Im Namen der Toten - Inspector Rebus 16 - Ian Rankin - E-Book

Im Namen der Toten - Inspector Rebus 16 E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Ian Rankin – der Meister des Spannungsromans!

Sommer 2005. Die ganze Welt blickt auf Edinburgh, Gastgeber des G8-Gipfels. Die Stadt ist im Ausnahmezustand, und für die Sicherheitsvorkehrungen wird jeder Mann gebraucht. Nur einer ist zum Stillsitzen verdonnert: Detective Inspector John Rebus. Zu groß ist die Angst, der ewig aufmüpfige Rebus könnte in dieser angespannten Situation für Ärger sorgen. Doch als Spuren gefunden werden, die auf eine Mordserie hindeuten, fackelt Rebus nicht lange und macht sich an die Ermittlungen – die ihn prompt in den Dunstkreis des G8-Treffens führen …

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Seitenzahl: 770

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Buch

Sommer 2005. Die ganze Welt schaut auf Schottland, wo sich im Luxushotel Gleneagles die Oberhäupter der G8-Staaten treffen. Die Polizei hat bereits im Vorfeld alle Hände voll zu tun, nur Inspector Rebus wurde trotz der angespannten Lage zum Stillsitzen verdonnert. Zu groß ist die Sorge, der ewig aufmüpfige Rebus könnte für Ärger sorgen. Bis an einem geheimnisumwitterten Ort bei Auchterarder – und damit in der Nähe des illustren Hotels – Spuren gefunden werden, die auf eine Mordserie hindeuten. Seine Opfer sucht der Killer offenbar unter kürzlich entlassenen Sexualstraftätern. Dreimal hat er bereits zugeschlagen, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das nächste Opfer gefunden wird. Rebus ist der einzige, der den Fall übernehmen kann, und seine Ermittlungen führen ihn prompt in den Dunstkreis des G8-Treffens, von dem er eigentlich um jeden Preis ferngehalten werden sollte …

Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Im Namen der Toten

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Juliane Gräbener-Müller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Naming of the Dead« bei Orion Books Ltd., London.

Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2006 by John Rebus Limited

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: W. Malgorzata Larys / arcangel imeas

Redaktion: Irmgard Perkounigg

Th · Herstellung: mw

ISBN: 978-3-641-01284-7V005

www.goldmann-verlag.de

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All denen gewidmet, die am 2. Juli 2005 in Edinburgh waren

Wir haben die Wahl, uns jeden Tag für eine neue Welt einzusetzen, jeden Tag zu sagen, was wir von der Wahrheit wissen, jeden Tag kleine Schritte zu gehen.

A. L. Kennedy über die Demonstration gegen den G8-Gipfel von Gleneagles

Schreibt uns ein Kapitel, auf das wir stolz sein können.

Bono in einer Botschaft an den G8-Gipfel

Seite eins

Die Aufgabe des Blutes

Freitag, 1. Juli 2005

1

Anstelle eines Schlussgesangs ertönte Musik. The Who, »Love Reign O’er Me«. Rebus erkannte es in dem Moment, als Donnerschläge und prasselnder Regen die Kapelle erfüllten. Er saß in der ersten Bank; Chrissie hatte darauf bestanden. Er hätte lieber weiter hinten gesessen, sein üblicher Platz bei Begräbnissen. Chrissie saß neben ihrem Sohn und ihrer Tochter.

Einen Arm um sie gelegt, tröstete Lesley ihre Mutter, als der die Tränen kamen. Kenny starrte geradeaus und sparte sich seine Gefühle für später auf. Morgens im Haus hatte Rebus ihn nach seinem Alter gefragt: Er wurde im nächsten Monat dreißig. Lesley war zwei Jahre jünger. Bruder und Schwester sahen ihrer Mutter ähnlich, was Rebus daran erinnerte, dass die Leute dasselbe von Michael und ihm gesagt hatten: Ihr seid eurer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Michael … Mickey, um genau zu sein. Rebus’ jüngerer Bruder, im Alter von vierundfünfzig tot in einer Kiste mit polierten Griffen, Schottlands Sterblichkeitsrate wie die eines Landes der Dritten Welt. Lebensstil, Ernährung, Gene – jede Menge Theorien. Der ausführliche Obduktionsbericht war noch nicht fertig. Massiver Schlaganfall, hatte Chrissie Rebus am Telefon gesagt und ihm versichert, Mickeys Tod sei »ganz plötzlich« gekommen – als würde es dadurch besser.

Plötzlich bedeutete, dass Rebus sich nicht mehr hatte verabschieden können. Es bedeutete, dass seine letzten Worte an Michael ein Witz über dessen geliebte Raith Rovers gewesen waren, am Telefon, drei Monate zuvor. Ein blau-weißer Raith-Fanschal war neben den Kränzen auf dem Sarg drapiert worden. Kenny trug eine Krawatte, die seinem Vater gehört hatte, mit dem Wappen der Raith Rovers darauf – irgendein Tier, das eine Gürtelschnalle hielt. Rebus hatte nach dessen Bedeutung gefragt, aber Kenny hatte nur die Achseln gezuckt. Als Rebus’ Blick an der Kirchenbank entlangwanderte, sah er, wie der Platzanweiser eine Geste machte. Alles erhob sich. Chrissie ging, von ihren Kindern flankiert, den Mittelgang hinunter. Der Platzanweiser sah zu Rebus hinüber, aber der blieb, wo er war. Setzte sich wieder, damit die anderen wussten, dass sie nicht auf ihn zu warten brauchten. Das Stück war erst gut zur Hälfte vorbei. Es war das letzte auf Quadrophenia. Michael war großer Who-Fan gewesen, während Rebus die Stones lieber mochte. Er musste allerdings zugeben, dass Alben wie Tommy und Quadrophenia etwas gelang, was die Stones nicht schafften. Daltrey schrie gerade, er könne einen Drink gebrauchen. Dem konnte Rebus sich nur anschließen, aber da war noch die Rückfahrt nach Edinburgh.

Man hatte den Veranstaltungsraum eines örtlichen Hotels gemietet. Alle seien willkommen, hatte der Pfarrer von der Kanzel herunter gesagt. Man würde Whisky und Tee ausschenken und Sandwiches servieren. Es würde Anekdoten und Erinnerungen geben, Lächeln, Augenbetupfen, gedämpfte Geräusche. Die Bedienung würde sich aus Rücksicht auf die Trauergemeinde leise bewegen. Rebus versuchte, sich im Kopf Sätze zurechtzulegen, Worte, die als Entschuldigung dienen sollten.

Ich muss zurück, Chrissie. Die Arbeit.

Er könnte lügen und die Schuld auf den G8-Gipfel schieben. Morgens im Haus hatte Lesley gemeint, er sei sicher eifrig mit den Vorbereitungen beschäftigt. Da hätte er ihr sagen können, ich bin anscheinend der einzige Polizist, den sie nicht brauchen. Aus allen Teilen des Landes wurden Polizeibeamte zusammengezogen. Allein aus London kamen fünfzehnhundert. Nur für Detective Inspector John Rebus schien man keine Verwendung zu haben. Jemand muss die Stellung halten – das waren die Worte, die DCI James Macrae benutzt hatte, während sein Assistent hinter ihm süffisant lächelte. DI Derek Starr hielt sich eindeutig für Macraes Thronerben. Eines Tages würde er das Polizeirevier am Gayfield Square leiten. John Rebus, kaum mehr als ein Jahr vor seiner Pensionierung, stellte keine ernsthafte Bedrohung dar. Starr selbst hatte genau das schon einmal formuliert: Niemand würde es Ihnen übelnehmen, wenn Sie es langsam angehen ließen, John. Das würde jeder in Ihrem Alter machen. Vielleicht, aber die Stones waren älter als Rebus; Daltrey und Townshend auch. Und immer noch produktiv, immer noch auf Tour.

Das Stück ging jetzt zu Ende, und Rebus erhob sich wieder. Er war allein in der Kapelle. Warf einen letzten Blick auf den purpurroten Samtschirm. Vielleicht stand der Sarg noch dahinter; vielleicht war er bereits in einen anderen Teil des Krematoriums geschoben worden. Er dachte an seine Jugend zurück, zwei Brüder, die in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer Singles aus dem Laden unten in der Kirkcaldy High Street hören. »My Generation« und »Substitute«, und Mickey fragt, warum Daltrey bei dem ersten Titel stottert, worauf Rebus antwortet, er habe irgendwo gelesen, dass es von den Drogen komme. Die einzige Droge, die die Brüder sich damals genehmigten, war Alkohol, den sie schluckweise aus den Flaschen in der Speisekammer stibitzten, eine Dose mit widerlichem Stout, die sie öffneten und nach dem Lichtausmachen zusammen tranken. Er erinnerte sich, wie sie an der Kirkcaldy-Promenade stehen, aufs Meer hinausschauen und Mickey »I Can See For Miles« singt. Aber konnte das überhaupt sein? Die Platte kam 1966 oder 1967 raus, als Rebus Soldat war. Musste wohl bei einem Urlaub zu Hause gewesen sein. Ja, Mickey mit seinen schulterlangen Haaren, der versuchte, wie Daltrey auszusehen, und Rebus mit seinem Armeekurzhaarschnitt, der Geschichten erfand, um das Soldatenleben aufregend erscheinen zu lassen, Nordirland noch vor sich …

Damals waren sie einander nah gewesen. Rebus hatte immer Briefe und Postkarten geschickt, und sein Vater war stolz auf ihn gewesen, stolz auf seine beiden Jungs.

