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Neve denkt, Liebe wäre ihr nicht bestimmt. Aber dann hütet sie die Kinder ihrer Schwester, deren Nachbar ausgerechnet der schöne Brendan ist. Seinen heißen Kuss damals kann sie nie vergessen! Jetzt springt er liebevoll als Daddy ein, und Neve merkt, dass Küssen ihr nicht mehr reicht
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Seitenzahl: 204
IMPRESSUM
Ein Kuss ist lange nicht genug erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2006 by Trish Wylie Originaltitel: „Project: Parenthood“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1707 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Louisa Christian
Umschlagsmotive: Geber86 / GettyImages
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733735395
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Du siehst fantastisch aus, wow. Fast wie eine Prinzessin!“
Neve Delaney lächelte über die ehrfürchtige Miene ihrer jüngeren Schwester, die auf der Schwelle ihres Schlafzimmers stand. „Wirklich? Danke. Es ist schon erstaunlich, was drei Stunden Vorbereitung ausmachen können. Hast du Dads Abendessen fertig?“
Siobhan nickte, und ihr Pferdeschwanz wippte heftig auf und ab. Mit einem Satz warf sie sich auf Neves Bett. „Jepp. Ich werde nachher in mein Zimmer gehen und für die Schule lernen, bis du wieder da bist.“
Das war ziemlich normal für ein siebzehnjähriges Mädchen. Doch Neve ahnte, dass es für ihre Schwester auch eine Flucht war. „Du könntest eine kleine Pause einlegen und mit Dad fernschauen. Ich bin sicher, er hätte nichts dagegen.“
Siobhan verdreht die Augen, die ebenso grün waren wie die ihrer Schwester, und blickte an die Decke. „Er würde mich höchstens einen langweiligen Dokumentarfilm ansehen lassen. Da warte ich lieber in meinem Zimmer. Dann kannst du mir später alles erzählen.“ Sie legte ihren Kopf auf einen Ellbogen. „Wehe, du vergisst es. Du musst mich unbedingt wecken, falls ich eingeschlafen bin. Versprich es!“
„Das hat doch auch bis morgen früh Zeit.“
„Wenn du es mir nicht gleich erzählst, kann ich bestimmt gar nicht schlafen.“ Siobhan zog einen Schmollmund.
Neve hob eine ihrer dunklen Brauen. „Hast du nicht gerade gesagt, ich solle dich wecken?“
„So richtig werde ich aber gar nicht schlafen können.“
Neve runzelte die Stirn.
„Bitte“, bettelte ihre kleine Schwester, „du musst unbedingt zu mir kommen und mir alles erzählen. Ich gehe nie auf Partys, für die man sich derart zurechtmachen muss.“
Neve wandte sich um und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie sah hinreißend aus, und das verdankte sie Siobhan. Wäre ihre modebewusste Schwester nicht gewesen, hätten ihr ein paar schicke Jeans und ein Hauch mehr Make-up als sonst voll und ganz gereicht. Doch Siobhan hatte sich damit nicht zufriedengegeben. Und es hatte sich gelohnt.
Neve umarmte die Schwester dankbar und verließ das Schlafzimmer. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, was die anderen von ihrer Verwandlung halten mochten. Genau genommen gab es nur einen Menschen, den sie beeindrucken wollte. Einen einzigen Menschen, dessen Meinung wirklich zählte.
Seit sich Brendon McNamara am Anfang des neuen Universitätsjahres von seiner Freundin getrennt hatte, hatten die beiden immer mehr Zeit miteinander verbracht.
Er war der tollste Mann, den sie kannte. Es wäre wunderbar, wenn er sie ansehen und feststellen würde, dass sie ihm ebenfalls gefiel. Und sei es nur für einen einzigen Abend.
Mit dem Versprechen, Siobhan zu wecken, wie spät es auch sein mochte, nahm Neve ihren Mantel und stieg die Treppe hinab. Vorsichtig balancierte sie auf den höchsten Absätzen, die sie jemals getragen hatte, und ihre Gedanken wanderten zu dem einzigen anderen Mann, der zurzeit in ihrem Leben eine Rolle spielte. Ein Tablett mit Essen auf den Knien saß der im Wohnzimmer und sah sich irgendeinen Dokumentarfilm im Fernsehen an.
