebus nahm Platz. Sutherland setzte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Hände.

»Siobhan hat gesagt, Sie haben Informationen für uns, John. Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie hergekommen sind.«

»Wenn Sie den Namen hören, vielleicht nicht mehr. Das war 2006.« Rebus brach ab und gestikulierte in Callum Reids Richtung. »Wahrscheinlich haben Sie da noch kurze Hosen getragen, mein Lieber.« Dann an Sutherland gewandt: »Ist heute der Tag, an dem man seine Kinder mit ins Büro nehmen darf?«

»DI Reid ist älter, als er aussieht.« Sutherland gab sich weiterhin Mühe, gelassen zu bleiben, aber Clarke merkte ihm an, dass es ihm nicht mehr lange gelingen würde. Sein Tonfall alarmierte auch Rebus, der erneut den Raum mit Blicken absuchte. »Ihr habt alle ein schlechtes Gedächtnis, hab ich auch schon zu Siobhan gesagt. Wenn ich mich nicht irre, ist das der Wagen von Stuart Bloom.« Er wartete, sah, wie Sutherland die Stirn in Falten legte.

»2006 war ich noch in Inverness«, sagte der DCI endlich.

»Und du, Siobhan, wie sieht’s bei dir aus?« Rebus hob einen Finger. »Da kann ich dir sogar helfen – die hatten dich damals nach Fife versetzt. Für drei Monate, glaube ich, genau in der Zeit, in der das alles passiert ist.«

»War das der Privatermittler?« Clarke nickte. »Ich erinnere mich, dass wir darüber gesprochen haben. Er ist damals einfach spurlos verschwunden.«

»Genau der«, sagte Rebus. »Klingelt was?« Er schaute sich im Raum um, blickte aber in ausdruckslose Gesichter. Callum Reid, der den Namen kurzerhand im Internet gesucht hatte, telefonierte bereits eifrig. Die anderen begriffen allmählich, was er tat, und folgten seinem Beispiel. Alle außer Sutherland, dessen Handy jetzt brummte. Er hielt es sich ans Ohr.

»DCI Sutherland«, sagte er und lauschte, den Blick unverwandt auf Rebus gerichtet. Nachdem er sich bei dem Anrufer bedankt hatte, fuchtelte er erneut mit dem Handy in Richtung Rebus. »Es gab Hinweise aus der Bevölkerung. Weitere Hinweise aus der Bevölkerung, sollte ich wohl sagen. Alle drei Personen haben denselben Namen genannt wie Sie.«

»Privatermittler aus Edinburgh«, las Reid, überflog, was er auf dem Bildschirm aufgerufen hatte. »Verschwand im März 2006. Sein Partner wurde vernommen …«

»Geschäftspartner?«, fiel Sutherland ihm ins Wort.

»Lebenspartner«, korrigierte Rebus ihn. »Stuart Bloom war schwul. Und zufällig war sein Freund der Sohn von Alex Shankley, einem Detective bei der Glasgower Mordkommission.«

»Stand der Freund als Täter im Verdacht?«, fragte Sutherland.

»Und wie«, behauptete Rebus. »Aber wenn es keine Hinweise auf eine Straftat und nicht einmal eine Leiche gibt …«

Sutherland hatte sich von seinem Stuhl erhoben, ging jetzt zur Karte und betrachtete sie. Rebus trat neben ihn.

»Wurde damals auch der Wald abgesucht?« Er sah Rebus langsam nicken.

»Ich glaube, sogar mehr als einmal.«

Sutherland drehte sich halb zu ihm um. »Und warum?«

»Wegen des Besitzers.«

»Spucken Sie’s endlich aus, John«, fuhr Sutherland ihn an; er war mit seiner Geduld am Ende.

»Der Mann, für den Stuart Bloom gearbeitet hat, ist ein Filmproduzent namens Jackie Ness. Ness’ Haus befindet sich von der Straße aus gesehen auf der anderen Seite des Waldes.«

Rebus betrachtete die Karte und legte schließlich seinen Finger auf eine bestimmte Stelle. »Ungefähr dort«, sagte er. »Und ›Haus‹ könnte möglicherweise auch nicht ganz zutreffen – eher ein Anwesen.«

»Lebt Ness noch dort?« Sutherland sah Rebus mit den Schultern zucken und drehte sich zu den anderen um. »Beschafft mir die Information«, befahl er allen und niemandem.

»Ein Computer wäre ganz hilfreich«, wandte Phil Yeats ein. »Mein Notebook ist im Wagen, ich kann’s holen.«

Sutherland nickte und erklärte dann an Rebus gerichtet: »Heutzutage nennt man Laptops so.«

»Ich weiß«, entgegnete Rebus. »Und was jetzt?«

Sutherland wurde nachdenklich. »Sie waren an den Ermittlungen damals beteiligt. Wäre schön zu erfahren, was Sie wissen.«

»Immer vorausgesetzt«, ergänzte Tess Leighton, »dass es sich tatsächlich um den Wagen von diesem Bloom handelt und er es ist, der da im Kofferraum liegt.«

»Wir müssen nach allen Seiten hin offen bleiben«, pflichtete Sutherland ihr bei. »Aber vielleicht könnte John in der Zwischenzeit eine Aussage zu Protokoll geben, nur der Ordnung halber. Ich vermute, die Akten werden irgendwo noch aufbewahrt?«

»Wahrscheinlich liegen die meisten bei der Counter Corruption Unit«, sagte Rebus beiläufig und tat, als würde er immer noch die Karte studieren.

»Bei der CCU?«

»Ich weiß, heutzutage heißt es ACU, aber damals, 2006, hieß die Abteilung noch Counter-Corruption-Unit. Kann sein, dass ein paar von euch ein bisschen Nachhilfe in Geschichte brauchen. Auf jeden Fall war das alles lange vor Police Scotland. Damals gab es noch acht regionale Polizeiorganisationen.«

»Aber warum wurde die CCU überhaupt eingeschaltet, John?«, unterbrach ihn Sutherland.