Eurer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Er trat hinaus, die Zigarettenschachtel schon geöffnet in der Hand. Um ihn herum standen andere Raucher. Sie nickten ihm zu, scharrten mit den Füßen. Trauergäste studierten die verschiedenen Kränze und Karten, die man neben der Tür aufgereiht hatte. Darauf waren bestimmt die üblichen Wörter wie »Anteilnahme«, »Verlust« und »Trauer« zu lesen, die Familie »immer in unseren Gedanken«. Keine namentliche Erwähnung von Michael. Der Tod hatte sein eigenes Protokoll. Die jüngeren Trauergäste sahen auf ihren Handys nach, ob sie SMS bekommen hatten. Rebus holte seins aus der Tasche und schaltete es an. Fünf entgangene Anrufe, alle von derselben Nummer. Rebus kannte sie auswendig, drückte die Knöpfe und hielt sich das Handy ans Ohr. Detective Sergeant Siobhan Clarke ging sofort ran.

»Ich habe den ganzen Morgen versucht, Sie zu erreichen«, beschwerte sie sich.

»Ich hatte es ausgeschaltet.«

»Wo sind Sie überhaupt?«

»Immer noch in Kirkcaldy.«

Ein tiefer Atemzug am anderen Ende. »Verdammt, das hatte ich total vergessen, John!«

»Kein Problem.« Er beobachtete, wie Kenny seiner Mutter die Autotür aufhielt. Lesley gab Rebus mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich auf den Weg zum Hotel machten. Das Auto war ein BMW, offenbar ging es Kenny als Maschinenbauingenieur nicht schlecht. Er war nicht verheiratet; hatte eine Freundin, die es aber nicht geschafft hatte, zur Beerdigung zu kommen. Lesley war geschieden, Sohn und Tochter machten gerade mit ihrem Vater Ferien. Rebus nickte ihr zu, als sie hinten einstieg.

»Ich dachte, das wäre erst nächste Woche«, sagte Siobhan gerade.

»Rufen Sie vielleicht an, um ein bisschen zu prahlen?« Rebus steuerte auf seinen Saab zu. Siobhan war die letzten zwei Tage zusammen mit Macrae in Perthshire gewesen, wo sie sich über die Sicherheitsvorkehrungen für den Gipfel informieren ließen. Macrae und der Assistant Chief Constable von Tayside waren alte Kumpel. Alles, was Macrae wollte, war, sich einmal richtig umzuschauen, und den Wunsch erfüllte sein Freund ihm gern. Die Regierungschefs der G8 würden im Gleneagles Hotel am Rand von Auchterarder zusammenkommen, mit nichts als endloser Wildnis und kilometerlangen Sicherheitsabsperrungen um sich herum. Die Medien hatten die schauerlichsten Geschichten verbreitet. Berichte über dreitausend US-Marines, die zum Schutz ihres Präsidenten in Schottland einträfen. Geheimpläne von Anarchisten, wonach Straßen und Brücken mit entwendeten Lastwagen blockiert werden sollten. Bob Geldof hatte zur Belagerung Edinburghs durch eine Million Demonstranten aufgerufen. Sie würden, wie er versicherte, in den Gästezimmern, Garagen und Gärten der Einwohner unterkommen. Boote würden nach Frankreich geschickt, um Protestierende herbeizuschaffen. Gruppen mit Namen wie Ya Basta und Black Bloc hätten es darauf abgesehen, Chaos zu verbreiten, während die People’s Golfing Association den Kordon durchbrechen wolle, um auf dem berühmten Golfplatz von Gleneagles ein paar Löcher zu spielen.

»Ich verbringe zwei Tage mit DCI Macrae«, erwiderte Siobhan. »Womit sollte ich da prahlen?«

Rebus schloss sein Auto auf und beugte sich hinein, um den Schlüssel in die Zündung zu stecken. Dann richtete er sich wieder auf, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte den Stummel auf die Fahrbahn. Siobhan sagte gerade etwas von einem Spurensicherungsteam.

»Moment«, sagte Rebus. »Das hab ich nicht mitgekriegt.«

»Sie haben doch auch ohne das schon genug am Hals.«

»Ohne was?«

»Erinnern Sie sich an Cyril Colliar?«

»Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber mein Gedächtnis ist noch ganz gut in Schuss.«

»Es ist etwas ganz Seltsames passiert.«

»Was?«

»Ich glaube, ich habe das fehlende Stück gefunden.«

»Von was?«

»Von der Jacke.«

Rebus hatte sich inzwischen auf dem Fahrersitz niedergelassen. »Versteh ich nicht.«

Siobhan lachte nervös. »Ich auch nicht.«

»Wo sind Sie denn jetzt?«

»In Auchterarder.«

»Und da ist die Jacke aufgetaucht?«

»So ungefähr.«

Rebus schwang die Beine ins Auto und zog die Tür zu. »Dann komme ich und werfe einen Blick drauf. Ist Macrae bei Ihnen?«

»Er ist nach Glenrothes gefahren. Zum G8-Kontrollzentrum.« Sie hielt inne. »Halten Sie es wirklich für richtig herzukommen?«

Rebus hatte den Motor angelassen. »Ich muss mich erst noch verabschieden, aber innerhalb der nächsten Stunde kann ich dort sein. Ist es schwierig, nach Auchterarder reinzukommen?«

»Noch herrscht hier die Ruhe vor dem Sturm. Wenn Sie durch die Stadt fahren, folgen Sie dem Schild zum Clootie Well.«

»Zum was?«

»Am besten kommen Sie einfach und schauen es sich an.«

»Mache ich. Spurensicherung unterwegs?«

»Ja.«

»Das heißt, es wird sich rumsprechen.«

»Soll ich’s dem DCI sagen?«

»Das können Sie selbst entscheiden.« Rebus hatte sich das Handy zwischen Schulter und Kinn geklemmt, damit er den Wagen über den labyrinthartigen Weg zum Tor des Krematoriums lenken konnte.

»Sie lassen nach«, meinte Siobhan.

Nicht, wenn es nach mir geht, dachte Rebus.

Cyril Colliar war sechs Wochen zuvor ermordet worden. Mit zwanzig war er wegen brutaler Vergewaltigung für zehn Jahre hinter Gitter gewandert. Nach Verbüßung der Strafe hatte man ihn trotz der Bedenken des Gefängnispersonals, der Polizei und der Sozialarbeiter entlassen. Sie fanden, dass er nach wie vor eine große Gefahr darstellte, da er keine Reue gezeigt und trotz des DNA-Nachweises seine Schuld stets bestritten hatte. Colliar war in seine Heimatstadt Edinburgh zurückgekehrt. Das Fitness-Programm, das er im Gefängnis absolviert hatte, zahlte sich jetzt aus: Nachts arbeitete er als Rausschmeißer und tagsüber als Bodybuilder. In beiden Fällen war sein Arbeitgeber Morris Gerald Cafferty – »Big Ger«, eine bekannte Unterweltgröße –, und Rebus war die Aufgabe zugefallen, ihn wegen seines zuletzt eingestellten Mitarbeiters zur Rede zu stellen.

»Was geht mich das an?«, hatte die scharfe Antwort gelautet.

»Er ist gefährlich.«

»So wie Sie ihn bedrängen, würde einem Heiligen der Geduldsfaden reißen.« Hinter seinem Schreibtisch bei MGC-Vermietungen drehte sich Cafferty in seinem Lederstuhl gemächlich von einer Seite zur anderen. Wenn einer von Caffertys Mietern die wöchentlich fällige Miete nicht pünktlich zahlte, kam Colliar zum Einsatz, so Rebus’ Vermutung. Cafferty betrieb auch einen Minicar-Service und besaß wenigstens drei lärmende Bars in den eher zwielichtigen Gegenden der Stadt. Ein Haufen Arbeit für Cyril Colliar.

Bis zu der Nacht, in der er tot aufgefunden wurde. Schädel eingeschlagen, von hinten. Dem Pathologen zufolge wäre er allein daran schon gestorben, aber um ganz sicherzugehen, hatte jemand ihm noch eine Spritze mit reinem Heroin verpasst. Kein Hinweis darauf, dass der Tote Fixer gewesen war. »Der Tote« war das Wort, das die meisten mit dem Fall befassten Polizisten verwendet hatten – und das auch nur widerwillig. Niemand hatte den Begriff »Opfer« benutzt. Aber es konnte auch niemand laut aussprechen, was alle dachten und einander durch Blicke und bedächtiges Nicken zu verstehen gaben: Endlich hat er gekriegt, was er verdient, das Arschloch – das tat man heutzutage nicht.

Rebus und Siobhan hatten den Fall bearbeitet, aber es war einer unter vielen gewesen. Wenig Spuren und zu viele Verdächtige. Man hatte das damalige Vergewaltigungsopfer befragt, ebenso dessen Familie und damaligen Freund. Ein Wort tauchte in Diskussionen über Colliars Schicksal immer wieder auf.

»Gut.«

Seine Leiche war in der Nähe seines Autos gefunden worden, in einer Seitenstraße neben der Bar, in der er gearbeitet hatte. Keine Zeugen, keine Spuren am Tatort. Nur eine Besonderheit: Mit einer scharfen Klinge war ein Stück aus seiner unverwechselbaren Jacke herausgeschnitten worden – eine schwarze Nylon-Bomberjacke mit dem Schriftzug CC Rider auf der Rückseite. Und genau der war entfernt worden, sodass das weiße Innenfutter zum Vorschein kam. Theorien gab es wenige. Entweder war es ein unbeholfener Versuch, die Identität des Toten zu verschleiern, oder im Futter war etwas versteckt gewesen. Spuren von Drogen hatte man jedoch nicht gefunden, sodass die Polizei nach wie vor im Dunkeln tappte.

Für Rebus sah es nach einem Auftragsmord aus. Entweder hatte Colliar sich jemanden zum Feind gemacht, oder es war eine Botschaft an Cafferty. Ihre diversen Unterhaltungen mit Colliars Arbeitgeber hatten da allerdings wenig Aufschluss gebracht.

»Schadet meinem Ruf«, war im Wesentlichen Caffertys Reaktion gewesen. »Das heißt, entweder ihr kriegt den, der es getan hat …«

»Oder?«

Aber darauf musste Cafferty gar nicht antworten. Und falls er den Schuldigen zuerst ausfindig machte, hätte die Angelegenheit sich sowieso erledigt.

