Schriften 1925 - 1926 - Carl von Ossietzky - E-Book

Schriften 1925 - 1926 E-Book

Carl von Ossietzky

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Beschreibung

Dieser Band enthält, neben einer Biografie, seine wichtigsten Schriften aus den Jahren 1925 - 1926. Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.

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Schriften 1925-1926

Carl von Ossietzky

Inhalt:

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Schriften 1925-1926

1925

Die Klinge

Deutsche Pfiffe

Die Nachtmütze

"Frau Warrens Gewerbe"

Das boykottierte Vaterland

Wo bleibt Friedrich August?

"Die Zähmung der Widerspenstigen"

Ossendowski

Das Blatt in den Akten

Die Probierdame

Professoren, Zeitungsschreiber und verkrachte Existenzen

Eulen nach Athen

Preiscourant für Beleidigungen

Zwei Fox-Filme

Die Nase der Kleopatra

Der Reichspräsident

Korruptionsstudenten

Prinz Friedrich von Homburg

Harlekin als Präzeptor

Der gestohlene Vollbart

Genosse Salkind, der Liebesdiktator

Kränze, die ihn nicht erreichten  Hohe Herren vergessen schnell

Christlicher Adel teutscher Nation

Meinhard und Bernauer verabschieden sich

Der nationale Lausbub

Kränze, die ihn nicht erreichten

Der "Reichsblock" marschiert auf

Walter Mehrings "Trollatische Geschichten"

1525 – Florian Geyers Jahr

Cesar Borgia oder Der Untergang des 8-Uhr-Abendlandes

Das Ärgernis

Fechenbachs Zuchthausbuch

Der Retter

"Die beiden Herren der gnädigen Frau"

Die Hefte

"Lebenslänglich" nach 6 Jahren Bewährung!  Die Tragödie des Landwehrmannes Heiderich

Der verlorene Onkel

Majestätsbeleidigung?

Glückliches Österreich!

Das heimliche Heer

Mussolini und d'Annunzio

"Die Unschuld von New York"

Fünf Minuten vor ...

Thomas Münzer bei Frankenhausen  Gegen eine Geschichtslüge

Miss Sheebo und der Humor davon

51 Prozent

Das Medium

Erziehung durch die Rotzneesen

Eröffnung des Kommunisten-Kongresses  Die K.P.D. vor der taktischen Schwenkung

Papas Ehe

Die schreibenden Kommissare

Das Fragezeichen hinter Raskolnikoff

"Stresemannitis"

Arsène Lupin

Roter Rummel im Lustgarten

Auf Welle 505

Eure Sorgen ...

Film oder Zeughaus?

Unsere Polizei

Finger weg vom Globus!

Plumpsack geht um!

Auf dem Trittbrett

Wolkenkratzer-Romantik

Völker ohne Signale

Zur Pathologie des Gläubigers

Wie es euch gefällt

Die Jungfrau von Orleans

Wintergarten

Der sterilisierte Bismarck

So kann der Stadt geholfen werden!

Die markierte Kanone

Der Baron Berger

Die Leiche als Erzieher

Mann – Tier – Tugend

Ufa-Palast am Zoo

Don Juan und Faust

Müde Kämpfer

500 Mark Schaden, 1 Million Klatsch

Der Spitzel Gingelband

Auf zum Heldentod!

Roland von Berlin

100 zu viel!

Wie man sich wiedertrifft

Leo Perutz

Kußmanns Richter

Die National-Päderasten

Mussolinis Totentanz

Die Bothmerei

Der Trödler von Amsterdam

Falstaffs Prinz

Schutz vor der Justiz!

Wir brauchen einen Justizminister!

Der stille Mann in der Bendlerstraße

Hörsings Stunde

Das Mirakel der Wölfe

Firnis

Serenissimus-Zwischenspiel

"Bei uns ..."

Ramper. Kammerspiele

Figuranten Kleines Theater

Der verfilmte Bismarck

1926

Fechenbach-Museum

Kompetenzkonflikt bei Everling

Vom Büchertisch

Lene, Lotte, Liese

Marine-Epilog

Das Reich der Reklame

Thielscher als "Stöpsel"

Plaidoyer für Holstein

Die Maulschelle

Der militarisierte Schlafwagen

Der Ritt in die Sonne

Die Seehunde

Die Mühle von Sanssouci

Junge Demokraten

Das verschwundene Brillantenkollier

Das Mirakel von den Soldaten

Lherman

Ein Spiel von Liebe und Tod

Josephine. Kammerspiele

Der Gerichtsvollzieher kommt!

Der Verkehrsunfall

Idiotenführer durch die russische Literatur

Prinzessin Husch

"Ohne Kompetenz"

Das Ärgernis

Das Gespenst von Reichenbach

Mrs. Mensendieck spricht!

Der Minister und der Große Kurfürst

Das Verbrechen der Schwester Flessa

Der plombierte Wagen

Ein Jahr Hindenburg

Fürstenabfindung und Russenvertrag

Krisen

Zwischenspiele

Völkerfrühling?

Der entsicherte Jüngling  Die Doppelselbstmord-Manie – Tragödie oder grober Unfug?

Rif und Riffe

Zwischen Kuß und Stock  Die Lehren des Lützow-Prozesses

Kleine Katastrophen

Der Hund

Junius

... à la Bratianu

Gastspiele

Bürgerblock

Invictis victi victuri

D'Abernon, Seeckt und Andre

Die Dame ohne Unterleib

Nach 12 Jahren

Berlin wird höflich  Aber es fällt schwer

Zum 11. August

Genf – Stresemann – Clemenceau

Ich hatt' einen Kameraden

Ehrhardt, Hugenberg, Severing

Herr von Saint-Aubin

Man schnorrt für den Bismarck-Film  Wie der "Anti-Potemkin" aussieht

Der Fall Völkerbund

Die goldne Mitte

Vanity Fair

Diplomaten – Juristen – Mörder

Gloria Swanson in "Theaterfimmel"

Freund Frankreich

Von Germersheim bis Münsingen

Seeckt und Severing

Die Mittelmänner

Sachsen, Preußen, Reich und Kaiser

Thoiry und Geßler

November

Die Arbeitslosen

Das bißchen Europa

Große Woche im Reichstag

Kompromiß und Klarheit

Völkerbund ohne Völker

Krippenspiel im Reichstag

Das Schilderhaus am Rhein

Schriften 1925 - 1926, Carl von Ossietzky

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849624903

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in  Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen".  Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.

Schriften 1925-1926

1925

Die Klinge

Dem Publizisten flicht die Nachwelt noch weniger Kränze als dem Mimen, von dem immerhin Rollenbilder zu den Bürgern späterer Jahrhunderte sprechen. Er muß sich vom Tage tragen lassen, sich in seinem Rhythmus wiegen und das Reittier würgen, wie Freiligraths Wüstenkönig, wenn im Osten neues Frühlicht glänzt. Wehe, wenn er sich in einen Tag verlieben wollte, er wäre schnell hinter tausend anderen zurück. Der Journalist als Kritiker der Zeit schreibt sich nicht ins Buch der Geschichte ein, sondern ins Fell der Gegner. Ihre Narben sind sein Ruhm. In ihre Haut gekritzelt stehen seine persönlichen Urkunden; da ist Mensch und Werk wie vom Papier abzulesen. Der Tag mit seinen wechselnden Erregungen und Programmen vergeht. Degen und Narben bleiben. Sprichst du vom Journalisten, so lautet die Frage nach kurzem nicht mehr: Wofür kämpfte er?, sondern: Was hat er ausgeteilt, wie hat er geschlagen?

Wenn Ihnen, lieber Stefan Großmann, all die Präsente zuteil werden, mit denen man Geburtstagskinder nun einmal überschüttet, Torten und Weine und Bücher und Blumen, dann möchte ich in dieser festlichen Runde etwas bescheidener auftreten und Ihnen ganz einfach etwas überreichen, was Ihnen gehört, ja, ein Stück von Ihnen ist: ein Abbild der Klinge, die Sie jetzt fast drei Jahrzehnte führen, die manchen Harnisch zerbeult, manchen Zopf gespießt, manche Nase verkürzt, aber auch manchen wohltätigen Aderlaß herbeigeführt hat. Haben Sie das Ding immer so genau betrachtet, haben Sie es immer wie Ihr kostbarstes Eigentum behandelt? Ich will versuchen, es Ihnen aufzuzeigen, feiertäglich bekränzt.

Sie werden sich vielleicht dagegen verwahren, einseitig als Raufdegen behandelt zu werden, Sie werden betonen, daß Sie oft Ja gesagt, mit Hingabe verteidigt und gefördert haben. Ich lasse das alles gelten, aber, ich täusche mich nicht, Ihr Degen scheint mir zum Salutieren doch nicht ganz geschaffen zu sein. Die Spitze wackelt so verdächtig. Das edle Instrument kommt eben aus keinem preußischen Arsenal. Bitte, lehnen Sie es nicht ab, als Fechtmeister gewürdigt zu werden – einem Geburtstagskind rühmt man ja gewöhnlich Friedfertigkeit nach, einem Fünfzigjährigen erst recht väterliche Milde, Abgeklärtheit usw. – wenn ich Sie von dieser Seite packe, dann geschieht es, um völlig sichtbar zu machen, daß Sie in dem fast alle Zeitungsmänner verplebsenden Wirbel unserer Gegenwart eine große und immer mehr versackende Kunst mit graziöser aber höllischer Schärfe vertreten: die Kunst der Polemik.