Rebus tat, als würde er angestrengt nachdenken. »Na ja«, sagte er schließlich, »irgendwie haben wir’s wohl geschafft, ziemlich großen Mist zu verzapfen. Die CCU war sozusagen das Tüpfelchen auf dem i.«

»Da hat er nicht unrecht«, sagte Callum Reid, den Blick auf sein Handy gerichtet, der Daumen flitzte darüber. »Blooms Eltern haben während der Ermittlungen und auch noch danach mehr als ein Dutzend Beschwerden eingereicht. Zuletzt erst im vergangenen Jahr.«

Rebus nickte langsam, den Blick auf Sutherland gerichtet. »Wäre sehr viel einfacher, wenn es nicht Stuart Bloom, sondern jemand anders wäre. Kann es Selbstmord gewesen sein?«

»Ich denke, das können wir ausschließen. Jemand hat den Wagen mit Ästen und Gestrüpp zugedeckt.«

»Wenn er wirklich nicht gefunden werden wollte, kann er das auch selbst gemacht haben, bevor er in den Kofferraum gestiegen ist.«

George Gamble stieß ein heiseres Lachen aus. »Ist Ihnen schon mal ein Selbstmord untergekommen, bei dem der Tote Handschellen um die Fußgelenke trug?«

»Handschellen?« Rebus schaute von Sutherland zu Siobhan Clarke und wieder zurück.

»Ich glaube, dieses besondere Detail sollten wir der Öffentlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt lieber noch vorenthalten.« Sutherland bedachte Gamble mit einem bösen Blick.

»Polizeihandschellen?«, drängte Rebus weiter.

Sutherland hob eine Hand, mahnte zu Vorsicht. »Wir wollen nichts überstürzen. Vielleicht sollten wir uns erst mal setzen und Sie erzählen uns die ganze Geschichte.«

»Ein Tee wäre nicht verkehrt.«

Sutherland nickte und drehte sich zu Clarke. »Siobhan, Sie kennen sich hier doch am besten aus …«

»Gegenüber ist ein Café. Das ist wahrscheinlich das Beste.«

Sutherland zog einen Zwanzigpfundschein aus der Tasche und hielt ihn ihr hin.

»Moment mal«, sagte sie. »Ich soll Tee holen?«

»Ich delegiere nur«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.

Sie schnappte sich den Schein aus seinen Fingern und ging zu Emily Crowther. »Dann nichts wie los, DC Crowther.«

Crowther schaute finster, wollte das Geld offenbar nicht nehmen, weshalb Clarke es auf ihren Schreibtisch legte und näher an sie heranschob.

»Wunderbar delegiert«, kommentierte Rebus mit schmalem Lächeln. Und an Graham Sutherland gewandt: »Wo soll ich anfangen?«

3

Eine Straße mit Bungalows in Blackhall, eine ruhige Wohngegend, von den Autofahrern einmal abgesehen, die die angrenzende – und stärker befahrene – Queensferry Road mieden. Rebus stieß das schmiedeeiserne Tor auf. Keine quietschenden Scharniere, und auch der Garten auf beiden Seiten des Plattenwegs wirkte sehr gepflegt. Zwei Tonnen – eine für Haus-, eine zweite für Gartenabfälle – warteten bereits draußen auf dem Gehweg auf die Müllabfuhr. Die Nachbarn waren offenbar noch nicht dazu gekommen, ihre Tonnen ebenfalls rauszustellen. Rebus klingelte an der Tür und wartete. Schließlich wurde ihm von einem Mann geöffnet, der wohl ungefähr im selben Alter war wie Rebus, aber fünf Jahre jünger aussah. Bill Rawlston hatte sich seit seiner Pensionierung gut gehalten, und seine Augen hinter der Halbbrille strahlten wach und intelligent.

»John Rebus«, sagte er mit düsterer Miene und musterte Rebus von Kopf bis Fuß.

»Hast du’s gehört?«

Rawlstons Mundwinkel zuckten. »Natürlich. Aber bis jetzt hat noch niemand bestätigt, dass er’s ist.«

»Nur eine Frage der Zeit.«

»Wahrscheinlich.« Rawlston seufzte und trat einen Schritt zurück in den Flur. »Dann komm lieber rein. Tee oder was Stärkeres?«

»Tee ist wunderbar.«

Rawlston schaute auf dem Weg in die Küche über die Schulter.

»Hab ich ja noch nie erlebt, dass du einen Drink ablehnst.«

»Sieht aus, als hätte ich mir COPD angelacht.«

»Und was ist das anders als fachchinesisch ausgedrückt?«

»Eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung – früher hat man von einem Emphysem gesprochen.«

»War ja klar, dass du was kriegst, in dem ein COP steckt.«

»Ich hab das große Los gezogen.«

»Tut mir leid. ›Chronisch‹ und ›obstruktiv‹ klingt eigentlich nicht nach Hauptgewinn.«

»Wie sieht’s denn bei dir aus, Bill?«, fragte Rebus.

»Beth ist im letzten Jahr gestorben. Seit sie erwachsen wurde, hat sie ihr Leben lang eine Schachtel pro Tag geraucht, und dann stolpert sie, schlägt sich den Kopf an, und ein Blutgerinnsel wird ihr zum Verhängnis. Ist das zu glauben?«

Die Küche war tadellos aufgeräumt. Ein tiefer und ein kleiner Teller standen abgespült auf dem Abtropfgitter. Auch der Plastikbehälter der Suppe fürs Mittagessen war bereits gespült – bestimmt stand draußen vor der Hintertür eine Recyclingtonne und wartete darauf.

»Zucker?«, fragte Rawlston. »Hab vergessen, wie du ihn trinkst.«

»Nur mit Milch, danke.« Nicht, dass Rebus überhaupt vorhatte, den Tee zu trinken; nach seinem Besuch in Leith stand er ihm bis zur Halskrause. Aber die Zubereitung hatte ihm Zeit verschafft, sich Bill Rawlston genauer anzusehen. Und auch Rawlston, das wusste Rebus, hatte die Zeit zum Nachdenken genutzt.

»Hier entlang«, bat Rawlston seinen Gast, reichte ihm einen Becher und ging voran. Das Wohnzimmer war klein, ein Esszimmer grenzte direkt an. Familienfotos, Dekogegenstände, ein Bücherregal mit Taschenbüchern und DVDs. Rebus betrachtete die Regale.

»Heutzutage hört man nicht mehr viel von Alistair MacLean«, meinte er.

