Ein kalter Ort zum Sterben - Ian Rankin - E-Book

Ein kalter Ort zum Sterben E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Bei einem Dinner im Caledonian Hotel wird Rebus an einen lange zurückliegenden Mord erinnert: Eine Bankiersgattin wollte in dem Luxushotel einen Liebhaber empfangen – am nächsten Morgen war sie tot, der Täter wurde nie gefasst. Während Rebus sich erneut in dem Fall vergräbt, gerät das kriminelle Machtgefüge in Edinburgh gefährlich ins Wanken: Eine aufstrebende Reviergröße wird brutal überfallen, ein alter Gangsterboss zieht im Hintergrund die Fäden, eine erste Leiche taucht auf. Und auch Rebus und sein scheinbar vergessener Fall spielen bald eine Rolle ...

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Buch

Bei einem romantischen Dinner im Caledonian Hotel erinnert sich Rebus an einen Mord, der fast vierzig Jahre zuvor dort stattgefunden hat: Eine junge lebenslustige Bankiersgattin wollte in dem Luxushotel einen Liebhaber empfangen – am nächsten Morgen wurde sie tot aufgefunden. Die Verdächtigen kamen aus den besten Kreisen, der Täter wurde nie gefasst. Ein Skandal, der Rebus nicht loslässt. Während er sich in den alten Akten vergräbt, gerät das kriminelle Machtgefüge in Edinburgh gefährlich ins Wanken: Darryl Christie, einer der Hauptakteure, wird überfallen und halb totgeschlagen; eine Ermittlung wegen Geldwäsche bringt ihn zusätzlich in Bedrängnis. Es sieht so aus, als würde Ex-Gangsterboss Big Ger Cafferty im Hintergrund die Fäden ziehen. Eine Entwicklung, die Rebus gar nicht recht sein kann. Zumal die erste Leiche im tödlichen Revierkampf von Schottlands Unterwelt nicht lange auf sich warten lässt …

Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Ein kalter Ort zum Sterben

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Conny Lösch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Rather Be The Devil« bei Orion Books Ltd., London.

Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2016 by John Rebus Limited

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Mark Fearon / arcangel images

Redaktion: Alexander Behrmann

Th · Herstellung: mw

ISBN: 978-3-641-18314-1V002

www.goldmann-verlag.de

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Tag eins

1

Rebus legte Messer und Gabel auf seinen leeren Teller, lehnte sich zurück und betrachtete die anderen Restaurantbesucher.

»Hier wurde jemand ermordet, wusstest du das?«, fragte er.

»Und da hört man immer, es gäbe keine Romantik mehr.« Deborah Quant hielt kurz über ihrem Steak inne. Eigentlich hatte Rebus anmerken wollen, dass sie es mit derselben Sorgfalt zerteilte, mit der sie sich auch den Leichen an ihrem Arbeitsplatz widmete, aber dann war ihm zum Glück der Mord eingefallen, den er für den besseren Gesprächseinstieg hielt.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und nahm einen Schluck Rotwein, obwohl es auch Bier gab – er hatte die Kellner damit an andere Tische gehen sehen –, aber er wollte versuchen, etwas weniger zu trinken.

Ein Neustart – das war der Grund, weshalb sie essen gingen, sie feierten eine Woche ohne Zigaretten.

Sieben ganze Tage.

Hundertachtundsechzig Stunden.

(Von der einen Kippe, die er drei Tage zuvor einem anderen Raucher draußen vor einem Bürogebäude abgeschnorrt hatte, musste sie ja nichts erfahren. Außerdem war ihm sowieso schlecht davon geworden.)

»Jetzt schmeckst du auch das Essen viel besser, oder?«, fragte sie ihn nicht zum ersten Mal.

»Oh ja«, bestätigte er und unterdrückte einen Hustenreiz.

Anscheinend hatte sie genug von dem Steak und tupfte sich jetzt den Mund mit der Serviette ab. Sie waren in der Galvin Brasserie de Luxe, die zum Caledonian Hotel gehörte, das neuerdings Waldorf Astoria Caledonian hieß. Wer in Edinburgh aufgewachsen war, kannte es als »das Caledonian« oder »Caley«. Vor dem Essen hatte Rebus in der Bar ein paar Geschichten zum Besten gegeben – über den Bahnhof nebenan, der in den sechziger Jahren abgerissen worden war; oder Roy Rogers, der hier den Fotografen zuliebe sein Pferd Trigger die Hoteltreppe hinaufgeführt hatte. Quant hatte brav zugehört und ihm anschließend erklärt, dass er sein Hemd ruhig ein Stück aufknöpfen dürfe. Er war mit einem Finger an der Innenseite des Kragens entlanggefahren, hatte versucht, den Stoff ein bisschen zu dehnen.

»Du merkst aber auch alles«, hatte er gesagt.

»Wer mit dem Rauchen aufhört, nimmt leicht ein paar Pfund zu.«

»Wirklich?«, hatte er erwidert und weiter Erdnüsse aus dem Schälchen geschaufelt.

Jetzt hatte sie Blickkontakt zu einem der Kellner aufgenommen, der daraufhin kam und die Teller abräumte. Die angebotene Dessertkarte lehnten beide ab. »Wir nehmen nur einen Kaffee – entkoffeiniert, wenn Sie welchen haben.«

»Zweimal koffeinfrei?« Der Kellner sah Rebus an.

»Genau«, bestätigte dieser.

Quant schob sich eine rote Locke aus der Stirn und lächelte über den Tisch. »Du hältst dich sehr wacker«, sagte sie.

»Danke, Mum.«

Wieder lächelte sie. »Also gut, dann erzähl mir von dem Mord.«

Er griff nach seinem Glas, fing aber wieder an zu husten. »Müsste nur mal …« begann er und zeigte in Richtung der Toiletten. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und rieb sich mit einer Hand die Brust. Kaum hatte er den Toilettenraum erreicht, ging er ans Waschbecken, beugte sich darüber und hustete Schleim aus der Lunge. Wie immer war auch ein bisschen Blut dabei. Kein Grund zur Panik, hatte man ihm versichert. Noch mehr Husten, noch mehr Schleim. COPD nannte man das. Chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Deborah Quants Lippen waren ganz schmal geworden, als er ihr davon erzählt hatte.

»Kein Wunder, oder?«

Und gleich am nächsten Tag hatte sie ihm ein Probenglas unbestimmten Alters mitgebracht. Darin: ein Stück Lunge, die Bronchien waren ausgezeichnet zu erkennen.

»Nur damit du’s weißt«, hatte sie gesagt und ihm gezeigt, was er längst auch schon am Computer gesehen hatte. Trotzdem hatte sie ihm das Probenglas dagelassen.

»Geliehen oder geschenkt?«

»Für so lange du’s brauchst, John.«

Er spülte gerade das Becken sauber, als er die Tür hinter sich aufgehen hörte.

»Hast du deinen Inhalator zu Hause gelassen?« Er drehte sich zu ihr um. Sie lehnte an der Tür, einen Fuß über den anderen geschlagen, die Arme verschränkt, den Kopf zur Seite geneigt.

»Bin ich nirgendwo vor dir sicher?«, brummte er.

Mit ihren strahlend blauen Augen suchte sie den Raum ab. »Hier gibt’s nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte. Geht’s dir gut?«

»Ging mir nie besser.« Er warf sich Wasser ins Gesicht und tupfte es mit einem Handtuch trocken.

»Demnächst steht Sport auf dem Programm.«

»Heute Abend noch?«

Ihr Grinsen wurde breiter. »Wenn du versprichst, nicht tot auf mir zusammenzuklappen.«

»Aber vorher trinken wir noch unsere köstlichen koffeinfreien Heißgetränke, ja?«

»Und du wirst mich mit einer Geschichte bezirzen.«

»Du meinst den Mord? Das war oben in einem der Zimmer. Die Frau eines Bankiers, hat sich gerne anderweitig vergnügt.«

»Hat ihr Liebhaber sie ermordet?«

»Das war eine der Theorien.«

Sie wischte sich unsichtbare Krümel vom Jackenaufschlag. »Wirst du lange brauchen für deine Geschichte?«

»Kommt drauf an, in welcher Ausführlichkeit ich berichten soll.«

Sie überlegte einen Augenblick. »So lang wie eine Taxifahrt zu dir oder zu mir.«

»Dann beschränke ich mich auf die Höhepunkte.«

Von der anderen Seite der Tür wurde ein Räuspern vernehmbar, anscheinend war sich ein anderer Gast unsicher, was die Etikette in einer Situation wie dieser vorsah. Er nuschelte eine Entschuldigung, schob sich an ihnen vorbei und entschied sich für eine der sicheren Kabinen.

Rebus und Quant kehrten grinsend an ihren Tisch zurück, auf dem bereits zwei entkoffeinierte Kaffee warteten.

Detective Inspector Siobhan Clarke saß mit einem guten Buch und den Resten eines Fertiggerichts zu Hause, als sie der Anruf einer Freundin erreichte, die in Bilston Glen in der Telefonzentrale saß.