Neve schöpfte Hoffnung. Bestimmt würde ihr Vater sich heute die Zeit nehmen, ihr zu sagen, wie schön sie war, nachdem sie sich so viel Mühe gegeben hatte? Er würde sie ansehen und feststellen, dass sie erwachsen geworden war. Dass sie jetzt eine Frau war und nicht mehr der Wildfang, der sie die meiste Zeit ihres Lebens gewesen war.
Liebevolle Worte oder gar eine Umarmung wären zu viel verlangt. Aber irgendetwas, ein winziges Zeichen würde ihr schon reichen.
Doch ihr Vater blickte nicht einmal von seinem Essen auf, als sie das Wohnzimmer betrat.
„Ich gehe jetzt, Dad.“
„In Ordnung. Sei um zwölf zurück.“
„Komm schon Dad, es ist ein Ball! Ich werde erst nach eins wieder da sein.“ Neve versuchte, das Flehen in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Aber ich komme auf direktem Weg nach Haus. Das verspreche ich.“
„Das möchte ich dir auch geraten haben.“
Sie wartete. Als könnte sie ihren Vater durch ihren schieren Willen zwingen, sie doch noch anzusehen. Doch er aß einfach weiter.
„Hast du Geld?“
„Ja.“
„Gib nicht alles aus.“
„Das werde ich bestimmt nicht.“ Mit einem leisen Seufzer blickte Neve auf ihre Füße und wandte sich dann ab. „Bis morgen früh.“
„Und ohne dieses Kleiezeug zum Frühstück.“
„In Ordnung.“
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und verließ den Raum. Sie hätte es wissen müssen und sich keine Hoffnung machen dürfen. Warum hatte sie sich nach Jahren der Enttäuschung bloß immer noch keine dicke Haut zugelegt?
Zum Glück hatte sie einen Freund wie Brendon. Er gab ihr Vertrauen in die restliche Welt.
Mit seinen scherzhaften Bemerkungen, seinem neckenden Ton und seiner ruhigen Zuversicht hatte Brendon innerhalb weniger Stunden das Lächeln in ihr Gesicht zurückgebracht.
Er war wirklich ein erstaunlicher Mann. In seiner Gegenwart fühlte sie sich glücklich und sorgenfrei, obwohl sie eigentlich den ganzen Tag über daran erinnert wurde, dass das Leben alles andere als glücklich und sorgenfrei war.
Als sie Brendon kennenlernte, war er der Freund ihrer Mitbewohnerin gewesen, was ihrer beider Bekanntschaft eine unschuldige Note gegeben hatte. Sie konnte ohne Hintergedanken mit ihm befreundet sein, denn die drei jungen Frauen, die sich die Wohnung teilten, verband das ungeschriebene Gesetz, niemals einer anderen den Freund auszuspannen. Nicht, dass Neve jemals auf diesen Gedanken gekommen war. Sie hatte wichtigere Ziele gehabt, als am Arm eines jungen Mannes zu hängen.
So waren Brendon und sie Freunde geworden. Neve wusste alles über Brendon McNamara. Sie wusste, was er vom Leben erwartete und dass dazu eines Tages ein eigenes Heim, eine Ehefrau und Kinder gehören würden. Er war warmherzig und offen, begeisterungsfähig und optimistisch und erfolgreich bei allem, was er in Angriff nahm. Und außerdem sah er verboten gut aus.
Beinahe unglaublich. Brendon war so perfekt, dass es ihr geradezu unheimlich war.
Allerdings war er keinesfalls jemand, in den Neve sich verlieben durfte. Denn er wollte eine dauerhafte, ernsthafte Beziehung.
Und Neve war nicht gewillt, sich auf einen Mann mit so ernsthaften Absichten einzulassen. Zumindest wollte sie niemanden, der eine lebenslange Beziehung anstrebte. Sie hatte aus nächster Nähe erlebt, was eine solche Beziehung zwei Menschen antun konnte. Vor allem, wenn sie irgendwann heirateten, Kinder bekamen und schließlich feststellten, dass sie doch nicht zusammenpassten. Am Ende scheiterten sie, und die Kinder mussten für ihren Irrtum bezahlen.
Neve hatte sich geschworen, so etwas niemals zuzulassen. Sie würde keine Kinder in die Welt setzen, die ertragen mussten, was sie in ihrer Jugend durchgemacht hatte.