»Wahrscheinlich aus gutem Grund. Setz dich und erzähl, was du auf dem Herzen hast.«

Neben Rawlstons Lieblingssessel befand sich ein Beistelltischchen. Zwei Fernbedienungen und ein Telefon lagen darauf, außerdem eine Ersatzbrille. An den Wänden bunte Gemälde, die vermutlich eher Beths Geschmack entsprochen hatten als dem ihres Mannes. Rebus hockte sich auf die Sofakante, hielt den Teebecher mit beiden Händen fest umschlungen.

»Wenn er es ist, dann war’s Mord. Der Beschreibung des Skeletts zufolge war er wohl auch schon tot, als wir ihn gesucht haben.«

»Die Leiche wurde in Poretoun Woods gefunden?«

Rebus nickte.

»Wir haben den Wald durchsucht, John, das weißt du. Wir hatten Dutzende von Männern … Hunderte von Stunden …«

»Ich weiß.«

Stuart Bloom hatte in Comely Bank gewohnt, im Norden der Innenstadt. Die von seiner Wohnung aus nächste Polizeistelle war das Lothian and Borders Police HQ in der Fettes Avenue – umgangssprachlich auch »Big House« genannt. Dort hatte das Ermittlerteam seinen Stützpunkt eingerichtet, in zwei Räumen, die normalerweise für Besprechungen der polizeilichen Führungsspitze genutzt wurden. DCI Bill Rawlston hatte die Leitung innegehabt, Rebus und ein halbes Dutzend andere CID-Beamte arbeiteten unter ihm. Gleich bei der ersten Gruppenbesprechung hatte Rawlston seinen Leuten mitgeteilt, dass er sich in seinem letzten Jahr vor der Rente befand.

»Ich auch«, war Rebus ihm ins Wort gefallen. Rawlston hatte ihm tief in die Augen geblickt.

»Dann will ich Ergebnisse sehen. Bleibt dran. Und an die Medien wird nichts rausgegeben. Niemand fällt den anderen in den Rücken. Wenn ihr Politik machen wollt, dann gibt’s die Straße runter ein ganzes Parlament. Verstanden?«

Aber sie hatten nachgelassen, Journalisten hatten Informationen bekommen, zwar war niemand den anderen in den Rücken gefallen, dafür hatten sie sich gleich frontal aufeinandergestürzt. Das Team war nie richtig zusammengewachsen, nie wirklich eine Familie geworden.

Rawlston stellte seinen Becher auf das Tischchen neben sich. »Angenommen, er ist es …«

»Dann wird wegen Mordes ermittelt«, stellte Rebus fest. »Und in der Presse werden die ganzen alten Geschichten ausgegraben, wahrscheinlich brüten unsere Leute jetzt schon drüber. Nicht zu vergessen seine Eltern.«

»Hast du gehört, dass die im vergangenen Jahr schon wieder gegen mich vorgegangen sind?« Rawlston sah Rebus nicken. »In deren Augen war das Ganze von Anfang an eine Verschwörung und wir mittendrin. Na ja, jetzt haben sie ja endlich ihre offizielle Entschuldigung vom Big Chief bekommen.«

»Ist ihm auch kaum was anderes übrig geblieben.«

»Er meinte, so wie wir mit den ganzen verdammten Beschwerden umgegangen sind, hätten wir ›institutionelle Arroganz‹ an den Tag gelegt. Der Mann hat vielleicht Nerven!«

»Aber die Ermittlungsergebnisse wurden bisher nicht widerlegt«, ergänzte Rebus. Und dann, als Rawlston nichts darauf entgegnete: »Ich meine mich erinnern zu können, dass die Mutter recht temperamentvoll war – um es mal vorsichtig auszudrücken.«

Rawlston lachte. »Wir haben uns den Arsch aufgerissen, und sie hat es uns kein bisschen gedankt.«

»Eher im Gegenteil.«

»Ich habe meinen Job geliebt, John, aber zum Schluss war ich wahnsinnig erleichtert, in Rente gehen zu dürfen.« Rawlston hielt inne. »Wie war das bei dir?«

»Die mussten mich gewaltsam vor die Tür setzen. Und sogar danach bin ich noch eine Weile zurückgekommen und hab an alten ungelösten Fällen gearbeitet.«

»Und jetzt?«

Rebus atmete aus. »Jetzt scheint der allgemeine Konsens zu sein, dass ich auch dafür zu abgewrackt bin.«

»Also, was führt dich her?«

»Ich dachte einfach, du solltest es wissen. Es wurde bereits ein Team drangesetzt. Vorhin hab ich mich mit denen unterhalten, einen Teil der Geschichte kennen sie also schon. Trotzdem werden sie die alten Fallakten abstauben, mit der Familie sprechen und dann auch mit den Leuten aus dem ersten Ermittlerteam.« Rebus verstummte.

»Wir werden uns erneut verteidigen müssen.« Rawlston schien etwas hinter der Wohnzimmerwand anzustarren. »Ich glaube, ich wusste von Anfang an, dass das so ein Fall ist, den man früher oder später mit ins Grab nimmt. In meinem Fall wohl eher früher.«

Rebus nahm sich einen Augenblick Zeit für die Antwort. »Wie lange hast du noch?«

»Zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Wie ich mir habe sagen lassen, sehe ich wohl so gut aus wie eh und je. Ich treibe Sport, esse mein Gemüse und nehme alle meine verschiedenen Tabletten.« Rawlston rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Hab mein Leben lang nicht geraucht, war aber dreißig Jahre mit einer rauchenden Frau verheiratet. Und am Ende holt mich dann der ganze alte Mist doch noch ein.« Er schaute Rebus an. »Wirst du die Ohren offen halten, John? Sagst du mir, wie’s läuft?«

Rebus nickte. »Kann ich machen.«

»Weißt du, die wollen uns unter die Erde bringen. Solche wie uns wollen die nicht mehr um sich haben. An uns haftet der unangenehme Geruch von früher und die Art, wie man früher Probleme gelöst hat.«

»Du hast vorhin was von einer Verschwörung gesagt, der wir angeblich angehört haben …« Rebus hatte seinen unberührten Tee auf dem Teppich abgestellt und sich jetzt erhoben. »Was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass der Tote im Wagen Handschellen getragen hat?«

»Handschellen?«

»Die Kriminaltechniker werden bald wissen, ob sie aus Polizeibeständen stammen. Wobei natürlich auch das nicht zwangsläufig bedeutet, dass ein Polizist sie ihm angelegt haben muss.«

»Die Chuggabugs?«

Rebus zuckte mit den Schultern. »Hörst du manchmal noch von denen?«

»Sie kamen zu Beths Beerdigung, sind hinterher nicht mehr auf einen Drink geblieben.«

»Sind die noch im Dienst?«

»Wir haben kaum miteinander gesprochen.« Rawlston erhob sich, richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken. Rebus wusste jetzt aber, dass das nur Show war. Der Mann hatte Schmerzen, die nicht mehr verschwinden würden.