»Normalerweise würde ich dich nicht damit behelligen, Siobhan, aber als ich den Namen des Opfers gehört habe …«

Also hatte Clarke sich in ihren Vauxhall Astra gesetzt und auf den Weg ins Royal Infirmary gemacht. Das Krankenhaus lag am südlichen Stadtrand, und um diese Uhrzeit gab es dort jede Menge Parkplätze. Sie zeigte ihren Ausweis am Schalter der Notaufnahme und bekam den Weg gewiesen, sie passierte eine lange Reihe abgetrennter Nischen und schaute hinter jeden Vorhang. Eine alte Frau mit fast transparenter Haut strahlte sie von ihrer fahrbaren Trage aus an. Auch bei anderen sah sie hoffnungsvolle Blicke – bei Patienten und Angehörigen. Ein betrunkener Jugendlicher, dem noch das Blut vom Kopf tropfte, wurde von zwei Pflegern beruhigt. Eine Frau mittleren Alters erbrach sich in eine Pappschale. Ein zusammengekauertes Teenagermädchen stöhnte immer wieder leise. Dann entdeckte Clarke ihn, das heißt eigentlich zuerst seine Mutter. Gail McKie beugte sich über ihren Sohn, strich ihm das Haar aus der Stirn. Darryl Christie hatte die Augen geschlossen, sie waren geschwollen und blau angelaufen, die Nase ebenfalls, getrocknetes Blut verklebte die Nasenlöcher. Eine mit Schaumstoff abgepolsterte Kopfstütze war ihm angelegt worden, die auch das Genick stabilisierte. Er trug einen Anzug, das Hemd war bis zum Hosenbund aufgeknöpft. Er hatte blaue Flecken auf Brust und Bauch, aber er atmete. Über eine Fingerklemme war er an eine Maschine angeschlossen, die seine Lebensfunktionen überwachte. Gail McKie drehte sich zu dem Neuankömmling um. Sie war zu stark geschminkt, und Tränen hatten Striemen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Ihre Haare waren strohblond gefärbt und oben auf dem Kopf zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Schmuck baumelte an beiden Handgelenken.

»Ich kenne Sie«, stellte sie fest. »Sie sind von der Polizei.«

»Tut mir leid, das mit Ihrem Sohn«, sagte Clarke und trat ein Stück näher. »Geht es ihm gut?«

»Sehen Sie ihn sich doch an!« Ihre Stimme wurde lauter. »Sehen Sie sich an, was die Schweine mit ihm gemacht haben! Erst Annette und jetzt das …«

Annette war noch ein Kind, als sie ermordet wurde, der Täter war gefasst und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden – aber es dauerte nicht lange, bis auch er starb, erstochen von einem Insassen, den – höchstwahrscheinlich – Annettes Bruder Darryl dazu angestiftet hatte.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte Clarke.

»Er hat in der Auffahrt gelegen. Ich hab den Wagen gehört und mich gefragt, warum das so lange dauert. Die Sicherheitsbeleuchtung war angesprungen und wieder ausgegangen, aber von ihm keine Spur, dabei stand sein Essen fertig auf dem Herd.«

»Dann haben Sie ihn gefunden?«

»Auf dem Boden neben seinem Wagen. Die müssen sich auf ihn gestürzt haben, als er ausgestiegen ist.«

»Aber Sie haben nichts gesehen?«

Darryl Christies Mutter schüttelte langsam den Kopf, richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihren Sohn.

»Was sagen die Ärzte?«, fragte Clarke.

»Darauf warten wir noch.«

»Darryl war noch gar nicht bei Bewusstsein? Konnte noch gar nicht sprechen?«

»Was wollen Sie von ihm hören? Sie wissen genauso gut wie ich, dass Cafferty dahintersteckt.«

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

Gail McKie grinste spöttisch und richtete sich gerade auf, als sich zwei Personen in weißen Kitteln, ein Mann und eine Frau, an Clarke vorbeischoben.

»Ich empfehle einen Ultraschall und eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs. Soweit wir feststellen konnten, ist vor allem der Oberkörper betroffen.« Die Ärztin brach ab, richtete ihren Blick fragend auf Clarke.

»CID«, erklärte diese.

»Für uns nicht oberste Priorität«, sagte die Ärztin und machte ihrem männlichen Kollegen Zeichen, den Vorhang zuzuziehen und Clarke auszusperren. Eine Weile verharrte sie an Ort und Stelle, versuchte zu lauschen, aber ringsum wurde viel zu viel gestöhnt und geschrien. Seufzend zog sie sich in den Wartebereich zurück. Ein paar Streifenpolizisten ließen sich von den Sanitätern Einzelheiten diktieren. Clarke zeigte ihren Dienstausweis und ließ sich bestätigen, dass sie über Christie sprachen.

»Er hat auf der Fahrerseite auf dem Boden gelegen, zwischen dem Range Rover und der Wand«, erklärte einer der Polizisten. »Der Wagen war abgeschlossen, den Schlüssel hatte er noch in der Hand. Das Tor schließt elektrisch, und anscheinend hatte er es zugemacht, nachdem er durchgefahren war.«

»Und wo genau wohnt er?«, unterbrach Clarke.

»Inverleith Place. Mit Blick auf den Park, gleich am Botanischen Garten. Ein freistehendes Haus.«

»Nachbarn?«

»Wir haben noch nicht mit ihnen gesprochen. Seine Mutter hat’s gemeldet. Er kann höchstens ein paar Minuten dort gelegen haben …«

»Hat sie die Polizei gerufen?«

Der Constable schüttelte den Kopf.

»Uns hat sie gerufen«, erwiderte der Sanitäter. Er war grün gekleidet und wirkte erschöpft, ebenso wie seine Kollegin. »Als wir ihn gesehen haben, haben wir euch sofort verständigt.«

»Schwerer Tag?«, fragte Clarke, weil er sich die Augen rieb.

»Nicht schwerer als sonst.«

»Dann wohnt seine Mutter also bei ihm«, fuhr Clarke fort. »Sonst noch jemand?«

»Zwei jüngere Brüder. Die Mutter wollte unbedingt verhindern, dass die ihn so sehen.«

Clarke wandte sich an die Constables. »Haben Sie den Brüdern schon Fragen gestellt?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Ein geplanter Überfall?«, fragte die Sanitäterin. Und ergänzte, ohne die Antwort abzuwarten: »Ich meine, wenn einer auf der Lauer liegt … mit einem Baseballschläger, einer Brechstange oder einem Hammer und dann über jemanden herfällt, bevor der überhaupt merkt, wie ihm geschieht …«

Clarke ignorierte sie, fragte stattdessen: »Kameras?«

»An den Hausecken«, bestätigte der zweite Constable.

»Na, immerhin etwas«, sagte Clarke.

»Aber wir wissen doch alle Bescheid, oder?«

Clarke starrte die Sanitäterin an. »Was wissen wir?«

»Unabhängig davon, ob der Anschlag tödlich hätte enden sollen oder nur eine Warnung sein sollte …«

»Ja?«

»Big Ger Cafferty steckt dahinter«, sagte die Frau schulterzuckend.

»Den Namen höre ich immer wieder.«

»Die Mutter des Opfers schien sich sehr sicher zu sein«, meinte jetzt auch der Sanitäter. »Hat’s gleich überall herumposaunt, ausgeschmückt mit ein paar ausgesuchten Beschimpfungen.«

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind das reine Spekulationen«, ermahnte Clarke sie.

»Ohne kommt man nicht weiter«, sagte die Sanitäterin, aber ihr Lächeln gefror, als sie Clarkes Blick sah.

Rebus saß im Gästezimmer seiner Wohnung auf dem Bett. Früher war es Sammys Zimmer gewesen, bevor seine Frau sie ihm weggenommen hatte. Inzwischen war Sammy selbst Mutter und Rebus sogar schon Großvater. Aber sie sahen sich nicht oft. Das Sammelsurium an Postern hatte er abgehängt, aber ansonsten hatte sich hier wenig verändert, die Tapete war immer noch dieselbe. Die Matratze war abgezogen, aber die Daunendecke lag zusammen mit dem Kissen im Schrank, sollte mal ein Besucher über Nacht bleiben wollen. Er konnte sich allerdings nicht erinnern, wann dies das letzte Mal vorgekommen war, und vielleicht war das sogar besser so, denn hier war es kaum gemütlicher als in einer Abstellkammer. Auf und unter dem Bett befanden sich Kisten, ebenso auf dem Schrank und daneben. Sogar vor dem Fenster, so dass es unmöglich war, die hölzernen Fensterläden zu schließen. Er musste endlich was dagegen unternehmen, wusste aber auch, dass es nicht dazu kommen würde. Irgendwann, nach seinem Tod, würde sich jemand anders damit herumschlagen müssen – vermutlich Sammy.

Endlich hatte er die fragliche Kiste gefunden und saß jetzt damit auf der Bettkante, sein Hund Brillo zu seinen Füßen. 17. Oktober 1978. Maria Turquand. Erwürgt in Zimmer 316 des Caledonian Hotel. Rebus hatte kurz in der Angelegenheit ermittelt, war dann aber mit einem Vorgesetzten aneinandergeraten. Obwohl er von dem Fall abgezogen wurde, hatte er sich weiterhin dafür interessiert, Zeitungsausschnitte gesammelt und die ein oder andere Information notiert, hauptsächlich Gerüchte und Tratsch. Er erinnerte sich aus einem ganz bestimmten Grund daran: Fast genau ein Jahr zuvor waren zwei junge Mädchen nach einem Abend im World’s End ermordet worden. Da man bei den Ermittlungen kaum oder gar nicht vorangekommen war, wurden sie schließlich eingestellt, 1978 aber doch nochmal aufgenommen, in der Hoffnung, der Jahrestag habe Erinnerungen geweckt. Rebus wurde wegen Befehlsverweigerung dazu verdonnert, unendlich viele einsame Stunden am Telefon zu sitzen und darauf zu warten, dass es klingelte. Und das tat es tatsächlich, allerdings riefen ausschließlich Irre an. In der Zwischenzeit trotteten die Kollegen durchs Caley, befragten mögliche Zeugen, tranken Tee und aßen Kekse.