Wer kann eigentlich heute noch seinen Gegner planvoll und doch kurzweilig tranchieren? Die Kunst, ein Pamphlet zu schreiben, ist selten geworden; man bekreuzt sich schon vor dem Wort. Wenn Hamlet heute unter die Leute der Presse treten würde, wie einst unter die Schauspieler, er würde etwa sagen: "Oh, da gibt es vollbärtige Herren, die pathetisch rollen und immer sich gebärden, als ob sie zur Ewigkeit sprächen und nicht zu ein paar schnelleilenden Stunden. Dann gibt es Milchbärte, die entsetzlich viel Bücher gefressen haben und vor lauter Schulweisheit nicht mehr wissen, was Recht und Unrecht, Liebe und Haß. Sie haben kaltes, träges Blut und bilden sich viel darauf ein, sie nennen es Sachlichkeit. Ich erinnere mich, daß ein deutscher Autor einmal gesagt hat: ›Seit die Schauspielerinnen wie Gouvernanten leben, wird das Theater immer schlechter‹. So werden auch eure Journale immer schlechter, seit ihr anfangt, sie mit Bildung vollzupfropfen, anstatt mit Temperament zu füllen. Der Zeitungsschreiber aber soll weder dozieren noch dreschen, sondern der Zeit den Spiegel vorhalten. Er soll ihn auch nicht dem ersten besten Zeitgenossen auf den Kopf schlagen, denn der Spiegel ist mehr wert als der Kopf. Sorgt dafür, Ihr Herren, daß die Redaktion nicht zur Studierstube, oder zur Metzgerbank, oder zum Konfektionstisch wird. Ihr seid das Gewissen des Tags, Kinder einer Ehe, entsprossen zwischen Thersites und Cassandra. Ihr müßt feinere Organe haben für das Kommende als die Menge, aber ihr müßt es oft in häßlicher und bitterer Art sagen, ihr müßt es oft in sehr verschrobener Art sagen, um gehört zu werden, um aufzufallen."

Ja, wer kann heute noch ohne Umschweife und ohne Klobigkeit eine Polemik führen? Stefan Großmann, Sie vertreten eine große Kunst, die seit Börne und Heine immer mehr entschwindet. Sie wissen, daß ein Zeitungsartikel, um zu wirken, der dramatischen Zuspitzung bedarf wie der farbigen Vielfalt. Ist es ein unbeirrbar österreichisches Temperament in Ihnen oder Ihr ganz Persönliches, das kann ich nicht beurteilen, aber Sie haben das, was verlorengegangen: – – die spielerische Verliebtheit in die Attacke. Haben Sie selbst sich so genau beobachtet, haben es andere getan, einerlei, ich als der Letzte, der zu Stefan Großmanns Truppe stieß, will schildern, wie er kämpft.

Niemals ist einer unzeremonieller in den Ring getreten. Wahrscheinlich auch nicht gutgelaunter. Er nimmt der Offensive den furiosen Charakter. Er wirft sich nicht wie ein Tiger auf den Gegner. Er legt den amüsanten Teil des Abends, der eigentlich nachher kommen soll, in die Attacke. Er schweift vergnüglich ab, flicht Anekdoten ein, Reminiszenzen – man denkt, es geht auf Barnowsky, aber nein, es geht auf Stresemann –, es gibt ein paar von Herzensgüte zeugende Einlagen (selten bei einem Duellanten). Oh, denkt der Zuschauer, der wird nicht stoßen! Dann wieder ein paar muntere Sprünge, etwas Gaukelei, ein Scherz läuft mit unter – – und plötzlich ein kleiner Schrei, einer erbleicht und wankt: – St.G. hat gestochen! Und nun ruft er nicht: Ha, eine Pointe! Munter erzählt er weiter und wischt dabei das Blut gemütlich vom Degen. Der andere aber geht und klagt.

Großmann macht sich die Polemik nicht leicht. Er vereinfacht nicht, er kompliziert. Er weiß, es kommt nicht so sehr darauf an, sich selbst zu präparieren als vielmehr den Gegner. Er richtet sich den Mann also her, sehr gewissenhaft, sehr liebevoll. Unvergeßlich bleibt nur ein Artikel, in dem er – es mag jetzt zwei Jahre her sein – den Redner Cuno behandelte. Er sagt also nicht: Herr Cuno ist ein hölzerner, langweiliger Patron, der Wort für Wort abliest, sondern: er rühmt den lyrischen Schwung des Opfers, seine deklamatorische Begabung, seine gute Haltung und Unabhängigkeit vom Manuskript. Und alles das addiert er dann, und siehe, es kommt dabei heraus: er ist der geborene Trauerredner. Dusche schnell angedreht, Opfer klitschenaß, Heiterkeit ringsum, Herr Großmann verbeugt sich. Ab. Schluß.

Ich weiß nicht, ob die Gegner immer die gebührende Anerkennung finden für diese in ästhetischer Hinsicht völlig befriedigende Art der Erledigung. Ich weiß auch nicht, ob Herr Stresemann, der augenblickliche Hausgott des "Tage-Buches", sehr viel Vergnügen findet an dem amüsanten Nebenbei der Schächtung. Aber Stefan Großmann ist kein Besitzfanatiker. Es ist ein wahrhaft rührender Zug an ihm, er hat den Feind nicht in Erbpacht genommen, wie T.W. seinen Poincaré, er wuchert nicht mit den 200 Pfund, die der Herr ihm in der Gestalt des Herrn Stresemann verliehen, er überläßt in köstlicher Abundanz das Feld den jüngeren Kollegen zur Bestellung. So erklärt sich jener Stresemann-Taumel, den aufmerksame Leser des "Tage-Buches" und des "M.M." gelegentlich wahrgenommen haben und der wohl auch der äußersten Kolumne nicht ferngeblieben ist. (Man sollte selbst den Sportteil des "M.M." einmal daraufhin durchsehen.) Es hat immer Schwärmer gegeben, die ihr Glück mit ihren Freunden teilten, Weiber und Güter. Stefan Großmann teilt mit ihnen seine Feinde. Ein erhebender, ein sehr sublimer Zug.

Ist das ein Scherz oder mehr? Nun, es gibt ein Heft des "Tage-Buches", das diese lose Improvisation ernsthaft unterstreicht. Es stammt aus dem August 1923 und faßt in knappen Zitaten zusammen, was in sieben Monaten der Regierung Cuno von Stefan Großmann und Leopold Schwarzschild gemeinsam an Befürchtungen, Warnungen, Kritik ausgesprochen wurde. Die kleinen grünen Hefte blieben lange isoliert. Warum sollte sich auch die sogenannte große Presse für ... pah eine Zeitschrift interessieren? Das Bewußtsein, rechtzeitig gesehen und gesprochen zu haben, es ist der schönste Triumph des aktiven Publizisten.

Hinter der fechterischen Attitüde pocht ein Herz und wacht ein Auge.

Das Tage-Buch, Sonderheft 1925

Deutsche Pfiffe

Der Scaramouche-Film ist ein Meisterstück seiner Art. Auch wer den historischen Film an sich nicht liebt, wer die großen Unglücksfälle der Weltgeschichte nicht als geeignete Stoffe für Abendunterhaltung schätzt, fühlt sich hier ein wenig entwaffnet durch die Delikatesse der kleinen, durch das furiose Pathos der großen Szenen. Dieser breitmäulige, pockennarbige Danton, an der Spitze der Pikenmänner, dieser dürre Paragraph Robespierre auf der Rednertribüne, das sind alles in allem Erschütterungen, wie sie auch auf der Schaubühne leider selten genug geworden.

Dennoch hat es in dieser Woche fast keine Aufführung gegeben ohne kleine Zwischenfälle. Der Anlaß war die Marseillaise. Die erste Woche war es völlig gut gegangen, niemand hatte ein Haar in der Suppe gefunden. Man empfand, das ist nicht fortdenkbar, gehört zum Stil der Zeit, ist der klanggewordene Geist dieser Epoche. Bis dann der liebe gute "Lokalanzeiger", seinem Amt als patriotische Sittenpolizei getreu, zum Sturm aufrief. Seitdem stürmt es ununterbrochen. Wenn das Orchester die Marseillaise beginnt, wenn die grandiose Lawine der Sansculottes und Hallenweiber zu rollen beginnt, dann setzt es ein paar schrille Pfiffe und ein Lokalanzeiger-Leser schreit: "Wir wollen das Schweinelied nicht hören!" oder etwas ähnliches.

Der Kapellmeister ist zu beklagen. Was soll er tun? Soll er die Tuillerien vom "Fridericus" umrauscht stürmen lassen, soll die Symbolfigur der Revolution, das Volk von Paris, akkompagniert von den einschmeichelnden Rhythmen des Ehrhardt-Liedes, zum Freiheitskampfe aufrufen? O, es gibt da so viele vaterländische Möglichkeiten. Aber auch unpolitische Melodien stehen reichlich zur Auswahl. In Karlsbad, so wurde jüngst berichtet, hat man in einem Wilhelm-Tell-Film die ergreifende Klage des jungen Melchthal um das geraubte Augenlicht seines Vaters mit dem munteren Liedchen: "Wo hast du denn die schönen blauen Augen her?" begleitet. Wenn man dieses Genre bevorzugen wollte, so würde die Revolution um vieles traulicher werden und vielleicht auch in sentimentalen-deutschen Bierherzen Bürgerrecht erobern.

Es gibt ein paar besonders Kluge, die sagen: "Gesetzt den Fall, es würde in Paris ein deutscher Geschichtsfilm gegeben, dürfte man dazu etwa das Deutschland-Lied spielen?"

Ich glaube: nicht. Aber ist das ein Maßstab? Und müssen wir denn immer die Franzosen kopieren, verehrte Mitbürger?

Montag Morgen, 5. Januar 1925

Die Nachtmütze

Die Barmats sitzen hinter Schloß und Riegel. Die neuen Dynastien des Geldes haben es schwerer als die alten von Schwertes Gnaden. Die begannen als schlichte Wegelagerer, und der Weg zum Thronhimmel führte oft genug hart am Galgen vorbei. Die Glücksritter von heute kämpfen nicht mit einem legendären Landfriedensgesetz, sondern mit einem sehr realen Stakett von Paragraphen. Schließlich bleiben sie doch irgendwo hängen. Und dann rufen alle Gutgesinnten "Siehste woll" und freuen sich, daß sie nicht so sind.