»Ich war pflichtbewusst, John«, sagte er leise. »Ich hab nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, hab getan, was ich konnte. Mag sein, dass das nicht genug war, aber wenn du was machen kannst … wenn du verhindern kannst, dass die meinen guten Ruf zerstören …« Rebus nickte langsam. Die beiden Männer sahen sich in die Augen und wussten, dass keiner von beiden vollkommen ehrlich war bei diesem Gespräch.

»Es geht nicht nur um deinen guten Ruf, Bill«, sagte Rebus, und Rawlston trat so dicht an ihn heran, dass er einen Augenblick lang fürchtete, er wolle ihn umarmen. Stattdessen aber tätschelte er ihm nur den Unterarm.

»Ich bring dich zur Tür«, sagte Bill Rawlston leise.

Nachdem er endlich einen Parkplatz für seinen Saab gefunden hatte und Rebus nur noch wenige Schritte von seiner Wohnung in der Arden Street trennten, hörte er, wie hinter ihm eine Autotür geöffnet wurde.

»Hab mich schon gefragt, wann ich dich wiedersehen würde«, sagte er zu Siobhan Clarke.

»Darf ich raufkommen?«

»Ich muss mit Brillo raus.«

»Dann komm ich mit.«

Er streckte ihr eine Hand entgegen, seine Schlüssel baumelten daran. »Die Leine hängt im Flur. Kacktüten sind in der Küchenschublade unter dem Wasserkocher.«

Sie nahm die Schlüssel. »Was ist los mit dir, alter Mann, wird dir das Treppensteigen zu viel?«

»Ich sehe keinen Sinn darin, wenn jüngere Beine zur Verfügung stehen.«

Clarke schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Und sie hatte recht – die unerbittlich steile Treppe ins zweite Stockwerk hinauf wurde allmählich zum Problem für ihn. Immer öfter musste er auf dem ersten Absatz haltmachen, vielleicht sogar einen Zug aus dem Inhalator nehmen. Er hatte überlegt, zu verkaufen und sich etwas Ebenerdiges zu suchen, irgendwas im Erdgeschoss eines größeren Hauses oder einen Bungalow. Vielleicht würde er das auch noch machen.

Brillo bellte vor Aufregung, als Clarke mit ihm nach draußen ging, in eine Welt, in der ihn Eindrücke und Gerüche im Überfluss erwarteten.

»Die Meadows?«, riet sie und wollte Rebus die Leine übergeben.

»Die Meadows, genau«, sagte er, stopfte die Hände in die Taschen und spazierte davon.

»Ich bin nicht so toll mit Hunden«, warnte Clarke ihn, während Brillo an der Leine zog.

»Du machst das super«, ermutigte Rebus sie. Der Himmel war klar, die Temperaturen knapp über Null. Eine Gruppe Studenten zog mit Plastiktüten voller Flaschen an ihnen vorbei.

»Müsste mal wieder aufgeräumt werden«, meinte Clarke.

»Eigentlich solltest du nur in die Küche gehen.«

»Die Küche müsste mal wieder aufgeräumt werden«, korrigierte sie sich.

»Ist das ein Angebot?«

»Ich hab im Moment zu viel um die Ohren. Ich dachte vielleicht, dass du mit Deborah und so …«

»Professor Quant und ich haben eine kleine Auszeit genommen.«

»Oh.«

»Wir sind nicht verkracht oder so. Eigentlich bist du sogar schuld daran.«

»Wieso?«

»Weil du sie so auf Trab hältst.« Rebus hielt inne. »Dein Sutherland scheint ja ganz brauchbar zu sein.«

»Kann mich bislang nicht über ihn beklagen.«

»Ist aber erst Tag eins, Siobhan – es liegen noch jede Menge Totalkatastrophen vor euch. Was ist mit dem Rest der Crew?«

»Auch okay, jedenfalls auf den ersten Blick.«

»Solltest du jetzt nicht eigentlich bei den anderen sein, dich beim Feierabendbier mit ihnen anfreunden?«

»Du weißt, warum ich hier bin, John.«

»Sag’s mir.«

»Ich will die ganze Geschichte hören.«

»Du meinst, ich hab Sutherland nicht alles erzählt?«

»Wäre das erste Mal, dass du gleich vollständig auspackst.«

»Ich hab aber nicht gelogen, das musst du mir lassen. Seid ihr weitergekommen, seit ich weg bin?«

»Nicht wirklich.« Sie holte tief Luft. »Stuart Bloom war also Privatermittler und von einem Mann namens Jackie Ness engagiert worden, um Erkundigungen über ein Grundstücksgeschäft einzuholen. Ness hat seit vielen Jahren mit einem gewissen Adrian Brand konkurriert …«

»Inzwischen Sir Adrian Brand.«

»Brand wollte ein bestimmtes Grundstück kaufen und einen Golfplatz dort bauen; Ness hielt dasselbe Grundstück aber für ideal, um ein Filmstudio einzurichten. Er dachte, Brand würde Leute schmieren, um sich den Zuschlag zu sichern, aber er konnte es nicht beweisen.«

»Und da kam Stuart Bloom ins Spiel.«

»Er war ausgebildeter Journalist, hatte Informatik studiert und wusste, wie man Computer hackt. Außerdem führte er mehr oder weniger offen eine Beziehung mit einem Uni-Dozenten namens …«

»Derek Shankley.«

»Shankleys Vater Alex war beim CID Glasgow …«

»Bei der Mordkommission, um genau zu sein.« Jetzt hatten sie den Melville Drive erreicht, und vor ihnen lagen die Meadows, ein großer von Bäumen eingefasster Sportplatz, dahinter das alte Krankenhaus und die Universität. Rebus griff nach unten und ließ Brillo von der Leine. Der kleine, drahtige Hund sprang davon. Clarke und Rebus blieben, wo sie waren, sahen Brillo hinterher, der jetzt langsamer wurde und sein Territorium beschnüffelte.