Nichts von all dem war besonders hilfreich. Ungefähr zu der Zeit, als die Ermittlungen in eine Sackgasse geraten waren, lenkten die Vorbereitungen zum G8-Gipfel die Gedanken – überwiegend genährt von der Vorstellung bezahlter Überstunden – in eine andere Richtung. Zudem gab es noch andere Fälle mit echten Opfern, und man hatte das Personal für die Sonderkommission Colliar zusammengestrichen.

Rebus ließ das Fahrerfenster herunter und freute sich über die kühle Brise. Den schnellsten Weg nach Auchterarder kannte er zwar nicht, aber er wusste, dass man von Kinross aus nach Gleneagles kommen konnte, und hatte deshalb diese Route gewählt. Ein paar Monate zuvor hatte er sich ein Navigationssystem gekauft, es aber noch nicht geschafft, die Bedienungsanleitung zu lesen. Demnächst würde er damit zu der Werkstatt fahren, die ihm auch den CD-Player in seinen Wagen eingebaut hatte. Nachdem er Rücksitz, Fußbereich und Kofferraum vergeblich nach irgendetwas von The Who abgesucht hatte, hörte Rebus stattdessen Elbow – eine Empfehlung von Siobhan. Ihm gefiel der Titelsong, »Leaders of the Free World«. Er stellte ihn auf Wiederholung. Der Sänger fand anscheinend, dass in den Sechzigern etwas schiefgelaufen war. Obwohl Rebus aus einer anderen Richtung kam, neigte er dazu, ihm beizupflichten. Er schätzte, dass der Sänger sich mehr Veränderung gewünscht hätte, eine von Greenpeace und der Campaign for Nuclear Disarmament regierte Welt, in der Armut der Geschichte angehörte. Rebus hatte in den Sechzigern selbst an ein paar Protestmärschen teilgenommen, vor und nach seiner Zeit bei der Armee. Es war eine gute Gelegenheit gewesen, Mädchen kennenzulernen, denn normalerweise hatte es hinterher irgendwo eine Party gegeben. Heute betrachtete er die Sechzigerjahre allerdings als das Ende von etwas. Bei einem Stones-Konzert 1969 war ein Fan erstochen worden, und das Jahrzehnt hatte sich langsam seinem Ende zugeneigt. Die jungen Leute fanden Geschmack an der Revolte und misstrauten der alten Ordnung oder hatten zumindest keinen Respekt mehr vor ihr. Er dachte über die abertausend nach Gleneagles marschierenden Menschen nach und über die Konfrontationen, zu denen es mit Sicherheit kommen würde. Schwer vorstellbar in dieser Gegend mit ihren Äckern und Hügeln, Flüssen und Tälern. Ihm war klar, dass gerade die Abgeschiedenheit von Gleneagles bei der Wahl dieses Tagungsortes eine Rolle gespielt haben musste. Dort waren die Staatsoberhäupter der freien Welt sicher und konnten ungestört ihre Namenszüge unter Entscheidungen setzen, die längst woanders getroffen worden waren. Auf der CD sang die Band gerade von der Besteigung eines Geröllfelds. Das Bild begleitete Rebus bis an den Ortsrand von Auchterarder.

Er glaubte nicht, dass er schon einmal hier gewesen war. Dennoch kam ihm der Ort bekannt vor. Das typische schottische Dorf: eine einzige, nicht zu verfehlende Hauptstraße, von der schmale Seitenstraßen abzweigten. Hier konnten die Bewohner zu Fuß zum Einkaufen gehen, in kleinen, unabhängigen, politisch korrekten Einzelhandelsgeschäften. Rebus entdeckte nichts, was die Wut der Globalisierungsgegner anstacheln konnte. In der Bäckerei gab es sogar Anti-G8-Pasteten in limitierter Auflage.

Die Einwohner von Auchterarder waren überprüft worden, erinnerte sich Rebus, und zwar unter dem Vorwand, sie mit Erkennungsmarken auszustatten. Die würden sie brauchen, um später die Absperrungen passieren zu können. Doch wie Siobhan schon bemerkt hatte, herrschte hier eine unheimliche Ruhe. Nur ein paar Leute beim Einkaufen und ein Schreiner, der Fenster auszumessen schien, um sie anschließend mit Brettern zu vernageln. Die Autos waren schmutzige Geländewagen, die vermutlich mehr Zeit auf Feldwegen als auf Straßen zubrachten. Eine Fahrerin trug sogar ein Kopftuch, was Rebus schon lange nicht mehr gesehen hatte. Nach wenigen Minuten hatte er das Ende des Dorfes erreicht, wo es Richtung A9 weiterging. Rebus wendete und achtete diesmal auf Hinweisschilder. Das Schild, das er suchte, befand sich neben einem Pub und wies eine kleine Straße hinunter. Er bog ab und fuhr das Sträßchen entlang, vorbei an Hecken und Einfahrten, dann an einer neueren Wohnsiedlung. Die Landschaft öffnete sich vor ihm, in der Ferne waren Hügel zu erkennen. Im Handumdrehen hatte er den Ortsausgang passiert, rechts und links der Straße gepflegte Hecken, die ihre Spuren auf seinem Auto hinterlassen würden, wenn er einem Traktor oder Lieferwagen ausweichen müsste. Zu seiner Linken erstreckte sich Wald, und einem weiteren Schild entnahm er, dass sich hier der Clootie Well befand. Er kannte das Wort von Clootie Dumpling, einem klebrigen, in Wasserdampf gekochten Dessert, das seine Mutter manchmal zubereitet hatte. Er erinnerte sich, dass er, was Geschmack und Beschaffenheit betraf, dem Plumpudding ähnelte. Dunkel und widerlich süß. Sein Magen protestierte leicht, und ihm fiel ein, dass er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Im Hotel hatte er sich nur kurz aufgehalten, leise ein paar Worte mit Chrissie gewechselt. Sie hatte ihn umarmt, so wie morgens im Haus schon. In all den Jahren, die er sie nun kannte, waren es nicht viele Umarmungen gewesen. Anfangs hatte er sogar ein Auge auf sie geworfen; unter diesen Umständen eine merkwürdige Vorstellung.

Anscheinend hatte sie das gespürt. Bei ihrer Hochzeit war er Trauzeuge gewesen, und während eines Tanzes hatte sie ihm neckisch ins Ohr gepustet. Später hatte Rebus bei den wenigen Begegnungen, nachdem sie und Mickey sich getrennt hatten, für seinen Bruder Partei ergriffen. Und als Mickey Ärger bekam und im Gefängnis landete, hatte Rebus Chrissie und die Kinder weder angerufen noch besucht. Allerdings hatte er auch Mickey nicht besonders oft besucht, weder im Gefängnis noch danach.

Die Geschichte ging noch weiter: Als Rebus und seine Frau sich trennten, gab Chrissie ausschließlich ihm die Schuld. Sie war immer gut mit Rhona ausgekommen; blieb nach der Scheidung mit ihr in Kontakt. So lief es eben in einer Familie. Taktik, Kampagnen und Diplomatie: Da hatten es die Politiker vergleichsweise leicht.

Im Hotel hatte Lesley es ihrer Mutter gleichgetan und ihn auch umarmt. Kenny hatte einen Augenblick gezögert, bevor Rebus den jungen Mann aus seiner Not befreite und ihm die Hand hinstreckte. Er fragte sich, ob es irgendwelche Streitereien geben würde; bei Beerdigungen war das ja so üblich. Mit der Trauer gingen Vorwürfe und Ressentiments einher. Nur gut, dass er gefahren war. Wenn es zu Auseinandersetzungen kam, teilte Rebus erheblich stärker aus, als sein ohnehin beträchtliches Gewicht vermuten ließ.

Gleich neben der Straße befand sich ein Parkplatz. Er sah aus wie neu angelegt, Bäume waren gefällt worden, auf dem Boden lagen überall Rindenstücke herum. Platz genug für vier Autos, aber es stand nur eins da. Siobhan Clarke lehnte mit verschränkten Armen dagegen. Rebus trat auf die Bremse und stieg aus.

»Nette Gegend«, sagte er.

»Ich stehe schon hundert Jahre hier«, erwiderte sie.

»Hätte nicht gedacht, dass ich so langsam gefahren bin.«

Sie verzog nur leicht den Mund und führte ihn, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, in den Wald. Sie war formeller gekleidet als sonst: knielanger schwarzer Rock und schwarze Strumpfhose. Ihre Schuhe sahen schmutzig aus, weil sie zuvor schon einmal diesen Pfad entlanggegangen war.

»Ich habe gestern das Schild entdeckt«, erklärte sie. »Das an der Abzweigung von der Hauptstraße. Da habe ich beschlossen, mir das mal anzuschauen.«

»Wenn die Alternative Glenrothes war …«

»Drüben auf der Lichtung steht eine Hinweistafel mit ein paar Informationen über diesen Ort. Im Lauf der Jahre müssen hier allerhand unheimliche Dinge passiert sein.« Sie gingen jetzt einen Hang hinauf und um eine dicke, verdrehte Eiche herum. »Die Dorfbewohner meinten, hier müsse es Kobolde geben: schrille Schreie im Dunkeln und so.«

»Wohl eher Landarbeiter aus der Umgebung«, meinte Rebus.

Sie nickte zustimmend. »Jedenfalls fingen sie an, kleine Opfergaben hierzulassen. Daher der Name.« Sie fuhr herum und schaute ihn an. »Sie als einziger Schotte weit und breit wissen bestimmt, was clootie bedeutet, oder?«

Er hatte plötzlich das Bild seiner Mutter vor Augen, wie sie den Kloß aus dem Topf hob. Den Kloß, der in ein Tuch gewickelt war …

»Stoff«, antwortete er.

