Ein Lesebuch - Carl von Ossietzky - E-Book

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Carl von Ossietzky

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Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde. Dieser Band enthält, neben einer Biografie, folgende Schriften: Die Klinge Kant und die Sträflinge Professoren, Zeitungsschreiber und verkrachte Existenzen Der Fall Franz Höllering Der Schatten der Paulskirche Staatliche Propaganda. Die Republik und ihre Gegner Deutsche Linke Lob der Außenseiter Armee ohne Tambour! Deutschland ist... Der Fall Völkerbund Finger weg vom Globus! Der kranke Imperialismus Volksentscheid Groeners beinahe legaler Putsch Revanche Gasangriff auf Hamburg Der Kieler Parteitag Sklaven-Export Moskau und Potsdam Stalin und Trotzki Weltreaktion Ihr Unsinn und ihr Sinn Wer gegen wen? Kavaliere und Rundköpfe Das Ärgernis Erna Anthony Gottes Stimme in Berlin Die unzivilisierte Sexualität Die National-Päderasten Wie man sich wiedertrifft Julia im Hotel Aminta auf dem Autobus Die Robe der Frau Kollontai Miss Sheebo und der Humor davon Die Revolte der deutschen Frauen Antworten [Erwin Piscator] Die Kaufleute von Berlin Der erhobene Krummstab Das lädierte Sakrament Das Paradies Maß für Maß in Bremen Freund Hein Zum Falle Friedrich Wolf Billies Prozeß Das Reichsgericht im Sommer Genosse Z. konfisziert Remarque-Film Abkürzungen

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Ein Lesebuch

Carl von Ossietzky

Inhalt:

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Die Klinge

Kant und die Sträflinge

Professoren, Zeitungsschreiber und verkrachte Existenzen

Der Fall Franz Höllering

Der Schatten der Paulskirche

Staatliche Propaganda. Die Republik und ihre Gegner

Deutsche Linke

Lob der Außenseiter

Armee ohne Tambour!

Deutschland ist...

Der Fall Völkerbund

Finger weg vom Globus!

Der kranke Imperialismus

Volksentscheid

Groeners beinahe legaler Putsch

Revanche

Gasangriff auf Hamburg

Der Kieler Parteitag

Sklaven-Export

Moskau und Potsdam

Stalin und Trotzki

Weltreaktion Ihr Unsinn und ihr Sinn

Wer gegen wen?

Kavaliere und Rundköpfe

Das Ärgernis

Erna Anthony

Gottes Stimme in Berlin

Die unzivilisierte Sexualität

Die National-Päderasten

Wie man sich wiedertrifft

Julia im Hotel

Aminta auf dem Autobus

Die Robe der Frau Kollontai

Miss Sheebo und der Humor davon

Die Revolte der deutschen Frauen

Antworten [Erwin Piscator]

Die Kaufleute von Berlin

Der erhobene Krummstab

Das lädierte Sakrament

Das Paradies

Maß für Maß in Bremen

Freund Hein

Zum Falle Friedrich Wolf

Billies Prozeß

Das Reichsgericht im Sommer

Genosse Z. konfisziert

Remarque-Film

Abkürzungen

Ein Lesebuch, Carl von Ossietzky

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849624866

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in  Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen".  Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.

Ein Lesebuch

Die Klinge

Dem Publizisten flicht die Nachwelt noch weniger Kränze als dem Mimen, von dem immerhin Rollenbilder zu den Bürgern späterer Jahrhunderte sprechen. Er muß sich vom Tage tragen lassen, sich in seinem Rhythmus wiegen und das Reittier würgen, wie Freiligraths Wüstenkönig, wenn im Osten neues Frühlicht glänzt. Wehe, wenn er sich in einen Tag verlieben wollte, er wäre schnell hinter tausend anderen zurück. Der Journalist als Kritiker der Zeit schreibt sich nicht ins Buch der Geschichte ein, sondern ins Fell der Gegner. Ihre Narben sind sein Ruhm. In ihre Haut gekritzelt stehen seine persönlichen Urkunden; da ist Mensch und Werk wie vom Papier abzulesen. Der Tag mit seinen wechselnden Erregungen und Programmen vergeht. Degen und Narben bleiben. Sprichst du vom Journalisten, so lautet die Frage nach kurzem nicht mehr: Wofür kämpfte er?, sondern: Was hat er ausgeteilt, wie hat er geschlagen?

Wenn Ihnen, lieber Stefan Großmann, all die Präsente zuteil werden, mit denen man Geburtstagskinder nun einmal überschüttet, Torten und Weine und Bücher und Blumen, dann möchte ich in dieser festlichen Runde etwas bescheidener auftreten und Ihnen ganz einfach etwas überreichen, was Ihnen gehört, ja, ein Stück von Ihnen ist: ein Abbild der Klinge, die Sie jetzt fast drei Jahrzehnte führen, die manchen Harnisch zerbeult, manchen Zopf gespießt, manche Nase verkürzt, aber auch manchen wohltätigen Aderlaß herbeigeführt hat. Haben Sie das Ding immer so genau betrachtet, haben Sie es immer wie Ihr kostbarstes Eigentum behandelt? Ich will versuchen, es Ihnen aufzuzeigen, feiertäglich bekränzt.