Was indessen den Barmats am meisten verübelt wird, das ist weniger ihr Geldverdienen, als vielmehr die Art und Weise, wie sie ausgaben. Sie unterhielten Beziehungen zu sozialdemokratischen Führern verschiedener Länder, man sagt, sie hätten zur Förderung der Amsterdamer Internationale wiederholt bedeutende Summen springen lassen. Das versteht der gute deutsche Normalverstand nicht. Der sieht in solcher Munifizenz etwas Frivoles, fast Verbrecherisches, – eine Versündigung an der Majestät des Geldsackes. Hätten die Barmats die Thronansprüche des Großfürsten Kyrill finanziert oder der armen Zita die nötigen Millionen vorgestreckt zur Anschaffung von Maschinengewehren, vor dem Tribunal der Öffentlichkeit wäre ihr Spruch weit milder ausgefallen. Es soll das Scheckbuch immer mit dem König gehen.

Ja, sie sind verdammt, diese armen Reichen, und ein paar Spritzerchen Höllenfeuer fallen auf alle, die jemals in ihrem Hause verkehrt haben. Der Umgang mit Millionären ist zwar ehrenvoll, aber riskant. Besonders wenn diese in Untersuchungshaft abgewandert sind. Jedem harmlosen Gespräch wird ein raffinierter und bösartiger Zweck unterlegt, jedes Gabelfrühstück wird zum diabolischen Verführungsakt, jedes Souper ramponiert eine bis dahin hochachtbare politische Virginität. Man fand nichts dabei, patriotischen Markdemolierern den Weinkeller verkleinern zu helfen. Wer von den Barmats gegessen hat, erstickt daran.

Die Luft ist voll von häßlichen Gerüchten. Namen werden getuschelt, im Halbdunkel Reputationen zertreten. Die Angegriffenen wehren sich zag, ... dementieren. Niemand will die Familie Barmat eigentlich recht gekannt haben. Was sind das für Leute? Existieren sie wirklich oder spuken sie nur herum als Visionen eines aufgeregten Staatsanwalts? Das allgemeine Korruptionsgeschrei schüchtert ein, zerknittert die Haltung. Der Parlamentarier drückt den Bibi bis auf die Nase und weiß von nichts. Der hohe Bureaukrat geht mit zugeknöpftem Rock, als fürchte er, es könnte jemand seine Weste mit der Lupe nach Sauceflecken absuchen, Residuen verbotener Gastereien.

Das alles ist weder schön noch kuragiert. Eine herausfordernde, selbst zynisch unverschämte Geste wäre ehrenwerter, jedenfalls erfrischender als diese gespielte Ahnungslosigkeit. Wer sind schließlich die Ankläger, die gestrenge(n) Prokuratoren der öffentlichen Moral? Wenn sie sich zeigen, lachen die Hühner.

Als der alte General Gallifet französischer Kriegsminister war, wurde ihm einmal in der Kammer von einem frommen klerikalen Deputierten vorgeworfen, man habe ihn neulich am hellichten Tage aus dem Hause einer notorischen Madame Soundso kommen sehen.

"Oh, gewiß," rief der alte Haudegen vergnügt, "ich hatte dort meine Nachtmütze liegen lassen ..."

Vielleicht entspricht eine solche Antwort nicht ganz der Würde des Parlaments. Aber etwas von dieser freien, frechen Heiterkeit täte uns in Deutschland bitter not.

Montag Morgen, 12. Januar 1925

"Frau Warrens Gewerbe"

Dieses Frühwerk Shaws erweist bei jeder guten Neuaufführung seine unverstaubte Lebenskraft. Wenn, nach Jahrzehnten vielleicht, die Problemstellung einmal überholt sein wird, dann bleibt noch immer ein ungemein gut gebautes, ungemein spannendes Theaterstück zurück. Die Aufführung in der "Tribüne" unter Emil Geyers Regie fand nicht die rechte Resonanz. Drückt dieses Theaterchen mit seiner Bühne ohne Tiefe auf breite Temperamente wie Rosa Valletti und Steinrück? Auch im kleinen und beengten Raum bleibt die Valletti herrlich als Schmerzensmutter mit grell bemalten Lippen und frechem roten Yvette Guilbert-Schopf. Und Albert Steinrück als Crofts, ein breites Stück Gemeinheit, ein Falstaff ohne Witz und mit sicherer Kapitalsanlage seiner Passionen, bringt die ganze angelsächsische Bühne für diese Rolle eine so famose Bulldoggenschnauze auf ...? Ich weiß es nicht.

Montag Morgen, 12. Januar 1925

Das boykottierte Vaterland

Der preußische Ministerpräsident hatte sich erhoben, um im Namen der Regierung Verwahrung einzulegen gegen die Nichträumung der Kölner Zone. In diesem Augenblick Poltern, Scharren, Schwatzen, Lachen, die ganze Rechte von den Nationalsozialisten bis zur Volkspartei, "Nationale Opposition" und "Nationale Realpolitik", trampelte Arm in Arm hinaus.

Selbst im Schwarzbuch unseres Parlamentarismus ist bisher noch nicht vermerkt, daß eine selbstverständliche Sympathiebezeugung für bedrücktes, von fremden Truppen besetztes deutsches Land Gegenstand einer Obstruktion aus parteipolitischer Gehässigkeit wurde. In den Blütetagen der Unabhängigen hat kein eifernder Ledebour auch nur daran gedacht, eine gemeinsame Trauerstunde zu stören. Kein aufgeregter Kommunist hat den Mund aufgetan, als Herr Cuno seinen ledernen Gallimatthias zur Ehrung der Essener Opfer vorlas. Man wußte: es gilt den Toten und Herr Cuno ist dabei nebensächlich. Hat schon jemand bei der Beerdigung skandaliert, weil der Pfaffe zu langweilig war?

Die Demonstration der Rechten im Landtag bedeutete mehr als Boykott einer nicht mehr gewünschten Regierung. Sie boykottierte nicht Braun und Severing, sondern Deutschland.

Warum hat sich eigentlich noch niemand an eine Geschichte des deutschen Patriotismus gewagt? Warum hat noch kein Dichter Herrn Chauvins teutonische Edition festgehalten, so wie Anatole France die "Troublions" in unverwischbaren Konturen skizziert hat? Freilich, es gehört der Mut dazu, anstatt mit der Feder mit der Nilpferdpeitsche zu schreiben. Es ist ein Unglück, daß der deutsche Patriotard ohne Stigma herumlaufen darf. Zweckentsprechende Typisierung der politischen Erscheinungen würde die Politik wesentlich einfacher machen. Dann könnte kein Deputierter wagen, dem verwundeten Deutschland einen Tritt zu geben, um nachher öffentlich zu erklären, das wäre national.

Wir haben uns den Begriff Vaterland mit dickflüssigem Schwatz umkleistern lassen. Nichts schwingt in uns mehr mit, wenn einer das Land unserer Geburt feiert. Männerchöre grölen, Studenten trampeln, Frauenvereine kreischen, aber es zittert kein Herz mehr, wenn Einer Deutschland sagt. Das Vaterland gehört zum Bereich des Mundwerks, ist untrennbar verbunden mit Eichenlaub und Schwertern und schlechtem Öldruck.

Deutschland ...? Was ist das, zu wem spricht das? Wer liebt denn überhaupt Deutschland?

Die von Rechts sagen: dieses Deutschland sei gedemütigt, beschmutzt, ehrlos geworden, müsse in Blutströmen gesund gebadet werden. Sie verachten das geschlagene, verkleinerte, friedensuchende Deutschland.

Aber niemals ist das Vaterland liebenswerter als in den Tagen der Not. Vielleicht erhält in solchen Zeiten das Wort erst recht seinen Sinn. Und, seid ehrlich, wer von euch hat in diesen Jahren Deutschland geliebt?

Ihr Sozialdemokraten habt Ludendorff verwünscht, ihr Deutschnationalen die Sozialdemokraten, Juden und Franzosen, ihr Kommunisten allen und jeden, ihr Volksparteiler habt für den Geldsack gezittert. Keiner von euch hat Deutschland geliebt, keiner von euch hat Deutschland geliebt, keiner, keiner. Der Haß war alleiniger Bewußtseinsinhalt geworden. Die Hand an der Gurgel, in der Tasche des andern, so hat das deutsche Volk in diesen bitterbösen Jahren – zusammengehalten.

Vaterlandsliebe ist kein deutsches Gewächs. Vielleicht gedeiht sie im unruhigen Albanien, vielleicht im Sand der maurischen Wüste, wo braune Männer mit europäischen Eindringlingen um jeden Fußbreit der traurigen Erde kämpfen. Wir sind wohl zu national, um zu wissen, was Vaterland ist.

"Deutschland, Deutschland über alles!" Sehr nett, daß uns die Republik die Nationalhymne wieder beschert hat. Aber was sollen wir eigentlich damit? Selbst die etwas spießigen Reime des ehrwürdigen Hoffmann klingen für unsere Verhältnisse zu pompös. Von der Etsch bis an den Belt ...? Mein Gott, einstweilen ist es schon schwer genug, von der Spree zur Isar zu kommen. Und der gute Vater Rhein, der mag sich auch noch gedulden. Der wird noch recht lange "Rule Britannia" hören müssen, weil der selbstverständlich unantastbar nationale Minister Stresemann nicht gern einen Sozialdemokraten in der Regierung sehen möchte.

Wenn es schon nicht ohne Nationalhymne geht, da sind noch immer die Verse des Düsseldorfer Juden und Preußenfressers und Napoleonschwärmers Heinrich Heine:

Denk' ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht ...

Vertont das, aber nicht für Blech und Kalbfell, sondern für eine wehmütig gedämpfte Geige. Und das wollen wir, wenn wir an Deutschland denken, leise vor uns hinsummen, wie ein Wiegenlied für ein krankes Kind.