»Und Kleidung«, ergänzte sie, als sie auf eine weitere Lichtung kamen. Sie blieben stehen, und Rebus holte tief Luft. Feuchter Stoff … feuchter, verrottender Stoff. Schon seit einer Weile hatte er diesen Geruch in der Nase. Den Geruch, den Kleider früher in seinem Elternhaus verströmt hatten, wenn sie nicht gelüftet worden waren und von Feuchtigkeit und Schimmel befallen wurden. Die Bäume um sie herum hingen voller Lumpen und Stoffreste. Manche Stücke waren auf den Boden gefallen, wo sie zu Mulch verfaulten.

»Es ist überliefert«, sagte Siobhan leise, »dass sie als Glücksbringer hier zurückgelassen wurden. Halte die Kobolde warm, und sie werden dafür sorgen, dass dir kein Leid widerfährt. Einer anderen Theorie zufolge ließen Eltern früh verstorbener Kinder etwas zum Gedenken an sie hier.« Ihre Stimme klang plötzlich belegt, und sie räusperte sich.

»So dünnhäutig bin ich nicht«, versicherte ihr Rebus. »Sie können ruhig Wörter wie ›Gedenken‹ benutzen – ich breche nicht gleich in Tränen aus.«

Wieder nickte sie. Rebus ging um die Lichtung herum. Unter den Füßen Laub und weiches Moos, das Geräusch von Wasser, einem kleinen Rinnsal, das aus der Erde quoll. Kerzen und Münzen säumten seinen Rand.

»Ziemlich mickrige Quelle«, war sein Kommentar.

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich war schon eine Weile hier … konnte mich nicht mit der Atmosphäre anfreunden. Aber dann bemerkte ich einige der neueren Kleider.« Rebus sah sie auch. An den Ästen aufgehängt. Ein Umhängetuch, ein Blaumann, ein rotes, getupftes Taschentuch. Ein fast neuer Turnschuh mit baumelnden Schnürsenkeln. Sogar Unterwäsche und etwas, das einer Kinderstrumpfhose glich.

»Herrgott, Siobhan«, murmelte Rebus, der nicht so recht wusste, was er sonst sagen sollte. Der Geruch schien stärker zu werden. Wieder stieg eine Erinnerung in ihm auf: Er musste an eine zehntägige Sauftour vor vielen Jahren denken. Als er wieder nüchtern gewesen war, hatte er festgestellt, dass eine ganze Ladung Wäsche in der Maschine darauf gewartet hatte, aufgehängt zu werden. Beim Öffnen der Tür war ihm genau dieser Geruch entgegengeschlagen. Er hatte alles noch einmal gewaschen, dann aber doch wegwerfen müssen. »Und die Jacke?«

Sie streckte den Finger aus. Rebus ging langsam auf den entsprechenden Baum zu. Das Stück Nylon war auf einen kurzen Ast aufgespießt worden. Es schwang leicht im Wind. Der Rand war ausgefranst, das Logo jedoch unverkennbar.

»CC Rider«, sagte Rebus wie zur Bestätigung. Siobhan fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er wusste, dass sie Fragen hatte, über die sie sich die ganze Zeit, während sie auf ihn wartete, den Kopf zerbrochen hatte. »Und was machen wir jetzt?«, erkundigte er sich.

»Das ist ein Tatort«, begann sie. »Die Spurensicherung ist schon auf dem Weg von Stirling hierher. Wir müssen das Gelände absichern, die Gegend nach Beweismitteln durchkämmen. Wir müssen die alte Mordkommission zusammenrufen, mit der Haustürbefragung in der Umgebung beginnen …«

»Einschließlich Gleneagles?«, unterbrach Rebus. »Sie sind die Expertin, Sie können mir sicher sagen, wie oft das Hotelpersonal schon überprüft worden ist. Und wie wir mitten in einer einwöchigen Demonstration eine Haustürbefragung durchführen sollen. Die Absicherung des Tatorts dürfte dagegen kein Problem sein, bei all den Geheimdiensttruppen, die wir bald hier begrüßen werden …«

Natürlich hatte sie diese Punkte auch bedacht. Das wusste er und fragte nicht weiter.

»Wir lassen nichts darüber verlauten, bis der Gipfel vorbei ist«, schlug sie vor.

»Verlockend«, gab er zu.

Sie lächelte. »Nur weil es Ihnen einen Vorsprung verschafft.«

Ein Augenzwinkern verriet ihr, dass sie recht hatte.

Sie seufzte. »Macrae müssen wir einweihen. Und er wird die Kollegen aus Tayside informieren.«

»Aber die Spurensicherung kommt aus Stirling«, ergänzte Rebus, »und Stirling gehört zur Central Region.«

»Nur diese drei Polizeistellen brauchen es zu wissen … Es dürfte kein Problem sein, das Ganze geheim zu halten.«

Rebus schaute sich um. »Wenn wir wenigstens den Tatort aufnehmen und fotografieren lassen und den Stoff ins Labor schicken könnten.«

»Bevor der Spaß anfängt?«

Rebus blies die Wangen auf. »Am Mittwoch geht’s doch los, oder?«

»Das G8-Treffen ja. Aber morgen ist der Poverty March, und für Montag ist noch eine Demo geplant.«

»Aber in Edinburgh, nicht in Auchterarder …« Dann begriff er, worauf sie hinauswollte. Auch wenn das Beweisstück im Labor war, die Stadt könnte sich in einem allgemeinen Belagerungszustand befinden. Man musste sie aber durchqueren, um vom Gayfield Square zum Labor in Howdenhall zu gelangen … vorausgesetzt natürlich, die Labortechniker hatten es überhaupt geschafft, zur Arbeit zu kommen.

»Warum wurde er hier aufgehängt?«, fragte Siobhan und schaute sich den Stofffetzen noch einmal genau an. »Eine Art Trophäe?«

»Wenn ja, warum ausgerechnet hier?«

»Lokaler Bezug vielleicht. Gibt es familiäre Verbindungen in die Gegend?«

»Ich glaube, Colliar war durch und durch Edinburgher.«

Sie sah ihn an. »Ich meine das Vergewaltigungsopfer.«

Rebus schürzte die Lippen.

»Jedenfalls einen Gedanken wert«, fügte sie hinzu. Dann hielt sie inne. »Was ist das für ein Geräusch?«

Rebus rieb sich die Magengegend. »Schon ein Weilchen her, dass ich was gegessen habe. Gleneagles hat nicht zufällig zum Nachmittagstee geöffnet?«

»Kommt auf Ihren Überziehungskredit an. Im Dorf gibt es noch ein paar Möglichkeiten. Einer von uns sollte wegen der Spurensicherung hierbleiben.«

»Das machen besser Sie; ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass ich mich in den Vordergrund dränge. Aber eigentlich würden ja eher Sie noch einen Gratisbecher feinsten Auchterarder Tee verdienen.« Er wandte sich zum Gehen, doch sie hielt ihn zurück.

»Warum ich? Warum jetzt?« Sie hob die Schultern.

»Warum nicht?«, antwortete er. »Nennen Sie es einfach Kismet.«

»Das meine ich gar nicht …«

Er drehte sich wieder zu ihr um.

»Ich weiß gar nicht genau«, fuhr sie leise fort, »ob ich will, dass sie gefasst werden. Wenn ich nämlich dafür verantwortlich bin …«

»Wenn sie gefasst werden, Shiv, dann ist deren eigene Stümperei dafür verantwortlich.« Er deutete mit dem Finger auf das Stück Stoff. »Das da und vielleicht noch ein bisschen Teamwork …«

Die Männer von der Spurensicherung waren nicht gerade begeistert gewesen, als sie erfuhren, dass Rebus und Siobhan den Tatort betreten hatten. Wegen möglicher Spurenbeseitigung hatten sie Abdrücke ihrer Schuhsohlen und gleich noch Haarproben von ihnen genommen.

»Vorsicht«, hatte Rebus gewarnt. »Ich kann es mir nicht leisten, großzügig zu sein.«

Der Spusi-Mann hatte sich entschuldigt. »Ich muss die Wurzel kriegen, sonst kommen wir nicht an die DNA.« Beim dritten Versuch mit der Pinzette hatte es geklappt. Einer seiner Kollegen war fast mit der Videoaufnahme des Tatorts fertig. Ein weiterer machte noch Fotos, und ein dritter fragte Siobhan gerade, wie viele der anderen Stoffstücke sie ins Labor schicken sollten.

»Nur die neuesten«, antwortete sie mit einem Blick zu Rebus. Der nickte zustimmend, ihren Gedankengang nachvollziehend. Selbst wenn Colliar eine Botschaft an Cafferty darstellte, hieß das ja nicht, dass es hier nicht noch mehr Botschaften gab.

»Das Sporthemd scheint ein Firmenlogo zu tragen«, bemerkte der Spurensucher.

»Ihr Job ist ja denkbar einfach«, sagte Siobhan lächelnd.

»Meine Aufgabe ist das Sammeln von Spuren. Alles Weitere ist Ihre Angelegenheit.«

»Apropos«, mischte Rebus sich ein, »besteht die Möglichkeit, dass das alles nach Edinburgh statt nach Stirling geht?«

Der Tatortbeamte straffte die Schultern. Rebus kannte ihn nicht persönlich, aber der Typ war ihm durchaus vertraut: Endvierziger mit der Erfahrung eines halben Lebens. Zwischen den verschiedenen Polizeibezirken herrschte nun einmal große Rivalität. Rebus hob scheinbar ergeben die Hände.

»Ich meine nur, es ist ein Edinburgher Fall. Da wäre es doch sinnvoll, wenn sie wegen wichtiger neuer Erkenntnisse nicht jedes Mal bis nach Stirling rausfahren müssten.«

Siobhan lächelte wieder, belustigt darüber, dass er von »sie« sprach. Aber mit einem kaum merklichen Nicken zollte sie ihm auch Anerkennung für diesen nützlichen Trick.

