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Dieser Band enthält, neben einer Biografie, seine wichtigsten Schriften aus den Jahren 1929 - 1930. Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.
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Seitenzahl: 829
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Schriften 1929 – 1930
Carl von Ossietzky
Inhalt:
Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie
Schriften 1929 – 1930
1929
Französische Revolution
Minoritäten
"Immer treu"
Alexanderschlacht
Der Denkschreiber Wilhelm Groener
Der unsterbliche Rezensent
Vor der Frühjahrsoffensive
Der Generalvormund
Der erlöste Vatikan
Der lachende Reporter
Unselig sind die Friedfertigen –
Arrangierprobe für die große Zeit
Stresemann als Erzieher
Ludwig Renn
Gänse und Krieger
Ketzereien zum Büchertag
Das Grab des bekannten Soldaten
Hugenberg an Babbitt
Boris und Seipel
Waschzettel
Traurige Hochzeit
Der Coup des Dr. Schacht
Cunos Schatten
Die Pflasterkästen
Zörgiebel ist schuld!
Abdankung, Herr Polizeipräsident!
Kommunistengesetz? Ein Jahr Sieg
Jeanne d'Arc
Die neueste Diktatur
(Antworten) Minister Grzesinski
als Gast Herr Dr. Paul Levi
Areopag
Republikanisch oder kosakisch?
Der heroische Gigolo
Arthur Henderson
Der Kampf um den Youngplan
Der Mann, der Coolidge kannte
Zum Geburtstag der Verfassung
Zum siebzigsten Geburtstag Knut Hamsuns
Die Internationale der Angst
Die Gefesselten
Wir im Haag
Europa macht nicht mit!
Zion
Der Fall Nobile
Eichenlaub und Bomben
Die Kaufleute von Berlin
"Gebrochene Beine"
Goethe beim Sexualberater
Fusionen
Abschied von Stresemann
Mahatma Gandhi
Rehabilitierung des Schriftstellers
Der geschundene Bär
Der Engel der Verkündung
Sklaven-Export
Diktatur Severing
Der Vater der politischen Polizei
Gegenspieler
Scheidungsprozeß?
Peter Martin Lampel
Das lädierte Sakrament
Der Schacht-Putsch
Großes Welttheater
Ludwig Börnes Auferstehung
In den Schacht gefallen
Lesbare Literaturgeschichte
Genosse Z.
Bilanz 1929
Sturm auf die Stars
1930
Gibt es noch eine Opposition?
Germania-Gourmenia
Genosse Z. konfisziert
Wilhelm und Jeremias
Plagiatsgeschrei
Primo
Bronnen-Premiere
Rotkoller
Paul Levi
Der Briefträger des Fascismus
George Grosz-Prozeß – Schober – Masaryk – Grzesinskis Abgang – Krach beim Genossen Z.
Von Kapp bis...?
Presse-Subventionen
Herr Paul Scheffer
Der Lutherklecks
Alle ab
Die Alberich-Bewegung
Der Revisor
"B"
Indien im Schmelztiegel
Hugenberg platzt
Der Film gegen Heinrich Mann
Der Demo-Krach
Die Sondergruppen
Diplomatenschub
Gottes Stimme in Berlin
Frithjof Nansen
Coudenhove und Briand
Einer von der Infanterie
Der Kaiser von Europa
Zapfstellen
Champions
Der Pabst
Um die Krolloper
Marginale
Herr Bolz läßt köpfen
Die Befreiten
Krach um Leutnant Blumenthal
Hausdorf – Professor Waentigs Symbolik – Jornsprozeß – Der Fall Slang
Die große alte Null
Germanisches Café
Wahlkampf: die Konservativen
Wahlkampf: die Staatspartei
Wahlkampf: An einen Pharisäer – Koch und Scholz – Goebbels als Geisterseher
Wahlkampf: der Hindenburg-Block
Wahlkampf: C.V. und Staatspartei
Nationalsozialismus oder Kommunismus?
Wahlkampf: Zwischenspiel der Generale
Wahlkampf: die Revisionisten
Vor Sonnenaufgang
Eugen Diederichs
Brüning darf nicht bleiben
Der Prozeß der Offiziere
Romulus Augustulus
Wohin rollst du, Köpfchen?
Die Blutlinie
Attentat auf die Filmkritik
Der Weg zu Frick
"Erfolg" ohne Sukzeß
Neue USP.?
Heilige Allianz
Sowjet-Justiz/Erdrutsch, zweite Auflage
Frenzel und Hellwig
Remarque-Film
Gontard
Dicke Bücher
Dingeldey als Erzieher
Der junge Fridericus
Alle gegen Alle
Schriften 1929 - 1930, Carl von Ossietzky
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624927
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen". Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.
Ah... ça ira, ça ira – Celui qui s'élève, on l'abaissera...
Wie es kam
Im Frühjahr 1789 befand sich Frankreich in einem Zustand letzter Erschöpfung. Es litt unter der unbezahlten Schuldenlast eines Jahrhunderts. Ein reiches Land war durch schlechte Regierung so weit heruntergewirtschaftet worden, daß die Staatseinnahmen ein jährliches Defizit von 140 Millionen aufwiesen, während die Anleihen auf 1646 Millionen angewachsen waren. Ungeheure Zahlen in einer Zeit, die noch keine amerikanischen Riesenvermögen kannte. Die Hilfsmittel waren erschöpft, aus dem verelendeten Volke ließ sich nichts mehr herauspressen. Hungersnot brach alle paar Jahre ein. Was geschehen sollte, wußte niemand. Aber einig war man sich darin, daß man die Alleinherrschaft des Königtums brechen wollte. Man wollte es nicht stürzen, aber es nach englischem Muster durch eine Verfassung beschränken.
Das achtzehnte Jahrhundert hatte nur einen geringen Einblick in wirtschaftliche Zusammenhänge. Der Engländer Adam Smith war der Erste gewesen, der über Wohlstand und Armut der Nationen eine einleuchtende Theorie entwickelt hatte. Die französischen Machthaber behandelten die Finanzmisere stümperhaft. Mit irrsinnigen Steuern zerstörten sie, was der arbeitsame Teil der Nation geschaffen. Als man nicht mehr weiter wußte, verpachtete man die Staatseinnahmen an private Spekulanten, die sogenannten Finanzpächter, die verhaßtesten Blutegel des Landes. Über diesem allmählich verfaulenden und verhungernden Staat aber thronte das absolute Königtum, unberührt von der Wahrheit lebte es in Luxus dahin, umgeben von einer bevorrechteten Klasse von Adeligen, die, obgleich alleinige Landbesitzerin, doch lange überschuldet und ruiniert war. Der Adel lebte seit Jahrzehnten nur noch von königlichen Almosen, sogenannten Pensionen, die der König bewilligte, Gnadenerweise in Geld, für die kein Anlaß vorhanden war. Namen und Summen der vornehmen Empfänger wurden in das berüchtigte Rote Buch eingetragen. Man fand es später. Der Bürger, in dessen Hand die Gewerbetätigkeit und die junge Industrie lag, war rechtlos. Er durfte kein öffentliches Amt bekleiden, er durfte nur mit dem schwarzen Hut unterm Arm vor den Großen seine Bücklinge machen. Er durfte Hof, Aristokratie und Geistlichkeit ernähren und empfing als Gegenleistung eine unehrliche Verwaltung und eine bestechliche, parteiische Justiz.
Dabei hatte Frankreich ein Jahrhundert höchsten Glanzes hinter sich. Seine Wissenschaft, seine Kunst, sein Geschmack und seine Lebensformen hatten ganz Europa überwältigt. Die großen Schriftsteller wie Voltaire, Rousseau und Diderot hatten Europa erobert, aber sie hatten auch die Despotie erschüttert. Sie hatten das Recht des Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, auf geistige Freiheit, und Gerechtigkeit verkündet. Das junge Bürgertum nahm diese Gedanken feurig auf. Einmal mußte der Zusammenprall erfolgen zwischen der Lehre der Philosophen und dem alten Staat, der zwar verrottet war, aber noch über die Kasernen und Gefängnisse verfügte. Der Zustand Frankreichs war ganz mittelalterlich. Uralte Bestimmungen hemmten die Gewerbe. Auf dem Lande wurde der Bauer von seinem Grundbesitzer ausgepreßt und zu Tode geschunden. Seuchen und Hungersnöte wüteten in der Landbevölkerung, die schließlich müde war, einen Boden zu beackern, der nicht mehr nährte. Der Bauer verkam in schmutziger Trägheit oder verstärkte die nächtliche Heerschar der Straßenräuber. Weite Landstrecken blieben unbestellt, verkamen und trugen nicht mehr.