Das Tage-Buch, 17. Januar 1925

Wo bleibt Friedrich August?

Am Freitag hatten sich in Nürnberg ehemalige deutsche Fürsten zusammengefunden zur Besprechung brennender Berufsfragen. Bayern war durch seinen Rupprecht vertreten, Preußen durch den Prinzen Oskar, von dem Kronprinzen munkelte man, daß er nicht übel Lust verspürt haben soll, incognito zu erscheinen. Er liebt nicht geräuschvolles Auftreten; dieser Sinn für Decenz liegt bekanntlich in der Familie.

Der enge berufsständische Zusammenschluß von Häuptern, die einmal gekrönt waren und es gern wieder werden möchten, gehört mit zum Bild der Zeit. Denn Fürsten, und erst recht abgesetzte, sind nicht oben in den Lüften schwebende Genien, sondern Bürger dieser Erde, wenn auch hochrangige. Infolgedessen klassenmäßig bedingt, infolgedessen zur Wahrnehmung ihrer Interessen, zu organisatorischer Einordnung gezwungen. Und davon profitieren auch die Völker. Ein zufriedener, richtig organisierter Fürst, der seine Marken pünktlich klebt, verspricht geordnetes Regiment dem Bürger und dem Landmann Getreidezölle und jeden Sonntag ein Huhn im Topf.

Aber warum hört man bei solchen und ähnlichen wichtigen Anlässen immer nur von Hohenzollern und Wittelsbach, von Hessen, Anhalt, Lippe, selbst die Welfen sind ja an Deutschland noch immer interessiert, warum aber hört man nie etwas von Wettin? Da ist die schicksalsvolle Frage nicht zu vermeiden: wo bleibt Friedrich August, ehemals Sachsens quietschvergnügter Despot?

Rupprecht veranstaltet unermüdlich Deutsche Tage, enthüllt Mahnmäler, nimmt Paraden des monarchistischen Heerbanns ab. Auch der Dulder von Oels arbeitet auf seine stille Weise; selbst der kleinste thüringische Landesfürst z. D. bemüht sich strebend. Nur das Haus Wettin hat der großen Sache kühl bis an den Halskragen gegenübergestanden. Seit Friedrich August sich an einem grauen Novembertag vor seinen revoltierenden Untertanen mit einem Büchmann-reifen Kernwort ins beschauliche Privatleben zurückzog, scheint sein Interesse an der Branche völlig erloschen zu sein. Abgesehen von seiner Attacke auf Hans Reimann. Doch das gehört mehr zum Kapitel: Sachsen unter sich.

Es hilft alles nichts. Die deutsche Erneuerung marschiert ohne Wettin. Wenn vom Nürnberger Prätendenten-Meeting ein Danktelegramm an Stresemann geht, den verdienten Förderer und inoffiziellen Syndikus der deutschen Fürsten-Gewerkschaft, wird Friedrich August durch Fehlanzeige glänzen. Ihn reizt nicht der Zylinder des Volkskönigs. Er will unorganisiert, will bei den "Gelben" bleiben. Wenn Rupprechts Adjutant bei ihm zwecks Einkassierung von Mitgliedsbeiträgen anpocht, wird er ablehnend und unwirsch sagen: "Macht euern Dreck alleene ...!"

Montag Morgen, 19. Januar 1925

"Die Zähmung der Widerspenstigen"

Unter Ludwig Bergers Regie wird im Schiller-Theater aus Shakespeares fremdgewordenster Rüpelposse ein von den Grazien Goldonis umflatterter Maskenscherz. Die gröbsten Flegel bewegen sich im Tanzschritt, bunte Konfettischlangen winden sich um Petrucchios Hetzpeitsche. Dieser leichte und freudige Geist der Komödie wird getragen von Agnes Straub, die niemals freier und gelöster war. Sie bleibt weiblich anmutig auch in äußerster Exaltation, bewundernswert, ob sie tänzerisch das Haupt zurücklehnt oder die lange Schlußmoral glänzend akzentuiert ins Publikum hineinspricht, – eine heute längst verlernte Kunst. Ihr Partner ist Herr Carl Ebert. Ein schnurrbärtiger Torero, Stolz in der Brust, siegesbewußt, selbstbewußt und muskelstark, gelegentlich mit trockenem Humor, der ein wenig mit diesem polternden, eitlen Mannsbild aussöhnt. Von den Übrigen sei noch ganz besonders Herr v. Meyerinck als quecksilbriger Diener Tranio erwähnt, der wie aus der commédia del'arte dahergehüpft kommt. Es war ein starker, wohlverdienter Erfolg. Und als das Theater unter Lachsalven erbebte, da war es wirklich, als wären erst mit dieser vergnügten Auferstehung eines alten Spiels die Geister der Ära Pategg aus dem Hause gescheucht.

Montag Morgen, 19. Januar 1925

Ossendowski

Wenn Einer eine Reise tut, dann haben andere was zu erzählen. Sven Hedin unternahm jahrelang kühne und mühevolle Expeditionen durch Innerasien und kam an Stätten, die keines Europäers Fuß jemals betreten. Ein Forscher, voll von Skrupeln, ein Diener der Wissenschaft, der sich selbst vielleicht kaum jemals eingestanden, daß auch ihn letzten Endes nur die Freude am absonderlichen Erlebnis zum Touristen in der Wüste, zum Besucher verschlossener Städte gemacht. Der Doktor Ossendowski, ein ungleich beschwingterer Reporter, ist sicherlich auch in Asien gewesen, aber ohne Karten und Meßinstrumente. Ein russischer Flüchtling, ein Unbehauster wie Kain, fegte er im Sausetempo durch Steppen und Dschungeln und fremde Kulturen. Viel später und bei drückendem Geldmangel schrieb er das auf und noch einiges dazu. Denn in der Erinnerung nimmt alles phantastische Formen an. Asien schreckte als riesenhaftes Phantom durch seine Träume, ein Ungeheuer, ein Drachenmaul mit furchtbar malmenden Zähnen, und diese Träume jagten ihn durch den hellen Tag, bis schließlich daraus ein Buch wurde voll Wahrheit und Dichtung, also: Dichtung.

Nun meldet sich der Schwede als kontrollierende Instanz, und seine Kontrolle ist für Ossendowski schlimm genug ausgefallen. Zum Überfluß weist auch noch ein Philologe nach, daß eine Episode Jack London entnommen, und ein paar Geographen sind empört, daß jemand ihre Domäne Zentralasien in Farben schildert, die sie nie geahnt, und Abenteuer dort erlebt, wo sie Dissertationen über die niedere Fauna konzipiert. Als vor vielen Jahren der tüchtige Doktor Cook die ganze Welt mit seiner Nordpolfahrt alarmierte, da erklärte auf einem Kongreß eine geographische Kapazität, daß es eigentlich ganz gleichgültig sei, ob Einer am Nordpol gewesen oder nicht. Die Wissenschaft sei auch so völlig im Bilde. Na also. Dem armen Ossendowski aber wird ein Strick daraus gedreht, daß er Landschaften schildert, die er nie gesehen und daß er diese Schilderungen wissenschaftlich nennt.

Man sollte den Mann nicht mit Ziffern und Fragen nach Beweismaterial ängstigen. Seit wann ist denn der Begriff Wissenschaft nicht dem Wechsel unterworfen? Der ehrwürdige Haeckel, vor fünfzehn Jahren noch als Ausbund eines entgeisteten, imaginationslosen Naturalismus verschrien, erscheint heute als ein gütiger, milder Märchenerzähler. Die Wissenschaft von gestern wird immer der Aberglaube von heute, der Scharlatan dieser Jahre die akademische, wissenschaftlich akkreditierte Größe des nächsten Jahrzehntes. Einstein hat den Kopernikus in der Schulklasse der Unsterblichen um einige Bänke nach hinten gesetzt. Wer wird einmal Einstein plazieren?

Und nun gar die ersten Vorposten in fremde Zonen. Herodot und Marco Polo, von ihren Zeitgenossen bestaunt, wirken auf uns als liebenswürdige Renommisten, die mehr die Ohren als die Augen gebrauchten und begierig alle Wundergeschichten aufgefangen und weitererzählt haben. Auf Grund unserer ungleich höheren Kenntnisse fällt es uns so unendlich leicht, ihnen nachzuweisen, daß sie von Menschen und Dingen reden, die sie nie erblickt. Aber mit gleichem Recht wird eine spätere Generation von Sven Hedin an Hand seiner Kriegsbroschüren vielleicht behaupten und beweisen können, daß er niemals in Europa gewesen.

Ossendowski ist kein Forscher, erst recht kein zuverlässiger Berichterstatter und Mehrer von Tatsachenbeständen. Er gehört jener Klasse von Reisenden an, die dafür sorgen, daß das Reservoir an Fabeln und bizarren Begebenheiten sich nicht erschöpft. Das macht ihn den Gelehrten so suspekt und dem schlichten Leser, der unterhalten sein will und nicht mehr, so preisenswert. Seine Leser wird das Anathema der Professoren nicht abschrecken, denn sie wollen nicht Wirklichkeit, sondern Vision. Und Ossendowski gehört zu den romantischen Fabulisten, zur Rasse des Odysseus, des göttlichen Schwindlers, von dessen Abenteuern wahrscheinlich nur das Intermezzo mit der Circe nach Glaubwürdigkeit riecht. Und doch lauschten die guten Phäaken mit Wollust den faustdicken Aufschneidereien des Vielgewandten; sie fühlten ihr egal zufriedenes Phäakendasein angenehm unterbrochen von diesen Erzählungen über Begegnungen mit Göttern, Elementargeistern, Ungeheuern und Tiermenschen, ja, Nausikaa, die Liebliche, hat sicherlich der Gedanke an den zottigen Gorilla Polyphem in ihren Träumen erhitzt.