»Vor allem jetzt«, argumentierte Rebus weiter, »mit den Demos und so.« Er hob den Blick zu einem Helikopter, der über ihnen kreiste. Überwachung von Gleneagles, hundertprozentig. Irgendjemand da oben wunderte sich über das plötzliche Auftauchen von zwei Autos und zwei nicht gekennzeichneten weißen Transportern beim Clootie Well. Als er den Blick wieder auf den Tatortbeamten richtete, stellte Rebus fest, dass der Hubschrauber ihren Deal besiegelt hatte. In Zeiten wie diesen war Kooperation oberstes Gebot, das war ihnen in zahllosen Mitteilungen eingetrichtert worden. Macrae selbst hatte es in den letzten zehn oder mehr Einsatzbesprechungen am Gayfield Square immer wieder gesagt.

Seid nett zueinander. Arbeitet zusammen. Helft euch gegenseitig. Für diese paar Tage wird nämlich die Welt auf euch schauen.

Vielleicht hatte der Spusi-Mann ähnlichen Besprechungen beigewohnt. Jedenfalls nickte er bedächtig und wandte sich ab, um weiterzuarbeiten. Rebus und Siobhan tauschten erneut Blicke. Dann zog Rebus seine Zigaretten aus der Tasche.

»Keine Spuren, bitte«, warnte ihn ein anderer Tatortbeamter, und Rebus ging zurück Richtung Parkplatz. Er zündete sich gerade eine Zigarette an, als noch ein Auto auftauchte. Kommet zuhauf, dachte er, als DCI Macrae heraussprang. Er trug einen Anzug, der neu aussah, dazu einen neuen Schlips und ein steifes weißes Hemd. Er hatte graues, schütteres Haar, schlaffe Gesichtszüge und eine stark geäderte Knollennase.

Er ist genauso alt wie ich, dachte Rebus. Warum sieht er so viel älter aus?

»Tag, Sir«, begrüßte ihn Rebus.

»Dachte, Sie wären auf einer Beerdigung.« In seinem Ton lag etwas Vorwurfsvolles, so als hätte Rebus womöglich einen Toten in der Familie erfunden, um mal einen Freitag auszuschlafen.

»DS Clarkes Anruf hat mich während der Trauerfeier erreicht«, erklärte Rebus. »Da wollte ich guten Willen zeigen.« So hörte es sich nach einem richtigen Opfer an. Auch in diesem Fall machten seine Worte Eindruck, und Macraes verkrampfter Kiefer entspannte sich merklich.

Was für eine Glückssträhne, dachte Rebus. Erst der Tatortbeamte, jetzt der Chef. Macrae war überhaupt sehr nett gewesen, denn er hatte Rebus, kaum dass er von Mickeys Tod erfuhr, sofort für einen Tag frei gegeben. Er hatte ihm geraten, sich ruhig mal richtig volllaufen zu lassen, und Rebus hatte ihm den Gefallen getan – so gehen schottische Männer mit dem Tod um. Später hatte er sich in einem ihm völlig unbekannten Stadtteil wiedergefunden, ohne einen blassen Schimmer, wie er dahingekommen war … hatte sich dann in einer Apotheke erkundigt, wo er sich befand. Antwort: Colinton Village Pharmacy. Zum Dank hatte er eine Schachtel Aspirin gekauft …

»Entschuldigen Sie, John«, sagte Macrae jetzt und holte tief Luft. »Wie ging’s denn?« Der Versuch, interessiert zu klingen.

»Es ging«, antwortete Rebus knapp. Er beobachtete den Helikopter, der in steiler Schräglage in die Kurve ging, bevor er den Rückflug antrat.

»Ich hoffe schwer, dass der nicht vom Fernsehen war«, sagte Macrae.

»Selbst wenn er es war, hier gibt’s nicht viel zu sehen. Eigentlich unnötig, Sie extra von Glenrothes herkommen zu lassen, Sir. Wie steht’s mit Sorbus?«

Operation Sorbus, die Ablaufplanung der Polizei für die G8-Woche. In Rebus’ Ohren hatte es nach etwas geklungen, was man beim Abnehmen anstelle von Zucker in den Tee tat. Siobhan hatte ihn darüber aufgeklärt, dass es sich in Wirklichkeit um den Namen eines Baums handelte.

»Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet«, behauptete Macrae forsch.

»Außer vielleicht einer«, fühlte Rebus sich bemüßigt hinzuzufügen.

»Das vertagen wir mal auf nächste Woche, John«, murmelte sein Chef.

Rebus nickte zustimmend. »Vorausgesetzt, die sind einverstanden.«

Macrae folgte Rebus’ Blick und sah das Auto näherkommen. Es war ein silberner Benz mit getönten Heckscheiben.

»Damit ist wohl klar, dass der Hubschrauber nicht vom Fernsehen war«, meinte Rebus in Macraes Richtung. Er beugte sich zum Fahrersitz seines Autos hinunter und brachte den Rest eines belegten Brötchens zum Vorschein.

»Wer, zum Teufel, ist das?«, fragte Macrae mit zusammengebissenen Zähnen. Der Benz hatte abrupt neben einem der weißen Transporter angehalten. Der Fahrer stieg aus, ging um das Auto herum und riss die rechte hintere Tür auf. Es dauerte eine Weile, bis der Mann, der im Fond saß, auftauchte. Er war groß und schmal, die Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt. Während er sich das Jackett zuknöpfte, schien er die zwei Wagen der Spurensicherung und die drei nicht gekennzeichneten Polizeiautos in Augenschein zu nehmen. Schließlich spähte er gen Himmel, sagte etwas zu seinem Fahrer und entfernte sich von dem Auto. Statt aber auf Rebus und Macrae zuzusteuern, ging er zu der Hinweistafel, die Touristen über die Geschichte des Clootie Well informierte. Sein Fahrer saß wieder hinter dem Steuer, den Blick auf Rebus und Macrae gerichtet. Rebus warf ihm eine Kusshand zu und wartete gelassen darauf, dass der Neuankömmling sich vorzustellen geruhte. Wieder kam der Typ Mann ihm bekannt vor: Kalt und berechnend, gab er sich den Anschein, die einzig wahre Autorität zu verkörpern. Musste irgendein Sicherheitsmensch sein, dem der Hubschrauberpilot Bescheid gesagt hatte.

Macrae hielt es schon nach wenigen Sekunden nicht mehr aus, schlenderte zu dem Mann hinüber und fragte ihn, wer er sei.

»Ich bin vom SO12, und wer, zum Teufel, sind Sie?«, erwiderte der Mann betont langsam. Vielleicht hatte er die Belehrungen über einen freundlichen Umgang miteinander verpasst. Englischer Akzent, bemerkte Rebus. Kein Wunder: SO12, das war der Special Branch in London, eine Stufe vor dem Geheimdienst. »Das heißt«, fuhr der Mann fort, seine Konzentration scheinbar immer noch auf die Hinweistafel gerichtet, »ich weiß, was Sie sind. Sie sind vom CID. Und das da sind Tatortfahrzeuge. Und auf einer Lichtung gleich da vorne nehmen Männer in weißen Schutzanzügen eine genaue Untersuchung von Boden und Bäumen vor.« Schließlich wandte er sich Macrae zu und hob langsam die Hand, um die Sonnenbrille abzunehmen. »Wie mache ich mich bis jetzt?«

Macrae war die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Den ganzen Tag über hatte man ihn mit der ihm gebührenden Achtung behandelt. Und jetzt das.

»Können Sie sich überhaupt ausweisen?«, blaffte Macrae. Der Mann starrte ihn an und lächelte dann ironisch. Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein?, schien das Lächeln zu sagen. Während er in sein Jackett fuhr, wanderte sein Blick von Macrae zu Rebus. Das Lächeln blieb auf seinem Gesicht haften, denn seine Botschaft galt auch Rebus. Eine kleine Lederbrieftasche wurde Macrae geöffnet unter die Nase gehalten.

»Hier«, sagte der Mann und klappte sie wieder zu. »Jetzt wissen Sie alles, was Sie über mich wissen müssen.«

»Sie sind Steelforth«, sagte Macrae unter mehrmaligem Räuspern. Rebus bemerkte, dass sein Chef völlig aus dem Konzept geraten war. Macrae schaute ihn an. »Commander Steelforth ist für die Sicherheit des G8-Gipfels verantwortlich«, erklärte er. Aber Rebus hatte das längst erraten. Macrae wandte sich wieder Steelforth zu. »Ich war heute Morgen in Glenrothes, wo ACC Finnigan mir freundlicherweise alles gezeigt hat. Und gestern Gleneagles …« Macrae stockte. Steelforth hatte sich bereits von ihm abgewandt und ging auf Rebus zu.

»Was meint denn Ihr Cholesterinspiegel dazu?«, fragte er mit einem kurzen Blick auf das Brötchen. Rebus rülpste, wie es ihm für die Frage angemessen erschien. Steelforth kniff die Augen zusammen.

»Wir können nicht alle auf Kosten des Steuerzahlers zu Abend essen«, antwortete Rebus. »Überhaupt, wie ist denn das Essen in Gleneagles?«

»Das werden Sie vermutlich nie herausfinden, Detective Sergeant.«

»Gar nicht so schlecht, Sir, aber Ihr Eindruck täuscht Sie.«

»Das ist DI Rebus«, erklärte Macrae gerade. »Ich bin DCI Macrae, Lothian and Borders.«

»Welches Revier?«, fragte Steelforth.

»Gayfield Square«, antwortete Macrae.

»Edinburgh«, ergänzte Rebus.

»Sie sind weit von zu Hause fort, meine Herren.« Steelforth ging den Pfad entlang. »In Edinburgh ist ein Mann ermordet worden«, erläuterte Rebus. »Ein Teil seiner Kleidung ist hier aufgetaucht.«

»Wissen wir warum?«

»Das möchte ich gerne geheim halten, Commander«, antwortete Macrae. »Sobald die Leute vom Erkennungsdienst fertig sind, verschwinden wir hier.« Macrae hielt sich dicht hinter Steelforth, Rebus bildete die Nachhut.