Sie werden sich vielleicht dagegen verwahren, einseitig als Raufdegen behandelt zu werden, Sie werden betonen, daß Sie oft Ja gesagt, mit Hingabe verteidigt und gefördert haben. Ich lasse das alles gelten, aber, ich täusche mich nicht, Ihr Degen scheint mir zum Salutieren doch nicht ganz geschaffen zu sein. Die Spitze wackelt so verdächtig. Das edle Instrument kommt eben aus keinem preußischen Arsenal. Bitte, lehnen Sie es nicht ab, als Fechtmeister gewürdigt zu werden – einem Geburtstagskind rühmt man ja gewöhnlich Friedfertigkeit nach, einem Fünfzigjährigen erst recht väterliche Milde, Abgeklärtheit usw. – wenn ich Sie von dieser Seite packe, dann geschieht es, um völlig sichtbar zu machen, daß Sie in dem fast alle Zeitungsmänner verplebsenden Wirbel unserer Gegenwart eine große und immer mehr versackende Kunst mit graziöser aber höllischer Schärfe vertreten: die Kunst der Polemik.

Wer kann eigentlich heute noch seinen Gegner planvoll und doch kurzweilig tranchieren? Die Kunst, ein Pamphlet zu schreiben, ist selten geworden; man bekreuzt sich schon vor dem Wort. Wenn Hamlet heute unter die Leute der Presse treten würde, wie einst unter die Schauspieler, er würde etwa sagen: "Oh, da gibt es vollbärtige Herren, die pathetisch rollen und immer sich gebärden, als ob sie zur Ewigkeit sprächen und nicht zu ein paar schnelleilenden Stunden. Dann gibt es Milchbärte, die entsetzlich viel Bücher gefressen haben und vor lauter Schulweisheit nicht mehr wissen, was Recht und Unrecht, Liebe und Haß. Sie haben kaltes, träges Blut und bilden sich viel darauf ein, sie nennen es Sachlichkeit. Ich erinnere mich, daß ein deutscher Autor einmal gesagt hat: ›Seit die Schauspielerinnen wie Gouvernanten leben, wird das Theater immer schlechter‹. So werden auch eure Journale immer schlechter, seit ihr anfangt, sie mit Bildung vollzupfropfen, anstatt mit Temperament zu füllen. Der Zeitungsschreiber aber soll weder dozieren noch dreschen, sondern der Zeit den Spiegel vorhalten. Er soll ihn auch nicht dem ersten besten Zeitgenossen auf den Kopf schlagen, denn der Spiegel ist mehr wert als der Kopf. Sorgt dafür, Ihr Herren, daß die Redaktion nicht zur Studierstube, oder zur Metzgerbank, oder zum Konfektionstisch wird. Ihr seid das Gewissen des Tags, Kinder einer Ehe, entsprossen zwischen Thersites und Cassandra. Ihr müßt feinere Organe haben für das Kommende als die Menge, aber ihr müßt es oft in häßlicher und bitterer Art sagen, ihr müßt es oft in sehr verschrobener Art sagen, um gehört zu werden, um aufzufallen."

Ja, wer kann heute noch ohne Umschweife und ohne Klobigkeit eine Polemik führen? Stefan Großmann, Sie vertreten eine große Kunst, die seit Börne und Heine immer mehr entschwindet. Sie wissen, daß ein Zeitungsartikel, um zu wirken, der dramatischen Zuspitzung bedarf wie der farbigen Vielfalt. Ist es ein unbeirrbar österreichisches Temperament in Ihnen oder Ihr ganz Persönliches, das kann ich nicht beurteilen, aber Sie haben das, was verlorengegangen: – die spielerische Verliebtheit in die Attacke. Haben Sie selbst sich so genau beobachtet, haben es andere getan, einerlei, ich als der Letzte, der zu Stefan Großmanns Truppe stieß, will schildern, wie er kämpft.

Niemals ist einer unzeremonieller in den Ring getreten. Wahrscheinlich auch nicht gutgelaunter. Er nimmt der Offensive den furiosen Charakter. Er wirft sich nicht wie ein Tiger auf den Gegner. Er legt den amüsanten Teil des Abends, der eigentlich nachher kommen soll, in die Attacke. Er schweift vergnüglich ab, flicht Anekdoten ein, Reminiszenzen – man denkt, es geht auf Barnowsky, aber nein, es geht auf Stresemann –, es gibt ein paar von Herzensgüte zeugende Einlagen (selten bei einem Duellanten). Oh, denkt der Zuschauer, der wird nicht stoßen! Dann wieder ein paar muntere Sprünge, etwas Gaukelei, ein Scherz läuft mit unter – und plötzlich ein kleiner Schrei, einer erbleicht und wankt: – St. G. hat gestochen! Und nun ruft er nicht: Ha, eine Pointe! Munter erzählt er weiter und wischt dabei das Blut gemütlich vom Degen. Der andere aber geht und klagt.

Großmann macht sich die Polemik nicht leicht. Er vereinfacht nicht, er kompliziert. Er weiß, es kommt nicht so sehr darauf an, sich selbst zu präparieren als vielmehr den Gegner. Er richtet sich den Mann also her, sehr gewissenhaft, sehr liebevoll. Unvergeßlich bleibt nur ein Artikel, in dem er – es mag jetzt zwei Jahre her sein – den Redner Cuno behandelte. Er sagt also nicht: Herr Cuno ist ein hölzerner, langweiliger Patron, der Wort für Wort abliest, sondern: er rühmt den lyrischen Schwung des Opfers, seine deklamatorische Begabung, seine gute Haltung und Unabhängigkeit vom Manuskript. Und alles das addiert er dann, und siehe, es kommt dabei heraus: er ist der geborene Trauerredner. Dusche schnell angedreht, Opfer klitschenaß, Heiterkeit ringsum, Herr Großmann verbeugt sich. Ab. Schluß.