Das alles war offenkundig, doch gefährlich, darüber zu sprechen. Eine Anzeige genügte, damit Einer in den Gefängnissen von Bîcetre oder Vincennes verschwand. Doch der gehässigste aller Kerker blieb die pariser Bastille. Hier faulten die Opfer höfischer Ränke. Grauenhafte Gerüchte gingen um. Hier an diesem gräßlichen Gemäuer fand Madame Legros eines Tages einen schmutzigen Zettel, die Botschaft des Gefangenen Latude an die Außenwelt. Madame Legros war eine unbedeutende Krämersfrau. Sie war ärmlich und nicht schön. Aber sie hatte ein großes Herz. Das Schicksal des fremden Menschen in der Bastille erschütterte sie, und sie beschloß Alles zu tun, um ihn zu befreien. Sie drang in die Amtszimmer und Salons, sie klagte, bat und drohte. Jahrelang ging die kleine Frau in ihren armseligen Kleidern in die Paläste, ging um wie der Geist der namenlosen Gerechtigkeit, unscheinbar und armselig. Niemand wagte, ihr ein Haar zu krümmen. Es war verboten, über den Fall zu schreiben, aber man verhaftete sie nicht. Das schlechte Gewissen lähmte den Arm der Herren. So verlor der Staat sein letztes Ansehen. Man heulte Spottlieder auf die Königin, in den Theatern wurden die bissigsten Witze auf den Adel laut beklatscht. Eine Schrift des Klerikers Sieyès, was der Dritte Stand bedeutete und was er zu fordern habe, geht von Hand zu Hand und wird der Katechismus des Bürgertums. In den Vorstädten treibt, von der Polizei gehetzt, ein Schwärmer sein Wesen, der aufreizende Flugschriften verfaßt, die heimlich gedruckt werden. Heute haust er auf einem schmutzigen Dachboden, morgen in einem feuchten Keller. Und immer gehetzt. Kein Wunder, daß er seine Gesundheit darüber verliert, daß seine Augen rotumrändert und trübe werden, seine Brust einfällt und sein eingesunkenes Gesicht von Hunger und Verbitterung erzählt. Das ist ein früherer Mediziner, der Doktor Marat. Man wird ihn später wiederfinden.
Von Mirabeau bis Robespierre
Ludwig XVI. war ein besserer aber auch weniger bedeutender Mensch als seine Vorgänger. Das Volk mochte den korpulenten Herrn mit dem starken Doppelkinn gern. Er sagte, seiner unentschlossenen Natur entsprechend, weder Ja noch Nein, glaubte aber immer, sich schließlich doch noch durch ein Doppelspiel aus der Klemme ziehen zu können. Das wurde sein Verhängnis. Wirklich verhaßt dagegen war die Königin. Marie Antoinette, die österreichische Prinzessin, war hochfahrend, verschwenderisch, voll Verachtung gegen den Bürger, dazu umgeben von einem Kreis, in dem das Volk nur österreichische Spione sah. Ihr Ruf war durch Skandalgeschichten ruiniert. Dabei war ihr Charakter stark, und ihr späteres Unglück fand sie ungebeugt.
Im Frühjahr 1789 war die Weisheit der Regierenden zu Ende. Der Finanzminister Necker, ein bürgerlicher Bankier aus Genf, ein tüchtiger Fachmann, sollte die Rettung bringen. Er riet dem König, die Stände, die "états généraux" einzuberufen, das heißt: die Vertreter von Adel, Geistlichkeit und Bürgertum, eine Einrichtung, von der das Königtum seit dem Kardinal Richelieu keinen Gebrauch mehr gemacht hatte. Das Volk mußte darin das Zugeständnis sehen, daß die Regierung nicht weiter wußte, seine Führer erblickten darin den Beginn der friedlichen, gesetzmäßigen Umformung des Staates nach englischem Muster. Für den Hof hingegen bedeutete die Berufung der Stände nur einen Versuch, neue Einnahmequellen zu erschließen und die Verantwortung abzuwälzen. Vorangegangen war schon eine Notablenversammlung, die zu nichts geführt hatte. Am 5. Mai 1789 traten die Stände in Versailles zusammen. Der Adel hatte 270 Vertreter entsandt, die Geistlichkeit 290, der Dritte Stand 532, darunter 212 Advokaten, die damit ihren Einzug in die französische Politik halten. Übrigens haben sich zum Dritten Stand auch etliche Adelige und Priester geschlagen. Die Regierung hat moralisch abgewirtschaftet, und Verwirrung und Unentschiedenheit beherrschen Militär, Justiz, Polizei. Das Bürgertum hat zwar Ideen, aber es fühlt sich noch unsicher. In einzelnen Provinzen beginnen Bauernaufstände, in Paris brechen Hungerrevolten aus. Der Hof zieht Truppen zusammen, in Versailles spricht man offen davon, die Stände auseinanderzujagen, wenn sie zuviel fordern. Die Regierung vertritt die Meinung, daß die Versammlung nur über die Steuervorlagen zu beraten und dann zu verschwinden habe. Deshalb soll auch nicht nach Köpfen, sondern nach Ständen abgestimmt werden. Das heißt, die stärkste Gruppe, die Bürger, von vornherein in die Minderheit setzen. Der erste Konflikt ist da. Am 17. Juni versammeln sich die Vertreter des Dritten Standes, die "Gemeinen", und auf Antrag von Sieyès erklären sie sich zur Nationalversammlung, zur alleinigen Vertretung also. Die Regierung läßt das Versammlungshaus militärisch besetzen und verweigert den Abgeordneten den Zutritt. Da ziehen sie geschlossen ins Ballhaus, einen kümmerlichen Saal ohne Tische und Stühle, und hier leisten sie in der Nacht den feierlichen Eid: nicht zu weichen, bis sie Frankreich eine Verfassung gegeben. Der König erklärt den Beschluß für ungültig und droht mit Auflösung. Die Versammlung gehorcht nicht. Des Königs Zeremonienmeister wiederholt den Befehl. Ein schwerer Augenblick für die Versammelten. Widersetzen sie sich, so stehen sie außerhalb des Gesetzes. Da erhebt sich Graf Mirabeau. Er sitzt beim Dritten Stand, weil ihn die Aristokraten nicht bei sich leiden. Seine Vergangenheit ist durch häßliche Geschichten bemakelt. Das Volk sieht in ihm seinen Helden. Er ist es nicht. Ehrgeiz und Berechnung haben ihn hierher geführt, aber seine abenteuerliche Natur kennt auch Ergriffenheit und aufrichtiges Verlieren an einen feierlichen Moment. Er ist groß und schwer von Gestalt, das Gesicht gedunsen und verfettet, sein Körper ist schon zerrüttet, und in zwei Jahren wird er der nagenden Krankheit erliegen. Aber er ist der mächtige Redner dieser Versammlung, seine Stimme hat Orgelgewalt, er kann in seinen Hörern abwechselnd Raserei entfachen und zarteste Stimmungen vibrieren lassen. Graf Mirabeau spricht zur Versammlung: "... die Freiheit Ihrer Beratungen ist gefesselt; eine bewaffnete Macht umringt die Versammlung! Wo sind die Feinde des Volkes? Ist Catilina vor unsern Toren? Ich fordere Sie auf, suchen Sie Schutz bei Ihrer Würde, bei Ihrer gesetzgebenden Gewalt und halten Sie sich treu an die Heiligkeit Ihres Eides; er erlaubt uns die Trennung nur, wenn wir die Verfassung festgestellt haben." Der Zeremonienmeister fordert Gehorsam für den König. Da wendet sich Mirabeau an ihn: "Sagen Sie Ihrem Herrn, daß wir auf Befehl des Volkes hier sind und nur der Gewalt der Bajonette weichen." Und der ernste, stille Sieyès spricht zur Versammlung: "Sie sind heute, was Sie gestern waren, lassen Sie uns beraten." Ein paar Wochen später wird der König erstaunt ausrufen: "Aber das ist ja eine Meuterei!", und der Zeremonienmeister wird antworten: "Nein, Sire, das ist die Revolution!"
Es ist die Revolution. Der König weiß es nicht. Der Hofkreis seiner Frau beherrscht ihn. Dort will man den Staatsstreich. Die Hauptstadt ist von Truppen umzingelt. Kuriere eilen nach Metz zum Oberkommandanten der Armee. Ganz Paris ist auf der Straße. Es ist eine belagerte Stadt, die den Sturm erwartet. Morgen können ein paar Regimenter einbrechen; es sind viele landfremde Soldaten dabei, Schweizer und Panduren. Schrecklich kann das Gemetzel werden. Am 11. Juli wird plötzlich bekannt, daß Necker, der beliebte Reformminister, verabschiedet sei. Drohend liegt am Eingang des Arbeiterviertels Saint-Antoine das verhaßte Staatsgefängnis, die Bastille. Wie viele Opfer wird sie wieder aufnehmen? Am 13. Juli steht Paris in Aufruhr. Am 14. Juli stürmt ein Volkshaufe die Bastille und demoliert sie. Der Kommandant wird niedergemacht, sein Kopf auf der Stange durch die Stadt getragen. Der Despotismus ist schon müde und krank. Ohne Widerstand ist die Bastille gefallen, nichts geschieht, um sie zu rächen. Das Volk von Paris hat gesiegt. Jetzt bewaffnet es sich. Unter dem Befehl Lafayettes, der vor zehn Jahren in Amerika als Freiwilliger gekämpft hat, wird eine Bürgerwehr geschaffen, die Nationalgarde. Sie trägt eine neue Kokarde: blau und rot, die Farben von Paris, weiß die alte Farbe Frankreichs. Blau-weiß-rot sind von jetzt an Frankreichs Farben, und der 14. Juli ist sein nationaler Feiertag.