»Irgendein Premierminister oder Präsident hat nicht zufällig vor, hier eine kleine Opfergabe zu hinterlassen?«, fragte Rebus.

Anstelle einer Antwort trat Steelforth auf die Lichtung. Der Leiter der Spurensicherung hielt ihm die Hand vor die Brust. »Nicht noch mehr Fußspuren«, brummte er.

Steelforth starrte wütend auf die Hand. »Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«

»Ist mir scheißegal, Mann. Wenn Sie mir hier den Tatort versauen, kriegen Sie’s mit mir zu tun.«

Der Mann vom Special Branch überlegte einen Moment, dann gab er klein bei. Er stapfte in seinen eigenen Fußspuren zurück an den Rand der Lichtung und begnügte sich damit, die Operation zu beobachten. Als sein Handy klingelte, ging er dran und entfernte sich ein Stück, damit niemand mithörte. Siobhan schaute fragend drein. Rebus formte mit den Lippen »später«, während er eine Zehnpfundnote aus der Tasche zog.

»Hier«, sagte er und hielt sie dem Spusi-Mann hin.

»Wofür?«

Rebus zwinkerte nur, und der Mann steckte das Geld mit einem »Danke!« ein.

»Für außergewöhnliche Dienste gebe ich immer Trinkgeld«, erklärte Rebus Macrae.

Macrae nickte, wühlte selbst in der Tasche und zog einen Fünfer für Rebus heraus.

»Halbe, halbe«, sagte der DCI.

Steelforth kam wieder auf die Lichtung. »Ich muss zurück und mich wichtigeren Dingen widmen. Wann sind Sie hier fertig?«

»Halbe Stunde«, antwortete einer der anderen Tatortbeamten.

»Notfalls auch länger«, fügte Steelforths Nemesis hinzu. »Ein Tatort ist ein Tatort, egal, welche kleinen Veranstaltungen nebenbei noch stattfinden.« Wie zuvor schon Rebus, hatte auch er schnell herausgefunden, welche Rolle Steelforth spielte.

Der Special-Branch-Mann wandte sich Macrae zu. »Ich werde ACC Finnigan informieren, einverstanden? Werde ihm mitteilen, dass wir uns Ihres Verständnisses und Ihrer Kooperationsbereitschaft sicher sein können.«

»Wie Sie wünschen, Sir.«

Steelforths Züge wurden etwas weicher. Seine Hand berührte Macraes Arm. »Ich wette, dass Sie noch nicht alles gesehen haben, was es zu sehen gibt. Kommen Sie nach Gleneagles, wenn Sie hier fertig sind. Ich werde die richtige Tour mit Ihnen machen.«

Macrae schmolz dahin – wie ein Kind bei der Bescherung. Aber dann gewann er die Fassung zurück, und sein Körper straffte sich.

»Danke, Commander.«

»Sagen Sie doch David.«

Wie zur Sicherung von Beweismaterial hinter Steelforths Rücken zusammengekauert, tat der Leiter der Spurensicherung, als steckte er sich den Finger in den Hals.

Drei Menschen fuhren in drei Autos nach Edinburgh. Rebus schauderte bei der Frage, was die Umweltschützer wohl dazu sagen würden. Macrae brach als Erster Richtung Gleneagles auf. Rebus war zuvor an dem Hotel vorbeigefahren. Wenn man von Kinross aus nach Auchterarder kam, sah man das Hotel und sein Außengelände lange, bevor man das Dorf erreichte. Land, so weit das Auge reichte, aber kaum Hinweise auf Sicherheitsanlagen. Nur einmal hatte er ein Stückchen Zaun erspäht, nachdem er durch eine provisorische Konstruktion, die er für einen Wachturm hielt, darauf aufmerksam geworden war. Rebus fuhr hinter seinem Chef her, bis Macrae an der Einfahrt zum Hotel hupte und abbog. Siobhan hatte Perth für den kürzesten Weg erklärt, während Rebus sich dafür entschied, wieder seine Strecke über Land und dann die M90 zu nehmen. Immer noch ein strahlend blauer Himmel. Schottische Sommer waren ein Segen, eine Entschädigung für das Dämmerlicht der langen Winter. Rebus stellte die Musik leiser und rief Siobhan auf ihrem Handy an.

»Freisprechanlage, hoffe ich«, sagte sie.

»Werden Sie nicht frech.«

»Sonst geben Sie ein schlechtes Beispiel.«

»Es gibt immer ein erstes Mal. Was ist aus Ihrem Freund in London geworden?«

»Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nicht solche Komplexe.«

»Was für Komplexe?«

»Gegenüber der Obrigkeit … gegenüber den Engländern … gegenüber …« Sie hielt inne. »Wollen Sie noch mehr hören?«

»Wenn ich mich nicht täusche, ist mein Rang immer noch höher als Ihrer.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ich könnte Sie wegen Insubordination vorladen.«

»Und sich vor den Chefs lächerlich machen?«

Sein Schweigen gab ihr recht. Entweder war sie im Lauf der Jahre aufmüpfiger geworden, oder er rostete allmählich ein. Vermutlich beides. »Meinen Sie, wir können die Eierköpfe im Labor zu einer Samstagsschicht überreden?«, fragte er.

»Kommt drauf an.«

»Was ist mit Ray Duff? Ein Wort von Ihnen, und er würde es machen.«

»Und alles, was ich dafür zu tun hätte, wäre, einen ganzen Tag mit ihm in dieser stinkigen Klapperkiste herumzukutschieren.«

»Das ist klassisches Karosseriedesign.«

»Genau das würde er mir unentwegt erklären.«

»Er hat ihn von Grund auf instand gesetzt …«

Sie seufzte hörbar. »Was ist das bloß mit diesen Kriminaltechnikern? Die haben alle so merkwürdige Hobbys.«

»Sie fragen ihn also?«

»Ich frage ihn. Gehen Sie heute auf Kneipentour?«

»Nachtdienst.«

»Am Tag der Beerdigung?«

»Irgendjemand muss ihn ja machen.«

»Ich wette, Sie haben darauf bestanden.«

Anstelle einer Antwort fragte er sie, was sie vorhabe.

»Mich bald aufs Ohr legen. Ich will nämlich morgen in aller Herrgottsfrüh zu der Großdemo gehen.«

»Wozu hat man Sie denn verdonnert?«

Sie lachte. »Nicht beruflich, John – ich gehe privat hin.«

»O Graus!«

»Sie sollten auch kommen.«

»Klar. Das wird auch wahnsinnig viel bewirken. Da bleibe ich doch lieber zu Hause – das ist dann mein Protest.«

»Was für ein Protest?«

»Gegen den verdammten Bob Geldof.« Sie lachte. »Wenn nämlich wirklich so viele kommen, wie er es gern hätte, wird es so aussehen, als wäre das alles sein Verdienst. Mit mir nicht, Siobhan. Denken Sie noch mal drüber nach, bevor Sie sich da engagieren.«

»Ich gehe, John. Und wenn ich’s nur tue, um nach meinen Eltern Ausschau zu halten.«

»Ihre …?«

»Sie sind von London raufgekommen – und nicht, weil Geldof sie gerufen hat.«

»Sie nehmen an der Demonstration teil?«

»Ja.«

»Werde ich sie kennenlernen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil Sie genau die Art Polizist sind, vor der meine Eltern mich immer gewarnt haben.«

Darüber sollte er wohl lachen, aber er wusste, dass sie es nur halb im Scherz gemeint hatte.

»Ein Punkt für Sie«, war alles, was er sagte.

»Haben Sie den Chef abgehängt?« Ein bewusster Themenwechsel.

»Hab ihn beim Parkservice abgegeben.«

»Sie werden’s nicht glauben – so was gibt’s in Gleneagles wirklich. Hat er zum Abschied gehupt?«

»Was glauben Sie?«

»Ich wusste, dass er es tun würde. Dieser Ausflug hat ihn richtig aufblühen lassen.«

»Und ihn vom Revier ferngehalten.«

»So hat doch jeder was davon.« Sie hielt inne. »Sie werden doch da was unternehmen, oder?«

»Wie meinen Sie das?«

»Cyril Colliar. Nächste Woche hat Sie sozusagen niemand an der Leine.«

»Ich wusste nicht, dass ich in Ihrer Wertschätzung so weit oben rangiere.«

»John, Sie stehen ein Jahr vor der Pensionierung. Ich weiß, dass Sie ein letztes Mal versuchen wollen, Cafferty zur Strecke zu bringen …«

»Und gläsern scheine ich auch zu sein.«

»Aber ich versuche doch nur …«

»Ich weiß, und ich bin gerührt.«

»Glauben Sie wirklich, Cafferty könnte dahinterstecken?«

»Wenn nicht, wird er den haben wollen, der es tut. Hören Sie, wenn es mit Ihren Eltern irgendwie schwierig wird …« Wer wechselte denn hier das Thema? »… schicken Sie mir eine SMS, dann treffen wir uns auf einen Drink.«

»Okay, mach ich. Jetzt können Sie die CD von Elbow wieder aufdrehen.«

»Gut erkannt. Wir hören voneinander.«

Rebus beendete den Anruf. Und tat, wie ihm geheißen.