Wir sind keine Phäaken, aber wir geben gern die dumme, dürre Wahrheit, die auf die letzten Fragen doch nur mit einem gouvernantenhaften Achselzucken reagiert, für ein Stückchen pittoresker Lüge. Ossendowski hat eine neue Fabelquelle gefunden. Er hat das märchenarm gewordene Arabien der Kalifen entthront und den fernen Osten an dessen Stelle gerückt. Scheherezade und ihr geduldiger Tyrann sind tot. Am Rande des Stillen Ozeans, dort, wo Weiße und Gelbe um kommende Weltherrschaften würfeln, in diesen geheimnisumzirkten Gebieten wachsen die Märchen unserer Zeit. Wäre er nie in Asien gewesen, hätte er seine Bücher in einem New Yorker Hotelzimmer ersonnen, seine Entdeckung hätte es nicht schmälern können. Wenn aber die neue Völkerwanderung im Osten einmal zur Ruhe gekommen, wenn der Sinn dieser Mysterien enträtselt, wenn diese Abenteuer ihr Aktuelles und Aufreizendes verloren haben und nichts zurückbleibt als eine seltsam schillernde Schale, wer weiß, ob nicht dann, am Abend unseres dramatischen Jahrhunderts, Ossendowskis Geschichten von weißen Generälen und roten Bolschewisten, von lebenden Buddhas und gelben und braunen Teufeln zum beliebtesten Kinderbuch geworden sind. Wie heute die bitterbösen Pasquille von Cervantes und Swift, die ja auch nicht gerade zur Verherrlichung der Menschheit und zur Unterstützung braver Pädagogen gedacht waren.

Das Tage-Buch, 24. Januar 1925

Das Blatt in den Akten

Es ist ein erhebendes Gefühl, nicht umsonst gekämpft zu haben. Seit einem halben Dutzend Jahren gibt es in Deutschland ein Häuflein Menschen, die sich Republikaner nennen. Eine kleine, unbedeutende Schar, die man mit Recht belächelte, wenn sie etwas großspurig ihre Ideologie verkündete und die durch nichts bewiesene Behauptung aufstellte, daß nach einer angeblichen Verfassung vom 11. August 1919 Deutschland eine Republik sei. Man hat die Leutchen mit Recht nicht überschätzt, man betrachtete sie als eine Sekte seltsamer Schwärmer, und im großen und ganzen blieben sie auch völlig nebensächlich und sind von der "Vereinigung Ernster Bibelforscher" z.B. sicherlich an Zahl weit übertroffen worden. Man ließ sie gewähren, gelegentlich wurde auch mal einer eingesperrt oder gleich totgeschossen, wenn der Lärm zu lästig wurde.

Diese Republikaner haben nun den Triumph erlebt, daß sich der Reichskanzler Dr. Luther im Reichstag zu ihren politischen Anschauungen bekannt hat. Ja, es ist wirklich wahr, Herr Dr. Luther, der Chef eines Kabinetts, in dem vier Deutschnationale sitzen, darunter ein Johanniter, der noch vor Jahresfrist geschworen hat, mit Daranwagen seines Leibes und Lebens für seinen König einzustehen, sowie ein anderer Herr, der als Beamter den Novemberleuten den Treueid verweigert hat, dieser Herr Dr. Luther hat in seiner Programmrede erklärt, daß er die mysteriöse Weimarer Verfassung als die Verfassung des Deutschen Reiches anerkenne und zu schützen gedenke. Welch wunderbare Wendung!

Wie berichtet wird, hat der Herr Reichskanzler, der im allgemeinen frei sprach, diesen wichtigen Passus, das Bekenntnis zur Republik, vom Blatt abgelesen. Es ist ihm sehr ernst damit. Er wollte die Formulierung nicht der flüchtigen Improvisation, nicht dem Einfall des Augenblicks überantworten. Der Text war vorher festgelegt und er las ab. Er machte eine kleine Pause – alles wartete voll Spannung –, er suchte in seinen Papieren, und endlich hatte er es gefunden und verlas den Wortlaut.

Jetzt wissen wirs: Deutschland ist eine Republik. Der Kanzler mit den vier monarchistischen Ministern hat es schwarz auf weiß. Das Blatt liegt zwischen seinen Papieren. Es ist Dr. Luthers kleiner Katechismus, sozusagen, und wird an Stelle des alten bald in den Schulen gepaukt werden. Das "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" ist überflüssig geworden. Die Republikaner sind überhaupt überflüssig geworden. Das Beste wäre schon, man setzte sie alle hinter Schloß und Riegel. Dafür sind jetzt die Deutschnationalen da. Die haben den Bogen ganz anders raus und werden eine Republik hinlegen, an der wir noch lange unsere Freude haben werden.

... nach beendeter Vorlesung legte Herr Dr. Luther das wichtige Blättchen wieder in die Mappe zu den übrigen Papieren.

Heißt das nun: Beginn einer neuen Ära oder ... ad acta?

Montag Morgen, 26. Januar 1925

Die Probierdame

Die Premiere dieses Goldwyn-Films im Ufa-Theater (Tauentzien) war ein unbestreitbarer Publikumserfolg. Aber es fragt sich, ob ein lebhafter Premierenapplaus die Einführung von Sottisen dieser Art rechtfertigt. Eine Handlung voll von verbrauchten Kolportage-Effekten: Zwillingsbrüder, die die Rollen tauschen, Entführung, Verbrecherkneipe, ein Erbschleicher, der sein bewußtloses Opfer auf die Schienen der Hochbahn legt, die Bahn hält natürlich im letzten Augenblick, und die Mama sitzt im Zuge und erkennt ihr Kind, und Wiedersehensfreude nach 15 Jahren, und alles in Butter. Höhepunkt, wie die tugendhafte Heldin in rosa Combinations präsentiert wird. Aber muß man deswegen in den Film gehen?

Montag Morgen. 26. Januar 1925

Professoren, Zeitungsschreiber und verkrachte Existenzen

Wie dem Organ des Reichsverbandes der Deutschen Presse zu entnehmen ist, hat eine deutsche Universität sich kürzlich bemüßigt gefühlt, die akademische Jugend in einem Merkblatt über die journalistische Laufbahn aufzuklären. Dieses Opus, strotzend von Weltfremdheit und professoraler Arroganz, ist beschämend. Nicht nur für den Herrn Verfasser, sondern fast in höherem Grade noch für die Zeitungsschreiber, die es nicht verstanden haben, sich für ihren Stand dasjenige Maß von Achtung zu verschaffen, das etwa der Verband der bei der städtischen Müllabfuhr Tätigen für sich beansprucht.

Empfang in der Wilhelmstraße, Tee beim Reichskanzler: "Meine Herren, Sie sind mir unentbehrlich!" –, das alles macht es nicht. In der öffentlichen Einschätzung bedeutet Journalist Schreibekuli, Individuum ohne Stimme und mit auswechselbaren Meinungen. So dürfte es kaum erstaunen, wenn der berufsberatende Geist einer deutschen Universität sich also vernehmen läßt:

"Zu der großen Bedeutung der Presse steht zweifellos im Widerspruch die öffentliche Wertung des Berufes des Journalisten und die vielfache Ungeeignetheit der Vertreter des Berufes. Zweifelhafte Existenzen, manchmal verkrachte Existenzen, haben sich nicht selten in diesen Beruf geflüchtet. Namentlich in charakterlicher Hinsicht wird mit Recht oft lauter Zweifel an den deutschen Journalisten ausgesprochen."

Dann, unter der einlullenden Überschrift "Die Berufsethik, Beruf und Mensch", nach einer rührenden Klage über die vielen "reinen Geschäftsleute", die nur Geld verdienen wollen, über die Gefahren des Inseratengeschäftes, über die taktischen Rücksichtnahmen auf Verleger, Leser und parteipolitische Bindungen, die folgenden Kernworte:

"Man spricht von ›Revolverjournalisten‹, die man als bestechlich, sogar als erpresserisch brandmarken muß. In der Zeit des Weltkrieges namentlich haben wir genug solcher Fälle erlebt. Massen ausländischen Geldes ist dabei geflossen. Eine Korruption sondergleichen war für jeden klar Sehenden erkennbar."

Das ist riesig amüsant, so amüsant, daß man fast die Frage unterdrückt, woher diese akademische Leuchte eigentlich ihre frappierende Detailkenntnis bezieht. Wenn es ein Germanist ist, sicherlich aus Gustav Freytags "Journalisten", die ja heute immerhin in einigen Stücken überholt sind. Hat der Brave auch nur eine Stunde in seinem Leben Redaktionsarbeit zuschauend miterlebt? Hat er auch nur einmal die nervöse Epidermis des Kolossalkörpers Presse mit den Fingerspitzen betastet? Er sieht Gefahren. Aber die Gefahren, die er sieht, kommen eher vom Mond als von unserer freundlichen Erde. Er weiß z.B. nicht, daß es Konzerne gibt, die Zeitungen aufkaufen, sich verpflichten. Er kennt nicht Stinnes, nicht Hugenberg. Er weiß nur, daß im Kriege ausländisches Geld in Massen geflossen ist und – er schreibt es nicht nieder, aber wir können seine Gedanken leicht weiterspinnen – daß wir deshalb den Krieg verloren haben und es deshalb eine Linkspresse in Deutschland gibt. Der Verleger ist ihm ein Tyrann kleinbürgerlichen Formats, der in Holzpantinen durchs Redaktionszimmer schiebt und seine Leute anweist, den Krämer X. zu attackieren, weil er die Frau Verleger schlecht bedient hat. So viel weiß der Herr Berufsberater einer deutschen Universität von der modernen Presse.