Der Hof ist in höchster Bestürzung. Die Nationalversammlung setzt ihre Arbeiten fort. In der Nacht zum 4. August werden alle alten Vorrechte abgeschafft; die Aristokraten selber werfen fort, was sie nicht mehr verteidigen können. In der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte findet der neue gesellschaftliche Zustand seine förmliche Bestätigung. Gleichheit vor dem Gesetz, geistige Freiheit, Abschaffung von Vorrechten, die durch die Geburt bedingt sind. Das bedeutet eine neue Zeit, und das Signal wird bald durch alle Länder gehen. Was damals unter Wirren und Schmerzen entstand, ist später so selbstverständlich geworden, daß wir heute nicht atmen könnten, wenn man es uns bestreiten wollte. In der Nacht zum 4. August erst ging das Mittelalter zu Ende.
Indessen hat der Hof wieder frischen Mut gefaßt. Die Nationalversammlung verzettelt ihre Zeit. In Paris ist wieder der Hunger eingekehrt. Wie im Kriege hängt die Verpflegung der riesengroßen Stadt von der Pünktlichkeit einer Brotsendung ab. In die vor Erregung bebende, von Hunger geschüttelte Stadt kommt eine Nachricht: Die Königin hat für ihre Offiziere in Versailles ein großes Fest abgehalten; und dabei ist es zu bedrohlichen Szenen gekommen. Die Königin, eine schöne, elegante Frau, so wie wir sie von vielen Bildern kennen, in ihrer hohen, getürmten Lockenfrisur, mit weißem Puder überstäubt, in einer herrlichen Brokatrobe und dem mächtigen Reifrock, Symbol der königlichen Pracht, war durch die Reihen der berauschten Offiziere gegangen, hatte ihnen Schmeicheleien gesagt – die Offiziere hatten ihre Hände geküßt, hatten mit geschwungenen Degen ihr Treue geschworen und wilde Racheschwüre gegen Paris deklamiert. Ist das die Gegenrevolution? Panischer Schrecken in Paris. Und so beginnt eine der seltsamsten Episoden dieser Jahre. Am 5. Oktober ziehen Tausende pariser Frauen nach Versailles. Kleinbürgerinnen, Marktfrauen, Arbeiterinnen. Sie kommen nicht feindselig, sie wollen ihre Not klagen, wollen Brot. Eine Armee verhärmter Frauen belagert das prunkvolle Schloß. Bestürzung, Ratlosigkeit. Wird es zu Gewalttätigkeiten kommen? Es ist immer wieder der Verdacht ausgesprochen worden, in Wahrheit habe Lafayette, der wie Mirabeau eine Doppelrolle spielte, den Zug arrangiert. Wenigstens traf er erst spät in der Nacht ein und wurde von beiden Seiten stürmisch begrüßt, von dem Hof sowohl wie von den Frauen vor dem Schloß.
Aber es gab jetzt nur noch eins: Der König mußte nach Paris. Das Volk verlangte es. Am 6. Oktober bewegte sich eine seltsame Prozession von Versailles nach Paris: In einer Kutsche die königliche Familie, daneben zu Pferde Lafayette mit der blau-weiß-roten Kokarde, dann die mehr malerischen als adretten Gestalten der Nationalgarde, dann das Heer der Frauen. So zog Ludwig XVI. in seine Hauptstadt ein.
Man hatte gehofft, den Ränken des Hofes ein Ende zu machen, indem man den König nach Paris brachte. Es war ein Irrtum. Das Königtum suchte jetzt einzelne Führer der Bewegung zu gewinnen. Mirabeau zeigte sich einer Verständigung nicht abgeneigt. Der König schien sich in die neuen Verhältnisse geschickt zu fügen, und republikanisch dachte man damals noch nicht. Ein Jahr nach dem Bastillensturm fand auf dem Marsfelde das große Bundesfest statt, das zum letzten Mal die Parteien in voller Harmonie zeigte. Dann begann im Lager des Dritten Standes die Zerspaltung. Parteien in unserm Sinne gab es in der Nationalversammlung noch nicht. Die Abgeordneten trafen sich in Klubs, und hier entwickelten sich in stürmischen Debatten allmählich bestimmte Gruppen. Es entstanden viele dieser Klubs. Der berühmteste, von dem Parlamentsrat Duport in Versailles gegründet, tagte später in Paris im Jakobinerkloster und erhielt davon seinen Namen. Hier verkehren Mirabeau und Lafayette, hier schulten sich Männer, die erst später bekannt wurden, und hier vor allem war der Sammelplatz von Politikern, meistens aus dem Advokatenstande, die auf das Volk von Paris Einfluß hatten. Das Bundesfest hatte unter der Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" einen wahren Freiheitsrausch verbreitet. Nachher sahen die Dinge nüchterner aus. Die Beruhigung war nur scheinbar. Die Not hatte sich nicht geändert, in den Provinzen wechselten revolutionäre Bauernrevolten mit gegenrevolutionären. Auf den Verkauf der Kirchengüter gab man Papiergeld aus, die Assignaten; der Bankrott war nur verschleiert. Mitten in diesen Wirren, im Frühjahr 1791, starb Mirabeau. Der Hof verlor seine letzte Hoffnung und war bereit, Alles auf einen Gewaltstreich zu setzen. Der König machte den Versuch, nach Metz zu entfliehen, ins Hauptquartier der Armee. Er wurde in Varennes eingeholt und nach Paris zurückgebracht. Seine Doppelzüngigkeit weckte die tiefste Entrüstung, seine Beliebtheit war für immer dahin. Daß er sich nur mühsam an die neuen Verhältnisse gewöhnte, wurde mit Nachsicht beurteilt. Nicht verzieh man ihm aber, daß er sich heimlich mit dem Ausland gegen das eigene Land verschworen hatte. Denn inzwischen hatte sich in Frankreich eine bedrohliche Allianz gebildet. Die Mächte des alten Europa hatten mit Sorge die Bewegung verfolgt, sie fürchteten, daß sie über die Grenzen schlagen könnte und waren deshalb bereit, ihre Armeen marschieren zu lassen, um den König mit Gewalt nach Paris zu führen und die Revolution zu zertreten. Dies wußte Ludwig XVI., in diese Gesellschaft hatte er sich begeben, und deshalb mußte er schließlich Krone und Kopf verspielen.
Zum erstenmal wird die Absetzung des Königs, die Ausrufung der Republik gefordert. Die Radikalen sondern sich von den Gemäßigten, die für die konstitutionelle Monarchie sprechen. Im Jakobinerkloster treffen sich die republikanisch Gesinnten. Auch bei ihnen sind zwei Gruppen bemerkbar. Die einen nennt man die Girondisten, weil einige ihrer Wortführer aus der Gironde stammen. Es ist die Partei der reichen Kaufleute, die Partei der glänzenden Redner wie Brissot, Vergniaud, Pétion, Roland. Die andre Gruppe stützt sich auf das kleine Bürgertum, auf die große Masse der Arbeiter und Besitzlosen. Schon machen sich Kontraste zwischen beiden Gruppen bemerkbar. Bald wird man sie die Ebene und den Berg nennen nach ihren Sitzen in der Versammlung. In den Pariser Vorstädten herrschen volksbeliebte Agitatoren: der jetzt endlich ans Tageslicht gekommene Marat, der Brauer Santerre, der lustige Camille Desmoulins. Ein Redner von wilder Kraft ist der breitschultrige, pockennarbige Georges Danton. Sie alle haben Beziehungen zu einem Mitgliede des Jakobinerklubs, einem schmalen, zarten Herrn von kränklicher Gesichtsfarbe, der seinen Rock stets peinlich sauber trägt und stets eine frische weiße Halsbinde umhat. Das ist der Bürger Maximilian Robespierre, Advokat aus Arras. Noch lächelt man über seinen steifen Ernst, über sein bescheidenes, nüchternes Leben. Bald wird man vor ihm zittern, wenn er, auf der Rednertribüne stehend, seine kalten Augen auf der Versammlung ruhen läßt.
Allons enfants de la patrie...!
Die erste Nationalversammlung führte den Namen die Konstituante, weil es ihre Aufgabe war, dem Staat eine Verfassung (Konstitution) zu geben, die zweite, am 1. Oktober 1791 zusammengetreten, hieß die Legislative, weil ihr die Gesetzgebung oblag. Die zweite Nationalversammlung sah schon ganz anders aus. Die Gemäßigten waren in der Minderheit und sehr kleinlaut; republikanisch Gesinnte, Girondisten und Jakobiner, in der Mehrzahl. Außerhalb der Versammlung schrieb und dachte man noch radikaler. Der neue Klub der Cordeliers, in dem Danton, Desmoulins und Marat das Wort führten, betrieb offen die Absetzung des Königs und denunzierte die Girondisten als Schwächlinge, die kein offenes Vorgehen wagten.