Ich weiß nicht, ob die Gegner immer die gebührende Anerkennung finden für diese in ästhetischer Hinsicht völlig befriedigende Art der Erledigung. Ich weiß auch nicht, ob Herr Stresemann, der augenblickliche Hausgott des "Tage-Buches", sehr viel Vergnügen findet an dem amüsanten Nebenbei der Schächtung. Aber Stefan Großmann ist kein Besitzfanatiker. Es ist ein wahrhaft rührender Zug an ihm, er hat den Feind nicht in Erbpacht genommen, wie T. W. seinen Poincaré, er wuchert nicht mit den 200 Pfund, die der Herr ihm in der Gestalt des Herrn Stresemann verliehen, er überläßt in köstlicher Abundanz das Feld den jüngeren Kollegen zur Bestellung. So erklärt sich jener Stresemann-Taumel, den aufmerksame Leser des "Tage-Buches" und des "M. M." gelegentlich wahrgenommen haben und der wohl auch der äußersten Kolumne nicht ferngeblieben ist. (Man sollte selbst den Sportteil des "M. M." einmal daraufhin durchsehen.) Es hat immer Schwärmer gegeben, die ihr Glück mit ihren Freunden teilten, Weiber und Güter. Stefan Großmann teilt mit ihnen seine Feinde. Ein erhebender, ein sehr sublimer Zug.

Ist das ein Scherz oder mehr? Nun, es gibt ein Heft des "Tage-Buches", das diese lose Improvisation ernsthaft unterstreicht. Es stammt aus dem August 1923 und faßt in knappen Zitaten zusammen, was in sieben Monaten der Regierung Cuno von Stefan Großmann und Leopold Schwarzschild gemeinsam an Befürchtungen, Warnungen, Kritik ausgesprochen wurde. Die kleinen grünen Hefte blieben lange isoliert. Warum sollte sich auch die sogenannte große Presse für ... pah eine Zeitschrift interessieren? Das Bewußtsein, rechtzeitig gesehen und gesprochen zu haben, es ist der schönste Triumph des aktiven Publizisten.

Hinter der fechterischen Attitüde pocht ein Herz und wacht ein Auge.

Das Tage-Buch, Sonderheft 1925

Kant und die Sträflinge

In einer soeben bei Georg Stilke erschienenen Sammlung von Kant-Anekdoten – die Auswahl hat mit freundlichem Verständnis Kurt Joachim Grau besorgt – wird die folgende nachdenkliche Geschichte erzählt:

"Kant wechselte sehr häufig seine Wohnungen, weil er sich überall durch den herrschenden Lärm beschwert fühlte. Zuletzt kaufte er sich in einer ziemlich geräuschlosen Gegend der Stadt, nahe dem Schloß, ein Haus mit einem kleinen Garten, wo er ganz nach seinen Wünschen leben konnte. Nur das Singen der Insassen eines unweit davon liegenden Gefängnisses störte ihn auch hier noch oft bei der Arbeit. Er beschwerte sich bei der Polizei über diesen ›Unfug‹, wie er sich ausdrückte, und erreichte auch glücklich, daß die Gefangenen angehalten wurden, nur bei verschlossenen Fenstern ihrer Sangeslust stattzugeben."

Es gibt eine andere und bösere Lesart dieser Geschichte: Kant habe von der Polizei gefordert, den Sträflingen solle das Singen überhaupt verboten werden, und die Polizei habe der Beschwerde tatsächlich nachgegeben und den armen Teufeln das Singen untersagt, damit die Ruhe des Herrn Professors nicht gestört werde.

Ein talentierter Pamphletist hat in einer etwas gehässig geratenen Analyse der "deutschen Mentalität" diese Anekdote aufgegriffen und behauptet, Kant habe, wie alle bedeutenden Repräsentanten des Deutschtums, kein Herz für die Kreatur gehabt; dem Verfasser der Schrift vom ewigen Frieden habe der Sinn für Humanität gefehlt. So lieblos kann einer werden, der dem andern Mangel an Liebe vorwirft.

Mißverstanden ist in dieser Veräußerlichung, in dieser beabsichtigt tendenziösen Zuspitzung die tiefere, fast bizarre Symbolik des Vorganges: die Einsamen, die den Einsamen stören. Die Männer im Gefängnis gröhlen ihr Leid in die Welt hinaus; der Einsiedler in dem bescheidenen Haus am Schloß aber bildet aus seinem Leid eine unerhörte Melodie. Die Gassenhauer der Sträflinge verhallen in der Nacht, aber das Lied des Immanuel Kant wird für ewige Zeiten Finsternisse durchdringen und die Nacht besiegen.