»An dem Abend, an dem Bloom verschwand«, fuhr Clarke fort, »hatte er kurz zuvor noch Jackie Ness zu Hause besucht und ihm berichtet.«

»Im palastartigen Poretoun House«, bekräftigte Rebus.

»Das zufällig an Poretoun Woods grenzt. Und wie sich jetzt herausgestellt hat, lag dort all die Jahre lang Blooms Leiche.«

»Wenn er’s ist.«

»Wenn er’s ist«, lenkte Clarke ein. »Tess Leighton legt eine Spätschicht ein und überprüft die anderen Vermisstenfälle aus der Zeit.« Sie drehte sich zu ihm um. »Und die CCU hat sich eingeschaltet, weil …?«

»Zum einen, weil sich die Familie beschwert hat, wir würden zu wenig unternehmen, um den Fall aufzuklären. Sie hatten den Liebhaber in Verdacht und fanden, wir würden zu sanft mit ihm verfahren.«

»Wegen seines Vaters?«

»Alex Shankley war mal ein abgebrühter Glasgower Polizist. Ein echter Kerl. Samstags Fußball, sonntags Rinderbraten zum Mittagessen. Während der Woche hat er messerstechenden Gangstern und anderem Abschaum das Leben schwer gemacht.« Rebus unterbrach sich.

»Hat er sich wegen seines Sohns geschämt?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber uns wurde zugetragen, man wisse es sehr zu schätzen, wenn Derek möglichst nicht erwähnt würde. Heutzutage wäre das gar nicht so einfach, aber damals gab’s eine ganze Menge freundlich gesinnter Journalisten.«

»Aber warte mal. Bloom war doch ursprünglich selbst Journalist gewesen. Wollten die von der Presse nicht herausfinden, was ihrem ehemaligen Kollegen zugestoßen war?«

Rebus zuckte mit den Schultern. »Er war nicht lange genug in dem Beruf tätig gewesen, um sich in der Branche viele Freunde zu machen.«

»Okay, also was war mit dem Treffen mit Jackie Ness?«

»Eine ganz gewöhnliche Besprechung bei Ness zu Hause. Bloom erhielt die Anweisung, weiterzumachen wie bisher.«

»Was hatte er bis dahin gemacht?«

»Sich umgehört, ein paar Leuten ein paar Drinks spendiert, sich in Computer gehackt …«

»Als er verschwunden war, habt ihr euch da auch seinen Computer angesehen?«

»Ich persönlich nicht, aber andere aus unserem Team. Er hatte eigentlich kein Büro in dem Sinne, er hat zu Hause gearbeitet. Allerdings haben wir seinen Laptop nie gefunden – oder muss ich jetzt ›Notebook‹ sagen? Sein Handy auch nicht. Wir wussten nur, dass er in den Wochen nach seinem Verschwinden keine E-Mails geöffnet, nicht telefoniert und kein Geld am Automaten abgehoben hat.«

»Dachtest du, dass er tot ist?«

Rebus nickte. »Streit mit seinem Freund, oder vielleicht hatte er auch den falschen Fremden aus dem Club mitgenommen, war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.«

»Angenommen, er hätte versucht, bei Adrian Brand zu Hause oder in dessen Büro einzubrechen«, spekulierte Clarke.

»Wir haben alle vernommen, die wir vernehmen konnten, die meisten davon mehr als einmal. Damals gab es noch nicht so viele Überwachungskameras, trotzdem war es nicht einfach, sich praktisch in Luft aufzulösen. Wir haben darauf gewartet, dass jemand den Mund aufmacht und redet, aber das ist nicht passiert.«

»Seine Eltern sind auf dem Weg hierher«, sagte Clarke seufzend.

»Woher?«

»Sie wohnen inzwischen in der Nähe von Dumfries.«

»Meinst du, die werden ihn identifizieren können?«

»Läuft wohl eher auf einen DNA-Abgleich hinaus. Graham wird Jackie Ness bitten, einen Blick auf die Klamotten zu werfen. Anscheinend war er der Letzte, der Bloom lebend gesehen hat. Derek Shankley werden sie auch befragen. Weißt du noch, was Bloom am Abend seines Verschwindens getragen hat?«

Rebus schüttelte den Kopf.

»Laut Zeitungsberichten ein kariertes rotes Hemd, eine Jeansjacke und Jeans – dieselben Klamotten haben wir an der Leiche im Polo gefunden.« Sie starrte ihn an. »Ich muss wissen, was du mir nicht erzählst, John.«

»Das war’s mehr oder weniger.«

»Glaube ich dir nicht.«

»Ich freu mich, dich zu sehen, Shiv. Ich wünschte nur, unser Treffen müsste nicht so enden.«

Ihre Augen wurden größer. »Wie enden?«

Rebus nickte in die Richtung, in der Brillo hockte und sein Geschäft machte. »Du hast die Kackbeutel.«

Clarkes Handy vibrierte. Sie machte ein gespielt enttäuschtes Gesicht und übergab Rebus das kleine schwarze Plastiktütchen. »Den muss ich annehmen«, sagte sie.

Als Rebus zurückkehrte, mit Brillo an der Leine, fragte er sie, wer angerufen hatte.

»Niemand«, sagte sie, wobei es ihr nicht gelang, ihre Irritation zu verbergen.

»Klingt nicht nach niemand.«

»Ich bekomme in letzter Zeit Anrufe von einer 0131-Nummer, aber immer, wenn ich drangehe, wird aufgelegt.«

»Und du kennst die Nummer nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Hast du mal versucht zurückzurufen?«

»Einmal. Hat sich niemand gemeldet.«

»Ist auch keine Mailbox angesprungen?« Rebus zeigte auf ihr Handy. »Probier noch mal. Dann hast du was zu tun, bis ich da drüben am Mülleimer war.«

Als er das Tütchen weggeworfen hatte, ging sie auf ihn zu.