Doch wir wollen ihm nicht unrecht tun. Er hat auch läuten hören, daß es Revolverjournalisten gibt. Von der Presse zur Erpressung ist ihm nur ein kurzer Schritt; die Begriffe fließen ihm zusammen. Nun hat es tatsächlich einmal eine ausgedehnte Revolverjournalistik gegeben. Diese Zeit ist, das sei dem guten Manne zur Beruhigung versichert, längst vorüber. Das war im Kriege, als wir selbst noch fremde Gebiete besetzt hielten und nicht ahnten, daß sich der Spieß einmal umkehren könnte. Damals wurden in Belgien, Rumänien, in der Ukraine, in Bulgarien Zeitungen okkupiert und der erhabenen Gedankenwelt der Obersten Heeresleitung dienstbar gemacht; an den Eingeborenen wurde auf diese Art eine oft etwas seltsame Aufklärungsarbeit betrieben, und diese hatten die freudige Genugtuung, daß es durch Landsleute geschah.

Da floß "ausländisches Geld in Massen" in Redaktionen und Verlagsgeschäfte, "eine Korruption sondergleichen war für jeden klar Sehenden erkennbar". Das war richtiggehende Revolverjournalistik, die weder die Manager noch ihre Kreaturen ehrte. Aber es war eine Journalistik nicht mit irgendeiner kleinen Privatpistole, sondern mit dem Armeerevolver. Der Herr Leutnant als Ephorus der annektierten Presse hatte entsichert, und wehe dem, der nicht die Hacken zusammenknallte.

Das war, Herr Professor, als Zustand ohne Zweifel in "charakterlicher Hinsicht" bedenklich.

Es soll hier keine Apologie des deutschen Zeitungsmannes heruntergebetet werden. Wer nicht blind ist, weiß, wo und warum zu kritisieren ist. Aber wie das Verbandsorgan der Journalisten darauf reagiert, das ist wahrhaft schwächlich. Anstatt dem unerbetenen Berater mit der Narrenpritsche über den gelehrten Hohlkopf zu fahren und ihn mit einem Höllengelächter nach Hause zu schicken, wird todernst nachgewiesen, daß er im Irrtum sei, und daran werden allerhand Vorschläge für das Vor- und Fortbildungsproblem des Journalisten geknüpft. Nicht einmal die Universität wird verraten, die sich diesen Exceß hat zu schulden kommen lassen. Die unverfrorene Zusammenstoppelung mit der ehrenwerten Gilde der gemeinen Erpresser, die, wie jeder Unterrichtete weiß, völlig außerhalb der Linie stehen, wird beantwortet mit:

"Man kann gar nicht glauben, daß der Verfasser dabei an die deutsche Presse gedacht hat. Wir nehmen zu seinen Gunsten an, daß er die Korruptionsherde der Pariser Presse meint, zu deren Entlarvung jüngst so aufsehenerregende Einzelheiten bekannt geworden sind."

Mit so vorsichtig dosierter Ironie verteidigt man seinen Beruf.

Der deutsche Journalist leidet unter gottgewollten Abhängigkeiten. Als Mitglied seiner Organisation, als Arbeitnehmer, der nach Rechten und höherer sozialer Wertung strebt, wird er sofort zahm und zittrig. Er bestimmt nicht seine Rangklasse selbst, er läßt sich plazieren. Tu l'as voulu, George Dandin!

Man kann nicht kämpfen, wenn die Hosen voller sind als das Herz.

Aber kehren wir zu besagtem Professor und seinen Schmerzen in "charakterlicher Hinsicht" zurück. (Nebenbei: welches Blatt würde auch die geringste Lokalnotiz in solchem Deutsch aufnehmen?) In einem hat der Mann recht: es haben sich nicht selten verkrachte Existenzen in den Journalistenberuf geflüchtet, sie haben dort ein Refugium gefunden und ein Talent entdeckt, das ihnen früher nicht bewußt war. Aber er vergißt hinzuzufügen: diese Existenzen sind durchweg an der Universität verkracht. Nirgends verkrachen nämlich mehr Existenzen als in der berühmten akademischen Freiheit. Sie werden erfaßt von der großen Bierflut der Universitätsstädte, fortgeschwemmt, haltlos treiben sie weiter, von keinem Mentor belehrt, wie man im Lebensstrome schwimmt. Es ist nicht fein, mit Retourkutschen zu arbeiten: – aber was leistet eigentlich die deutsche Universität in "charakterlicher Hinsicht"?

Früher wurde auf den Hochschulen ein überdummer Servilismus kultiviert, heute gelten sie mit Recht als Brutstätten politischen Obskurantentums. Heute nicht anders als früher wird die Scheidewand gegen den Nichtakademiker künstlich aufrecht erhalten. Kastengeist und Herrendünkel werden den Jungen als verhängnisvoller Ballast mitgegeben. Die Persönlichkeit wird dem Ritus des Wissens geopfert; der Mensch ist gar nichts, das Endziel alles. Das Endziel aber ist das Examen. Es schlägt die Brücke ins bürgerliche Leben. Wer es nicht passiert, läuft in Gefahr, ewig ein Heimatloser, Entwurzelter, Paria zu bleiben. Das Examen ist von der Mittelmäßigkeit für die Mittelmäßigkeit geschaffen. Gerade die starke, die überschnittliche Begabung, mit ihren menschlichen Hemmungen, ihren unterirdischen Erschütterungen, ihrer qualvollen Unsicherheit am Selbst, ist diesem kaudinischen Joch nicht gewachsen. Die Geschichte der Begabungen ist die Geschichte der schlechten Schüler, der versagenden, verlotterten Studenten. Ein beamteter Repräsentant der Wissenschaft sollte etwas vorsichtiger von verkrachten Existenzen reden. Was wären eigentlich die Wissenschaften, die Künste ohne eine Reihe von – im Sinne der guten akademischen Normen – verkrachten Existenzen? Nicht jeder, der in den Strudel geriet, findet endlich seinen Ararat, aber wer ihm entronnen, der ist auch reif für die spätere Leistung. Doch für den Herrn Professor erlischt das Interesse, wenn der Scholar den Boden verloren, zu torkeln beginnt. Heinrich Heine, der bummelige Jurist, Gerhart Hauptmann, der schlechte Akademiker, der sich vor dem Examen davonschleicht, labile Existenzen, nicht wahr?

Gleicht nicht der Weg eines begabten jungen Menschen zu Zeiten dem Ritt übern Bodensee? Er träumt vor sich hin, Melodien im Kopf, nicht Thesen und Formeln und Paragraphen, und eine dünne Eisdecke nur trennt ihn von dem unermeßlichen Grab.

Zeitungsschreiber und Professoren, zwischen ihnen liegt, wenn nicht eine Welt, so doch eine Kenntnis von dieser Welt. Eine Kenntnis, die nicht aus Büchern zu holen ist.

Der Journalismus ist der einzige loser oder enger mit dem Geiste zusammenhängende Beruf auf Gottes Erde, der nicht in das Prokrustesbett des Examens zu spannen ist. Die Tüchtigkeit, die Eignung entscheidet. Man kann ein fürchterlich viel wissender Jurist sein und doch ein untauglicher Richter oder Advokat. Man kann als Doktor der Medizin durch alle Prüfungen gerutscht sein, mit Auszeichnung sogar, und wird später doch nur die Friedhöfe bevölkern. Der Journalist beginnt ohne die trügerischen Vorschußlorbeeren des Examens. Er muß sich bewähren oder ...

Grund genug für die Herren Professoren, einem Beruf von so abgründig verruchten Möglichkeiten zu mißtrauen.

Die Zeitung von heute ist, darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren, kaum eine moralische Anstalt zu nennen. Aber sie hat den Universitäten von gestern und heute noch immer ein gewisses Maß Intelligenz voraus.

Und wenn eines Nachts in unser Redaktionszimmer – die Metteure schreien nach Manuskript, am andern Ende der Strippe rasen Timbuktu und Samarkand, dazwischen werden Schauspielerinnen gelobt und Minister beschimpft – wenn also plötzlich der Herr Magister eintreten würde und uns mit hochgeschwungenem Pädagogenfinger auf das Unzulässige unseres Tuns hinweisen wollte, wir hätten nur eine Antwort:

"Ätsch ...!"

Das Tage-Buch, 31. Januar 1925

Eulen nach Athen

Vor ein paar Tagen wurde in Berlin eine arme kranke Russin in sicheres Gewahrsam gebracht, die an Einstein Drohbriefe geschrieben und schließlich vor dessen Wohnung skandaliert hatte. Vorher war sie in Paris Krassin lästig geworden. Auch in Frankreich wußte man sehr bald, daß es sich um eine harmlose Geisteskranke handelte. Man tat ihr nichts zu Leid, sondern gab sie an die belgische Polizei weiter. Die wieder brachte sie über die deutsche Grenze und setzte sie in Aachen ab.

Die Pariser hätten die arme Person ruhig ins Hospital schaffen können. Ebenso die Belgier. Aber man wählte einen andern Weg: man schickte sie nach Deutschland. Denn so folgerte man, und das ist wenig schmeichelhaft für uns, in Deutschland ist sie so gut wie im Irrenhaus, da fällt sie nicht weiter auf. Deutschland ist der natürliche Abladeplatz für die geistig Siechen aller Welt.

Der Leumund der deutschen Nation hat sich also bedenklich geändert. Und wir selbst legen auch Wert darauf, nicht mehr die Gleichen zu sein. Früher brüsteten wir uns, frei zu sein von Schwärmerei und Fanatismus, wir taten uns was darauf zugute, daß einer von uns die reine Vernunft erfunden hatte, und wollten in breit ausladender Opulenz die ganze Welt an unserm Wesen genesen lassen. Wir legten Wert darauf, Normalmenschen zu sein, und wer sich nicht so fühlte, gab sich wenigstens Mühe, so auszusehen. Dann, im Kriege, brach unter uns plötzlich die Mentalität aus, ein furchtbares psychisches Übel, das Verheerungen ohne gleichen anrichtete. Wir wurden kompliziert wie eine unverstandene Frau.