Mit Brendon lediglich befreundet zu sein, war ganz entschieden der sicherste Weg. Und diese Freundschaft war ihr wichtig. Sie vertraute Brendon. Spürte, dass er sie gut genug kannte, um niemals eine Grenze zu überschreiten. Dafür war sie ihm sehr dankbar, denn nur zu leicht hätte Brendon all ihre Vorsätze in Wanken bringen können. Er weckte den Wunsch in ihr, an Dinge wie Liebe und Glück bis ans Ende aller Tage zu glauben.
Deshalb erlaubte sie sich, für einen Abend in eine Märchenwelt einzutreten. Sich wie eine Prinzessin zu kleiden und in den Armen eines schönen Prinzen zu tanzen. Weil Weihnachten war. Besser als heute konnte es wirklich nicht kommen.
„Gefällt es dir hier?“
Neve lächelte Brendon an. „Und wie! Ich glaube, so gut wie hier hat es mir noch nirgends gefallen.“
Er lächelte ebenfalls, und seine dunklen Augen begannen zu funkeln. „Du solltest wirklich mehr ausgehen, weißt du das? Immer nur über den Büchern zu sitzen, macht ein langweiliges Mädchen aus dir.“
„Oh, vielen Dank. Bitte noch ein paar Komplimente von der Art. Ich vertrage das schon.“
„Ach komm, ich habe dir schon zweimal gesagt, dass du fantastisch aussiehst. Öfter geht es nicht.“ Brendon schwenkte sie im Kreis, sodass ihr langer Rock um ihre Fersen rauschte. „Sonst platzt dir vor Stolz noch der Kopf.“
Brendons Lob trieb Neve die Hitze ins Gesicht. Obwohl der Blick in seinen Augen bei ihrem Eintritt schon Kompliment genug gewesen war.
Sie näherten sich dem Rand der Tanzfläche, und als Brendon Neve ansah, lachte er leise. „Ich sorge mich einfach um die Menschen, die mir nahe stehen.“
Ja, das tat er wirklich. Einen kurzen Moment überlegte Neve, welches junge Mädchen wohl so glücklich sein würde, für den Rest ihres Lebens von ihm umsorgt zu werden. Ein eifersüchtiger Stich durchzuckte ihre Brust, und um ein Haar wäre sie auf ihren hohen Absätzen gestolpert.
Aber nein. Brendon war einfach ein Freund. Er könnte nie mehr für sie sein.
„Achtung, meine Zehen“, protestierte er spielerisch.
„Die sind kaum zu verfehlen“, neckte Neve ihn, und ihre grünen Augen leuchteten. „Du weißt, was man über Männer mit großen Füßen sagt …“
Brendon sah sie aus blitzenden Augen an und senkte die Stimme, sodass nur sie ihn hören konnte. „… dass sie große Schuhe tragen?“
Lachend wirbelten sie an den Rand der Tanzfläche und hielten unter einem Torbogen inne. Während sie langsam wieder zu Atem kamen, veränderte sich etwas in Brendons Augen. Eine ganze Weile betrachtete er prüfend Neves Gesicht, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen. Dann sagte er im selben leisen Ton: „Du verblüffst mich heute Abend wirklich.“
Als Neve Jahre später an das zurückdachte, was dann geschah, erkannte sie, dass es sich um einen der unerwarteten Wendepunkte ihres Lebens handelte. Eine Warnung kam tief aus ihrem Innern. Doch sie kam Sekunden zu spät.
Während Brendon sie mit Wärme in den Augen ansah, vergaß sie einen Augenblick all die wichtigen Ziele, die sie sich für eine nicht zu ferne Zukunft gesetzt hatte. Und den Schwur, den sie geleistet hatte, sich nie von irrationalen Gefühlen mitreißen zu lassen. Schon gar nicht, wenn um es um einen Mann wie Brendon ging.
Stattdessen überließ sie sich einfach dem Zauber des Augenblicks.
Brendon lächelte unwahrscheinlich charmant. Er lenkte ihren Blick auf den Mistelzweig über ihren Köpfen, und Neve vergaß für einen Augenblick zu atmen.
Jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, einen Scherz zu machen oder ein Stück von ihm abzurücken. Ganz sicher hätte sie nicht wie angewurzelt stehen bleiben und es geschehen lassen dürfen, dass Brendon langsam den Kopf senkte.
Sie wusste, dass es ein gewaltiger Fehler war, sobald sein Mund ihre Lippen berührte.
Tief in ihr regte sich etwas, von dessen Existenz sie bis dahin noch nicht einmal gewusst hatte. Es war die sinnliche Erfahrung, mit einem anderen Menschen tief verbunden zu sein. Wärme entfaltete sich dort, wo ihre Münder aufeinandertrafen, und wanderte weiter zu ihrer Brust. Ihr Atem ging flach, und ihr Herz pochte heftig. Mit einem Mal wurde sie von heftiger Lust durchströmt. Es war nur ein Kuss, und er dauerte wenige Sekunden. Doch es ängstigte sie halb zu Tode.
Genau dies durfte niemals passieren, hatte sie sich immer geschworen. Für einen kurzen Moment sah sie sich am Rand eines Abgrunds. Und im Gegensatz zu vielen anderen Menschen wusste Neve, was sie am Boden dieses Abgrunds erwarten könnte. Sie wusste es genau.
Enttäuschung, Verzweiflung, Trauer. Schmerz.
Sie war einundzwanzig Jahre alt und besaß nicht die geringste Erfahrung mit der Heftigkeit körperlicher Anziehung. Doch sie kannte den emotionalen Preis dafür. Und den wollte sie weder Brendon noch sich zumuten.
„Nein“, stieß sie gequält hervor. „Tu das nicht. Wir können nicht …“
„Doch, wir können.“ Er schlang seine Arme fester um sie. „Du hast genau gewusst, dass es geschehen wird.“
Neve versuchte, sich aus seiner Umarmung zu entwinden. „Nein, das wusste ich nicht. Wir sind einfach nur Freunde.“
„Das ist ein guter Anfang für eine enge Beziehung.“
„Nein, im Gegenteil. Es ist der Anfang vom Ende. Du hast nicht die geringste Ahnung, worauf du dich einlassen würdest.“
Der Blick in Brendons Augen verriet ihr, dass er kein Wort verstand. Im nächsten Moment wurde Neve klar, dass sie sich genau richtig verhielt. Brendon kannte sie längst nicht so gut, wie er glaubte. Ein Glückskind wie er konnte nur annehmen, dass das Leben aller so einfach verlief wie sein eigenes. Sie selbst hingegen hatte heute zum ersten Mal eine Märchenwelt betreten.
Doch allein schon die Tatsache, dass es unwahrscheinlich wehtat, Brendon zurückzuweisen, war der Beweis dafür, dass sie richtig handelte. Wenn sie sich stärker mit ihm einließ als sie es bereits getan hatte, würde sie es vielleicht nicht überleben. Es würde so enden wie bei ihren Eltern.
„Ich kann nicht glauben, was du getan hast.“ Endlich gelang es Neve, sich von Brendon loszumachen. Mit blitzenden Augen sah sie ihn an und versuchte verzweifelt, nicht zu weinen. „Du hast alles verdorben.“
„Mit einem einzigen klitzekleinen Kuss? Wie sollte der alles verdorben haben?“ Brendon schüttelte den Kopf und blickte rasch in die Runde. Zum Glück hatte niemand ihre Auseinandersetzung bemerkt. „Du verhältst dich wie ein hysterisches Mädchen, Neve. Lass das bitte.“
Sein herablassender Ton glich einem Schlag in ihr Gesicht. „Wie kannst du es wagen …“
„Neve …“ Seine Stimme wurde warnender.
„Lass mich in Ruhe! Such dir eine andere, die sich von dir küssen lässt. Hier sind unzählige Frauen, die sich wahrscheinlich nichts mehr wünschen als das. Aber ich gehöre nicht dazu.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte Neve sich ab und floh aus dem Raum. Von fern hörte sie Brendons tiefe Stimme ihren Namen rufen. Im selben Moment schwor sie sich, ihn niemals wiederzusehen. Sollte er glauben, dass sie unreif war oder dumm. Es war ihr egal.
Mit seinem Verhalten hatte er ihr gezeigt, dass der Weg, den sie für sich gewählt hatte, der richtige war. Nie wieder würde sie einen Mann so nahe an sich heranlassen. Sie würde immer nur für sich selber verantwortlich sein, für sonst niemanden.