»Gerade ist jemand drangegangen«, erklärte sie. »In einer Telefonzelle in der Canongate.«

»Und wer?«

»Klang nach einem Touristen. Er meinte, er wäre nur zufällig vorbeigekommen.«

»Schon rätselhaft. Wie oft ist das jetzt passiert, hast du gesagt?«

»Weiß nicht. Zehn-, zwölfmal ungefähr.«

»Und immer dieselbe Nummer?«

Sie schaute auf ihr Display nach den kürzlich eingegangenen Anrufen. »Zwei unterschiedliche Nummern.«

»Dann probier’s noch mal mit der anderen, vielleicht liegt ja dort die Lösung. Ein Detective würde das jedenfalls so machen, DI Clarke.« Kurz grinsten sie sich an, aber dann musste Rebus husten.

»Die Kälte ist Gift für mich«, meinte er.

»Aber sonst geht’s dir gut?«

»Wie’s aussieht, hab ich einen weiteren Winter überlebt. Hatte vergangene Woche meinen jährlichen Spirometrie-Check – da war die Lunge bei siebzig Prozent.«

»Noch ist der Winter nicht vorbei. Angeblich kommt noch Schnee von Russland rüber, vielleicht sogar eine ganze Menge.«

»Ein guter Grund, drinnen zu bleiben.«

»Ein bisschen abgenommen hast du auch, das hilft doch bestimmt.«

»Wer kann sich von seiner Polizeirente schon noch was zu essen leisten? Wobei das natürlich auch Vorteile hat.«

»Zum Beispiel?«

»Wenn ich mir eine Infektion einfange, könnte das mein Tod sein – und das ist der perfekte Vorwand, nicht unter Leute zu gehen. Außerdem darf ich keine luftverschmutzten Großstädte wie London besuchen.«

»Wolltest du nach London?«

»Im Leben nicht.« Rebus’ Blick wanderte zu Brillo. »Übrigens weiß ich das mit der ACU«, gestand er.

»Woher?«

»Du bist nicht die einzige ehemalige Kollegin, mit der ich mich hin und wieder unterhalte. Wieso hast du nichts gesagt?«

»Was gibt es da zu sagen?«

»Du lieber Gott, Shiv, so oft, wie die mich schon verwarnt haben, ich bin ein wandelnder Leitfaden für den Umgang mit diesen Arschlöchern.«

»Vielleicht wollte ich es auf meine Art regeln, nicht auf deine. Außerdem war’s keine große Sache. Die haben im Trüben gefischt, mehr nicht, wie die CCU bei ihrer Überprüfung der Ermittlungen im Fall Stuart Bloom.« Sie schwieg einen kurzen Moment. »Es sei denn, natürlich, du und deine Leute habt tatsächlich was unter den Tisch gekehrt?«

»Kein Kommentar, Euer Ehren.« Fast dreißig Sekunden lang blieben sie schweigend voreinander stehen. Ein einsamer nächtlicher Jogger war noch unterwegs; Verkehr gab es kaum; ein paar Hunde liefen auf den nahe gelegenen Bruntsfield Links um die Wette einem Ball hinterher, weshalb Brillo die Ohren spitzte.

»Wenn du keine Angst vor Keimen hast«, sagte Rebus schließlich, »können wir noch auf einen Kaffee zu mir gehen.«

Clarke schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Hause. Wahrscheinlich sehe ich morgen Deborah, soll ich ihr was von dir ausrichten?«

»Nichts, was ich ihr nicht selbst sagen könnte.« Rebus hielt inne. »Aber behalt das mit der Küche für dich.«

Clarke fiel ein, dass die Canongate sowieso auf ihrem Heimweg lag, bog an der North Bridge rechts ab und hielt nach Telefonzellen Ausschau. Nicht weit vom John-Knox-Haus, vor einem Kilt-Geschäft, standen gleich zwei – noch auf Touristengebiet. Sie fuhr weiter und stellte fest, dass es auf der Straße ruhiger –und auch dunkler – wurde, je weiter sie bergab bis dorthin fuhr, wo die moderne Silhouette des schottischen Parlaments sich vor dem alten, düsteren Gemäuer des Holyrood Palace gegenüber erhob. Sie drehte eine Runde im Kreisverkehr und fuhr wieder zurück. Die Telefonzellen vor dem Kilt-Geschäft waren die einzigen, die sie gesehen hatte, weshalb sie jetzt am Straßenrand hielt und ausstieg. Keine der beiden wirkte unbedingt einladend, die Fensterscheiben waren verdreckt und dank der Aufkleber, die nicht vollständig wieder entfernt worden waren, auch undurchsichtig.

Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer. In der Zelle direkt neben ihr klingelte es, woraufhin sie den Anruf abbrach und die Tür aufzog. Der Uringestank war nicht einmal besonders stark, setzte sich aber sofort in ihrer Nase fest. Sie betrachtete das Innere der Zelle genau, auch den Boden, entdeckte jedoch nichts von Interesse. Dann ließ sie die Tür zufallen und wählte die zweite unbekannte Nummer. Tatsächlich klingelte es jetzt in der anderen Zelle. Clarke schaute die Straße auf und ab, reckte den Hals, um alle Fenster abzusuchen. Ihr Handy zeigte die Uhrzeiten und Daten an, zu denen sie die verschiedenen Anrufe erhalten hatte. Zwei am frühen Nachmittag, aber die meisten zwischen sieben und neun Uhr abends, einer um Mitternacht. War es jemand hier aus der Gegend gewesen? Und hatte er ein öffentliches Telefon benutzt, damit die Anrufe nicht zurückverfolgt werden konnten? Ihr kam das wie eine sehr altmodische Lösung vor. Wollte man anonym bleiben, ging das auch mit einem Handy; man musste nur die eigene Rufnummer unterdrücken. Aber natürlich konnte man dahinterkommen. Polizisten wussten das. Steckte jemand in Schwierigkeiten? Oder hatte jemand ihre Nummer versehentlich erhalten? Vielleicht rechnete der Anrufer damit, eine Männerstimme am anderen Ende zu hören. Oder es handelte sich einfach nur um einen Streich. Sie hatte auch schon von automatisierten Anrufen gehört, mithilfe derer überprüft wurde, ob bestimmte Verbindungen und Systeme funktionierten. Alles Mögliche konnte dahinterstecken.