Als es uns schließlich ganz schlecht ging, entdeckten wir über Nacht die Mystik, fuhren tief in die Schächte unserer Seele und holten da allerlei herauf. Wir schalten die Engländer kalte Verstandesmenschen, sprachen dem französischen Geist alles Profunde ab und verliehen dem deutschen Gott, der vier Jahre hindurch Hindenburgs Schnauzbart getragen, die Züge eines besseren Gymnasialprofessors, der Kierkegaard gelesen. Ja, wir waren verteufelt tiefsinnig geworden. Wir hatten es zwischen Börse und Tanzdiele mächtig mit dem religiösen Erleben, verachteten den Rationalismus und machten dazu eine Politik, die tatsächlich nicht aus den Eisregionen des Verstandes stammte, sondern treues blauäugiges Heimatgewächs war, genährt von fettestem Gemütsdung. Wir betrachten das alles, auch wenn wir kritisieren, mit dem nachsichtigen Auge des Lokalpatrioten. Wenn uns der Kohl auch häufig nicht mundet, wir wissen, daß wir ihn selbst gepflanzt und selbst gepflegt haben und essen mit tapferm Gesicht und zuckendem Herzen.

Das Ausland aber urteilt liebloser. Es fragt danach, wie der Kohl schmeckt und nicht, wie er gezogen. Man sieht, oberflächlich wie man ist, nur die Oberfläche der Dinge und forscht nicht nach den metaphysischen Unterlagen. Und so hält man uns denn rund und nett für meschugge. Wir aber fühlen uns als das unverstandene Volk.

Wie aber, wenn das französisch-belgische Beispiel Nachahmung finden sollte, wenn man in aller Herren Länder anfangen wollte, die Verrückten nach Deutschland abzuschieben? Es ist das ein lustiger Aspekt. Deutschland das Hospital der ganzen Welt, das Dorado der Narren, das Paradies der Mondsüchtigen. Im Ernst, würde sich so viel ändern? Die Vernünftigen hausen heute schon wie in Isolierzellen. Die Regierungskrisen könnten auch nicht länger als sieben Wochen dauern und mit den Geldern des Staates würde sicherlich sehr, sehr vorsichtig umgegangen werden. Schlechte Aussicht für Kreditgeschäfte, schlechte Aussicht für die Schwerindustrie.

Denn gerade die Tollen haben sehr oft die Gewohnheit, das Geld einzubuddeln und niemandem den Platz zu verraten. Und vielleicht kämen wir so endlich zu gesunden Finanzen und Wohlstand und Zufriedenheit. Solange dieser wünschenswerte Zustand noch nicht ausgebrochen ist, müssen wir indessen erklären, daß Bedarf einstweilen gedeckt. Was soll Athen mit einer neuen Sendung Eulen?

Das Tage-Buch, 7. Februar 1925

Preiscourant für Beleidigungen

Den Landgerichtsdirektor Kroner hat man zu 3000 Mark Geldstrafe verurteilt wegen Beleidigung seines Magdeburger Kollegen Bewersdorff. Eine Verunglimpfung Severings wurde, wie dem sehr richtig entgegengehalten wurde, mit 150 Mark geahndet. Denn Herr Kroner ist Vorsitzender des Republikanischen Richterbundes, Herr Severing republikanischer Minister der Republik, während die Meriten des Herrn Bewersdorff ganz wo anders zu suchen sind. Es ist ein Irrtum, an einerlei Ehre des Staatsbürgers zu glauben. Nein, es gibt vielerlei Art von Ehre in Deutschland; die monarchistische ist anders als die republikanische, die sozialistische wesensverschieden von der deutschnationalen. Das hohe Verdienst unserer Gerichte war es, das zuerst erkannt und in die Praxis umgesetzt zu haben. So sind also die Ehren nach politischen Gesichtspunkten gestuft und gestaffelt worden: eine republikanische Ehre ist billiger als eine monarchistische, für einen Bewersdorff kann man 25 Severinge kränken, ein Westarp oder Ludendorff gilt mehr als zehn Reichspräsidenten sozialdemokratischer Provenienz. Wozu die langen zeit- und atemraubenden Beweiserhebungen und Plaidoyers, wo doch der Endeffekt feststeht? Man nehme ganz einfach die politischen Berthelotmaße der Beteiligten, prüfe, ob der Daumenabdruck schwarz-weiß-rote oder schwarz-rot-goldene Spuren ergibt. Damit erspart man sich den ganzen Advokatensums, und man kann die Taxe nach einer sorgfältig ausgearbeiteten Strafentabelle auferlegen. Wir Deutschen sind doch sonst immer Systematiker gewesen. Heute herrscht bei unsern Gerichten noch eine beklagenswerte Willkür. Der Generalstaatsanwalt im Kroner-Prozeß z.B. hielt eine Sühne von 1000 Mk. für angemessen, das Gericht schätzte dagegen Bewersdorffen dreimal höher ein. Solch Mangel an Methode ist der deutschen Rechtsprechung nicht angemessen. Die Szene wird zum Tribunal, das Tribunal zur Auktion. Gebt dem Gericht seine Würde wieder: feste Sätze, feste Preise. Und zwischendurch zur Aufmunterung Saison-Ausverkäufe und Weiße Woche.

Montag Morgen. 9, Februar 1925

Zwei Fox-Filme

Das Palmenhaus am Kurfürstendamm bringt zwei Stücke amerikanischer Produktion: "Ausgerechnet Tutanchamon!", von Mark-Twain-Humoren durchschüttelt, eine Ergötzlichkeit ohne gleichen, und "Sterne im Spiegel des Sumpfes", eine sentimentale, aber durchaus nicht reizlose Angelegenheit mit Anklängen an Courths-Mahler, Conan Doyle und in einer einzigen Szene – ist es ein Sakrileg das auszusprechen? – an Dostojewski. – Das Publikum aber nahm Courths-Mahler mit Ergriffenheit hin, war bei Conan Doyle skeptisch und wieherte vor Lachen bei Dostojewski.

Montag Morgen, 9. Februar 1925

Die Nase der Kleopatra

Si le nez de Cléopatra eût été plus court, toute la face de la terre aurait changée.Pascal

Die Weltgeschichte wird gemacht von den kleinen Dingen, den schwerwiegenden Bagatellen, den schicksalsvollen Alltäglichkeiten. Die materialistische Geschichtsauffassung macht den Bauch zum alleinigen, absoluten Faktor. Die alte idealistische Geschichtsschreibung sah die Völker in ihrem Fressen und Saufen, im Lieben und Hassen vom Geiste gelenkt, diesen wieder in Körper gebracht durch einen Auserwählten. Und dafür sollten wir unsern Lehrern eigentlich dankbar sein, denn auf diese Weise entstehen die wohltätigen jahrhundertelangen Lücken, in denen es keinen großen Mann gibt und infolgedessen auch keinen durch einige Dutzend Jahreszahlen nur schwach ausgedrückten Betrieb und infolgedessen auch nichts zu lernen. Nur so ein paar Dichter oder Maler, die gar keinen Krieg zuwege gebracht haben.

Als Ludwig XIV. sich über ein zerbrochenes Fensterglas mokierte, arrangierte Louvois schleunigst irgendeinen Erbfolgekrieg, um Majestät etwas abzulenken. Dabei ging das Heidelberger Schloß in Flammen auf und wurde zu einer Nationalgefühl und Fremdenindustrie gleichermaßen fördernden Ruine. Es sind die kleinen Zufälligkeiten, die die Geschichte machen. Geringe Dinge, ohne Sinn, aber mit Konsequenzen. Hätte Louvois "Alt-Heidelberg" mit seiner Bierromantik vorausgeahnt, er hätte seinem König vielleicht geraten, Frau von Maintenon zu verabschieden oder Ball zu spielen oder sonst etwas.

Herr Dr. Horion war bekanntlich zum preußischen Ministerpräsidenten ausersehen. Er aber machte geltend, daß er sich nur für ein Jahr verpflichten könne, da er eine kranke Schwester habe. Man bat Herrn Horion dringend, etwas weniger Familiensinn zu entfalten, aber er blieb fest. Weil nun Herr(n) Horions Schwester kränkelt, deshalb muß jetzt Herr Marx sich in ein gewagtes Abenteuer stürzen, und Preußen entgeht den Möglichkeiten einer Regierung Horion. An solchen Seidenfäden hängen die Schicksale der Völker.

Als seinerzeit Herrn Michaelis die Kanzlerschaft angetragen wurde, zog er sich betend und fastend zurück, um einen luziden Moment zu erwarten. Schließlich fiel sein Blick auf ein Kalenderblatt und darauf stand gerade ein Spruch, aus dem sich für Michaelis ergab, daß er zum Schwerte des Herrn ausersehen, und er sagte innerlich gesammelt: Ja! Was aber wäre geworden bei einem andern weniger verheißenden Tagesspruch? Wenn da gestanden hätte, z.B.: Keine Rose ohne Dorn! oder was sonst so an weltschmerzlichen Erkenntnissen in Kalendern steht?! Dann hätte Michaelis wahrscheinlich die Finger davon gelassen und uns allen wäre wohler gewesen.

Wirklich, es sind nur die kleinen Dinge, die uns bald glücklich machen, bald tyrannisieren, aber immer beherrschen. Ich entsinne mich, im Dezember vorigen Jahres, als gerade die Regierungskrise heftig ausgebrochen war, Herrn Stresemann bei einer Operetten-Première gesehen zu haben. Es war eigentlich gar keine richtiggehende Operette von modernster Frivolität, sondern eine ehrenfeste patriotische Angelegenheit mit einem von seinem Volke vergötterten Fürsten, Militärmärschen und echten Grenadieren. Stresemann verfolgte den verwickelten Ablauf der Intrige mit sichtlicher Spannung, er zitterte mit Anneliese um ihren geliebten Erbprinzen, er senkte gedankenvoll das Haupt, als die Herzogin-Mutter mit dem Legitimitätsprinzip nicht ins Reine kommen wollte, er begrub diese schweren Gedanken unter munterem Applaus, als endlich die langen Kerle mit ihren Blechhauben und blauen Röcken über die Bühne marschierten. Er trommelte mit vaterländisch beschwingten Fingerspitzen auf der Logenbrüstung den Takt mit, als sich zum Schluß alles in Dessauer Marsch und Butter auflöste, und fuhr durch das Gesehene und Gehörte in seinem Glauben an das Volkskaisertum neu bestärkt nach Hause, entschlossen, die Krise dennoch zum Besten zu lenken, und sollte es auch noch sechs Wochen dauern.