Man erzählt von Gustav Mahler, daß er in ländlicher Zurückgezogenheit, die er gesucht hatte, um in Stille eine Symphonie zu vollenden, fast zu Tode gequält wurde durch die Konkurrenz der – Singvögel, die sich in der Gegend in seltener Anzahl zusammengefunden hatten. Die Freunde sahen, wie der Meister immer tiefer in seelische Überreiztheit hineingeriet und beschlossen, ihn von dieser geräuschvollen Plage zu befreien. Und so veranstalteten sie eines Morgens unter den Tierchen eine gewaltige Metzelei. Als der Meister zur Arbeit ging, um sein Herzblut zu verströmen, da hatte das Blut der kleinen Vögel schon den Rasen ringsum gerötet.

Die vielen kleinen Lieder müssen dem einen großen weichen. Der Weg zum Werke gleicht immer dem Marsch einer Armee. Zurück bleiben Trümmerstätten und zertretene Freuden. Aber auch das Singen bleibt immer. Und darauf kommt es an.

Das Tage-Buch, 12. April 1924

Professoren, Zeitungsschreiber und verkrachte Existenzen

Wie dem Organ des Reichsverbandes der Deutschen Presse zu entnehmen ist, hat eine deutsche Universität sich kürzlich bemüßigt gefühlt, die akademische Jugend in einem Merkblatt über die journalistische Laufbahn aufzuklären. Dieses Opus, strotzend von Weltfremdheit und professoraler Arroganz, ist beschämend. Nicht nur für den Herrn Verfasser, sondern fast in höherem Grade noch für die Zeitungsschreiber, die es nicht verstanden haben, sich für ihren Stand dasjenige Maß von Achtung zu verschaffen, das etwa der Verband der bei der städtischen Müllabfuhr Tätigen für sich beansprucht.

Empfang in der Wilhelmstraße, Tee beim Reichskanzler: "Meine Herren, Sie sind mir unentbehrlich!" –, das alles macht es nicht. In der öffentlichen Einschätzung bedeutet Journalist Schreibekuli, Individuum ohne Stimme und mit auswechselbaren Meinungen. So dürfte es kaum erstaunen, wenn der berufsberatende Geist einer deutschen Universität sich also vernehmen läßt:

"Zu der großen Bedeutung der Presse steht zweifellos im Widerspruch die öffentliche Wertung des Berufes des Journalisten und die vielfache Ungeeignetheit der Vertreter des Berufes. Zweifelhafte Existenzen, manchmal verkrachte Existenzen, haben sich nicht selten in diesen Beruf geflüchtet. Namentlich in charakterlicher Hinsicht wird mit Recht oft lauter Zweifel an den deutschen Journalisten ausgesprochen."

Dann, unter der einlullenden Überschrift "Die Berufsethik, Beruf und Mensch", nach einer rührenden Klage über die vielen "reinen Geschäftsleute", die nur Geld verdienen wollen, über die Gefahren des Inseratengeschäftes, über die taktischen Rücksichtnahmen auf Verleger, Leser und parteipolitische Bindungen, die folgenden Kernworte:

"Man spricht von › Revolverjournalisten‹, die man als bestechlich, sogar als erpresserisch brandmarken muß. In der Zeit des Weltkrieges namentlich haben wir genug solcher Fälle erlebt. Massen ausländischen Geldes ist dabei geflossen. Eine Korruption sondergleichen war für jeden klar Sehenden erkennbar."

Das ist riesig amüsant, so amüsant, daß man fast die Frage unterdrückt, woher diese akademische Leuchte eigentlich ihre frappierende Detailkenntnis bezieht. Wenn es ein Germanist ist, sicherlich aus Gustav Freytags "Journalisten", die ja heute immerhin in einigen Stücken überholt sind. Hat der Brave auch nur eine Stunde in seinem Leben Redaktionsarbeit zuschauend miterlebt? Hat er auch nur einmal die nervöse Epidermis des Kolossalkörpers Presse mit den Fingerspitzen betastet? Er sieht Gefahren. Aber die Gefahren, die er sieht, kommen eher vom Mond als von unserer freundlichen Erde. Er weiß z.B. nicht, daß es Konzerne gibt, die Zeitungen aufkaufen, sich verpflichten. Er kennt nicht Stinnes, nicht Hugenberg. Er weiß nur, daß im Kriege ausländisches Geld in Massen geflossen ist und – er schreibt es nicht nieder, aber wir können seine Gedanken leicht weiterspinnen – daß wir deshalb den Krieg verloren haben und es deshalb eine Linkspresse in Deutschland gibt. Der Verleger ist ihm ein Tyrann kleinbürgerlichen Formats, der in Holzpantinen durchs Redaktionszimmer schiebt und seine Leute anweist, den Krämer X. zu attackieren, weil er die Frau Verleger schlecht bedient hat. So viel weiß der Herr Berufsberater einer deutschen Universität von der modernen Presse.

Doch wir wollen ihm nicht unrecht tun. Er hat auch läuten hören, daß es Revolverjournalisten gibt. Von der Presse zur Erpressung ist ihm nur ein kurzer Schritt; die Begriffe fließen ihm zusammen. Nun hat es tatsächlich einmal eine ausgedehnte Revolverjournalistik gegeben. Diese Zeit ist, das sei dem guten Manne zur Beruhigung versichert, längst vorüber. Das war im Kriege, als wir selbst noch fremde Gebiete besetzt hielten und nicht ahnten, daß sich der Spieß einmal umkehren könnte. Damals wurden in Belgien, Rumänien, in der Ukraine, in Bulgarien Zeitungen okkupiert und der erhabenen Gedankenwelt der Obersten Heeresleitung dienstbar gemacht; an den Eingeborenen wurde auf diese Art eine oft etwas seltsame Aufklärungsarbeit betrieben, und diese hatten die freudige Genugtuung, daß es durch Landsleute geschah. Da floß "ausländisches Geld in Massen" in Redaktionen und Verlagsgeschäfte, "eine Korruption sondergleichen war für jeden klar Sehenden erkennbar". Das war richtiggehende Revolverjournalistik, die weder die Manager noch ihre Kreaturen ehrte. Aber es war eine Journalistik nicht mit irgendeiner kleinen Privatpistole, sondern mit dem Armeerevolver. Der Herr Leutnant als Ephorus der annektierten Presse hatte entsichert, und wehe dem, der nicht die Hacken zusammenknallte.