1792 sind die europäischen Mächte klar zum Krieg gegen die Revolution. Am Rhein und in dem damals österreichischen Belgien finden Truppenkonzentrationen statt. In den Klubs von Paris wird laut der Krieg gefordert. Der König muß seine Minister entlassen, ein Kabinett aus Girondisten wird gebildet. Der führende Kopf ist Dumouriez, ein früherer königlicher Kammerherr, hochbegabt und energisch, aber auch leichtfertig und charakterlos. Das Königtum war verloren, man wußte es überall, nur im königlichen Palast nicht. Man erzählt, daß der Zeremonienmeister die neuen Minister nicht beim Könige vorlassen wollte, weil sie nicht, der Kleiderordnung des Hofes gemäß, Schnallen an den Schuhen trugen. "Nicht wahr, mein Herr", sagte Dumouriez gelassen, "Alles ist verloren." Die erste Tat des neuen Ministeriums war die Kriegserklärung an Österreich. Frankreich war wie eingekesselt, in Belgien, am Rhein und in Italien wimmelte es von ausgewanderten Aristokraten, den "Emigranten", die offen zum Zug nach Paris hetzten und deren Rat die Kabinette der Mächte beherrschte. Der verblendete König begann neu zu hoffen. Er glaubte an die Überlegenheit der Mächte, sah sich in Gedanken wohl schon befreit und entließ die girondistischen Minister. Vielleicht war seine Hoffnung nicht unbegründet, denn inzwischen hatte sich Preußen Österreich angeschlossen. Die zwei alten Militärmächte standen in kolossaler Überlegenheit gegen das zerrissene, am Rande des Bürgerkriegs taumelnde Frankreich. Der Herzog von Braunschweig, der Generalissimus, glaubte überhaupt nicht an Widerstand, sondern eher an einen Parademarsch nach Paris. Von Koblenz aus erläßt er das berühmte Manifest an Frankreich. Er nennt darin die Ereignisse seit 1789 Rebellion, er fordert auf, dem Könige seine gesetzmäßige Gewalt zurückzugeben, also den verhaßten, alten Zustand wiederherzustellen. Er fordert bedingungslose Kapitulation des ganzen Landes. Jede Verteidigung würde mit dem Tode bestraft werden, Paris selbst der militärischen Exekution und der Zerstörung anheimfallen. Viel hatte in diesen schicksalsvollen Jahren menschliche Unzulänglichkeit verschuldet, aber eine solche an Wahnsinn grenzende Torheit war noch nicht dagewesen. Die Wirkung war schrecklich. Einschüchtern wollte der Braunschweiger, statt dessen erweckte er alle Elemente der Abwehr. Von diesem Augenblick an ist Frankreich eine gefüllte Ekrasitbombe, bereit, bei der ersten Berührung ganz Europa in die Luft zu sprengen. Der erste Erfolg des Manifestes ist der Sturz Ludwigs XVI. Danton und Marat haben das Volk der Vorstädte in der Hand; am 10. August werden die Tuilerien gestürmt, der König flüchtet in die Nationalversammlung und wird als Gefangener in den Temple gebracht. Jetzt ist er endgültig verloren. Man weiß, daß er Verbindung mit den Feinden gehalten hat und wohl noch hält, und daß die Königin niemals Hehl gemacht hat, die Anschauungen des Manifestes zu teilen. Frankreich kämpft um das nackte Leben, und der König fällt als Opfer dieses Kampfes. Bald wird er auf dem Revolutionsplatze als Hochverräter unterm Fallbeil sterben. Im Sturm gewinnen die Radikalen unter Danton und Robespierre die Überhand. Die Girondisten werden zurückgedrängt. Der Gemeinderat von Paris wird nun ganz jakobinisch und zum Hauptquartier der Revolution. Die Gemäßigten werden verjagt, ihre Klubs geschlossen. Frankreich ist eine belagerte, dem Hunger verfallene Festung. Verzweiflung und Fanatismus regieren; die Barmherzigkeit ist gestorben. Das Vaterland ist in Gefahr! Im September brechen wilde Horden in die überfüllten Gefängnisse ein und metzeln die Gefangenen nieder, der Ruf "An die Laterne mit den Aristokraten!" dringt durch die Straßen, pflanzt sich durchs ganze Land fort. Das sind die "Septembrisaden". Tausende werden als Feinde des Vaterlandes abgeschlachtet. Dabei ist in vielen Provinzen die Revolution kaum durchgedrungen. Im Süden und Norden brechen Aufstände los, die Vendée verteidigt sich verzweifelt gegen die Truppen von Paris. Bürgerkrieg. Das sind die Folgen des Manifestes. Und als ob das Schicksal dem alliierten Europa noch eine eindringlichere Lektion vorbehalten hätte: Nicht einmal im Felde sind seine Armeen glücklich. Die französischen Heere sind schlecht ausgerüstet, man nennt die Soldaten spöttisch "Sansculotten", Ohnehosen, weil sie statt Kniehosen lange, schlechtsitzende Beinkleider tragen, aber diese Soldaten, die oft nur Piken oder Sensen haben, kämpfen um Freiheit und Leben ihres Landes. Dumouriez führt jetzt mit dem General Kellermann die Armee in der Champagne. Bei Valmy stoßen die Preußen und Österreicher auf einen unerwarteten mehrtägigen Widerstand. Am 30. September, abends, gibt der Herzog den Befehl zum Rückzug. An diesem Tag siegt die junge Revolution über das alte morsche Europa. Berühmt genug ist der Ausspruch Goethes: "Von hier und heute beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen!" Goethe befand sich mit seinem Herzog bei der Armee. Sein Wort wiegt schwer; er liebte die Revolution nicht. Nach der Kanonade von Valmy drangen die französischen Armeen selbst über die Grenzen, nach Belgien, an den Rhein. In den bedrückten deutschen Kleinstaaten begrüßte man sie als Befreier. In Mainz tanzte man um den Freiheitsbaum.
Mit seinen Schrecken und Wirrnissen ist 1793 eines der größten Jahre der Geschichte. Noch sieht es in Frankreich wild genug aus, und die Parteikämpfe nehmen an Leidenschaft zu. Führer der Republikaner sind jetzt Danton und Robespierre. Sie lieben sich nicht, der breite, temperamentvolle Danton, der nicht nur gewalttätig ist, sondern auch staatsklug, und der kleine, verkniffene Robespierre mit dem gutgebürsteten Rock – später werden sie sich zerreißen. Auf die gesetzgebende Versammlung ist der Nationalkonvent gefolgt. Die wichtigsten Vollmachten liegen bei einem kleinen Komitee: dem Wohlfahrtsausschuß. Die Republik ist proklamiert, Ludwig XVI. hingerichtet. Nach ihm die Königin und viele Andre. Jetzt rumpelt der Karren täglich durch die Straßen, Futter für die Guillotine: Aristokraten, Verdächtige, unehrliche Armeelieferanten, Brotwucherer. Robespierre stürzt die Girondisten. Sie werden im Konvent verhaftet. Es war immer ein Gegensatz zwischen ihnen und den pariser Radikalen. Sie sind zumeist reiche Seidenfabrikanten aus Lyon, Kaufherren aus Bordeaux; sie vertreten den neuen bürgerlichen Reichtum, Industrie und Finanz, ihre Lebensführung gleicht am ehesten der der gestürzten Schichten, während die Jakobiner den kleinen Mittelstand und die proletarischen Schichten verkörpern. Die Girondisten haben glänzende Redner, prachtvolle Charaktere, aber keine gebietenden Persönlichkeiten wie Danton. Sie werden zerrieben.
Jetzt ist Frankreich Republik. Eine neue Zeitrechnung beginnt, man bestimmt das Jahr 1792 als Jahr I der Republik und führt neue Monatsnamen ein. Die alte Einteilung in ziemlich selbständige Provinzen wird aufgehoben, die heute noch gültige Einteilung in Departements begründet die französische Einheit. Carnot, der militärische Organisator des Wohlfahrtsausschusses, schafft die "levée en masse", die große Erhebung zur nationalen Verteidigung, und diese elend ausgestatteten Sansculottenheere, von blutjungen Generalen geführt, erschüttern Europa. Etwas ganz Neues ist in der Welt, was es vorher nicht gegeben hat und was heute nicht mehr fortzudenken ist: Vaterland und Freiheit gehören zusammen, wo die Freiheit nicht ist, ist auch kein Vaterland. Der moderne Patriotismus ist 1793 geboren. Der Begriff des Untertanen weicht der neuen Idee des Bürgers, der, sei er auch noch so gering, teil hat am Staat. Und wie immer in Epochen großer Umwandlungen ändern die Menschen auch ihr Äußeres. Wie in unsern Tagen die Männer ihre Kleidung leichter machen und dem gelenkigeren sportlichen Typ anpassen, die Frauen die Haare kurz schneiden und die Schleppröcke und Schnürleiber als Attribute alter Zeit betrachten, so warf man damals die mächtigen Reifröcke beiseite, die hohen, gepuderten Frisuren wurden nicht mehr getragen. Die Kleidung wurde einfacher und gefälliger – was ein paar Jahre vorher noch allgemein gültig war, wurde nun als zur "Zopfzeit" gehörig betrachtet, und man sprach vom "ancien régime", als läge es hundert Jahre zurück. In der Tat ist in einem Jahre der Schutt eines Jahrhunderts aufgeräumt worden. Früher wurde der Staat durch sein Königtum verkörpert, jetzt redete man nur von der Nation; nicht mehr vom Willen des Herrschenden, sondern vom "Gesetz". Alles was in dieser Zeit gefühlt wurde, hat ein junger Offizier der Rheinarmee, Rouget de Lisle, in ein von ihm gedichtetes und in Musik gesetztes Lied gelegt. Es wurde zuerst von Freiwilligen aus Marseille nach Paris gebracht und heißt danach die "Marseillaise". In seinem mächtigen Schwunge atmet der ungebärdige, junge Geist des erwachten Volkes, gegen das die alten Mächte rücken, um ihm die Freiheit wieder zu entreißen:
Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé. Contre nous de la tyrannie, l'étendard sanglant est levé... Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! Marchez, marchez! qu'un sang impur abreuve nos sillons...