Was aber wäre wohl geschehen, wenn Stresemann an diesem Abend weniger enthusiasmierende Eindrücke empfangen hätte? Wenn irgendeine Kleinigkeit ihn verhindert hätte, die belebenden nationalen Energien dieser Operette in sich aufzunehmen ...?

"Du weißt nicht, mein Sohn", sagte schon der alte Oxenstjerna, "mit wieviel Musik die Welt regiert wird!"

Das Tage-Buch, 14. Februar 1925

Der Reichspräsident

Mitten in Skandalen und Affären reift eine Entscheidung heran, wenig beachtet und doch von unendlicher Tragweite. Bis zum Beginn des Sommers wird der neue Reichspräsident gewählt sein. Im Mai, möglicherweise noch früher, wird die Wahl stattfinden. Ebert hat zu wiederholten Malen erklärt, eine neue Kandidatur nicht mehr anzunehmen.

Man muß schon mit großer Geduld und Vigilanz die Geschichte der Länder republikanischer Verfassung durchsuchen, um ähnliches an Interesselosigkeit zu finden wie gegenwärtig in Deutschland. In Amerika wirft die Präsidentschaftswahl für mindestens ein Jahr ihre Schatten voraus, in Frankreich ... nun, man denke an die Eskamotierung Millerands und jedes Wort erübrigt sich.

Der deutsche Reichspräsident ist mehr als ein Frack und eine Schärpe. Die Verfassung gibt ihm weitreichende Befugnisse, nicht zu reden von den tausend Möglichkeiten, seinen Einfluß geltend zu machen. Hätten wir eine politisch geschulte öffentliche Meinung, keine wesentlichere Frage hätte sie jetzt zur Diskussion zu stellen als: Wer soll Reichsoberhaupt werden? Unglücklicherweise schlägt man sich bei uns immer um Bagatellen die Köpfchen blutig, während sich das Schicksal hinter den Kulissen entscheidet.

Aber diese Interesselosigkeit ist durchaus keine so allgemeine. Sie erstreckt sich leider nur auf das republikanische Deutschland. Da läßt man schlafmützig wie immer den Termin näherkommen, um endlich einzusehen, daß es zu spät ist. Die reaktionären Parteien waren auch hier toujours en vedette. Die monarchistisch-nationalistische Presse kann nämlich nicht nur Alarm schlagen, sie kann auch schweigen. Und es ist verdächtig, daß sie diesmal so gut schweigt, daß ein Eindruck von Teilnahmslosigkeit entsteht. Bis eines Morgens für die Republikaner der kühle Abguß kommt, bis die Überraschung da ist: der Sammelkandidat der Rechten, der Mann des Bürgerblocks, der Platzhalter der Monarchie, der Präsident, der Stresemann wohlgefällt.

Im Reich regiert reaktionärer Mischmasch, in Preußen verteidigt die Weimarer Koalition mit letzter Kraft die Stellung. Wenn ins Reichspräsidenten-Palais Einer einzieht, der sich nur als der "Vorläufige" fühlt, als Mac Mahon oder Kahr, als demütiger Wegbereiter eines größeren, dann ade Deutsche Republik, dann gilt auch für dich das böse, alte Wort: Auch Patroklus mußte sterben – und war mehr als du!

Noch ist es Zeit zu handeln. Die Republikaner müssen über alle Parteibedenken hinweg eine geschlossene Front bilden. Es darf nur ein republikanischer Kandidat präsentiert werden. Wenn auch diesmal die Dinge wie sonst laufen, dann werden Zentrum, Demokraten und Sozialisten ihren eigenen Kandidaten nominieren, die Vielköpfigkeit wird die Massen verstimmen und verwirren, die Solidarität der Reaktion dagegen imponieren. So bleibt die Gefahr, daß auch die Ergebnislosigkeit des ersten Wahlganges die Republikaner nicht zur Geschlossenheit treibt, daß im Gegenteil der übelbekannte lange und geräuschvolle Kuhhandel beginnt und im zweiten Wahlgang die Rechte siegt. Ein Feilschen und Schachern zwischen den drei republikanischen Parteien, bei dem alle Blößen und Unsicherheiten zutage kämen, das würde die Sache der Republik vollends diskreditieren. Vergessen wir doch nicht, daß die vernichtende Wahlniederlage der amerikanischen Demokraten gerade verursacht wurde durch das ridikule Bild, das ein wochenlanger Parteikongreß bot, der, direktionslos und zersplittert, nicht den rechten Mann finden konnte. Uns droht ähnliches, wenn wir nicht rechtzeitig zur Initiative gelangen.

Und wir kämpfen nicht einmal mit der Hauptschwierigkeit der Wilson-Partei, denn wir haben den Mann. Der republikanische Sammelkandidat heißt Marx.

Unnötig, hier nochmals aufzurechnen, was ihn zum höchsten Amt des Deutschen Reiches qualifiziert. Er ist unbestritten der erste Mann seiner Partei. Er genießt aber auch, und das ist für seine Mission wichtiger, in allen drei republikanischen Parteien ein heute selten gewordenes Ansehen. Dieser Mann, autoritativ und menschlich gütig zugleich, ist der geeignete, um nicht von einer Partei, sondern von einer Koalition auf den Schild gehoben zu werden.

Sollte das nicht auch die Sozialdemokratie als die beste Lösung betrachten? Herr Ebert resigniert. Wen hat sie eigentlich sonst gerade für dieses sichtbarste politische Amt? Sechs Jahre lang hat sie das Präsidentschaftsgebäude behauptet. Es scheint uns ebenso Gründen der Politik wie der Billigkeit zu entsprechen, wenn sie für die nächsten Jahre die Repräsentation Deutschlands dem Vertrauensmann eines andern und nicht geringeren Volksteiles abtritt. Herr Marx hätte den katholischen Westen, er hätte auch den Süden, er würde selbst für gewisse nicht völlig verblasene bayerische Kreise wenigstens eine Mahnung zur Dämpfung und Selbstzucht werden. Der Sozialdemokrat Ebert war der Mann der großen Städte und Industriereviere, der katholische Republikaner Marx hätte auch die ländlichen Bezirke des Westens und Südens, die kleinen Städte, die niemals sonst ein Hauch der Republik berührt. Wäre das nicht auch für die Sozialdemokratie Grund genug, in kampflose Ablösung einzuwilligen? Und das in einer Form, die der Republik den Sieg sichert!

Im letzten Heft des "Tage-Buch" befürwortet ein republikanischer Politiker, der seit langem im Zentrum des Machtgetriebes steht, eine Sammelkandidatur Marx mit folgender gewichtiger Argumentation: "Überall hört man, daß Marx der einzig mögliche Kompromißkandidat für den zweiten Wahlgang wäre. Wenn das so ist, dann ist es, von allem anderen abgesehen, Kräftevergeudung, diesen Mann nicht schon für den ersten Wahlgang zu nominieren. Unsinnig wäre es, im ersten Wahlgang die republikanischen Stimmen zu zersplittern und dem Gegner Chancen eines Sieges zu bieten. Das demokratische Deutschland, einerlei welcher Partei und Konfession, muß und wird das Einsehen und die Disziplin aufbringen, zum Reichspräsidenten den Mann zu wählen, der die Voraussetzungen dazu mitbringt und die Fortentwicklung des demokratischen und republikanischen Staatsgedankens gewährleistet.

Die Koalition für die Präsidentenwahl ist die Koalition der Zukunft.

Hier wird auch der uns wesentlichste Punkt berührt: die Koalition, die den Präsidenten wählt, wird auch in den nächsten Jahren Deutschland regieren. Die republikanischen Parteien haben bisher unendlich viel versäumt. Durch einen unerhörten Glücksfall wird ihnen noch einmal die Gelegenheit geboten, in einem kurzen, frischen Entschluß ihre Lebenskraft zu beweisen.

Schnellste Aktion der Linken tut not. Die Feinde der Republik haben im Stillen ihr Plänchen fertig gemacht. Wir wollen ihrem Favoriten, welcher Gallwitz oder Scheer es auch sein mag, die Freude versalzen. Niemals soll er händereibend, schmunzelnd, in der Residenz erzählen, wie man Präsident wird.

Montag Morgen. 16. Februar 1925

Korruptionsstudenten

Auch die vergangene Woche stand im Zeichen des Untersuchungsausschusses. Jeden Tag etwas Neues, – Zwischenfall, Enthüllung, Skandal. Die Sitzungspausen wurden ausgefüllt von der Staatsanwaltschaft, die auch etwas zur allgemeinen Ergötzung beitragen wollte. Wenn früher der Arm des Gesetzes – man entschuldige das seltsame Bild – gleichsam zu Fuß ging, während der Missetäter auf geölten Sohlen entglitt, so flitzt er heute, Dresden hin, Dresden her, im Flugzeug durch die Lüfte, während der Gesuchte mit allen Verspätungen eines normalen D-Zuges hinter seinem Häscher herhumpelt.

Aber zurück zum Thema! Der Untersuchungsausschuß, der Leidig-Ausschuß (oh, wie er seinen Namen verdient!), hat nicht nur Vorsitzenden, Mitglieder, Angeklagte, Zeugen und polizeilichen Schutz, sondern auch Publikum. Seine Sitzungen sind jedem Staatsbürger zugängig, und in der Tat hat sich ein lebhafter Andrang bemerkbar gemacht. Ja, wenn man dem "8-Uhr-Abendblatt" trauen darf, so sind sogar Herren aus Hinterpommern eigens dazu nach Berlin gekommen.