Maria Turquands Mädchenname war Frazer. Wohlhabende Eltern, Privatschule. Sie hatte einen jungen Mann mit glänzenden Aussichten geheiratet. Er hieß John Turquand und arbeitete für eine Privatbank namens Brough’s. Brough’s bot dem alten schottischen Adel finanziell eine Heimat, und nur wer ordentlich was auf der hohen Kante hatte, bekam überhaupt ein Scheckheft ausgehändigt. Traditionell war man dort sehr verschwiegen, was sich aber änderte, als die Schatzkammern sich zunehmend füllten und man nach neuen Investitionsmöglichkeiten Ausschau hielt. Wie sich herausstellte, wurde sogar eine Übernahme der Royal Bank of Scotland in Erwägung gezogen, was einem K.-o.-Sieg Davids im Kampf gegen Goliaths größeren und kräftigeren Bruder entsprochen hätte. Durch den Mord an Maria Turquand war Brough’s auf den Titelseiten der Zeitungen gelandet, und der Name wurde dort immer wieder erwähnt, als sich die Geschichten über Marias turbulentes Privatleben mehrten. Sie hatte offensichtlich eine ganze Reihe von Liebhabern gehabt, die sie in einem Zimmer des Caley zu empfangen pflegte. Einige von Rebus’ Notizen bezogen sich auf Liebhaber, deren Namen er aufgeschnappt hatte – die Angabe war zwar unbestätigt, aber es sollte sogar ein Abgeordneter der Konservativen darunter gewesen sein.

Hatte ihr Ehemann davon gewusst? Anscheinend nicht. Außerdem hatte er sowieso ein Alibi, eine Besprechung mit dem Vorsitzenden der Bank, Sir Magnus Brough, die den ganzen Tag in Anspruch genommen hatte. Marias letzter Liebhaber, ein Playboy und gerissener Geschäftemacher namens Peter Attwood – zufällig ein Freund ihres Mannes –, bewegte sich eine Weile auf sehr dünnem Eis, da er nicht erklären konnte, was er an dem fraglichen Nachmittag getrieben hatte, bis sich plötzlich seine neue Geliebte gemeldet hatte, eine verheiratete Frau, die er hatte schützen wollen.

Sehr anständig von ihm, fand Rebus.

Die Geschichte hätte auch so schon ausreichend Zugkraft besessen, doch dann musste zufällig auch noch ein Rockstar eine Nebenrolle übernehmen. Zur selben Zeit wie Maria Turquand war auch Bruce Collier mit seiner Band und seinem Management im Caley abgestiegen, da sich das Hotel in unmittelbarer Nähe zur Usher Hall befand, wo er auftreten sollte. Collier war Anfang der siebziger Jahre Sänger einer Rockband namens Blacksmith gewesen, Rebus hatte sie live gesehen. Irgendwo, da war er fast sicher, hatte er sogar noch drei Blacksmith-Alben. Es war ein Schock gewesen, als Collier die Gruppe verlassen und eine Solokarriere gestartet hatte, bei der er sanftere Töne anschlug und mit wachsendem Erfolg Coverversionen von Pophits der fünfziger und sechziger Jahre veröffentlichte. Sein Comebackauftritt in seiner Heimatstadt am Beginn einer ausverkauften Tournee durch das gesamte Vereinigte Königreich hatte landesweit und sogar international Journalisten und Fernsehteams angelockt. Rebus ging die Ausschnitte durch und fand jede Menge Fotos. Collier im Blitzlichtgewitter mit wilder Mähne und Röhrenjeans, mehrere Seidenschals um den Hals, auf den Stufen des Hotels. Dann in seinem alten Viertel, wo er vor dem Reihenhaus stand, in dem er aufgewachsen war. Auf Nachfrage der Presse hatte er eingeräumt, dass die Polizei auch ihn vernehmen wolle. Mit dem Artikel war ein Foto von Maria Turquand erschienen (entstanden auf einer Party), das in den Wochen nach ihrem Tod sehr häufig zu sehen war. Darauf trug sie ein kurzes, sehr tief ausgeschnittenes Kleid, machte einen Knutschmund für die Kamera und hielt eine Zigarette in der einen Hand und einen Drink in der anderen. In dem umfänglichen Begleittext ging es um ihren »ungezügelten Lebensstil«, ihre zahlreichen »Liebhaber und Verehrer« sowie ihre Ski- und Karibikurlaube. Kaum jemand beschäftigte sich mit ihrem Ende, der Angst, die sie gehabt haben musste, dem entsetzlichen Schmerz, als ihr der Mörder mit bloßen Händen die Kehle zudrückte.

Starke Männerhände, laut Obduktion.

»Was machst du da?«

Rebus schaute auf. Deborah Quant stand in der Tür, trug das lange, weiße T-Shirt, das sie in seinem Schlafzimmer in einer Schublade aufbewahrte, für den Fall, dass sie über Nacht bleiben wollte. Fast ein Jahr sahen sie sich jetzt schon mehr oder weniger regelmäßig, aber keiner von beiden wollte mit dem anderen zusammenziehen – sie waren zu festgefahren in ihren jeweiligen Gewohnheiten, es zu sehr gewohnt, alleine zu sein.

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er.

»Der Husten?« Sie fasste ihre langen Haare zusammen, zog sie nach hinten auf den Rücken.

Er zuckte mit den Schultern, statt zu antworten. Wie hätte er ihr sagen sollen, dass er von Zigaretten geträumt hatte und mit dem dringenden Verlangen nach Nikotin aufgewacht war, so dringend, dass es sich mit Pflastern, Kaugummis oder E-Zigaretten nicht unterdrücken ließ.

»Was ist das?« Sie tippte mit einem nackten Fuß an eine der Kisten.

»Warst du noch nie hier? Das sind … alte Fälle. Mit denen ich mich irgendwann mal beschäftigt habe.«

»Ich dachte, du bist pensioniert.«

»Bin ich auch.«

»Aber du kannst nicht loslassen.«

Wieder zuckte er mit den Schultern. »Ich hab gerade an Maria Turquand gedacht. Als ich anfing, dir ihre Geschichte zu erzählen, hab ich gemerkt, dass ich mich an manches gar nicht mehr erinnern kann.«

»Versuch lieber zu schlafen.«

»Anders als andere muss ich morgen nicht arbeiten. Du solltest schlafen.«

»Meine Kundschaft beschwert sich in der Regel nicht, wenn ich ein paar Minuten später anfange – das ist einer der Vorteile, wenn man mit Toten zu tun hat.« Sie hielt inne. »Ich brauch Wasser. Soll ich dir was mitbringen?« Er schüttelte den Kopf. »Mach nicht mehr so lange.«

Er sah ihr nach, als sie in den Flur zurück und in die Küche ging. Ein Ausschnitt war ihm vom Schoß und zu Boden geglitten. Er war ein paar Jahre später datiert. Auf Grand Cayman war jemand in einem Swimmingpool ertrunken. Das Opfer hatte mit Freunden dort Urlaub gemacht, darunter auch Anthony und Francesca Brough, die Enkel von Sir Magnus. Da war ein Foto des Hauses, eine elegante Fassade, versehen mit einer Bildunterschrift, die erklärte, dass es dem kürzlich verstorbenen Sir Magnus gehört hatte. Rebus war nicht sicher, weshalb er diesen Nachtrag zum Mord an Maria Turquand aufgehoben hatte, abgesehen davon, dass die Geschichte der Redaktion einen Vorwand geliefert hatte, erneut ein Foto von Maria abzubilden, was Rebus wieder daran erinnerte, wie schön sie gewesen war und wie gereizt er reagiert hatte, als er von dem Fall abgezogen wurde.

Er betrachtete die Ausgaben des Scotsman aus der Mordwoche, die er aufbewahrt hatte: vietnamesische Flüchtlinge an der Schwelle zu einem neuem Leben; BBKing im Fernsehen bei The Old Grey Whistle Test und Inspector Clouseau kommt ins Kino; eine Anzeige für die Royal Bank of Scotland mit einem Foto der Twin Towers; Margaret Thatcher kurz vor den Nachwahlen zu Besuch in East Lothian; Müllberge in Edinburgh, der Streik der Müllabfuhr dauert an …

Und auf der Sportseite: »Keine Tore für schottische Vereine in Europa«.

»Manches ändert sich wohl nie«, brummte Rebus.

Nachdem er alles, was auf 1977 bis 1980 datiert war, zurück in die Kiste gepackt hatte, klopfte er sich den Staub von den Händen, blieb noch einen Augenblick sitzen und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Die meisten Unterlagen gehörten zu Fällen, die schließlich doch irgendwann aufgeklärt worden waren – aber was war das hier eigentlich? Der Krempel eines Polizisten.

Und doch war die wahre Geschichte, die dahintersteckte, noch nicht aufgeschrieben worden, die verschiedenen Berichte und hingekritzelten Notizen stellten lediglich vage Vermutungen dar. Die nackten Tatsachen, die Festnahmen und Verurteilungen – sie erzählten nur einen Teil der Wahrheit. Er fragte sich, wer überhaupt Sinn in all das bringen konnte, und bezweifelte, ob es überhaupt jemanden interessierte. Seine Tochter bestimmt nicht – sie würde einen flüchtigen Blick darauf werfen und dann alles auf den Müll kippen.

Du kannst nicht loslassen …

Schon wahr. Er hatte sich von seinem Job erst verabschiedet, als man ihm erklärt hatte, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb. Man hatte ihn in den Ruhestand abgeschoben, seine Fähigkeiten waren nicht mehr gefragt, seine Hilfe nicht mehr erwünscht. Adios. Brillo schien seine Stimmung zu spüren und hob den Kopf, stupste Rebus so lange ans Bein, bis dieser ihn tröstend streichelte.