(Auf, Ihr Kinder des Vaterlandes, der Tag des Ruhms ist da. Auf, gegen die Tyrannei! Die blutige Fahne weht! Zu den Waffen Bürger, bildet Sturmtrupps, marschiert, das Blut der Verräter soll unsern Acker tränken!)
Der 9. Thermidor
Der König ist dahin. Die Royalisten sind gestürzt und gerichtet. Die Gemäßigten sind nicht mehr. Die stolze Partei der Gironde ist nur noch ein Haufen armer Flüchtlinge. Gegen ein Übermaß von Feinden hat die Revolution den Schrecken aufgeboten, und jetzt wachsen die Stimmen gegen die Schreckensherrschaft. Ein junges Mädchen aus der Normandie, Charlotte Corday, eine Girondistin, hat Marat im Bade erdolcht. In der Galerie von Brüssel hängt des Malers David unvergeßliches Bild von dem sterbenden Marat. Er ist in der Badewanne zusammengesunken, einen blutigen Riß in der Brust, das Haupt fällt zur Seite, klagend ist der Mund geöffnet. So hat der Maler selbst den Sterbenden gesehen. Marat war ein Schwärmer, der viel Verfolgung erlitten hat, doch der überzeugteste Anwalt des Schreckens wird der junge Marquis Saint Just, ein schmächtiger blasser Mensch, als Redner von einer kalten, schneidenden Rücksichtslosigkeit, die auch seine Freunde schaudern macht. Soll der Mensch barmherziger sein als die Natur, die den Tod in die Welt schickt, die Erdbeben, Orkane, Gewitter über die Erde wirft? so philosophiert Saint Just. Jetzt werden die Gegensätze ganz scharf, auf der einen Seite die Lebensfrohen, die Spötter, die Voltaireschüler Danton und Camille Desmoulins, auf der andern Seite Robespierre und Saint Just, die Finstern und Lebensfeindlichen. Camille Desmoulins gibt ein Blatt heraus "Der alte Cordelier", voll unbarmherzigsten Spottes über den mächtigen Robespierre. Im Kreise Dantons lacht man über den "Blutmessias"; Desmoulins macht sich über Saint Just lustig: dieser trage seinen Kopf so feierlich wie eine Monstranz. "Er wird den Seinen bald unterm Arm tragen wie der heilige Dionys", antwortet Saint Just bissig. Danton hat eine Generalidee: die Amnestie. Erst Gnade, dann Neubeginn. Auch Robespierre trägt sich mit solchen Plänen, aber schweigt davon. Danton führt sich unvorsichtig. Sein privates Leben ist schwelgerisch, es sammelt sich um ihn eine bunte Gesellschaft von Unzufriedenen, politischen Geschäftemachern, Gesinnungslosen. Sein Verhalten wird rätselhaft. Er fordert die Gegner ständig heraus, aber er kämpft weder, noch denkt er an seine Sicherheit. Am 10. Germinal (30. März) 1794 verhandelt der Wohlfahrtsausschuß über seine Verhaftung. "Sie werden es nicht wagen!" meint er, und die Bitte, zu fliehen, lehnt er mit den Worten ab: "Kann ich das Vaterland an meinen Sohlen mitnehmen?" Noch in der selben Nacht wird er ins Gefängnis gebracht, mit ihm die Freunde. Die Dantonisten verteidigen sich vor dem Tribunal mit Tapferkeit und aufreizendem Spott. Bei der Verkündung des Todesurteils ruft Danton: "Robespierre wird folgen! Ich ziehe ihn nach!" Am 5. April enden Danton, Desmoulins und andre auf dem Schafott. Den letzten Kampf Dantons, seine Niederlage und sein Sterben hat der deutsche Dichter Georg Büchner in einem Drama behandelt, dem größten Revolutionsstück, das jemals geschrieben wurde. Es sagt mehr vom Geist der Revolution als alle Geschichtsbücher.
Nun wird es kalt und still. Die Revolution hat ihr Genie erschlagen. Vier Monate noch dauert die Diktatur Robespierre. Was will er? Er hat eine republikanische Gruppe nach der andern unters Fallbeil gebracht, nicht nur die Girondisten und Dantonisten, sondern auch eine Fraktion des Gemeinderats, die Hébertisten, die noch schroffer waren als er. Die Revolution hatte bisher eine ungeheure Fülle von Geist und Talent zuzusetzen gehabt. Bei den großen Volksaufständen vom Bastillensturm bis zum Tuileriensturm waren die Führer gleichsam aus dem Boden gewachsen. Jetzt ist diese heldenhafte Generation durch Blutverluste geschwächt. Die Großen sind dahin, und das Volk ist müde. Robespierre aber geht unbeirrt weiter. Er ist eitel, er hört sich gern den "Unbestechlichen", den "Tugendhaften" nennen, aber er ist nicht blind. Es entgeht ihm nicht, daß es im engsten Freundeskreis an Tugend und Unbestechlichkeit fehlt; auch dort sitzen Zweideutige, Falschspieler, Heuchler und Käufliche. So bereitet er den Kampf gegen den Konvent vor. Es wird sein letzter Kampf.
Robespierre ist entschlossen, den Konvent, der sich gegen ihn kalt und mißtrauisch zeigt, entweder neu unter seinen Willen zu zwingen oder aufzulösen. Er hat den Gemeinderat auf seiner Seite, aber auch der Konvent ist vorbereitet. Viele erschütternde Szenen haben die Parlamente der Revolution gesehen, aber die Sitzung vom 9. Thermidor (27. Juli) ist der Schlußakt einer grausamen Tragödie. Denn die sich gegen Robespierre empören, das ist die alte Garde der Jakobiner selbst. Die sich gegen ihn erheben, sind nicht die Besten; es klebt mehr Blut an ihren Fingern als an den seinen, viele davon haben als Kommissäre des Konvents in der Provinz schreckliche Gemetzel veranstaltet, viele haben sich unrechtmäßig bereichert. Er aber ist auch in seiner Mittagshöhe arm und fleckenlos geblieben.
Zu Beginn der Sitzung spricht Billaud-Varennes. Er bezichtigt Robespierre, nach der Alleinherrschaft zu streben. Der will jetzt reden, aber der Ruf: "Nieder mit dem Tyrannen!" empfängt ihn. Der Diktator kann sich nicht mehr durchsetzen. Er ist in der Entscheidung zittrig und nervös. Die große Anklagerede hält Tallien, ein unbeträchtlicher Politiker, der weder vorher noch nachher etwas geleistet hat. Ein gewissenloser Lebemann, berühmt nur durch seine Frau, die dort, wo man sich nicht langweilt, eine Rolle spielt. Mit der Energie des Feigen, der das kalte Messer im Nacken fühlt, findet Tallien Worte, die alle Leidenschaften entfesseln. Robespierre will antworten. Er wird niedergeschrien. Immer wieder das Geheul: "Nieder mit dem Tyrannen!" Der Präsident Thuriot schwingt die Glocke. Da schreit Robespierre mit einer kaum mehr menschlichen Stimme: "Zum letzten Mal, Präsident einer Versammlung von Mördern, willst du mir das Wort geben!" Der Präsident beachtet ihn nicht, sondern läutet weiter. Da macht der wankende Diktator den letzten Versuch: er will zu den Zuhörern auf den Tribünen reden. Aber dort bleibt man stumm. Das Volk hat den Tribun des Volkes verlassen. Außer sich vor Erschöpfung bricht der zarte, brustschwache Mann auf einem Stuhl zusammen. "Das Blut Dantons erstickt dich", ruft jemand aus der Versammlung. Als Gefangener des Konvents wird Robespierre mit Saint Just und andern abgeführt. Durch einen Putsch des Gemeinderats wird er am gleichen Tag noch für ein paar Stunden befreit. Dann fällt er abermals in die Hände des Konvents. Er will sich eine Kugel durch den Kopf jagen, aber der Schuß geht fehl und zerschmettert nur eine Kinnbacke. Am nächsten Tag wird er halbtot vor Schmerzen mit seiner schrecklichen ungepflegten Wunde zum Guillotinenplatz geschleppt. Verwünschungen und Gelächter begleiteten seine letzte Fahrt. Als sein Kopf fiel, applaudierte man wie im Theater. Maximilian Robespierre ist vierunddreißig Jahre alt geworden.