2

Jetzt kamen die Absperrungen. Die George IV Bridge hinunter und die ganze Princess Street entlang waren Arbeiter damit beschäftigt, sie aufzurichten. Straßenbauarbeiten und Hochbauprojekte hatte man auf Eis gelegt und Gerüste entfernt, damit sie nicht zerlegt und als Wurfgeschosse verwendet werden konnten. Briefkästen waren versiegelt und manche Geschäfte mit Brettern vernagelt worden. Geldinstitute hatte man gewarnt und deren Mitarbeitern geraten, sich nicht formell zu kleiden, da sie sonst ein leichtes Ziel abgeben würden. Für einen Freitagabend war die Stadt ruhig. Mannschaftswagen mit Metallgittern vor den Windschutzscheiben fuhren die Straßen im Zentrum ab, weitere parkten außer Sicht in unbeleuchteten Seitenstraßen. Die Polizisten in den Fahrzeugen trugen Schutzausrüstung und unterhielten sich lachend über frühere Einsätze. Ein paar Veteranen hatten während der letzten Welle der Bergarbeiterstreiks so manches erlebt. Andere versuchten, mit Geschichten über Schlägereien bei Fußballspielen, bei Demonstrationen gegen die Kopfsteuer oder Protestmärschen gegen den Newbury Bypass gleichzuziehen. Sie tauschten Gerüchte über die erwartete Größe des italienischen Anarchistenkontingents aus.

»Genua hat sie fit gemacht.«

»Das gefällt uns doch, Jungs, oder?«

Draufgängertum und Nervosität und Kameradschaft. Und immer wenn ein Funkgerät zu knacken begann, verebbte die Unterhaltung.

Die uniformierten Beamten am Bahnhof trugen hellgelbe Jacken. Auch hier wurden Absperrungen errichtet. Sie blockierten Ausgänge, sodass nur noch ein einziger Weg hinein und hinaus übrig blieb. Manche Beamte hatten Kameras dabei, um die Gesichter von ankommenden Zugreisenden aus London festzuhalten. Für die Demonstranten waren Sonderzüge eingesetzt worden, was ihre Identifizierung erleichterte. Allerdings brauchte man dazu ohnehin keine besonderen Fähigkeiten: Sie sangen Lieder, hatten Rucksäcke geschultert, trugen Abzeichen und T-Shirts und Armbänder. Sie brachten Fahnen und Transparente mit und hatten ausgebeulte Hosen, Tarnjacken und Wanderschuhe an. Geheimdienstberichten zufolge waren ganze Busladungen bereits im Süden Englands aufgebrochen. Erste Vermutungen waren von fünfzigtausend ausgegangen. Die neueste Schätzung sprach von über hunderttausend. Was die Bevölkerung von Edinburgh, zählte man die Sommertouristen noch dazu, erheblich anwachsen lassen würde.

Irgendwo im Zentrum fand eine Kundgebung statt, die den Beginn der G8 Alternatives, einer einwöchigen Reihe von Protestmärschen und Versammlungen, markierte. Dort würde die Polizei noch stärker vertreten sein. Falls nötig, auch mit berittenen Polizisten. Und mit vielen Hundeführern, einschließlich der vier in der Halle der Waverley Station. Der Plan war einfach: Präsenz zeigen. Potenzielle Unruhestifter wissen lassen, womit sie es zu tun haben würden. Visiere, Schlagstöcke und Handschellen; Pferde, Hunde und Einsatzwagen.

Zahlenmäßige Stärke.

Handwerkszeug.

Taktik.

In seiner früheren Geschichte war Edinburgh anfällig für Invasionen gewesen. Seine Bewohner hatten sich hinter Mauern und Toren verschanzt und, wenn diese durchbrochen worden waren, in den labyrinthartigen Tunnel unter der Burg und der High Street versteckt und so dem Feind den Sieg über die menschenleere Stadt überlassen. Dieses Talent setzten die Edinburgher später auch bei dem jährlichen Festival im August ein. Wenn die Bevölkerungszahl kurzfristig anstieg, wurden die Einheimischen weniger sichtbar, passten sich gleichsam dem Hintergrund an. Das erklärte vielleicht auch das Vertrauen der Stadt in »unsichtbare« Industrien wie das Bank und Versicherungswesen. Bis vor kurzem hatte es noch geheißen, der St Andrews Square, Sitz mehrerer großer Firmen, sei die reichste Straße in Europa. Angesichts der hohen innerstädtischen Grundstückspreise waren auf der Lothian Road und weiter westlich Richtung Flughafen neue Bauten aus dem Boden geschossen. Das erst kurz zuvor fertiggestellte internationale Hauptquartier der Royal Bank in Gogarburn galt als mögliches Ziel. Ebenso Geschäftsgebäude von Standard Life und Scottish Widows. Während sie gemächlich durch die Straßen fuhr, wurde Siobhan klar, dass die Stadt in den nächsten Tagen einer noch nie da gewesenen Herausforderung gegenüberstehen würde.

Ein Polizeikonvoi scherte mit Sirenengeheul aus, um sie zu überholen. Das schuljungenhafte Grinsen im Gesicht des Fahrers sprach Bände: Jede Minute genießend, betrachtete er Edinburgh als seine private Rennstrecke. Ein dunkelroter Nissan voll einheimischer Jugendlicher hielt sich in seinem Windschatten. Siobhan wartete zehn Sekunden, dann blinkte sie, um sich wieder in den Verkehrsfluss einzureihen. Sie war auf dem Weg zu einem provisorischen Zeltplatz in Niddrie, einer von Edinburghs weniger vornehmen Gegenden. Statt sie ihre Zelte in den Gärten der Leute aufstellen zu lassen, hatte man die Demonstrationsteilnehmer dorthin gelotst.

Niddrie.

Der Stadtrat hatte das Grasland rund um das Jack Kane Centre ausgesucht. Die Planung ging von zehntausend, vielleicht sogar fünfzehntausend Besuchern aus. Man hatte mobile Toilettenhäuschen und Duschen aufgestellt und einen privaten Sicherheitsdienst beauftragt. Vermutlich eher, dachte Siobhan, um die Banden aus dem Viertel draußen als die Demonstrationsteilnehmer drinzuhalten. Hier erzählte man sich den Witz, dass in den kommenden Wochen um die Pubs herum wahrscheinlich jede Menge Zelte nebst Campingausrüstung zu erstehen sein würden. Siobhan hatte ihren Eltern angeboten, bei ihr zu wohnen. Klar, schließlich hatten sie ihr ja beim Kauf der Wohnung finanziell unter die Arme gegriffen. Sie hätten ihr Bett haben können; sie selbst hätte mit dem Sofa vorliebgenommen. Doch sie hatten dankend abgelehnt: Sie würden mit dem Bus anreisen und »mit den anderen« zelten. Sie hatten in den Sechzigerjahren studiert und diese Phase letztlich nie hinter sich gelassen. Obwohl sie jetzt auf die sechzig zugingen – Rebus’ Generation –, band ihr Vater sich die Haare immer noch zu einer Art Pferdeschwanz zusammen, und ihre Mutter trug meist kaftanartige Kleider. Siobhan dachte an das, was sie vorher zu Rebus gesagt hatte: Sie sind genau die Art Polizist, vor der meine Eltern mich immer gewarnt haben. Inzwischen glaubte ein Teil von ihr, dass sie hauptsächlich deshalb zur Polizei gegangen war, weil sie gespürt hatte, dass ihnen das gegen den Strich gehen würde. Nach der ganzen Fürsorge und Zuneigung, die sie ihr hatten zuteilwerden lassen, musste sie sich einfach auflehnen. Rache für die verschiedenen Umzüge, die immer neuen Schulen, die der Lehrberuf ihrer Eltern mit sich brachte. Rache, bloß weil es in ihrer Macht stand. Als sie ihnen zum ersten Mal davon erzählte, hätten ihre Blicke sie beinahe zum Rückzug bewogen. Aber das wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Sie hatten sie unterstützt, das schon, sie aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass sie bei der Polizei ihre Fähigkeiten vielleicht nicht optimal zur Geltung würde bringen können. Grund genug für sie, sich auf die Hinterbeine zu stellen.

So war sie Polizistin geworden. Nicht in London, wo ihre Eltern wohnten, sondern in Schottland, das sie eigentlich gar nicht kannte, bevor sie dort auf die Polizeischule ging. Ein letzter Herzenswunsch ihrer Mutter und ihres Vaters: »Überall, nur nicht in Glasgow.«

Glasgow – mit seinem Raubein-Image, seiner Messerkultur und der tiefen Kluft zwischen den Konfessionen. Und dennoch, wie Siobhan festgestellt hatte, eine Stadt, in der man wunderbar bummeln konnte. Manchmal fuhr sie mit Freundinnen hin – reine Weibernachmittage, die regelmäßig dazu führten, dass sie in irgendeinem kleinen Hotel übernachteten und das Nachtleben testeten, dabei jedoch einen großen Bogen um Bars mit Rausschmeißern machten; das war eine Regel, über die sie und John Rebus sich einig waren. Edinburgh hingegen hatte sich inzwischen als todlangweilig erwiesen, schlimmer, als ihre Eltern es sich je hatten vorstellen können.

Allerdings würde sie ihnen das nie erzählen. Bei ihren Sonntagstelefonaten wich sie den meisten Fragen ihrer Mum aus und stellte stattdessen selbst welche. Sie hatte ihren Eltern angeboten, sie am Bus abzuholen, aber sie meinten, sie brauchten Zeit, um ihr Zelt aufzuschlagen. Als sie an einer Ampel halten musste, ließ die Vorstellung sie schmunzeln. Fast sechzig, die beiden, und bastelten an einem Zelt herum. Im Jahr zuvor waren sie in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Sie besaßen ein ziemlich großes Haus in Forest Hill, dessen Hypothek bezahlt war. Fragten sie dauernd, ob sie Geld brauche …

»Ich bezahle euch ein Hotelzimmer«, hatte sie ihnen am Telefon angeboten, aber sie waren standhaft geblieben. Während sie an der Ampel anfuhr, fragte sie sich, ob das wohl eine Form von Demenz war.

Ohne die orangefarbenen Verkehrshütchen zu beachten, parkte sie auf The Wisp und legte eine Polizeivisitenkarte hinter die Windschutzscheibe. Das Geräusch ihres Motors im Leerlauf hatte einen Sicherheitsbeamten angelockt. Der schüttelte den Kopf und deutete auf die Visitenkarte. Dann fuhr er sich mit der Hand quer über die Kehle und nickte zur nächstgelegenen Siedlung hin. Siobhan entfernte die Visitenkarte, ließ das Auto aber, wo es war.