Gegenüber gab es ein Pub namens McKenzie’s, und sie war versucht hineinzugehen. Aber sie hatte noch jede Menge Gin zu Hause, außerdem auch das nötige Tonic Water und Zitrone. Ein Mann trat mit einer Zigarette aus dem schlecht beleuchteten Innenraum nach draußen. Sie ging zu ihm, nickte zur Begrüßung.

»Ist das Ihre Stammkneipe?«, fragte sie.

»Klar.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit aufgefallen, dass jemand aus den Telefonzellen da drüben gekommen ist?« Sie zeigte darauf.

Er hielt den Rauch in der Lunge, bevor er ihn wieder ausstieß. »Wer benutzt denn heutzutage noch Telefonzellen?«

»Hat nicht jeder ein Handy.«

»Fast wäre ich drauf reingefallen. Sind Sie von der Polizei?«

»Kann sein.«

»Was ist denn los?«

»Nur ein paar anonyme Anrufe.«

»Wo einer schwer atmet, meinen Sie? Du liebe Zeit, da fällt mir was ein. Ist meiner Frau auch mal passiert, ist aber schon Jahre her.«

»Und im Pub – sind da in letzter Zeit neue Gesichter aufgetaucht?«

»Hauptsächlich sind hier Amerikaner und Chinesen, die wollen Kaffee und was zu essen. Heutzutage verdienen die mehr Geld mit dem Essen als mit den Getränken. Soll ich die Telefonzellen mal im Auge behalten?«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Sie fand eine Visitenkarte in ihrer Tasche. »Ich bin zurzeit am Gayfield Square, aber Sie können dort jederzeit eine Nachricht für mich hinterlassen.«

»Siobhan ist ein schöner Name«, sagte er und schaute auf die Karte.

»Fanden meine Eltern auch.«

»Darf ich Sie auf einen Drink einladen, Siobhan?«

Clarke runzelte scherzhaft die Stirn. »Was würde Ihre Frau dazu sagen?«

»Sie würde sagen: ›Robbie, ich hätte nicht gedacht, dass du’s noch so draufhast.‹«

Clarke war schon wieder fast am Wagen, da lachte er immer noch.

Sie fuhr ihre ganze Straße ab und fand nirgends einen Parkplatz, schließlich stellte sie sich um die Ecke auf eine gelbe Linie. Sie konnte ja ein Polizeischild aufs Armaturenbrett legen, wobei sie aus Erfahrung wusste, dass so was von Vandalen praktisch als Aufforderung verstanden wurde, den Wagen zu beschädigen. Stattdessen wollte sie lieber daran denken, den Astra umzuparken, bevor die Kollegen von der Verkehrsstreife ihre Morgenschicht antraten. Ein paar Nachtschwärmer zogen mit Fast-Food-Behältern die Broughton Street herunter; ihre Stimmen klangen heiser vom vielen Lachen. Aus einem Fenster drang laut stampfende Musik, Gott sei Dank aber aus dem Haus gegenüber. In einem parkenden Wagen saß jemand. Das Gesicht wurde vom Display eines Handys erleuchtet, aber als Clarke ihren Schlüssel gefunden und die Tür aufgeschlossen hatte, war es schon wieder dunkel. Sie achtete darauf, dass die Tür hinter ihr sicher ins Schloss fiel.

Das Treppenhaus war gut beleuchtet und unverdreckt. Abgesehen von der üblichen Werbung wartete keine Post auf sie. Sie stieg in ihr Stockwerk hinauf, schloss die Wohnungstür auf, machte Licht im Flur und fragte sich, wie es wohl wäre, von Brillo oder einem anderen Hund begrüßt zu werden. Wäre vielleicht ganz schön, nach Hause zu kommen und erwartet zu werden. In der Küche ließ sie Wasser in den Kessel laufen. So schlimm hatte es bei Rebus gar nicht ausgesehen, fand sie jetzt mit Blick auf das schmutzige Geschirr in ihrer eigenen Spüle. Während das Wasser allmählich kochte, ging sie ins Wohnzimmer, blieb kurz am Fenster stehen. Den Wagen unten konnte sie gerade so noch erkennen, die Fahrerseite war jetzt wieder erleuchtet. Sie sah, wie die Scheibe herunterglitt, ein Handy herausgeschoben und auf ihre Haustür gerichtet wurde. Dann blitzte es einmal auf, anscheinend hatte der Mann das Haus fotografiert.

»Was soll das, verdammt noch mal?«, murmelte Clarke. Sie beobachtete den Wagen einen Augenblick länger, dann lief sie zurück in den Flur, schnappte sich ihre Schlüssel und ging zur Treppe. Bis sie die Wohnungstür unten jedoch aufgerissen hatte, lief bereits der Motor des Wagens. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet, die Räder setzten sich in Bewegung, während der Fahrer ausparkte. Sie konnte ihn nicht erkennen, keine Ahnung, ob es ein Mann oder eine Frau war. Sie stolperte über den Bordstein, brauchte einen Moment, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Danach war der Wagen bereits in die Broughton Street abgebogen und verschwunden. Keine Steuermarke, kein Kennzeichen. Sie starrte die Lücke an, wo der Wagen gestanden hatte, und beschloss, ihren jetzt sofort umzuparken.

»Hat eben doch immer alles auch sein Gutes, Siobhan«, sagte sie zu sich selbst.