»Okay, mein Junge. Schon gut.«

Er stand auf, schaltete das Licht aus und wartete, bis ihm der Hund gefolgt war, dann machte er die Tür zu. Das Wasser hatte gekocht, und Quant goss es jetzt in einen Becher.

»Willst du?«

»Lieber nicht«, sagte Rebus. »Sonst muss ich in einer Stunde aufstehen und pinkeln.«

»Bis dahin bin ich weg, viel zu tun.« Sie nickte in Richtung seines Handys, das auf der Arbeitsfläche lag und lud. »Das Ding hat vibriert.«

»Ach ja?« Er nahm es und schaute aufs Display.

»Hab zufällig gesehen, dass die SMS vom Krankenhaus kam.«

»Stimmt.«

»Machen die noch mehr Tests?«

»Anscheinend.« Er schaute weiter aufs Display, wich ihrem Blick aus.

»John …«

»Ist nichts, Deb. Wie du gesagt hast – bloß noch ein paar Tests.«

»Aber was wird da getestet?«

»Das erfahr ich, wenn ich dort bin.«

»Du hattest wohl nicht vor, mir überhaupt was davon zu erzählen, oder?«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich hab Bronchitis, schon vergessen?« Er tat, als würde er husten, und klopfte sich dazu mit der Faust auf die Brust. »Die wollen einfach noch ein paar Tests machen.« Nachdem er seinen Code eingegeben hatte, sah er, dass er noch eine Nachricht erhalten hatte, direkt unter der automatisch vom NHS geschickten. Sie stammte von Siobhan Clarke. Er kniff die Augen zusammen, als er sie las.

In letzter Zeit mal wieder was von Cafferty gehört?

Quant hatte beschlossen, ihn mit Schweigen zu strafen, blies in ihren Tee und trank vorsichtig davon.

»Ich muss antworten«, brummte Rebus. »Ist von Siobhan.«

Er ging in das dunkle Wohnzimmer, eine halbleere Flasche Wein stand auf dem Wohnzimmertisch. An der Anlage leuchtete noch ein Lämpchen und verriet ihm, dass er sie nicht ausgeschaltet hatte. Das letzte Album, das er aufgelegt hatte, war Solid Air von John Martyn gewesen, und er hatte das Gefühl, durch genau diese undurchdringliche Luft zu gehen, als er über den Teppichboden zum Fenster schlurfte. Was sollte er Deb sagen? Da ist ein Schatten auf meiner Lunge – und es geht um lauter schrecklich klingende Dinge wie »Ultraschall-Tomografie« und »Gewebeentnahme«. Er wollte gar nicht dran denken, schon gar nicht laut darüber sprechen. Seine lebenslange Raucherkarriere holte ihn jetzt ein. Ein Husten, der nicht mehr weggehen wollte; er spuckte Blut ins Becken, hatte einen Inhalator verschrieben bekommen, außerdem einen Zerstäuber, er litt an einer Raucherlunge …

Lungenkrebs.

Auf keinen Fall würde er diesen Begriff in seinen mentalen Wortschatz aufnehmen. Nein, nein, nein. Immer schön aktiv bleiben im Gehirn, an was anderes denken, nicht an all die schönen Zigaretten, die genau hier geraucht wurden, viele davon mitten in der Nacht, während sich ein Album von John Martyn auf dem Plattenteller drehte. Stattdessen wartete er jetzt auf Clarkes Antwort und schaute an seinem eigenen schwach erkennbaren Spiegelbild vorbei zu den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite, deren Vorhänge entweder zugezogen waren oder hinter denen es sowieso dunkel war. Auch auf dem Gehweg unten war niemand zu erkennen, keine Autos, keine vorbeifahrenden Taxis und am Himmel keinerlei Anzeichen dafür, dass es bald Tag werden würde.

»Hätte auch warten können«, sagte Clarke schließlich.

»Wieso schickst du mir dann eine Nachricht um vier Uhr früh?«

»Als ich sie abgeschickt habe, war’s erst Mitternacht. Warst du beschäftigt?«

»Mit schlafen, ja.«

»Aber jetzt bist du wach?«

»So wach wie du – also, was hat Cafferty angestellt?«

»Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«

»Vor zwei oder drei Wochen.«

»Hält er sich schön aus allem raus? Immer noch der geläuterte Ex-Gangster?«

»Spuck’s aus.«

»Darryl Christie wurde gestern Abend vor seinem eigenen Haus verprügelt. Schadensbericht: ein bis drei gebrochene Rippen und ein paar Zähne weniger. Die Nase ist nicht gebrochen, sieht aber so aus. Seine Mutter hat sofort Cafferty ins Spiel gebracht.«

»Cafferty ist über vierzig Jahre älter als Darryl.«

»Dafür hat er deutlich mehr Muskeln. Und wir beide wissen, dass er jemanden engagieren würde, wenn er es für nötig hielte.«

»Warum?«

»Ist noch nicht lange her, da hat er geglaubt, Darryl hätte einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt.«

Rebus dachte darüber nach. Jemand hatte auf Caffertys Kopf gezielt, als er eines Abends zu Hause in seinem Wohnzimmer gestanden hatte, und sein Rivale Darryl Christie war der naheliegendste Kandidat gewesen. »Was sich aber als Irrtum herausgestellt hat«, sagte er einen Augenblick später.

»Aber aufregend fand er’s schon, oder? Vielleicht ist ihm aufgegangen, dass er’s vermisst, die Nummer eins in der Stadt zu sein.«

»Und was genau hätte er damit gewonnen, Darryl Christie eine Abreibung zu verpassen?«

»Er könnte ihm einen Schrecken einjagen oder ihn zu übereilten Aktionen verleiten wollen …«

»Meinst du wirklich?«

»Ich spekuliere nur«, erwiderte Clarke.

»Hast du Darryl mal gefragt?«

»Der ist bis in die Haarspitzen vollgepumpt mit Medikamenten und bleibt über Nacht im Krankenhaus.«

»Keine Zeugen?«

»In ein paar Stunden wissen wir mehr.«

Rebus drückte einen Finger an die Fensterscheibe. »Soll ich Big Ger drauf ansprechen?«

»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn sich die Polizei darum kümmert?«

»Apropos – redest du immer noch nicht mit Malcolm?«

»Was hat er denn gesagt?«

»Nicht viel, aber ich hatte den Eindruck, dass du ein bisschen gereizt auf seine Beförderung nach Gartcosh reagiert hast.«

»Dann hat dich deine unglaubliche Intuition ausnahmsweise getäuscht.«

»Na schön. Aber wenn ich doch mal mit Cafferty sprechen soll, musst du’s nur sagen.«

»Danke.« Er hörte sie seufzen. »Und wie läuft es sonst so?«

»Wahnsinnig viel zu tun, wie immer.«

»Und was genau?«

»Diese ganzen Hobbys, die man sich als Rentner so zulegt. Eigentlich könntest du mir dabei auch helfen.«

»Ach ja?«

Er wandte sich vom Fenster ab. Brillo saß hinter ihm und wartete erneut darauf, gestreichelt zu werden. Rebus grinste und zwinkerte ihm zu. »Kommst du an die Akten der alten ungeklärten Fälle ran?«, fragte er ins Telefon.

Tag zwei

2

Malcolm Fox hasste es zu pendeln – vierzig Meilen jeweils hin und zurück, den Großteil davon auf der M8. An manchen Tagen hatte das was von Wacky Races, Autos fädelten sich in den Verkehr ein, scherten aus, Laster schoben sich auf die Überholspur, krochen an anderen Lastern vorbei, Baustellen und Pannen, Windböen begleitet von peitschendem Regen. Nicht dass er sich bei jemandem hätte beschweren können – seine Kollegen in Gartcosh, dem Scottish Crime Campus, hielten sich für die Crème de la Crème des Polizeiapparats, und zum Beweis, dass sie es tatsächlich waren, hatte man sie in dem allerneuesten Gebäude untergebracht. Wenn man erstmal einen Parkplatz gefunden und sich am Tor vorne ausgewiesen hatte, betrat man ein abgeriegeltes Gelände, das es verdammt darauf anlegte, einer neu errichteten Elite-Universität zu ähneln. Jede Menge Platz, helle, gut beheizte Büros, Gemeinschaftsräume, in denen sich die Spezialisten aus den unterschiedlichen Disziplinen treffen und austauschen konnten. Nicht nur die verschiedenen Abteilungen der Specialist Crime Division, sondern auch die Kriminaltechniker, die Staatsanwaltschaft und die Steuerfahndung waren hier untergebracht. Alle unter ein und demselben Dach vereint. Nie hatte er gehört, dass sich jemand darüber beschwert hätte, wie lange er bis Gartcosh und wieder nach Hause zurück brauchte, obwohl er wusste, dass er nicht der Einzige war, der in Edinburgh lebte.

Edinburgh. Er war bereits vor einem Monat versetzt worden, vermisste aber immer noch sein altes Büro beim CID. Andererseits interessierte sich hier niemand dafür, dass er früher für Professional Standards gearbeitet hatte und deshalb eigentlich von allen anderen gehasst wurde. Ob hier jemand die Geschichte kannte, die letztlich ausschlaggebend für seine Versetzung gewesen war? Ein Detective, der zur dunklen Seite übergelaufen war, hatte ihn sterbend liegen lassen und war von zwei Berufsverbrechern – Darryl Christie und Joe Stark – verschleppt und seither nicht mehr gesehen worden. In den oberen Etagen wollte man die Geschichte ungern an die große Glocke hängen. Außerdem hatte der Staatsanwalt nichts davon gehalten, einen der beiden Gangster vor Gericht zu stellen, solange nicht einmal eine Leiche aufgetaucht war.