Der 9. Thermidor ist der rote Schlußstrich unter der Revolution. Jetzt ist ihre Kraft erschöpft. An die Stelle der alten Aristokratie tritt der reiche Bürgerstand. Die kleinen Leute in den Vorstädten, die ihre Schlachten geschlagen haben, sind vergessen, werden bald als Rebellen behandelt werden. Der Konvent versucht eine Politik der mittleren Linie, viele Verbannte kehren zurück. Die Schreckensherrschaft ist zu Ende, aber schnell setzt auch die Reaktion ein. Sogar die Anhänger der Monarchie wagen wieder zu hoffen. In den Vordergrund treten die Generale, die Siege errangen, während die Politiker sich zerfleischten. Am 13. Vendémiaire (5. Oktober) 1795 wird ein Aufstand der pariser Königstreuen in einem Straßenkampf an der Rue Saint-Honoré von den Truppen des Konvents niedergeschlagen. Ihr Befehlshaber ist einer jener blutjungen ehrgeizigen Offiziere, die fiebernd vor Ungeduld auf die Gelegenheit warten, sich auszuzeichnen. Am selben Abend ist sein Name in aller Munde, bald wird ihn ganz Europa kennen: Napoleon Bonaparte. Frankreich hatte einen König gestürzt, um einen Cäsar zu bekommen. Also war alles umsonst? wird man leicht fragen. Nein. Die Revolution hat trotz alledem den Sieg des Bürgertums vollendet. Zweimal kehren die Bourbonen noch zurück, zweimal werden sie, 1830 und 1848, gestürzt. Die Demokratie wird Frankreichs bleibende Form und erobert sich allmählich Europa. Mit der Herrschaft des Bürgertums kommen neue Mächte, Börse und Industrie, in die Welt. Nicht mehr dynastische Ansprüche, sondern kapitalistische Interessen treten jetzt in den Mittelpunkt. Langsam rückt der vierte Stand, die Arbeiterschaft, nach, dessen Leiden die Revolution nicht gemindert hatte. 1871 versucht die pariser Commune die erste sozialistische Regierung zu schaffen. Was in Frankreich nicht gelang, bricht viel später siegreich im Osten durch. Lenin gründet 1917 in Rußland den ersten sozialistischen Staat.
Jahrbuch Jugend und Welt, 1929
Ein desperater Elsässer hat dem Generalstaatsanwalt Fachot, den die Anhänger der Autonomie für eine Art juristischen Holofernes halten, ein paar Kugeln in den Leib geschossen. Solche Gewaltakte pflegen das Schicksal einer bedrängten Minderheit nicht freundlicher zu machen. Wir wünschen aufrichtig, die französische Regierung möge bessere Nerven zeigen als die erregten Provinzler, die aus einem tief innewohnenden, ziemlich irrationalen Obstruktionsdrange so lange demonstriert haben, bis endlich ein Revolver losging. Die französische Administration hat in dem wiedergewonnenen Lande grobe Fehler begangen und die Einwohner enttäuscht. Doch diese selbst sind daran nicht ganz unschuldig, denn ihr zäher Widerstand gegen das kaiserliche Deutschland und ihr Überschwang vor zehn Jahren mußten allerdings in Paris die Illusion erwecken, es wären dem Lande ein paar Hunderttausend exemplarischer Franzosen hinzugewonnen worden. Was wäre, wenn das Elsaß etwa wieder an Deutschland zurückfiele? Wäre dann wirklich alles in Ordnung? Wir halten jede Wette, daß dann die Bewegung mit andern Vorzeichen – und wahrscheinlich auch den gleichen Führern – weiterginge.
Der Mann, der den strengen Prokurator Fachot niedergeschossen hat, heißt Benoit. Ein guter französischer Name. Käme sein Träger heute als politischer Flüchtling nach Deutschland, die Behörden würden diesen Namen beschnuppern und nicht wohlriechend finden, und der Mann würde hin und her gestoßen werden, seine Gesinnung würde die Hochmögenden nicht hindern, ihn als Französling zu behandeln.
Herr Stresemann hat neulich in Genf recht großartig angekündigt, daß er demnächst die ganze Minoritätenfrage aufs Tapet bringen wolle. Auch diese Suppe wird wohl schließlich lauwarm gegessen werden. Man kann nicht, wie Herr Stresemann, eine sittliche Forderung einfach aus dem Grunde aufnehmen, weil man sich gegiftet hat. Das Ethos der Verärgerung hat überall seinen Kredit verloren. Deutschland und das ihm in dieser Frage verbündete Ungarn sind nicht die geeigneten Apostel, schon darum nicht, weil sie selbst die Muster aufgestellt haben, nach denen die Mächte arbeiten, die ihre Erben geworden sind.
Es heißt indessen der staatsmännischen Phantasie der Siegermächte kein schönes Zeugnis ausstellen, daß ihnen für die Behandlung ihrer neuerworbenen Bürger nichts besseres eingefallen ist als die Kopie jener Methoden, die Deutschland und das Habsburgerreich in der ganzen Welt verrufen gemacht haben. So empfinden die Befreiten fast überall neue Ketten, und wenn man ihre Klagen hört, glaubt man, daß diese viel drückender sind als die alten. Das ist wahrscheinlich nicht der Fall, aber schon die Imitation vergangener Unzulänglichkeiten ist betrübend genug. Die Sukzession hätte sich nicht auf Polizeidummheiten erstrecken dürfen.
Bei uns und in Ungarn wird jetzt am lebhaftesten über die Bedrückung der verlorenen Landeskinder gejammert. Ungarns Legitimation muß kurz und grob zurückgewiesen werden. Glücklich jeder Magyar, den der Zufall eines Friedensvertrages einem andern Staat zugesprochen hat. Er ist wenigstens vor Horthys Galgen sicher. Die budapester Clique ist denn auch klug genug, für den internationalen Komplimenteaustausch den steinalten Apponyi herumzuschicken, der viel vertrauenerweckender aussieht als Heijas oder Pronay, die für den vaterländischen Innendienst reserviert bleiben, aber Ungarns Regierende viel naturalistischer repräsentieren würden als der moralinströmende Ehrengreis, der Kahl des Völkerbundes. Doch auch in Deutschland wird über die Leiden der verlorenen Volksgenossen am meisten von denen geweint, die Horthys und Mussolinis innenpolitische Methoden bewundern und nachahmen möchten. Aber was tut unsre Außenpolitik, um den großen moralpolitischen Vorstoß ihres Herrn und Meisters würdig vorzubereiten? Sie behält gegen Polen die schärfste Tonart bei, obgleich sie damit nicht das Los der Deutschen in Ost-Oberschlesien mildert. Sie begeht die gleiche Sünde an den Elsässern; denn nur die äußerste Indifferenz Deutschlands an den Ereignissen um die Vogesen ist geeignet, die französische Nervosität zu beschwichtigen. Sie brüskiert als Advokatin baltischer Großgrundbesitzer das kleine Estland, das für seine Nationalitätenfragen die ideale Lösung gefunden hat. Sie hat einen spitzen Ton gegen die Tschecho-Slowakei, die ganz gewiß den endgültigen Akkord mit ihren nationalen Minderheiten noch nicht gefunden hat, die aber schließlich schon deutsche Kabinettsminister hat, was wahrhaftig kein Zeichen eines Kampfes bis aufs Messer ist, ein Eindruck, den die Berichte vieler unsrer Blätter aus Prag erwecken. Wie will also Herr Stresemann die Minoritätenfrage aufrollen? Wer wird sein Verbündeter sein, wenn die Staaten beleidigt beiseite stehen, die sich ein moralisches Recht zum Mitreden erworben haben?
Die Leiden vieler nationaler Minoritäten sind unverkennbar, aber die Diplomaten werden nicht viel bessern. Denn für die Diplomatie bedeuten sie immer nur Kompensationsobjekte für irgend etwas. Wenn es zum Beispiel Mussolini heute oder morgen gefiele, sich energisch für eine deutsche Aufrüstung einzusetzen, wäre in der deutschen Presse zum letzten Mal von Südtirol die Rede gewesen. Menschliches Unglück ist immer wieder grade zum Protestieren gut genug gewesen. Die Berufspolitiker sind von jeher Händler gewesen: in ihren Parteiversammlungen berichten sie triumphierend, wie gut sich die Entrüstung bezahlt gemacht hat – wo nichts zu holen ist, bleibt die Empörung privat. Nicht von der Außenpolitik kann hier das rettende Wort kommen, sondern nur von der innenpolitischen Vernunft. Solange die Staaten ihren Bürgern ein Gesinnungsklischee aufzwingen, so lange werden sie auch schlaflos liegen, wenn nicht alle dieselbe Sprache reden. Darum geht der Kampf; er geht gegen die wahnwitzige Überschätzung der Staatsideologien, die in Moskau ebenso nistet wie in Washington, Rom oder Berlin, nicht für die kleine Borniertheit nationaler Minoritäten, die sich heftig überschätzen, wenn sie ihre bescheidenen Telltragödien aufführen. In Genf hielt der polnische Außenminister Herrn Stresemann vor, daß die deutsch-polnischen Industriellen mit Zwangsmaßnahmen gegen ihre Arbeiter vorgingen, wenn sie ihre Kinder nicht in deutsche Schulen schickten. Es gibt eben auch innerhalb der nationalen Minoritäten sozial Schwache, die doppelt schlimm dran sind, und die von ihren besitzenden Mitunterdrückten noch besonders unterdrückt werden, wenn sie dem gemeinsamen Feind nicht heroisch genug begegnen. Den großen Unternehmern wird kein Staat den Schnabel verbieten. Ihre wirtschaftliche Macht aber wird erlauben, selbst den ärmern Volksgenossen die Muttersprache zu verwehren, falls sie die benutzen sollten, um auf eine bessere Verteilung der irdischen Güter zu dringen. Die nationale Frage ist noch immer viel. Sie ist nicht alles.