Das war, Herr Professor, als Zustand ohne Zweifel in "charakterlicher Hinsicht" bedenklich.

Es soll hier keine Apologie des deutschen Zeitungsmannes heruntergebetet werden. Wer nicht blind ist, weiß, wo und warum zu kritisieren ist. Aber wie das Verbandsorgan der Journalisten darauf reagiert, das ist wahrhaft schwächlich. Anstatt dem unerbetenen Berater mit der Narrenpritsche über den gelehrten Hohlkopf zu fahren und ihn mit einem Höllengelächter nach Hause zu schicken, wird todernst nachgewiesen, daß er im Irrtum sei, und daran werden allerhand Vorschläge für das Vor- und Fortbildungsproblem des Journalisten geknüpft. Nicht einmal die Universität wird verraten, die sich diesen Exceß hat zu schulden kommen lassen. Die unverfrorene Zusammenstoppelung mit der ehrenwerten Gilde der gemeinen Erpresser, die, wie jeder Unterrichtete weiß, völlig außerhalb der Linie stehen, wird beantwortet mit:

"Man kann gar nicht glauben, daß der Verfasser dabei an die deutsche Presse gedacht hat. Wir nehmen zu seinen Gunsten an, daß er die Korruptionsherde der Pariser Presse meint, zu deren Entlarvung jüngst so aufsehenerregende Einzelheiten bekannt geworden sind."

Mit so vorsichtig dosierter Ironie verteidigt man seinen Beruf. Der deutsche Journalist leidet unter gottgewollten Abhängigkeiten. Als Mitglied seiner Organisation, als Arbeitnehmer, der nach Rechten und höherer sozialer Wertung strebt, wird er sofort zahm und zittrig. Er bestimmt nicht seine Rangklasse selbst, er läßt sich plazieren. Tu l'as voulu, George Dandin!

Man kann nicht kämpfen, wenn die Hosen voller sind als das Herz.

Aber kehren wir zu besagtem Professor und seinen Schmerzen in "charakterlicher Hinsicht" zurück. (Nebenbei: welches Blatt würde auch die geringste Lokalnotiz in solchem Deutsch aufnehmen?) In einem hat der Mann recht: es haben sich nicht selten verkrachte Existenzen in den Journalistenberuf geflüchtet, sie haben dort ein Refugium gefunden und ein Talent entdeckt, das ihnen früher nicht bewußt war. Aber er vergißt hinzuzufügen: diese Existenzen sind durchweg an der Universität verkracht. Nirgends verkrachen nämlich mehr Existenzen als in der berühmten akademischen Freiheit. Sie werden erfaßt von der großen Bierflut der Universitätsstädte, fortgeschwemmt, haltlos treiben sie weiter, von keinem Mentor belehrt, wie man im Lebensstrome schwimmt. Es ist nicht fein, mit Retourkutschen zu arbeiten: – aber was leistet eigentlich die deutsche Universität in "charakterlicher Hinsicht"?

Früher wurde auf den Hochschulen ein überdummer Servilismus kultiviert, heute gelten sie mit Recht als Brutstätten politischen Obskurantentums. Heute nicht anders als früher wird die Scheidewand gegen den Nichtakademiker künstlich aufrecht erhalten. Kastengeist und Herrendünkel werden den Jungen als verhängnisvoller Ballast mitgegeben. Die Persönlichkeit wird dem Ritus des Wissens geopfert; der Mensch ist gar nichts, das Endziel alles. Das Endziel aber ist das Examen. Es schlägt die Brücke ins bürgerliche Leben. Wer es nicht passiert, läuft in Gefahr, ewig ein Heimatloser, Entwurzelter, Paria zu bleiben. Das Examen ist von der Mittelmäßigkeit für die Mittelmäßigkeit geschaffen. Gerade die starke, die überdurchschnittliche Begabung, mit ihren menschlichen Hemmungen, ihren unterirdischen Erschütterungen, ihrer qualvollen Unsicherheit am Selbst, ist diesem kaudinischen Joch nicht gewachsen. Die Geschichte der Begabungen ist die Geschichte der schlechten Schüler, der versagenden, verlotterten Studenten. Ein beamteter Repräsentant der Wissenschaft sollte etwas vorsichtiger von verkrachten Existenzen reden. Was wären eigentlich die Wissenschaften, die Künste ohne eine Reihe von – im Sinne der guten akademischen Normen – verkrachten Existenzen? Nicht jeder, der in den Strudel geriet, findet endlich seinen Ararat, aber wer ihm entronnen, der ist auch reif für die spätere Leistung. Doch für den Herrn Professor erlischt das Interesse, wenn der Scholar den Boden verloren, zu torkeln beginnt. Heinrich Heine, der bummelige Jurist, Gerhart Hauptmann, der schlechte Akademiker, der sich vor dem Examen davonschleicht, labile Existenzen, nicht wahr?