Eher würde die Hölle zu Eis gefrieren, als dass sie sich von ihrem Entschluss abbringen ließ.
„Das kannst du mir nicht antun!“
Siobhan senkte die Stimme und sah ihre Schwester aus tränenfeuchten Augen an. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre, Neve. Ich brauche einfach etwas Zeit, um mich mit Mac auszusprechen. Sonst könnte es mit unserer Ehe vorbei sein.“
„Das habe ich durchaus verstanden, Siobhan. Aber ich kann mich im Moment wirklich nicht um deine Kinder kümmern.“ Als sie die drei kleinen Gesichter entdeckte, die sie von der Türschwelle aus beobachteten, bekam sie einen heftigen Schreck. Die Kleinen hätten keinesfalls mit anhören dürfen, dass ihre Tante sie zurückwies. „Vielleicht irgendwann nächstes Wochenende. Ich habe einen riesigen Auftrag übernommen, und …“
„Es geht um alles, was mir wichtig ist, Neve! Ich will Mac nicht verlieren. Auf keinen Fall.“
Siobhan ließ den Tränen jetzt freien Lauf. Neve ertrug es nicht, wenn ihre Schwester weinte. Vor allem nicht, wenn es in Anwesenheit ihres Neffen und ihrer beiden Nichten geschah. Die Kleinen sollten nicht durchmachen, woran sie sich aus ihrer eigenen Kindheit erinnerte. Es war zu grausam.
Aber war es wirklich zu viel verlangt, wenn sie erwartete, dass ihre Schwester sie vorwarnte? Ein kurzes Telefongespräch, um die Sache abzuklären? Eine SMS mit der Nachricht, dass sie auf dem Weg zu ihr waren? Stattdessen hatten die vier einfach mit dem Auto vor dem Haus gestanden, als Neve von der Arbeit zurückkam.
„Siobhan …“
„Bitte, ich flehe dich an.“
Es war lange her, dass Neve das Gefühl gehabt hatte, ihre Schwester brauche sie wirklich. Ihr Verhältnis war nicht mehr so gut wie früher, seit Siobhan geheiratet hatte. Eine Heirat, die – wäre es nach Neve gegangen – niemals hätte stattfinden dürfen. Ihrer Schwester hatte sie das nicht verschwiegen, sondern, im Gegenteil, laut und deutlich gesagt. Siobhan hatte ihr das nie wirklich verziehen.
Doch nun machte ihre jüngere Schwester einen so verzweifelten Eindruck, dass Neve sich unwillkürlich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlte und wie damals das Bedürfnis verspürte, sie zu trösten und zu umsorgen.
Ihr Blick wanderte erneut zu den drei Kindern. Der Älteste, Johnnie, sah sie mit großen Augen an, die von derselben Farbe waren wie die seiner Mutter. Während sie noch überlegte, wie sie heil aus der Sache herauskommen könnte, war ihr plötzlich, als würde sie den Erwartungen des Jungen nicht gerecht.
Ergeben holte sie tief Luft. „Also gut. Für wie lange?“
„Danke!“ Siobhan umarmte sie heftig, und ihre Tränen versiegten augenblicklich. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
Neve runzelte die Stirn und hatte das ungute Gefühl, hereingelegt worden zu sein. „Die Kleinen brauchen doch …“
„Sie haben alles dabei“, fuhr ihre Schwester unbeirrt fort. „Du kannst gar nichts falsch machen. Maggy geht inzwischen aufs Töpfchen. Sie braucht nur noch nachts eine Windel. Ich habe eine Packung mitgebracht, du wirst mühelos damit zurechtkommen.“
Neve stand immer noch stirnrunzelnd da, während ihre Schwester wie ein Wirbelwind durch das Zimmer fegte, die Kinder umarmte und küsste und zur Tür eilte. „Wir werden nur einige Tage fort sein. Mac hat ein hübsches abgelegenes Hotel auf dem Land für uns gefunden.“
„Wie kann ich dich …“
„Danke, Neve. Du bist wirklich ein Schatz.“
Damit war Siobhan verschwunden.