»Jeder gute Strafverteidiger würde uns in der Luft zerreißen«, hatte man Fox bei einem von mehreren streng geheimen Treffen versichert.

Stattdessen hatten sie ihn also mit der Versetzung nach Gartcosh geködert – und hätten kein Nein akzeptiert.

Und jetzt war er hier, versuchte, seinen Platz in der Major Crime Division zu finden.

Was ihm nicht gelang.

Er erinnerte sich an ein altes Bürosprichwort, demzufolge immer die kleinen Lichter befördert werden. Er betrachtete sich nicht unbedingt als kleines Licht, aber er wusste, dass er sich bislang auch noch nicht besonders hervorgetan hatte. Siobhan Clarke war eine, die herausstach, und wäre in Gartcosh besser aufgehoben gewesen. Er hatte ihren Gesichtsausdruck gesehen, als er ihr die Nachricht überbracht hatte – welche Mühe es sie gekostet hatte, sich ihre Sprachlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Eine kurze Umarmung, die sie nutzte, um die Fassung wiederzuerlangen. Auch ihre Freundschaft hatte darunter gelitten, immer öfter hatte sie Ausreden gefunden, um nicht mit ihm essen zu gehen oder einen Film zu sehen. Und das alles nur, damit er jeden Tag vierzig Meilen hin- und abends wieder zurückfahren durfte, jeden Tag.

»Reiß dich zusammen«, ermahnte er sich, als er das Gebäude betrat. Er lockerte seine Schultern, zog die Krawatte gerade und knöpfte das Jackett zu – den Anzug hatte er sich extra neu zugelegt. Auch die Schuhe waren neu und gerade so weit eingelaufen, dass er nicht mehr jeden Tag frische Pflaster an den Fersen brauchte.

»Detective Inspector Fox!«

Fox blieb unten an der Treppe stehen und drehte sich zu der Stimme um. Schwarzes Polohemd, kurze Ärmel, Reißverschluss am Kragen; Rangabzeichen, zwei Lichtbildausweise an Bändern um den Hals. Und dazu ein sonnengebräuntes Gesicht, buschige schwarze Augenbrauen und graumeliertes Haar. Assistant Chief Constable Ben McManus. Instinktiv richtete Fox sich zu seiner vollen Größe auf. In Gartcosh gab es zwei Assistant Chief Constables, und McManus war für das organisierte Verbrechen und die Terrorbekämpfung zuständig. Nicht für alltägliche Schwerstkriminalität – Morde und Ähnliches –, sondern für die Fälle, über die nur leise und andeutungsweise hinter einer Reihe von verschlossenen Türen gesprochen wurde, welche sich nur mit einer der Magnetstreifenkarten öffnen ließen, die McManus jetzt um den Hals baumelten.

»Ja, Sir?«, fragte Fox. Der Assistant Chief Constable streckte ihm die Hand entgegen, packte die von Fox, als er sie ihm anbot, und legte seine freie Hand auf beide.

»Wir wurden einander noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich weiß, Jen hält Sie ganz schön auf Trab …«

Jen war Fox’ Chefin, Assistant Chief Constable Jennifer Lyon.

»Ja, Sir«, bestätigte Fox.

»Ich habe gehört, Sie haben sich schon gut eingelebt. Ich weiß, am Anfang kann das alles ein bisschen irritierend sein – ganz anders als das, was Sie gewohnt sind. Aber da mussten wir alle erstmal durch, glauben Sie mir.« McManus hatte Fox inzwischen losgelassen und sprang leichtfüßig die Treppe hinauf. Fox konnte gerade so mithalten. »Aber schön, dass Sie bei uns sind. Aus der Division Six hört man ja nur das Allerbeste über Sie.«

Division Six: City of Edinburgh.

»Und natürlich spricht Ihre Personalakte für sich selbst – sogar das, was wir lieber für uns behalten.« McManus schenkte ihm ein Grinsen, das vermutlich Mut machen sollte, Fox aber nur verriet, dass dieser Mann etwas von ihm wollte und ihn deshalb hatte überprüfen lassen. Oben an der Treppe gingen sie auf eine der schalldichten Glaskabinen zu, die für ungestörte Unterredungen vorgesehen waren. Bei Bedarf konnten auch Jalousien heruntergelassen werden. An dem rechteckigen Tisch war für acht Personen Platz. Aber nur eine wartete dort.

Sie stand auf, als sie eintraten, schob sich ein paar abtrünnige blonde Strähnen hinter das Ohr. Fox schätzte die Frau auf Anfang bis Mitte dreißig. Sie war knapp eins siebzig groß, trug einen dunklen Rock und eine hellblaue Bluse.

»Ach, man hat uns sogar Kaffee gebracht«, verkündete McManus, als er die Kanne und die Becher entdeckte. »Nicht dass es lange dauern wird, aber bitte bedienen Sie sich doch.« Fox und die Frau verstanden den Wink und schüttelten die Köpfe.

»Ich bin übrigens Sheila Graham.«

»Verzeihung«, unterbrach McManus sie, »mein Fehler. Sheila, das ist DI Fox.«

»Malcolm«, sagte Fox.

»Sheila«, fuhr McManus fort, »ist von der britischen Steuer- und Zollfahndung. Ich vermute, man hat Ihnen die entsprechenden Räumlichkeiten im Gebäude noch nicht gezeigt?«

»Ich bin ein paar Mal dran vorbeigelaufen«, sagte Fox. »Viele Menschen vor Computerbildschirmen.«

»So ungefähr«, pflichtete McManus ihm bei. Er hatte sich gesetzt und machte Fox jetzt Zeichen, es ihm gleichzutun.

»Wir sind auf den üblichen Gebieten tätig«, sagte Graham, die Fox direkt ansah. »Alkohol und Tabak, Geldwäsche, Internetkriminalität und Betrug. Wirtschaftskriminalität macht einfach einen Großteil des Ganzen aus, wobei im digitalen Zeitalter eigentlich gar nichts einfach daran ist. Schmutziges Geld kann blitzschnell irgendwohin auf der Welt überwiesen werden, Konten werden ebenso schnell eröffnet wie wieder gekündigt. Von Bitcoins und dem Darknet mal ganz zu schweigen.«

»Ich komme jetzt schon nicht mehr mit«, sagte McManus grinsend und warf demonstrativ kapitulierend die Hände in die Höhe.

»Werde ich versetzt?«, fragte Fox. »Ich meine, ich kann meinen eigenen Kontoauszug prüfen, aber da hört es auch schon auf …«

»Wir haben jede Menge Zahlenakrobaten«, sagte Graham mit der zartesten Andeutung eines Lächelns. »Und im Moment beschäftigen sie sich mit einem Mann, den Sie anscheinend kennen – Darryl Christie.«

»Allerdings.«

»Haben Sie gehört, was gestern Abend passiert ist?«

»Nein.«

Die Antwort schien Graham zu missfallen, als hätte er sie bereits irgendwie enttäuscht. »Er wurde verprügelt und liegt im Krankenhaus.«

»In seiner Branche hat man immer irgendwo noch eine Rechnung offen«, sagte McManus. Er hatte sich erhoben und schenkte sich Kaffee ein, ohne Fox und Graham etwas anzubieten.

»Und wieso interessiert sich die Steuerfahndung für ihn?«, fragte Fox.

»Sie wissen vermutlich, dass Christie Wettbüros besitzt.« Fox beschloss, nicht durchblicken zu lassen, dass ihm auch dies neu war. »Wir glauben, dass er schmutziges Geld darüber wäscht – eigenes und das von anderen.«

»Zum Beispiel von Joe Stark in Glasgow?«

»Zum Beispiel von Joe Stark in Glasgow«, wiederholte Graham und klang dabei, als hielte sie Fox zumindest für teilweise rehabilitiert.

»Vor ein paar Monaten kam Stark mit seinen Jungs nach Edinburgh«, erklärte Fox. »Und jetzt sind Joe und Darryl dicke Freunde.«

»Es gibt aber auch noch andere außer Stark«, warf McManus ein, bevor er laut schlürfend aus seinem Becher trank. »Und auch nicht nur in Schottland.«

»Ein Großunternehmen«, meinte Fox.

»Die Umsätze gehen bis in die Millionen, das ist praktisch sicher«, pflichtete Graham ihm bei.

»Wir brauchen jemanden vor Ort, Malcolm.« McManus beugte sich über den Tisch Fox entgegen. »Jemanden, der sich auf dem Gebiet auskennt und uns berichten kann.«

»Wozu?«

»Könnte sein, dass bei den Ermittlungen im Fall der Körperverletzung Namen oder Informationen auftauchen. Während Christie sich erholt, werden erstmal eine Menge Leute kopflos wie die Hühner herumirren. Und er selbst wird sich fragen, mit wem er’s eigentlich zu tun hat – Freund oder Feind?«

»Vielleicht fängt er an, Fehler zu begehen.«

»Vielleicht«, pflichtete Graham ihm langsam nickend bei.

»Dann kehre ich also nach Edinburgh zurück.«

»Nur als Tourist, Malcolm«, bremste McManus ihn mit erhobenem Zeigefinger. »Denken Sie daran, dass Sie unser Mann sind und man das dort auch weiß.«

»Erzähle ich, dass die Steuerfahndung Christie auf den Fersen ist?«

»Lieber nicht«, bat Graham.