Die Weltbühne, 1. Januar 1929
Wenn man Herrn Edgar Wallace und andern ingeniösen Köpfen ein Motiv nicht abnimmt, so ist es das der Verbrecherschlacht im Herzen der großen Stadt. Mag der geheimnisvolle indische Professor mitten im Teesalon seinen Gegner durch einen sonst nicht bemerkten Schlangenbiß töten – gut. Aber wenn eine militärisch gegliederte Verbrecherbande ein Haus in einem belebten Teil der Stadt belagert und ein muntres Feuergefecht mit den Eingeschlossenen eröffnet, dann rebelliert auch die unverbindlichste Spannung, und die Frage drängt sich auf: Aber die Polizei –?
Vor acht Tagen hat in Berlin, nahe am Schlesischen Bahnhof, eine organisierte Verbrecherbande zwei Mal das Vereinslokal einer friedlichen Handwerkergilde überfallen, einen Mann getötet und viele verletzt. Nach dem ersten Vorstoß kam eine Polizeistreife, die die Angreifer schon vom Blachfeld verschwunden fand. Der Polizeioffizier gab den Überfallenen den Rat, hübsch im Hause zu bleiben, da eine zweite Offensive denkbar sei und fuhr mit den Seinen von dannen. Nicht hat den erfahrenen Straßenstrategen die Voraussicht getrogen – die zweite Offensive fand wirklich statt und wurde für die unschuldigen Opfer sehr schlimm. Nachdem das geschehen war, kam auch die Polizei wieder und nahm eine Reihe von Leuten fest.
Die Zeitungen hielten das Ereignis für erstklassig und nagelten es in großen Schlagzeilen fest. Die Polizei kündigte energisches Vorgehen an, was wohl selbstverständlich war. Aber die Energie lebte sich nur in einigen Erklärungen aus, in denen die Presse der Übertreibung bezichtigt wurde. Es war nach Meinung der Hochmögenden im Präsidium nur eine der am Schlesischen Bahnhof landesüblichen Prügeleien. Die erwarteten starken Maßnahmen blieben aus, wenn man dazu nicht die Nachrichtensperre rechnen will, die über ein paar Zeitungen verhängt wurde, weil sie ihre Mahnungen an die Polizei zu dringlich gehalten hatten.
Der hervorstechendste Zug der gegenwärtigen Herren vom berliner Scotland Yard ist ohne Zweifel ihre Begabung für Reklame. In Interviews und Verlautbarungen für die Presse schäumt Tatenlust, und dem kleinsten Langfinger muß das Gewissen klappern, wenn er sich die Mühe nehmen wollte, diese Exklamationen zu lesen. Politische Demonstranten dagegen haben nichts zu lachen, das kann der Vizepräsident der Polizei sachkundig bezeugen. Der Gauner- und Rowdy-Club "Immer treu" dagegen ist viel glimpflicher gefahren, und zum Überfluß hat jetzt noch der vernehmende Polizeirichter die meisten der Festgesetzten entlassen und damit ihrem Wirkungskreis zurückgeschenkt.
Die Presse gibt sich vergeblich Mühe, die geheimnisvolle Untätigkeit der Polizei wie das eiserne Menschenvertrauen des Herrn Polizeirichters zu enträtseln, und das Präsidium selbst läßt durchblicken, daß es über die Entscheidung des Richters entsetzt sei und sich gehandicapt fühle. Vergebliche Mühe, hier eine Lösung zu suchen. Der Zufall hat die Kehrseite eines Systems aufgezeigt, und dessen Einpeitscher haben alles Interesse, diese Demonstration schleunigst zu beenden. Durch die fatale Methode, Verbrecherhöhlen und Verbrecherorganisationen zu dulden, "damit man sie alle hübsch zusammen hat", ist in Berlin ein Bandenwesen entstanden, das der Schupo lange über den Tschako gewachsen ist. Wo aber solche Zustände herrschen, da bildet sich auch regelmäßig eine Schicht dubioser Gestalten, die nicht hierhin, nicht dorthin gehören, also dorthin, die von der Polizei die Statur und das ernste Führen mitbekommen haben und von der andern Seite die Frohnatur, die Lust am Fabulieren. Es wird augenblicklich in Journalistenkreisen mit schöner Offenheit erzählt, daß die meisten Teilnehmer des Überfalls professionelle Polizeispitzel gewesen seien und daß deshalb die Polizei die Hände nicht rühren könne, weil ein Prozeß die übelsten Schmutzwellen aufwirbeln würde. Deshalb die Verkleinerung des tollen Vorfalles und die ungnädigen Gesten gegen die Presse, die sonst immer zur tätigen Mithilfe aufgefordert wird.
Seit dem Abgang des Herrn Friedensburg hat sich die berliner Polizei erschreckend verschlechtert. Herr Zörgiebel dekretiert, versichert, beruhigt. Herrn Zörgiebel beängstigt ein rotes Kommunistenfähnchen mehr als die stolz wehenden Vereinsbanner sämtlicher berliner Spitzbuben.
Es hat keinen Zweck um Tatsachen herumzureden: wir brauchen endlich wieder einen Polizeipräsidenten.
Die Weltbühne, 8. Januar 1929
"Noske hatte inzwischen eine Truppe auf die Beine gebracht, von der angenommen werden durfte, daß sie einigermaßen zuverlässig sei... Die Truppe wirkte Wunder: Zwar tobten Liebknecht und Rosa Luxemburg..." Nun, ein paar Tage später tobten die beiden nicht mehr, denn Noskes Truppen hatten sich über die Maßen zuverlässig erwiesen, und Philipp Scheidemann, dessen Memoiren die obige Stelle entnommen ist, vermerkt: "Ich war auf das tiefste erschüttert." Das ist das mindeste, was man verlangen kann, Herr Scheidemann hat damit der Pietät genüge getan und kommt nicht weiter auf den Fall zu sprechen. Doch ist er sehr mit sich zufrieden, als er am Tag darauf von Kassel kommend in Berlin eintrifft. Der menschenleere Potsdamer Bahnhof war abgesperrt, beschäftigungslos stehen die Bahnbeamten und Gepäckträger: "Die waren nicht wenig erstaunt, als ich mit meinem kleinen Täschchen in der Hand allein den Bahnhof verließ und mich zu Fuß nach der Wilhelmstraße begab." Und er mag sich dabei vorgekommen sein wie Robert Blum.
Dabei ist Philipp Scheidemann von der sozialistischen Führergeneration von 1910 noch immer der Lebendigste und Instinktsicherste gewesen. Wenn er nicht in einem seltsamen welthistorischen Impromptu die deutsche Republik ausgerufen hätte, so würde der loyale, gesetzestreue Friedrich Ebert kurz danach seelenruhig die erste Proklamation der Reichsverweser für Wilhelm III. verlesen haben, und der spätere Heilige der Republik wäre nicht nur vom ›Vorwärts‹, sondern auch von der ›Kreuzzeitung‹ canonisiert worden. Aber Philipp Scheidemann erkennt nicht, daß dieser 15. Januar 1919, an dem Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von ein paar Landsknechten gemeuchelt wurden, ein schwarzer Tag der deutschen Arbeitsbewegung war, von dessen Folgen sie sich bis heute noch nicht erholt hat. Dieses Blut ist über Alle gekommen, dieser Schragen, auf dem die zwei Opfer der Ordnung lagen, steht seitdem als Barriere mitten in der deutschen Arbeiterschaft. Heute noch, nach zehn Jahren, blitzt, funkelt der Haß dieses Unglückstages in den Augen von Sozialdemokraten und Kommunisten, wo sie sich treffen. Es war eine wilde Zeit damals, und es ist inzwischen viel vergessen, manches auch ohne laute Worte verziehen worden. Die Bluttat vom Edenhotel nicht.
Die sozialdemokratische Presse schiebt das Thema auf ein falsches Gleis, wenn sie, wie sie jetzt gern tut, Rosa Luxemburg gegen die Thälmannkommunisten ausspielt. Gewiß, dieses Genie der Aufrichtigkeit hätte zu einer Wandlung, die den Sozialismus schließlich nur noch auf die Tscheka stützte, ebenso wenig geschwiegen wie etwa Angelica Balabanoff. Wahrscheinlich wäre auch sie von einer der vielen Zentralen an die Luft gesetzt und ihre Lehre als unleninistisch und unmarxistisch verdammt worden. Was zum alten Spartacusbund gehörte, ist ja in diesen Jahren entweder die rechte oder die linke Treppe hinuntergeworfen worden, um einer Führergarnitur Platz zu machen, die mit der natürlichen Auffassungsgabe eines Papageien das in Moskau Vorgesprochene nachplappert. Aber die Torheiten der Kommunisten machen die Politik der offiziellen Sozialdemokratie nicht schmackhafter, sondern verstärken nur das Gefühl der Heimatlosigkeit, das die Besten der deutschen Linken so oft befällt. Über den Gräbern der beiden Märtyrer des 15. Januar schwebt ein melancholisches Fragezeichen. Wofür? Wofür?