»Hiesige Banden«, erklärte der Sicherheitsbeamte. »So eine Karte ist für die ein rotes Tuch.« Er steckte die Hände in die Taschen, was seine bereits beachtliche Brust noch breiter wirken ließ. »Was führt Sie denn her, Officer?«

Sein Kopf war rasiert, aber er hatte einen dunklen Vollbart und buschige Augenbrauen.

»Ein Besuch«, antwortete Siobhan und zeigte ihm ihren Ausweis. »Ein Ehepaar namens Clarke. Ich muss mit ihnen reden.«

»Kommen Sie rein.« Er führte sie zu einem Tor in der Umzäunung. Im Kleinen erinnerte das Ganze an die Sicherheitsvorkehrungen um Gleneagles. Es gab sogar eine Art Wachturm. Entlang des Zauns stand ungefähr alle hundert Meter ein Wachposten. »Hier, ziehen Sie das an«, sagte ihr neuer Freund und reichte ihr ein Armband. »Dann fallen Sie weniger auf. So haben wir unsere fröhliche Camperschar besser im Griff.«

»Im wahrsten Sinn des Wortes«, meinte sie und nahm das Band entgegen. »Wie läuft es denn bisher?«

»Die einheimischen Jugendlichen mögen es nicht besonders. Sie haben versucht reinzukommen, aber das ist auch alles.« Er zuckte mit den Schultern. Sie gingen einen metallenen Fußweg entlang, den sie für einen Augenblick verließen, um einem kleinen Mädchen auf Rollschuhen Platz zu machen, dessen Mutter im Schneidersitz vor ihrem Zelt saß und dem Kind zusah.

»Wie viele Leute sind denn hier?« Siobhan fiel es schwer zu schätzen.

»Vielleicht tausend. Morgen werden es mehr sein.«

»Zählen Sie sie denn nicht?«

»Nein, und die Namen halten wir auch nicht fest – deshalb kann ich Ihnen gar nicht sagen, wo Sie Ihre Freunde finden können. Das Einzige, was wir von ihnen verlangen dürfen, ist die Platzgebühr.«

Siobhan schaute sich um. Der trockene Sommer hatte die Erde fest werden lassen. Hinter der Silhouette aus Mietskasernen und Wohnhäusern konnte sie andere, ältere Umrisse erkennen: Holyrood Park und Arthur’s Seat. Sie hörte leisen Gesang, ein paar Gitarren und Tin Whistles. Kinderlachen und ein Baby, das seine nächste Mahlzeit verlangte. Händeklatschen und Geplapper. Das alles wurde plötzlich durch ein Megafon zum Verstummen gebracht, das ein Mann in der Hand hielt, der seine Haare unter einen riesigen, flauschigen Hut gestopft hatte und eine an den Knien abgeschnittene Patchworkhose und dazu Flipflops trug.

»Großes weißes Zelt, Leute – da passiert’s! Gemüsecurry für vier Pfund, ein großes Dankeschön der hiesigen Moschee. Nur vier Pfund …«

»Vielleicht finden Sie sie dort«, sagte Siobhans Führer. Sie bedankte sich, und er kehrte an seinen Platz zurück.

Das »große weiße Zelt« war ein Festzelt und schien als allgemeiner Treffpunkt zu dienen. Eine andere Stimme verkündete nun, eine Gruppe würde auf einen Drink in die Stadt gehen. Man treffe sich in fünf Minuten bei der roten Fahne. Siobhan war an einer Reihe mobiler Toiletten, Wasserhähne und Duschen vorbeigekommen. Jetzt konnte sie nur noch die Zelte absuchen. Am Curry standen die Leute in einer ordentlichen Schlange an. Jemand versuchte, ihr einen Plastiklöffel in die Hand zu drücken. Sie lehnte erst ab, aber dann fiel ihr ein, dass sie schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hatte. Mit einem Berg Curry auf ihrem Plastikteller beschloss sie, einen gemächlichen Spaziergang durch das Lager zu machen. Viele Leute bereiteten Essen auf ihren Campingkochern zu. Jemand deutete auf sie.

»Erinnerst du dich an mich, aus Glastonbury?«, riefen manche. Siobhan schüttelte nur den Kopf. Und dann entdeckte sie ihre Eltern und musste unwillkürlich lächeln. Sie waren Camper mit Stil: ein großes rotes Zelt mit Fenstern und einem Vorzelt. Klapptisch und -stühle sowie eine geöffnete Flasche Rotwein mit Gläsern daneben. Sie standen auf, als sie sie sahen, umarmten und küssten sie und entschuldigten sich dafür, dass sie nur zwei Stühle mitgebracht hatten.

»Ich kann auf dem Boden sitzen«, versicherte Siobhan ihnen. Eine andere junge Frau tat das bereits. Sie hatte sich bei Siobhans Ankunft nicht von der Stelle gerührt.

»Wir haben Santal gerade von dir erzählt«, sagte Siobhans Mum. Eve Clarke sah jünger aus, als sie war, nur die Lachfalten verrieten ihr wahres Alter. Von Siobhans Vater Teddy konnte man das nicht behaupten. Er hatte einen Bauch bekommen, und die Haut seines Gesichts hing schlaff herunter. Seine Geheimratsecken waren größer geworden, sein Pferdeschwanz dünner und grauer. Den Blick ständig auf die Flasche gerichtet, füllte er genüsslich die Weingläser nach.

»Santal war sicher begeistert«, erwiderte Siobhan und nahm ihm ein Glas ab.

Die junge Frau zeigte den Hauch eines Lächelns. Ihre Haare waren schulterlang, schmutzigblond und gegelt oder einfach ungepflegt, denn sie standen ihr in Büscheln vom Kopf ab. Kein Make-up, aber mehrere Piercings an den Ohren und eins seitlich an der Nase. Ihr ärmelloses und bauchfreies dunkelgrünes T-Shirt gab den Blick auf keltische Tattoos an den Schultern und ein weiteres Piercing am Nabel frei. Ihren Hals zierten etliche Ketten, und ein bisschen tiefer hing etwas, das wie eine digitale Videokamera aussah.

»Sie sind Siobhan«, sagte sie mit einem leichten Lispeln.

»Ich fürchte, ja.« Siobhan prostete allen zu. Inzwischen war aus einem Picknickkorb neben einem weiteren Weinglas eine zweite Flasche zum Vorschein gekommen.

»Nun mal langsam, Teddy«, mahnte Eve Clarke. »Ich muss Santal nachschenken«, erklärte er, obwohl deren Glas, wie Siobhan bemerkte, noch fast so voll war wie ihr eigenes.

»Seid ihr drei zusammen gekommen?«, fragte sie.

»Santal ist von Aylesbury aus per Anhalter gefahren«, antwortete Teddy Clarke. »Nach der Busfahrt, die wir hinter uns haben, werden wir es beim nächsten Mal, glaube ich, genauso machen.« Er verdrehte die Augen und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dann schraubte er die Weinflasche auf. »Wein mit Schraubverschluss, Santal. Sag nur nicht, die moderne Welt hätte nicht auch ihr Gutes.«

Doch sie sagte überhaupt nichts. Siobhan wusste nicht, warum sie eine spontane Abneigung gegen diese Fremde verspürte, außer dass Santal genau das war: eine Fremde. Siobhan hatte sich ein bisschen Zeit mit ihrer Mum und ihrem Dad gewünscht. Nur sie drei allein.

»Santal hat den Platz gleich neben uns«, erklärte Eve. »Wir brauchten etwas Hilfe mit dem Zelt …«

Ihr Mann lachte plötzlich laut auf, während er sich selbst nachschenkte. »Ist ja schon eine Weile her, seit wir das letzte Mal zelten waren«, ergänzte er.

»Das Zelt sieht neu aus«, bemerkte Siobhan.

»Von Nachbarn ausgeliehen«, erklärte ihre Mutter. Santal stand auf. »Ich gehe jetzt mal …«

»Unseretwegen nicht«, protestierte Teddy Clarke.

»Einige von uns wollen noch in einen Pub gehen …«

»Ihre Kamera gefällt mir«, sagte Siobhan.

Santal schaute an sich hinunter. »Wenn einer von den Bullen mich fotografiert, will ich auch sein Foto haben. Ist doch nur recht und billig, oder?« Ihr stechender Blick verlangte förmlich Zustimmung.

Siobhan drehte sich zu ihrem Vater um. »Ihr habt ihr erzählt, was ich mache«, konstatierte sie ruhig.

»Schämen Sie sich nicht?« Santal spuckte diese Worte förmlich aus.

»Ganz im Gegenteil, um ehrlich zu sein.« Siobhans Blick wanderte vom Vater zur Mutter. Ihre Eltern schienen sich plötzlich beide auf den Wein vor ihnen zu konzentrieren. Als sie sich wieder Santal zuwandte, hielt die Frau die Kamera auf sie gerichtet.

»Eins fürs Familienalbum«, sagte Santal. »Ich schicke Ihnen ein Jpeg.«

»Danke«, erwiderte Siobhan betont kühl. »Merkwürdiger Name, Santal, oder?«

»Bedeutet Sandelholz«, erklärte Eve Clarke.

»Wenigstens können die Leute ihn aussprechen«, fügte Santal hinzu.

Teddy Clarke lachte. »Ich habe Santal eben erzählt, dass wir dir einen Namen aufgehalst haben, den unten im Süden niemand aussprechen konnte.«

»Sonst noch irgendwas über unsere Familie ausgeplaudert?«, fauchte Siobhan. »Irgendwelche peinlichen Geschichten, von denen ich wissen sollte?«

»Ganz schön empfindlich, wie?«, raunte Santal Siobhans Mutter zu.

»Weißt du«, räumte Eve Clarke ein, »wir wollten eigentlich nie, dass sie –«