»Sie werden für mich arbeiten, Malcolm.« McManus hatte seinen Kaffee bereits getrunken und erhob sich. Das Gespräch war beendet. »Ist ja auch so nachvollziehbar, dass wir von der Abteilung für organisiertes Verbrechen wissen wollen, was vor sich geht.«

»Ja, Sir. Sie sagen, er wurde gestern Abend überfallen? Dann haben die Ermittlungen ja gerade erst begonnen …«

»Die Ermittlungen werden geleitet von …« Graham suchte nach dem Namen, schloss einen Augenblick die Augen. »Detective Inspector Clarke.«

»Natürlich«, sagte Fox und zwang sich zu lächeln.

»Ausgezeichnet!« McManus klatschte mit den Händen, drehte sich abrupt um und riss die Tür auf. Fox erhob sich, sah Sheila Graham direkt an.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Ich denke nicht, Malcolm.« Sie reichte ihm ihre Visitenkarte. »Mobil bin ich am besten zu erreichen.«

Er reichte ihr seine Karte.

»Das mit den Wettbüros war Ihnen neu, oder?«, fragte sie augenzwinkernd. »Nicht schlecht, Ihr Pokerface …«

Als Siobhan Clarke vor Christies Haus parkte, fiel ihr sofort auf, dass es von der Größe und vom Stil her Caffertys Haus auf der anderen Seite der Stadt aufs Haar genau glich – ein freistehendes, dreistöckiges viktorianisches Steingebäude mit großen Erkerfenstern auf beiden Seiten des Eingangs und einer langen Auffahrt seitlich, die zu einer ebenfalls freistehenden Garage führte. Das Tor vorne war nicht abgeschlossen, und so ging sie den Weg entlang und klingelte. Die Überwachungskameras, die der Constable am Abend zuvor beschrieben hatte, waren ihr bereits aufgefallen, eine weitere war ins Mauerwerk neben der Türklingel eingelassen.

Gail McKie öffnete die Tür. Sie stand im Windfang, die bunt verglaste Tür hinter ihr führte in die Diele. Augenscheinlich hatte sie nicht geschlafen – sie trug noch dieselben Kleider wie im Krankenhaus, und ihre Haare hingen ihr auf die Schultern.

»Hätte gar nicht aufgemacht, wenn ich gewusst hätte, dass Sie das sind«, erklärte sie statt eines Grußes. Clarke zeigte auf die Kamera.

»Die benutzen Sie gar nicht?«

»Ist eine Attrappe, wie die anderen auch. Die waren schon da, als wir das Haus gekauft haben – Darryl wollte die ganze Zeit richtige einbauen lassen.«

»Wie geht’s ihm?«

»Er kommt heute nach Hause.«

»Gut.«

»Es waren schon ein paar von euch hier, haben die Nachbarn belästigt.«

»Wär’s Ihnen lieber, die Polizei würde sich raushalten?«

»Interessiert euch doch sowieso nicht, wer’s war.«

»Einige von uns schon.«

»Dann gehen Sie und reden Sie mit Cafferty.«

»Ich habe nie gesagt, dass wir das nicht machen werden, aber zuerst müssen wir feststellen, was überhaupt genau passiert ist, angefangen mit der Stelle, an der Sie Darryl gefunden haben.«

»Das wird Sie nicht weiterbringen. Ich hab niemanden gesehen.«

»Darryl war bewusstlos?«

»Einen Moment lang hab ich gedacht, er wäre tot.« McKie unterdrückte einen Schauder.

»Könnten Ihre anderen Söhne etwas gesehen oder gehört haben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hab sie gestern schon gefragt.«

»Kann ich selbst mit ihnen sprechen?«

»Sind in der Schule.«

Clarke dachte einen Augenblick nach. »Wollen wir uns mal zusammen die Auffahrt ansehen?«

McKie schien zu zögern, aber dann ging sie ins Haus und kam mit einem cremefarbenen Burberry-Mantel auf den Schultern zurück. Sie ging voraus, zeigte auf eine der Überwachungskameras.

»Kleines rotes Lämpchen, alles dran. Sehen schon echt aus, oder?«

»Wird in der Gegend häufig eingebrochen?«

McKie zuckte mit den Schultern. »Wenn man hat, was andere wollen, macht man sich schnell Sorgen.«

»Vielleicht hat Darryl geglaubt, dass niemand sich an sein Haus herantrauen würde – in Hinblick darauf, wer er ist.« Clarke wartete, aber McKie schwieg. »Ist eine gute Gegend hier«, fuhr sie fort.

»Anders als die, aus der wir kommen.«

»Hat Darryl das Haus ausgesucht?«

McKie nickte. Sie hatten jetzt den weißen Range Rover Evoque erreicht. Er stand neben dem Hintereingang des Hauses. Über der Garage und der Hintertür waren Bewegungsmelder angebracht. Clarke zeigte auf die Lampen.

»Wer auch immer auf ihn gewartet hat, die Lampen müssen angegangen sein, oder?«

»Kann schon sein. Aber wenn man im Haus ist und die Vorhänge zugezogen sind, sieht man das nicht.«

»Und die Nachbarn?«

»Hier in der Gegend gibt’s jede Menge Füchse, wir sind direkt neben dem Botanischen Garten. Wenn irgendwo Licht angeht, denke ich, dass es die Füchse waren.«

In der Auffahrt befanden sich Spuren von getrocknetem Blut neben der Fahrertür des Wagens, McKie wandte den Kopf ab.

»Wird ihm nicht gefallen, dass ich Ihnen das sage«, meinte sie leise, »aber ich sag’s trotzdem.«

»Ich höre.«

»Wir hätten gewarnt sein sollen.«

»Inwiefern?«

»Eines Abends hat Darryl den Wagen draußen stehen lassen. Am nächsten Morgen waren die Vorderreifen aufgeschlitzt. Das war vor ungefähr vierzehn Tagen. Letzte Woche ist die Mülltonne in Flammen aufgegangen.«

»Wie?«

»Hab sie für die Müllabfuhr rausgestellt, und jemand hat sie angezündet. Sehen Sie sich’s doch an.«

Die Tonne stand rechts neben der Hintertür, der Plastikdeckel war verzogen und rußschwarz, auf einer Seite war sie halb heruntergeschmolzen.

»Haben Sie das gemeldet?«

»Darryl meinte, wahrscheinlich waren das irgendwelche Jugendlichen. Ich weiß nicht, ob er’s selbst glaubt. In der ganzen Straße haben die das sonst bei niemandem gemacht.«

»Sie glauben, die Aktion hat sich gezielt gegen Darryl gerichtet?«

McKie zuckte mit den Schultern, so dass ihr Mantel zu Boden rutschte. Sie bückte sich, hob ihn auf, klopfte ihn ab und hängte ihn sich wieder über.

»Haben Sie seit gestern Abend mit ihm gesprochen?«

»Er hat nichts gesehen. Die haben ihn am Hinterkopf erwischt, als er den Wagen abschließen wollte. Hat gemeint, er sei umgekippt wie ein Stein. Die Schweine haben einfach weiter auf ihn eingeschlagen, als er das Bewusstsein schon längst verloren hatte.«

»Glaubt er, es waren mehrere Täter?«

»Er hat keine Ahnung – das sage ich.«

»Sind Ihnen andere Zwischenfälle oder Drohungen bekannt? Briefe?«

McKie schüttelte den Kopf. »Was das auch immer sollte, Darryl wird es herausfinden.« Sie sah Clarke böse an. »Vielleicht ist es ja das, wovor Sie Angst haben?«

»Mrs McKie, Ihr Sohn wäre nicht gut beraten, wenn er die Angelegenheit selbst in die Hand nimmt.«

»Der kommt sehr gut alleine klar, das war schon so, als er noch klein war. Hat darauf bestanden, weiter unter dem Namen seines Vaters bei der Schulbehörde registriert zu werden, auch als uns der Arsch längst hat sitzen lassen. Und als Annette gestorben ist …« Sie holte tief Luft, als müsse sie starke Gefühle unterdrücken. »Darryl ist schnell erwachsen geworden. Schnell, stark und klug. Klüger als ihr alle.«

Clarkes Telefon brummte. Sie kramte es aus ihrer Tasche und schaute aufs Display.

»Gehen Sie ruhig dran.«

Aber Clarke schüttelte den Kopf. »Das kann warten. Würden Sie Darryl bitte etwas von mir ausrichten?«

»Was denn?«

»Dass ich mich mit ihm unterhalten möchte. Es wäre gut, wenn er sich auf ein Gespräch einlassen würde.«

»Sie wissen doch, dass er Ihnen nichts erzählen wird.«

»Ich würde es trotzdem gerne versuchen.«

McKie dachte darüber nach, dann nickte sie langsam.

»Danke«, sagte Clarke. »Ich könnte heute Abend nochmal vorbeischauen, vielleicht kann ich dann auch gleich mit Ihren anderen Söhnen sprechen.«

»Sie kriegen wohl mehr Geld für Überstunden.«

»Schön wär’s.«

Endlich lächelte Gail McKie. Dadurch wirkte sie um Jahre jünger, und Clarke erinnerte sich wieder an die Frau, die nach Annettes Verschwinden vor den Kameras posiert und bei Pressekonferenzen Fragen beantwortet hatte. Seitdem hatte sich viel verändert, vor allem Darryl war ein anderer geworden.

»Ungefähr um sieben?«, schlug Clarke vor.

»Mal sehen«, sagte McKie.

Als sie auf das Tor zuging, schaute Clarke erneut auf ihr Handy. Ein verpasster Anruf. Keine Nachricht. Eine Nummer, die sie kannte.

»Was zum Teufel willst du eigentlich, Malcolm?«, seufzte sie und schob das Telefon in die Tasche zurück.