Gleicht nicht der Weg eines begabten jungen Menschen zu Zeiten dem Ritt übern Bodensee? Er träumt vor sich hin, Melodien im Kopf, nicht Thesen und Formeln und Paragraphen, und eine dünne Eisdecke nur trennt ihn von dem unermeßlichen Grab.

Zeitungsschreiber und Professoren, zwischen ihnen liegt, wenn nicht eine Welt, so doch eine Kenntnis von dieser Welt. Eine Kenntnis, die nicht aus Büchern zu holen ist.

Der Journalismus ist der einzige loser oder enger mit dem Geiste zusammenhängende Beruf auf Gottes Erde, der nicht in das Prokrustesbett des Examens zu spannen ist. Die Tüchtigkeit, die Eignung entscheidet. Man kann ein fürchterlich viel wissender Jurist sein und doch ein untauglicher Richter oder Advokat. Man kann als Doktor der Medizin durch alle Prüfungen gerutscht sein, mit Auszeichnung sogar, und wird später doch nur die Friedhöfe bevölkern. Der Journalist beginnt ohne die trügerischen Vorschußlorbeeren des Examens. Er muß sich bewähren oder ...

Grund genug für die Herren Professoren, einem Beruf von so abgründig verruchten Möglichkeiten zu mißtrauen.

Die Zeitung von heute ist, darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren, kaum eine moralische Anstalt zu nennen. Aber sie hat den Universitäten von gestern und heute noch immer ein gewisses Maß Intelligenz voraus.

Und wenn eines Nachts in unser Redaktionszimmer – die Metteure schreien nach Manuskript, am andern Ende der Strippe rasen Timbuktu und Samarkand, dazwischen werden Schauspielerinnen gelobt und Minister beschimpft – wenn also plötzlich der Herr Magister eintreten würde und uns mit hochgeschwungenem Pädagogenfinger auf das Unzulässige unseres Tuns hinweisen wollte, wir hätten nur eine Antwort:

"Ätsch ...!"

Das Tage-Buch, 31. Januar 1925

Der Fall Franz Höllering

Mitte Dezember ist der Chefredakteur der ›B. Z. am Mittag‹, Doktor Franz Höllering, plötzlich seines Postens enthoben worden. Der Fall ist in allen deutschen Redaktionen leidenschaftlich erörtert worden, trotzdem hat, von rechtsradikalen und sozialistischen Blättern abgesehen, nirgendwo eine Notiz darüber gestanden. Denn die Presse schreibt bekanntlich nicht über sich selbst. Höllering galt, wie kaum ein Zweiter, für die Leitung eines großen Boulevardblattes qualifiziert, dessen entscheidender Dienst sich in einer ungeheuer aufreibenden und spannenden Vormittagsstunde zusammendrängt. Als Chef der ›B. Z.‹ hat Höllering eine schnelle und elegante Hand bewiesen, er hat ein in gutem Sinne aktuelles Blatt gemacht. Weshalb also diese überraschende Verstoßung?

Höllering hat bei Münzenberg angefangen. Daran hat bis vor einiger Zeit niemand Anstoß genommen. Im Gegenteil. Als Höllering in das Haus Ullstein geholt wurde, zunächst in den Bühnen-Verlag, da brauchte man einen Verbindungsmann nach links, der Beziehungen zur jungen Literatur hatte, denn damals kokettierte man noch mit dem Kulturradikalismus. Inzwischen ist die Schwenkung erfolgt, inzwischen sind auch, vor etwa vierzehn Tagen, die Richtlinien des Vorstandes an alle Redaktionen des Hauses ergangen, in denen der neue reaktionäre Kurs festgelegt wurde. Heute ist man eifrigst bemüht, alle Spuren einer republikanischen und kulturradikalen Vergangenheit zu verwischen. Heute riskiert man lieber langweilig zu sein, als den Anstoß der regierenden oder morgen vielleicht regierenden Mächte zu erregen. Vor einiger Zeit hat hier Heinz Pol seinen Abgang von der Redaktion der ›Voß‹ geschildert. Der Fall Höllering bedeutet in dem Abstieg eines großen liberal-demokratischen Zeitungshauses eine weitere traurige Etappe. Ullsteins Abmarsch zur gelben Presse hat begonnen.

Es ist nach Höllerings Absetzung sofort öffentlich behauptet worden, den Anlaß dazu habe eine Beschwerde des Reichswehrministeriums beim Verlag gegeben, weil ihm die großaufgemachte Meldung über Hitlers Luftflotte nicht in den Kram gepaßt habe. Der Verlag Ullstein hat sofort heftig dementiert, und wir wollens hinnehmen, denn so grob dürfte sich das wohl nicht abgespielt haben. Es ist auch kaum anzunehmen, daß ein Herr aus dem RWM mit Helm und Schleppsäbel beim Verlag erschienen wäre, um dort Groeners Gravamina vorzubringen. Solche Fäden werden feiner gesponnen. Es ist nicht unbekannt, daß man in der Wilhelm-Straße von dem linksradikalen Chef der ›B. Z.‹, der das Blatt möglichst unabhängig halten wollte, nicht entzückt war. Diese Stimmungen müssen sich allmählich auf den Verlag übertragen haben.