Mittwoch

4

Der Parkplatz vor dem Leichenschauhaus war fast voll, als Clarke eintraf. Sie hatte sich schnell in ihrem Stammcafé um die Ecke einen Kaffee geholt und diesen auf dem Weg zum Personaleingang noch in der Hand. Die meisten Mitarbeiter kannten sie und nickten ihr zu. Der Autopsiesaal befand sich im ersten Stock, weshalb sie die Treppe nahm und dann die letzte Tür im Gang dort öffnete. Sie führte in den Zuschauerbereich. Es gab zwei Reihen mit Bänken, eine Scheibe trennte die Zuschauer von dem Raum, in dem das eigentliche Geschehen stattfand. Sutherlands Team hatte sich bereits hier versammelt. Sie konzentrierten sich auf das, was über die an der Decke befestigten Lautsprecher übertragen wurde, während Professor Deborah Quant und Professor Aubrey Hamilton das gemeinsame Vorgehen besprachen. Beide Frauen trugen die vorgeschriebenen Kittel, Schuhschoner, Atemmasken, Kappen und Schutzbrillen. Quant war die größere der beiden, woran sie sich gut erkennen ließ, wenn beide den Zuschauern den Rücken zukehrten. Mitarbeiter wuselten mit Instrumenten, Schüsseln und Geräten aus Edelstahl und transparenten Probetütchen in den verschiedensten Größen umher. Eine Waage stand bereit, obwohl Clarke stark bezweifelte, dass es noch Organe zu wiegen gab. Graham Sutherland war nicht der Einzige, der einen neidischen Blick auf Clarkes Kaffee warf.

»Was hab ich verpasst?«, fragte sie.

»Gerade wird die Kleidung entfernt.« Er reichte ihr eine Reihe von Fotos. Darauf war Stuart Bloom zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Alter und in einer Reihe von Posen zu sehen. Auf einer der jüngeren Aufnahmen trug er offenbar dieselbe Jacke und dasselbe Hemd wie an dem Abend, an dem er verschwand. Als Clarke näher an die Scheibe trat, sah sie die Jeansjacke und das karierte Hemd, die in Teile zerschnitten und von dem Kadaver entfernt worden waren, wobei allerdings auch etwas Haut mit abgezogen wurde. Was jetzt auf dem Seziertisch lag, wirkte wie eine Requisite aus einem Horrorfilm. Mithilfe von Pinzetten wurden Haarproben vom Kopf und den Augenbrauen genommen, ein Fingernagel gezogen und die winzigen Glassplitter von dem zerschlagenen Fenster abgezupft.

»Offensichtlich haben sich im Lauf der Jahre auch ein paar Tiere an ihm zu schaffen gemacht«, kommentierte Sutherland.

»Ich dachte, der Kofferraum war fest geschlossen und die Fensterscheibe noch intakt?«

Er sah sie an. »Ich meine, Käfer und dergleichen. Der Verwesungsgeruch zieht sie an, die finden immer einen Weg.« Pathologen und Anthropologen betrachteten nun den Schädel, Quant zeichnete Kreise mit dem Finger um die verletzte Stelle. Dann widmeten sie sich dem Kiefer, untersuchten die Zähne.

»Gibt’s zahnärztliche Unterlagen?«, fragte Clarke. Sutherland nickte und wandte sich an George Gamble. Während die anderen Detectives standen, war Gamble sitzen geblieben, die speckigen Hände ruhten auf seinen dicken Knien.

»Sind unterwegs«, erwiderte Gamble.

Sutherlands Blick traf den von Clarke. »Die CCU hat sich bereit erklärt, die Akten freizugeben. Ein paar Dutzend Kisten und ebenso viele Disketten. Wird alles aus dem Lager zu uns geschafft.«

»Wie schön«, erwiderte Tess Leighton gedehnt.

»Du wirst was zu lesen bekommen, Tess«, sagte Callum Reid grinsend.

»Ihr werdet alle was zu lesen bekommen«, korrigierte ihn Sutherland. »Wir sind ein Team, schon vergessen?«

Leighton hob tadelnd einen Finger Richtung Reid, woraufhin dieser die Nase rümpfte und sich anschließend wieder der Autopsie widmete. Die Tür ging auf, ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses stand dort bekleidet mit einem Overall und halbhohen Gummistiefeln.

»Wir könnten mal jemanden von euch am Empfang gebrauchen«, sagte er. »Die wollen hier einfach reinplatzen.«

»Wer sind ›die‹?«, fragte Sutherland. Clarke hatte bereits eine Vermutung.

»Die Eltern?« Der Assistent nickte.

»Und sie haben einen Reporter mitgebracht«, setzte er hinzu.

»Nehmen Sie sie in Empfang, Siobhan«, sagte Sutherland. »Wir werden sowieso jemanden für den DNA-Abgleich brauchen.«

»Aber was soll ich sagen?«

Sutherland rang sich ein Schulterzucken ab, das nicht ausschließlich wohlwollend wirkte. Er war mit den Gedanken längst wieder bei der Autopsie, zumal jetzt die Fußknöchel – noch mit den Handschellen gefesselt – fotografiert, untersucht und diskutiert wurden.

Als Clarke dem Mitarbeiter in den öffentlichen Wartebereich folgte, versuchte sie, sich ihre Verärgerung möglichst nicht anmerken zu lassen. Dort wartete bereits eine weitere Mitarbeiterin in weißer Bluse und schwarzer Hose. Sie hatte sich von ihrem Platz am Schreibtisch erhoben, stand jetzt mit ausgestreckten Armen da, als wollte sie eine Wand zwischen den Besuchern und der Treppe hinter sich bilden. Der erste Mitarbeiter blieb zurück, ließ Clarke alleine zu seiner Kollegin an der Anmeldung gehen.

»Ich bin Detective Inspector Clarke«, stellte sie sich vor, hielt ihren Dienstausweis hoch. Was den gewünschten Effekt erzielte – manchmal funktionierte es tatsächlich, manchmal allerdings auch nicht. Die Besucher richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie. Anhand der Fotos, die sie im Netz gesehen hatte, erkannte sie Stuart Blooms Eltern. Dem Aussehen nach waren sie Anfang sechzig. Blooms Mutter Catherine trug einen eleganten schwarzen Mantel. Ihre Haare waren silbergrau und kurz geschnitten, was sehr gut zu ihrer Gesichtsform passte. Mit ihrem Ehemann war die Zeit nicht ebenso gnädig verfahren. Auf den Fotos hatte er gequält gewirkt und überließ auch jetzt größtenteils seiner Frau das Reden. Martin Bloom war Steuerprüfer gewesen und möglicherweise immer noch berufstätig. Sein Anzug und die eng gebundene Krawatte sahen aus, als würde er sie mehr oder weniger täglich tragen. Die Haare hätten mal wieder geschnitten werden müssen, und aus beiden Ohren wucherten graue Haare.