3

Rebus stand in einer breiten, grünen Straße in Merchiston vor Caffertys Haus und starrte auf das »zu verkaufen«-Schild. Er hatte bereits eine Runde durch den Garten gedreht, in sämtliche Fenster gespäht, hinter denen weder Vorhänge noch Rollos die Sicht versperrten, und sich davon überzeugt, dass es vollkommen ausgeräumt war. Er zog sein Telefon aus der Tasche und rief Cafferty auf dessen Handy an, aber es klingelte einfach nur endlos. Eine Nachbarin gegenüber auf der anderen Straßenseite beobachtete ihn von einem Fenster im Erdgeschoss aus. Rebus winkte ihr, überquerte die Straße und traf sie an der Wohnungstür, als sie diese öffnete.

»Wann ist er ausgezogen?«, fragte Rebus.

»Zehn Tage wird das her sein.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum?«

»Warum?«, wiederholte sie. Offensichtlich war dies nicht die Frage, die sie erwartet hatte.

»Oder seine neue Adresse?«, setzte Rebus hinzu.

»Angeblich wurde er in Quartermile gesehen.«

Quartermile: das frühere Krankenhaus Old Royal Infirmary, das jetzt umgebaut und saniert worden war.

»Ob er wohl seine neue Adresse irgendwo hinterlassen hat?«

»Mr Cafferty ist eher für sich geblieben.«

»Vermutlich kam’s bei den Nachbarn auch nicht so gut an, als vor einer Weile durchs Wohnzimmerfenster auf ihn geschossen wurde.«

»So wie ich die Geschichte gehört habe, ist er gestolpert und gegen die Scheibe gefallen.«

»Glauben Sie mir, so war’s nicht. Wie viel will er dafür haben?« Rebus nickte in Richtung des Hauses gegenüber.

»Über so was wird hier nicht gesprochen.«

»Dann ruf ich wohl besser den Makler an.«

»Machen Sie das.« Und damit schloss sie die Tür, nicht hastig, aber mit der höflichen Bestimmtheit, die für Edinburgh typisch ist. Rebus kehrte zu seinem Saab zurück, stieg ein und tippte die Nummer des Maklers in sein Handy.

»Einen Preis können wir Ihnen nur nennen, insofern ernstzunehmendes Kaufinteresse besteht«, beschied man ihm.

»Signalisiere ich nicht gerade mein Kaufinteresse?«

»Wenn Sie einen Besichtigungstermin vereinbaren möchten …«

Stattdessen legte er auf und fuhr zurück in die Stadt. Im Zentrum von Quartermile gab es eine Tiefgarage, aber Rebus stellte seinen Wagen lieber auf eine durchgezogene gelbe Linie. Heutzutage gab es hier allerhand Annehmlichkeiten wie Geschäfte, ein Fitnesscenter und ein Hotel. Die alten Gebäude des ehemaligen Krankenhauses aus roten und grauen Backsteinen waren jetzt um Türme aus Glas und Stahl ergänzt worden, die besten Wohnungen waren nach Süden ausgerichtet mit Blick über The Meadows und auf die Pentland Hills. Im Maklerbüro bewunderte Rebus ein maßstabsgerechtes Modell der Anlage und nahm sogar eine Broschüre mit. Die Frau, die dort ihren Dienst versah, bot ihm eine Praline aus einer offenen Schachtel an, und er nahm sich lächelnd eine heraus, bevor er sich nach Caffertys genauer Anschrift erkundigte.

»Oh, solcherart Informationen dürfen wir nicht herausgeben.«

»Ich bin ein Freund.«

»Dann werden Sie ihn sicher finden.«

Rebus zog ein Gesicht, holte erneut sein Handy heraus und schrieb eine SMS. Ich stehe vor deiner neuen Wohnung. Komm und sag Hallo.

Wieder am Wagen, dachte er daran, dass er Pausen wie diese normalerweise mit einer Zigarette überbrücken würde, stattdessen aber ging er zu Sainsbury’s im Middle Meadow Walk und stellte sich an, um Kaugummis zu kaufen. Fast hatte er den Saab wieder erreicht, als sein Handy brummte: Nachricht erhalten.

Du bluffst.

Also tippte Rebus eine Antwort: Schöner Sainsbury’s – man darf nur nichts gegen Studenten haben.

Und wartete.

Es dauerte vier oder fünf Minuten, bis Cafferty aus der Tür eines der älteren Blocks trat. Sein Kopf war riesig, hatte die Form einer Kanonenkugel, das silbergraue Haar war sehr kurz rasiert. Er trug einen langen, schwarzen Wollmantel und einen roten Schal, dazu ein weißes Hemd mit offenem Kragen, aus dem sich das Brusthaar hervorkräuselte. Der Blick aus seinen schon immer scheinbar viel zu kleinen Augen wirkte durchdringend wie eh und je. Rebus vermutete, dass sie Cafferty über die Jahre gute Dienste geleistet und sich als nicht weniger scharfe Waffe als alles andere in seinem Arsenal erwiesen hatten.

»Was zum Teufel willst du hier?«, knurrte Cafferty.

»Zur Einweihungsparty eingeladen werden.«

Cafferty stopfte die Hände in die Taschen. »Kommt mir nicht vor wie ein Freundschaftsbesuch, aber soviel ich weiß, warst du neulich noch pensioniert – also, was ist los?«

»Es geht um unseren alten Freund Darryl Christie. Ich weiß noch, als wir uns das letzte Mal über ihn unterhalten haben, hast du ihm mehr oder weniger den Kampf angesagt.«

»Und?«

»Und jetzt liegt er im Krankenhaus.«

Caffertys Mund formte ein O. Er zog eine Hand aus der Tasche und rieb sich die Nase.

»Hast du Schauspielunterricht genommen?«, erkundigte sich Rebus.

»Ich hör’s gerade zum ersten Mal.«

»Und ich vermute, du hast ein absolut wasserdichtes Alibi für gestern Abend?«

»Sind das nicht die Fragen, die normalerweise ein Detective stellt?«

»Kommt bestimmt noch. Dein Name ist schon das ein oder andere Mal gefallen.«

»Will Darryl Stunk machen?« Cafferty nickte vor sich hin. »Warum auch nicht? Ist schließlich eine einmalige Chance, und wahrscheinlich würde ich’s genauso machen.«

»Genau genommen hast du das schon – als die Kugel deine Fensterscheibe zerschlagen hat.«

»Ist ein Argument.« Cafferty sah sich um und schnupperte in die Luft. »Ich wollte gerade meinen Vormittagskaffee trinken. Wahrscheinlich kann’s nicht schaden, wenn du mir Gesellschaft leistest.«

»Sind die Cafés jetzt nicht voller Leute, die Vorlesungen schwänzen?«

»Ich bin sicher, wir finden ein ruhiges Eckchen«, erwiderte Cafferty.

In den ersten beiden Cafés, in denen sie es versuchten, hatten sie kein Glück, dafür aber im dritten, einem Starbucks an der Ecke zur Forrest Road. Ein doppelter Espresso für Cafferty und ein schwarzer Kaffee für Rebus. Er hatte den Fehler gemacht, einen großen zu bestellen, und einen Becher mit dem Fassungsvermögen seines eigenen Kopfes bekommen.

Cafferty rührte Zucker in sein winziges Tässchen. Ein Eckchen hatten sie nicht gefunden, aber abgesehen von ein paar wenigen Studenten, die sich über Bücher und Laptops beugten, waren kaum Leute da, und ihr Tisch schien abgeschieden genug.

»In diesen Läden läuft immer Musik«, meinte Cafferty und schaute auf die Lautsprecher an der Decke. »In den meisten Restaurants und Geschäften auch. Mich macht das wahnsinnig …«

»Dabei ist es noch nicht mal richtige Musik«, setzte Rebus hinzu. »Jedenfalls nicht das, was wir früher darunter verstanden haben.«

Die beiden Männer warfen sich gegenseitig einen Blick und ein schiefes Grinsen zu, konzentrierten sich anschließend einen Augenblick lang ausschließlich auf ihre Getränke.

»Hab mich schon gefragt, wann du wohl auftauchst«, sagte Cafferty schließlich. »Nicht wegen Darryl Christie, ganz allgemein. Hab mir vorgestellt, wie du regelmäßig am Haus vorbeifährst und dir überlegst, wie du mich auf frischer Tat bei irgendwas erwischen und vor Gericht bringen kannst.«

»Nur dass ich kein Detective mehr bin.«

»Als ob dich das davon abhalten würde.«

»Wieso willst du dein Haus verkaufen?«

»Hab mich da drin ganz verloren gefühlt, wurde Zeit für was Kleineres.«

»Außerdem ist es das Haus, in dem auf dich geschossen wurde.«

Cafferty schüttelte den Kopf. »Damit hat das nichts zu tun.« Er nahm noch einen Schluck von der dicken, schwarzen Flüssigkeit. »Dann ist Darryl also jemandem auf den Fuß getreten. Berufsrisiko – das wissen wir beide.«

»Aber er ist eine große Nummer in der Stadt, wahrscheinlich sogar die größte, es sei denn, dir fällt noch jemand ein.«

»Trotzdem ist er nicht unangreifbar.«

»Besonders nicht, wenn der Mann, den er verdrängt hat, ein Comeback plant.«

»Mich hat niemand verdrängt«, brauste Cafferty auf, machte die Schultern breit.

»Na schön, dann hast du eben friedlich Platz gemacht und freust dich tierisch darüber, dass jetzt ihm die Stadt gehört.«

»So weit würde ich nicht gehen.«

»Hast du Namen für mich?«

»Namen?«

»Hast es doch selbst gesagt – er ist jemandem auf den Fuß getreten.«

»Das ist nicht mehr dein Job, Rebus. Hat dir das noch keiner gesagt?«

»Neugierig bin ich trotzdem.«

»Sieht so aus.«

»Jeder braucht ein Hobby. Ich will mir gar nicht überlegen, was deins sein könnte.« Cafferty sah ihn böse an, und die beiden schwiegen wieder, schauten in ihre Kaffeebecher, bis Rebus einen Finger hob. »Die Stimme kenne ich«, sagte er.