Im vergangenen Sommer wurde die ›B.Z.‹, wie hier im einzelnen nicht rekapituliert werden soll, von dem "Reichspressechef" Zechlin mit einer sogenannten Zwangsauflage bedacht, die zwar von den Ullsteinblättern einmütig zurückgewiesen wurde, bei den Verlagsspitzen jedoch die Stellung des Chefredakteurs der ›B.Z.‹ nicht gefestigt zu haben scheint, und weiter wurde ihm auch die ausführliche Berichterstattung und entschlossene Parteinahme im Weltbühnen-Prozeß unangenehm vermerkt. Der Verlag Ullstein kann über Groeners angebliche Intervention gut Dementis loslassen. Nicht dementieren kann er dagegen, daß Höllering nach dem Erscheinen jener Nummer der ›B. Z.‹, in der die Nachricht über Hitlers Luftstreitkräfte enthalten war, von seiner Ablösung unterrichtet wurde. Der Verlag hätte übrigens in sein Dementi ein viel triftigeres Argument hineinbacken können. In berliner Zeitungskreisen weiß man nämlich recht gut, daß schon eine Woche vor der Abberufung Höllerings ein hervorragender Mitarbeiter der ›Voß‹, Herr Doktor Reinhold, von Herrn Staatssekretär Pünder gesprächsweise erfahren hatte, daß die ›B.Z.‹ jetzt endlich einen andern Chef bekomme und zwar gleich wen. Herr Reinhold war darüber äußerst bestürzt, denn niemand, und Höllering zu allerletzt, wußte davon. Aber ein hoher Beamter war schon eine Woche vor dem Krach unterrichtet. So war also die Neubesetzung der Chefredaktion in der ›B. Z.‹ schon eine im Stillen beschlossene Sache, und, ob mit oder ohne Intervention aus der Bendler-Straße, – der Verlag fand die Veröffentlichung über Hitlers Luftmarine als den zum Bruch geeigneten Anlaß. Und am 17. Dezember schreibt das Zentralorgan der Nazis so triumphierend, als hätte es selbst eine Schlacht gewonnen: "RWM gegen Wehrverräter im Hause Ullstein... Wenn sich das RWM mit Recht endlich gegen den fortgesetzten Landesverrat der berliner Asphaltliteraten zur Wehr setzt, so ist das nur zu begrüßen." Kein Vernünftiger bezweifelt, daß Ullsteins Dementi wenigstens in formaler Hinsicht wasserdicht ist. Aber vor dem nationalsozialistischen Jubel darüber ist nur zu fragen: Wer freut sich darüber? Cui bono?

Man muß hier allerdings, um die Abneigung des Verlags gegen militärpolitische Themen ganz zu verstehen, etwas Wichtiges einflechten: es schweben nämlich noch zwei Landesverratsverfahren gegen Ullsteinredakteure. Wenn diese Verfahren auch kaum jemals zu Prozessen gedeihen werden, so genügen sie doch, um eine Zeitung unter Druck zu halten. Und damit kommen wir zu einer besonders heitern Methode, Blätter mit unbequemen kritischen Anfällen zu terrorisieren. Man macht wegen irgendwelcher Bagatellen einfach eine Anzeige, die hängt dann wie ein spitzes Messer über dem Haupt der Redaktion. Sie wird, wenn sie wieder was gegen die Reichswehr hat, sich die Sache beim nächsten Mal überlegen. Das RWM versteht nun zwar nicht die Bohne von der Presse, dennoch manches von der Psyche der deutschen Zeitungsverlage. Die Mehrzahl unsrer Zeitungsverleger ahnt nicht, was für eine Macht sie repräsentiert. Bei einem Konflikt zwischen ihren Redakteuren und einer Behörde, und namentlich einer militärischen, siegt ihre Servilität, und der Skalp des Redakteurs wird still verhandelt. Lieber Gott, man muß Beziehungen zu höhern Stellen aufrechterhalten! Außerdem wünscht man sich ein reputierliches Blatt, und Landesverrat hört sich wirklich nicht schön an, und nachdem im Weltbühnen-Prozeß nun sogar wegen Spionage verdonnert wurde, wird man künftighin alle Militärkritik lieber ganz beiseite lassen. Nicht an das allzu prunkvolle Haus in der Tiergartenstraße, an das Reichsgericht in Leipzig gehört die goldene Inschrift: Der Deutschen Presse.

Der Verlag Ullstein mag dementieren, daß Höllering dem schäumenden Acheron in der Bendler-Straße geopfert worden sei. Nicht dementieren kann er die zunehmende Laschheit aller seiner Blätter. Nicht dementieren kann er die Tendenz, die in der Wahl von Höllerings Nachfolger liegt, der dem Staatssekretär Pünder schon acht Tage vor dem Krach bekannt war. Das ist Herr Fritz Stein, Vertreter des ›Hamburger Fremdenblatts‹ in Berlin, der Sohn des alten Irenäus von der ›Frankfurter Zeitung‹. Ein Journalist, der weder schreiben kann noch durch Reporterbegabung oder Einfälle glänzt. Eine Couloirexistenz, ein Pimperl Wichtig, das immer dort Posto faßt, wo sich zwei Minister unterhalten. Eine gefällige Schallplatte der Wilhelm-Straße, ohne Kenntnisse, Meinungen, Überzeugung. Ein Mann der Beziehungen, von der Gunst von Ministern, Staatssekretären und Pressedirigenten getragen.