Neve blickte fassungslos auf die Tür, die hinter ihrer Schwester ins Schloss gefallen war. Vor nicht einmal einer halben Stunde hatte sie sich noch auf ein Schaumbad mit Duftkerzen und ein Glas guten Chardonnay gefreut. Jetzt starrte sie in drei kleine Gesichter, aus denen die gleiche Verwirrung sprach, die sie selbst empfand.
Entschlossen setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf und ging auf die Kinder zu. Es dauerte ungefähr dreißig Sekunden, bis die Jüngste der drei in heftiges Weinen ausbrach.
„Oh nein, Maggy. Nicht weinen.“
Im selben Moment begann das zweite Kind zu schniefen. Nur Johnnie sah teilnahmslos vor sich hin.
Es war der reinste Albtraum.
Brendon hasste Umzüge. Dies würde für mindestens ein Jahrzehnt sein letzter sein, schwor er sich, während er einen Karton von der Pritsche des Umzugswagens hievte und zum sechsten Mal ins Haus ging. Schweißgebadet rollte er die Ärmel auf und setzte seine Gänge fort.
Wenigstens verlief sein Leben nicht so chaotisch wie das der armen Frau auf der anderen Straßenseite.
Sie lief gerade zum dritten Mal vom Haus zu ihrem Wagen, diesmal mit einem schreienden Kleinkind auf den Armen. Aus der Art und Weise, wie sie sich bewegte, schloss er, dass sie nicht viel Freude daran hatte. Und weit und breit kein Vater, um ihr zu helfen. Vielleicht war er rechtzeitig zur Arbeit gefahren, bevor das Chaos begann.
Brendon schüttelte den Kopf. Er hätte lieber eine Wohnung in einem dieser neuen Apartmenthäuser kaufen sollen, in dem nur Singles wohnten. Menschen, die keine perfekten kleinen Familien bildeten, die von Häusern voller anderer perfekter Familien umgeben waren.
Aber das Haus war eine gute Investition gewesen.
Die junge Frau beugte sich in den Wagen und beruhigte das schreiende Kind. Dann fuhr sie mit den Händen durch ihr dunkles Haar, schloss die Autotür und ging hinüber zur Fahrerseite. Doch auf halbem Weg blieb sie stehen und stieß einen zornigen Schrei aus. Hilflos hob sie die Hände und ließ sie wieder sinken. „Nein, nicht das noch! Nicht heute Morgen …“
Brendon folgte dem Blick der jungen Frau. Ein platter Reifen! Er konnte ihren Ärger gut verstehen.
Nun, überlegte er, das ist auch eine Möglichkeit, die neuen Nachbarn kennenzulernen. Und die junge Frau sah wahrhaftig aus, als könnte sie einen Retter in der Not gebrauchen.
Deshalb eilte er über die Straße. „Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“
Neve zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen und drehte sich erschrocken um. Das dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht. „Ich habe einen Platten.“
Brendon warf einen Blick auf den traurig zusammengesunkenen Reifen und nickte zustimmend. „Ja, das scheint mir auch so.“
„In diesem Outfit kann ich unmöglich ein Rad wechseln.“ Sie hielt einen Moment inne und fixierte mit dem Blick den defekten Reifen. Dann holte sie tief Luft, und ihre Stimme veränderte sich. „Ich kann Sie wohl kaum bitten …?“
Der Mann in ihm bemerkte den neuen Ton sofort. Die Frau versuchte mit ihm zu flirten, damit er ihr Rad wechselte. Typisch Frau. Offensichtlich eine jener Hausfrauen, die nie gelernt hatten, ein Rad zu wechseln, weil ihr Ehemann diese Aufgabe stets übernahm.
Lächelnd beobachtete er, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. Im selben Moment stockte ihm der Atem.
„Neve …“
Ihr Kopf schoss in die Höhe, und sie sah ihn mit großen Augen an. „Brendon.“
Seine blonden Brauen zuckten angesichts der Vorsicht, mit der sie seinen Namen aussprach. Er lächelte breiter. „Also das nenne ich eine Überraschung!“
„Was machst du hier?“
„Ich ziehe gegenüber ein.“
„Du hast das Haus dort gekauft?“ Ihr Blick glitt zu dem halb entladenen Pritschenwagen. „Wann?“
„Ich habe die Schlüssel erst vorgestern bekommen. Ehrlich gesagt, wenn man mir eine Liste der Leute ausgehändigt hätte, mit denen ich hier zusammentreffen könnte …“
„Wäre meiner der letzte gewesen, den du darauf erwartest hättest?“ Sie blickte ihn mit einem gequälten Lächeln an. „Nett zu hören.“
Brendon richtete sich unwillkürlich auf. Okay, Neve hatte einen schlechten Tag. Das war unübersehbar. Aber das war kein Grund, unfreundlich zu ihm zu sein. Schließlich war er herübergekommen, um ihr zu helfen.
„Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.
„Ja, das stimmt.“
Brendon unternahm einen weiteren Versuch, die Stimmung aufzuhellen, obwohl Neve es eigentlich nicht verdient hatte. Mit seinem langen Zeigefinger deutete er zu dem Wagen, wo das Geschrei zum Glück nicht wieder angefangen hatte. „Eindeutig vor der Zeit dieser drei Kleinen dort.“
Neve lachte freudlos auf. „Ach, die sind nicht von mir. Es sind die Kinder meiner Schwester.“
„Du hast sie entführt?“
Diesmal war das Lächeln, das sie ihm schenkte, ein klein bisschen entspannter. „Nein, bestimmt nicht. Weshalb sollte ich?“
„Nun, sie sind sehr niedlich.“ Er winkte durch das Fenster.
„Ja, das sind sie.“ Sie winkte ebenfalls und wurde mit einem dreifachen Lächeln belohnt. „Aber sie machen auch sehr viel Arbeit.“
„Ich habe von diesem Gerücht gehört.“
Neve betrachtete sein Spiegelbild im Fensterglas und dachte einen Moment nach. Dann sagte sie: „Hör zu, es tut mir leid, dich fragen zu müssen. Kannst du mir mit dem Reifen helfen? Ich komme jetzt schon zu spät zur Arbeit.“
„Du nimmst die Kinder mit ins Büro?“
„Nein.“ Sie lachte erneut. „Ganz in der Nähe ist eine Kindertagesstätte. Dort ist man bereit, sie aufzunehmen. Aber nur für heute. Anschließend muss ich sehen, wie ich mit der Situation fertig werde.“
Brendon holte tief Luft und drehte sich wieder zu ihr. Während er seinen Blick über ihr Gesicht wandern ließ, erinnerte er sich, wie Neve ausgesehen hatte, als er ihr das letzte Mal begegnet war. Die neun Jahre hatten ihr nichts anhaben können. Sie sah fantastisch aus, wenn auch ein wenig gestresst.
Er dachte an ihren Kuss von vor neun Jahren zurück. Bevor Neve geflohen war, hatte sie ihm damals geraten, sie zu vergessen. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, sich mit ihr auszusprechen.
Und jetzt war sie seine Nachbarin. Nun, daran war nichts zu ändern …
Brendon räusperte sich leise. „Natürlich kann ich dir helfen. Kein Problem. Schließlich bin ich deswegen herübergekommen.“
Es entstand eine kurze Pause. „Danke“, sagte Neve endlich.
Brendon lächelte zögernd. „Gerne.“
Neve hielt einen Moment inne, dann lächelte sie ebenfalls. Schließlich war Brendon sehr hilfsbereit.
Sie folgte ihm zum Heck, wo er das Ersatzrad aus der Halterung löste und das Werkzeug zusammenstellte, das er benötigte. Das gab ihr einen Moment Zeit zu überlegen, worüber sie sich unterhalten konnten. Doch das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war: Warum zum Teufel ausgerechnet er!
„Du hast also keine eigenen Kinder?“, hörte sie ihn auf ihrer Kniehöhe fragen.
„Nein, ich habe keine eigenen Kinder.“ Seltsamerweise verspürte Neve plötzlich das Bedürfnis, sich für ihre Kinderlosigkeit zu rechtfertigen. „Ich bin zu sehr mit meinem Beruf beschäftigt.“
„Bestimmt nicht, solange diese drei bei dir sind.“
Vielen Dank, Brendon, dass du es laut aussprichst, dachte Neve und blickte stirnrunzelnd auf seinen Rücken. Er hatte den Wagen schon aufgebockt und griff nach dem Kreuzschlüssel. „Nein. Aber arbeiten muss ich trotzdem. Der Besuch der Kinder war nicht geplant.“