»Bruce Collier, oder?«

Rebus nickte. »Hast du den mal live gesehen?«

»In der Usher Hall.«

»78?«

»Um den Dreh.«

»Dann erinnerst du dich auch an den Mord an Maria Turquand?«

»Im Caley?« Cafferty nickte. »Der Liebhaber, oder? Hat seine neue Flamme überredet, dass sie für ihn lügt, und sich dadurch ›lebenslänglich‹ erspart.«

»Meinst du?«

»Das haben damals alle gedacht, deine Leute auch. Er ist wieder hergezogen, weißt du das?«

»Der Liebhaber?«

»Nein, Bruce Collier. Ich glaube, ich hab’s irgendwo gelesen.«

»Tritt der noch auf?«

»Weiß der Henker.« Cafferty trank den letzten Schluck Kaffee. »Wir sind hier fertig, oder wartest du immer noch auf mein Geständnis, dass ich Darryl verprügelt habe?«

»Ich hab’s nicht eilig.« Rebus zeigte auf seinen Becher. »Hab hier noch ein halbes Fass Kaffee.«

»Trink das mal schön alleine. Bist schließlich Rentner, wird Zeit, dass du dich damit abfindest.«

»Und du? Womit vertreibst du dir die Zeit?«

»Ich bin Geschäftsmann. Ich mache Geschäfte.«

»Natürlich total legale.«

»Es sei denn, deine Nachfolger beweisen mir das Gegenteil. Wie geht’s Siobhan?«

»Hab sie eine Weile nicht gesehen.«

»Trifft sie sich immer noch mit DI Fox?«

»Willst du mich beeindrucken? Beweisen, dass dir irgendwie doch alles zu Ohren kommt? Wenn das so ist, solltest du mal einen Hörtest machen.«

Cafferty stand bereits, zog seinen Schal enger um den Hals. »Okay, Mr Amateur-Detektiv. Ich hab was für dich.« Er beugte sich über den noch sitzenden Rebus, so dass sie beinahe mit der Stirn zusammenstießen. »Such den Russen. Bedanken kannst du dich später bei mir.«

Daraufhin verschwand er mit einem Grinsen und einem Augenzwinkern.

»Was soll das denn heißen?«, brummte Rebus vor sich hin, die Stirn in Falten gelegt. Dann wurde ihm bewusst, dass es sich bei dem Song, den Bruce Collier gerade zu Ende gesungen hatte, um eine Coverversion von Back in the USSR von den Beatles gehandelt hatte.

»Such den Russen«, wiederholte Rebus, starrte in seinen Kaffee und hatte plötzlich das dringende Bedürfnis zu pissen.

Die Wache am Gayfield Square nur zu betreten hatte Siobhan Clarke früher schon herrlich aufregend gefunden. Jeder Tag brachte neue Fälle und Herausforderungen, und vielleicht gab es sogar ein großes Rätsel zu lösen – einen Mord oder einen Fall von schwerer Körperverletzung aufzuklären. Aber jetzt gab es bei Police Scotland eine eigene Abteilung für besonders schwere Fälle, und den jeweils ortsgebundenen CIDs kam nur noch eine unterstützende Rolle zu – wo blieb da der Spaß? Ständig wurde gemeckert und genörgelt; die Kollegen zählten ihre Tage bis zur Rente oder ließen sich krankschreiben. Tess in der Zentrale war immer für allgemeinen Tratsch gut, auch wenn es nichts Erfreuliches zu berichten gab.

Clarke hatte sich auf einen kostenpflichtigen Parkplatz draußen stellen müssen, weil sie auf dem der Wache keine Lücke mehr gefunden hatte. Sie hatte so viel eingeworfen, wie erlaubt war, und gab jetzt, als sie die Treppe zu den Büros des CID hinaufstieg, eine Erinnerung in ihr Handy ein. In vier Stunden musste sie umparken, sonst blühte ihr ein Strafzettel. Dabei hatte sie sogar ein Schild, das sie hinter die Windschutzscheibe klemmen konnte – EINSATZFAHRZEUGDERPOLIZEI. Einmal hatte sie es benutzt, und als sie zurückkam, war ihr Auto vollkommen verkratzt gewesen.

Toll.

Die Büros des CID waren nicht groß, aber andererseits war ja auch nicht viel los. Ihre beiden DCs, Christine Esson und Ronnie Ogilvie, saßen an ihren Computern und tippten. Beide hielten den Kopf gesenkt, nur Essons kurze, dunkle Haare waren zu sehen.

»Schön, dass du auch mal reinschaust«, meinte sie zu Clarke.

»Ich war bei Darryl Christie.«

»Hab gehört, er hatte eine Art Unfall.« Esson hörte auf zu tippen und musterte ihre Chefin.

»Wir wissen alle, dass er jetzt ein angesehener Unternehmer ist«, sagte Clarke, zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne, »könntest du mir trotzdem alles raussuchen, was wir über seine Aktivitäten und Geschäftspartner wissen?«

»Kein Problem.«

Clarke wandte sich an Ogilvie. »Die Kollegen unterhalten sich mit den Nachbarn. Ich muss wissen, was sie in Erfahrung bringen. Und vergewissert euch, dass auch sämtliche Aufzeichnungen aus den Überwachungskameras von der Abenddämmerung bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter überprüft werden.«

Esson schaute von ihrem Bildschirm auf. »Gilt Morris Gerald Cafferty als Geschäftspartner?«

»Alles andere als das, würde ich sagen, es sei denn, jemand beweist uns das Gegenteil.«

»Dann nehmen wir den Überfall also ernst?«, fragte Ogilvie. Er hatte angefangen, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen, und strich jetzt mit dem Finger und dem Daumen darüber. So blass und schlaksig, wie er war, erinnerte er Clarke immer an eine langstielige Pflanze, die zu wenig Sonnenlicht abbekam.

»Laut Christies Mutter«, sagte sie, »wurden Auto und Mülltonne in letzter Zeit beschädigt. Sieht aus wie ein klassischer Fall von Eskalation.«

»Also war das gestern ein Mordversuch?«

Clarke dachte einen Augenblick nach, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ist der Chef in seiner Besenkammer?«

Esson schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube, ich vernehme gerade seine anmutigen Schritte.«

Ja, jetzt konnte auch Clarke sie hören. DCI James Page kam mit seinen klappernden Ledersohlen die letzten Stufen herauf, lief über den teppichbodenfreien Gang und öffnete die Tür.

»Schön, dass du hier bist«, sagte er, als er Clarke entdeckte. »Schau mal, wen ich zufällig getroffen habe.« Er trat beiseite, so dass Malcolm Fox zum Vorschein kam. Clarke merkte, wie sie sich automatisch versteifte und gerade aufrichtete.

»Und was führt dich aus den heiligen Hallen hierher?«, fragte sie.

Page schlug Fox auf die Schulter. »Wir freuen uns natürlich immer riesig, unsere lieben Brüder aus Gartcosh begrüßen zu dürfen. Hab ich recht?«

Esson und Ogilvie starrten einander an, ihnen fiel keine Antwort ein. Clarke hatte inzwischen die Arme verschränkt.

»DI Fox braucht unsere Hilfe, Siobhan«, sagte Page. Dann an Fox gewandt: »Oder hab ich das zu dramatisch ausgedrückt, Malcolm?«

»Darryl Christie«, sagte Fox, so dass alle es hören konnten.

Page hob mahnend den Finger, sah Clarke dabei an. »Du kannst dir vorstellen, wie ich mich gefreut habe, als Malcolm mir erzählt hat, dass meine eigenen Leute im Fall Christie ermitteln – das war mir völlig neu, Siobhan.« Die ganze falsche Herzlichkeit wich aus Pages Stimme, und er sah sie wütend an. »Sobald Zeit ist, werden du und ich uns nochmal darüber unterhalten müssen.«

Fox versuchte, nicht allzu betreten zu schauen, zumal er schuld daran war, dass Clarke jetzt Ärger bekam. Sie dagegen schenkte ihm einen Blick, von dem sie hoffte, dass er sein Unbehagen nicht linderte.

»Dann gehen wir mal in mein Büro und unterhalten uns ein bisschen, hm?«, sagte Page, klopfte Fox ein letztes Mal auf die Schulter und ging voran.

Pages Allerheiligstes war eine umgebaute Abstellkammer ohne Tageslicht. Es passten gerade so ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und zwei Besucherstühle hinein.

»Nehmt Platz«, befahl er und machte es sich selbst gemütlich.

Das Problem war, dass Clarke und Fox so dicht beieinander saßen, dass sich ihre Füße, Knie und Ellbogen beinahe berührten. Clarke spürte, dass Fox versuchte, ein bisschen auf Abstand zu ihr zu gehen.

»Warum interessiert man sich in Gartcosh überhaupt für eine Schlägerei?«, fragte Clarke in die Stille hinein.

Fox senkte seinen Blick auf den Schreibtisch. »Darryl Christie ist ein bekannter Akteur. Er hat direkte Verbindungen zu Joe Starks Bande in Glasgow. Wir haben ihn natürlich auf dem Schirm.«

»Dann bist du also hier, um dich zu vergewissern, dass wir unsere Arbeit machen?«

»Ich bin Beobachter, Siobhan. Meine Aufgabe besteht einzig und allein darin zu berichten.«

»Und wieso können wir das nicht selbst?«