Zugegeben, daß grade die Lage der liberal-demokratischen Presse in dieser Zeit recht prekär ist. Wirtschaftlichen Liberalismus gibt es nicht mehr, eine bürgerliche Linkspartei gibt es nicht mehr, die alte Leserschicht stirbt aus oder proletarisiert. Die Zeitungsverleger starren fasciniert auf die Erfolge der rüden, schlecht gemachten rechtsradikalen Gassenjournale mit ihren kreischenden Schlagzeilen, das hat vielen von ihnen gründlich den Kopf verdreht, und sie möchten jetzt auch so etwas Ähnliches haben. Bei Ullsteins heißt das Ideal: ein ›Völkischer Beobachter‹ mit der Genehmigung des Rabbinats, von Brüning ebenso geschätzt wie von Braun und auch von den Kommunisten gern auf der Straße gekauft; ein Bastard von Goebbels und der Tante Voß. Da sich dieses bizarre Verlagsideal nicht leicht verwirklichen läßt, behilft man sich einstweilen mit einem reichlich chimärischen "innern Gleichgewicht"; man dämpft, man retuschiert, man untersagt der ›Voß‹ etwa den Gebrauch des Wortes "Nazi", um die Leute "nicht unnütz zu reizen". Und bei dieser Taktik werden die Blätter immer langweiliger und ein immer schlechteres Geschäft. Denn so rächt sich dieser Zitterkurs. Die ›Morgenpost‹, die früher immerhin einigen politischen Nutzen brachte, sinkt unter dem Druck von oben in hoffnungslose Vernulpung. In der ›Vossischen Zeitung‹, die mit Bernhards Ausscheiden aufgehört hat, ein international beachtetes Blatt zu sein, läuft Herr Elbau schusslig herum und kämpft radikale Anwandlungen von Kollegen mit dem geflügelten Wort nieder: "Aber, meine Herren, wir sind doch kein jüdisches Blatt!" Die ›B. Z.‹ hat mit Höllering Haltung und Farbigkeit verloren, und das ›Tempo‹ soll nach einem Gerücht, das wir nicht kontrollieren können, ganz eingezogen werden. Mißerfolge überall, klatschende Ohrfeigen, die die Wirklichkeit konfus gewordenen Kaufleuten verabfolgt, die sich einbilden, daß Charakterlosigkeit allein schon Pressesiege gewährleistet. Die kommunistischen und nationalsozialistischen Blätter triumphieren und drücken die Auflagen der Ullsteinblätter ständig herunter, und außerhalb Berlins beweist der pazifistische und republikanische ›Dortmunder Generalanzeiger‹, daß auch für ein handfestes bürgerliches Demokratenblatt die Zeit noch nicht vorüber ist, wenn es nur den Mut der Überzeugung hat. Denn der Zeitungsleser von heute will vor allem Klarheit und Präzision und nicht Drumherumreden, keine Halbheiten sondern ganze Tatsachen. Vor allem aber nicht dieses perfide Schielen nach der andern Seite der Barrikade, wie es den Ullsteinblättern von ihrem Verlag anerzogen wird.

Welch eine Instinktlosigkeit, farblos und schlecht getarnt durch eine überpolitisierte Zeit schlüpfen zu wollen! Nicht einmal vor ihren kläglichen Abschlüssen fühlen diese angeblichen Fachleute der öffentlichen Meinung, aus welchen Gründen sie ins Hintertreffen kommen.

Dabei verfügt das Haus Ullstein über eine Reihe der vorzüglichsten redaktionellen Potenzen, mit denen sich schon aktuelle, auf die Zeit lebendig reagierende Blätter machen ließen. Aber alles ist überorganisiert, verschachtelt, der Mangel an Initiative verschanzt sich hinter einer höchst selbstbewußten Direktorial-Hierarchie. Es gibt einen Aufsichtsrat, in dem ist ausschließlich die Familie Ullstein vertreten, und es gibt einen Vorstand, in dem sind alle Sparten des Hauses vertreten – mit Ausnahme der Redaktionen. Die haben nicht mitzureden, über die wird einfach verfügt, die dürfen aufhellende Bemerkungen schreiben über die Pariastellung des geistigen Arbeiters in Rußland.

Überall in der bürgerlichen Presse versinkt heute der alte Zustand, daß der Verleger, der Herr der Produktionsmittel, im Rahmen weitgehaltener politischer Direktiven den Redakteuren die Meinungsfreiheit und individuelle Betätigung gewährt. Es geht hart auf hart. Kann ein kapitalistischer Unternehmer in seinem Namen antikapitalistische Politik machen lassen? In manchen alten Zeitungshäusern wird dieser unvermeidliche Prozeß durch eine gediegende Tradition, durch ererbte Achtung vor geistigen Leistungen wattiert; aber aufzuhalten ist er nicht. Reguliert werden kann dieser Prozeß nur durch die Intelligenz des Verlegers, der begreift, daß Redakteure, die ständig gezwungen sind, wider ihre bessere Überzeugung zu arbeiten, naturgemäß ein mattes, verdrießliches Blatt machen müssen. Diese Erleuchtung fehlt dem Verlag Ullstein ganz und gar, er ist in diesem großen Hause das einzige, was nicht auf der Höhe ist.