Die Wertung Rosa Luxemburgs hat sich in diesen zehn Jahren sehr gewandelt. Sah man damals in ihr eine hysterische Petroleuse, so ist heute mindestens das bürgerliche Republikanertum geneigt, ihr in höherm Maße Gerechtigkeit widerfahren zu lassen als ihre einstigen sozialistischen Genossen, die in ihr immer nur einen krakehlenden Störenfried, einen gehässig zuschnappenden Hecht gesehen haben. Ja, der zarte Lyrismus ihrer Briefe und Tagebücher gestattet schon eine – gottseidank – rein ästhetische Würdigung. Das ist der sicherste Beweis dafür, wie weit wir uns von der Revolutionsstimmung entfernt haben, als wie sicher konsolidiert das Juste milieu schon empfunden wird. Der Krater der Revolution ist ausgebrannt. Wenn Rosa Luxemburg wieder aus Grabesdunkel aufsteigt, wird die ästhetische Würdigung zu Ende sein und die Tote so gehaßt werden wie sie zu Lebzeiten gehaßt wurde, und, wie damals, werden sich Freiwillige finden, sie ein zweites Mal zu morden.
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"Diktatur des Proletariats" – das war der Schlachtruf, um den es vor zehn Jahren ging. Blicken wir heute zurück, so wissen wir, daß dieses so unerbittlich klingende, aus der Hausapotheke des populären Marxismus geholte Wort damals kaum mehr war als eine Sammelparole für alle, die begriffen hatten oder nur fühlten, daß die Taktik Ebert-Noske mit untrüglicher Sicherheit eben gestürzte Personen und Kasten wieder nach oben bringen müsse. Erst den Kommunisten der nachspartacidischen Jahre blieb es vorbehalten, diese Parole mit einer neuen patentiert orthodoxen Füllung erst langweilig, dann komisch zu machen. Was in Rußland geklappt und durch ein paar gräßliche Krisenjahre geholfen hat, braucht nicht in anderm politischen Klima praktikabel zu sein. Heute wird der Sozialist vollends das Wort Diktatur nicht gern unnützlich führen, wo auch die andre Seite wiederholt gezeigt hat, daß sie von dem verpönten Bolschewismus immerhin etwas zu akzeptieren geruhte. Heute zerbricht man sich nirgends mehr den Kopf über Endziele, sondern man ist im allgemeinen recht zufrieden, wenn es nur gelingt, wenigstens die ärgsten Anschläge auf demokratische Garantien abzuwehren. Es ist eine sehr unbehagliche Partie, die augenblicklich in den meisten europäischen Ländern mit wechselnden Einsätzen durchgeführt wird, und bald hört man von dem einen, bald vom andern Tisch die fatale Stimme des Croupiers: Rouge perd!
Als die Bürger von Belgrad am Sonntag vor acht Tagen aufwachten, fanden sie ihr Parlamentsgebäude versiegelt; Soldaten patrouillierten auf und ab, und die Offiziere ließen optimistisch den Degen klirren. Ein öffentlicher Anschlag klärte darüber auf, daß die Verfassung kassiert sei, die Volksvertretung auch, die Zensur installiert, das Parteiwesen verboten und daß König Alexander jetzt alles alleine mache. Es ist eine feste, randgenähte Diktatur, mit den königlichen Initialen geziert. Die unumgänglich notwendige Kärrnerarbeit wird von ein paar Zivilfritzen pflichtgemäß erledigt, während das, was zur höhern Schule gehört, von den Herren Gardeoffizieren geritten wird, die, wie historisch nachweisbar, der gegenwärtigen Dynastie schon ein Mal gefällig gewesen sind. Das Entzücken bei Hugenberg ist durchaus echt, echter als die Toleranz mancher liberalen Blätter, die König Alexander gut zureden, doch ja das Hängeschloß wieder von der Parlamentstür zu nehmen, wenn er finden sollte, daß sein Volk die Reifeprüfung bestanden.
Es ist nicht empfehlend für das demokratische Prinzip, daß ihm wieder ein Staat abhanden gekommen ist, der achte nun in Europa. Süden und Südosten Europas wird jetzt ausschließlich von Despotien bevölkert. Horthy verbindet sie mit Zentraleuropa, mit Seipel, mit unsern Reaktionären. Man fragt sich, wo der nächste Schlag fallen wird. Die Demokratie hat eine schlechte Zeit. Aber auch der Feind dieser weißen Diktaturen kann nicht umhin, zuzugeben, daß das Schicksal der jugoslavischen Demokratie zwar hart ist, jedoch nicht ungerecht. Der belgrader Parlamentarismus war von mühelos überzeugender Nichtsnutzigkeit, ganz ohne politischen Fundus, die Geschäftemacherei von Sippen und Familiencliquen, unterbrochen von Nationalitätenrandal und Kabinettskrisen. Keine der entscheidenden Fragen ist ernsthaft behandelt worden. Die wichtigsten Gesetze modern in den Kommissionen. Von allen Sukzessionsstaaten hat dieser am meisten von der alten österreichischen Tradition abbekommen. Wenn man heute liest, mit welch feierlicher Betonung die serbische Dynastie zitiert und ihre Bedeutung als übergeordnete Instanz über einem Bündel höchst verschiedener Stämme und Zungen unterstrichen wird, so stellt sich mühelos die Erinnerung an die Habsburger ein, wie sie argwöhnisch vor ihrer Völkervolière saßen, aufpassend, daß sich nicht irgend ein Exemplar durch die Sprossen klemmte. Die Serben sind ein gutes und geduldiges Bauernvolk von hohen Qualitäten. Wie sehr staunten unsre Soldaten, als sie im Kriege das wirkliche Serbien sahen, das so wenig den dummdreisten Verzerrungen der schwarzgelben Presse entsprach. Aber die junge Bourgeoisie hat vage Träume von Allmacht; das Militär spielt eine übergroße Rolle, die begreiflich wird durch eine Vergangenheit voll von Konspirationen und Guerillaromantik. So hat sich schnell eine Herrenkaste herausgebildet, tyrannisch gegen die nichtserbischen Mitbewohner des Staates, sorglich bemüht, die Nachfolge der einst bis aufs Blut gehaßten magyarischen Magnaten anzutreten, deren nationalpolitische Erkenntnis und Methode bekanntlich im Stiefelabsatz steckte. Was großserbische Willkür in Mazedonien treibt, ist schlechthin abscheulich, doppelt verwerflich bei Angehörigen einer jungen Nation, die selbst ein paar Jahrhunderte am Katzentisch gesessen hat und deren Chronik nicht nur viel Heroismus der Tat zeigt, sondern auch des Duldens und Ertragens. Die letzten Jahre brachten bitterböse Versuche zur Mazedonisierung Kroatiens. Dennoch wäre es nicht so bald zur äußersten Zuspitzung gekommen, wenn nicht im vergangenen Sommer ein ins Parlament verschlagener montenegrinischer Ehrhardt den angebeteten Kroatenführer Raditsch durch ein paar Revolverschüsse zu Tode verwundet hätte. Seitdem ist die Krise permanent, sie hätte, seit die Kroaten das Parlament boykottierten und Versöhnungsversuche scheiterten, kurz oder lang mit der Unabhängigkeitserklärung Agrams enden müssen. Die Diktatur ist ein verzweifelter Versuch, den heutigen Bestand des Staates zu erhalten.
Die Frage ist: großserbischer Zentralismus oder Föderativstaat? Die Kroaten fühlen ganz mediterran, sie sind ein kleines, hochzivilisiertes Volk und Altserbien, dessen Ehrgeiz nach dem Balkan zielt, um ein rundes Jahrhundert voraus. Wie können diese Gegensätze mit einem den Habsburgern abgeguckten Schematismus zum Ausgleich gebracht werden? Agrams Sprecher Matschek hat das gewiß geflügelt werdende Wort gebraucht von der falsch zugeknöpften Weste, die noch ein Mal aufgeknöpft werden muß. Der Verfassungsstaat hat seine Aufgaben nicht lösen können, sie nicht einmal begriffen, die Diktatur arbeitet mit keinen günstigeren Voraussetzungen, denn sie ruht auf der altserbischen Militärkaste, die nicht im Traum daran denkt, Prärogative preiszugeben. Diese Alexanderschlacht gegen die Demokratie hat nur einen verrotteten Parlamentarismus in die Flucht gejagt, der König mag im dynastischen Interesse klug gehandelt haben, daß er zur Aktion überging, ehe ihm die seit langem diktatursüchtigen Militärs einen Primo vor die Nase setzten, aber für die Therapie der Staatskrise ist damit gar nichts geschehen. An die Stelle eines verwahrlosten Zivilregiments wird jetzt eine robuste Generalswirtschaft treten, deren außenpolitische Gefahr darin besteht, daß sie sehr bald Mussolini und seinem Ahmet Zogu das ersehnte Stichwort geben kann.
Die wirkliche Tragik dieser Konflikte liegt darin, daß es für sie überhaupt keine Lösung gibt, so lange jeder Staat sich in erster Linie als selbstherrliche Machtorganisation betrachtet. Der Streit zwischen Serbien und Kroatien schreit nach einem überstaatlichen europäischen Schlichtungshof. Der Völkerbund darf sich in innere Angelegenheiten der Staaten nicht einmischen. Wenn auch ein Volk mit Galgen und Füsilladen in einem Staatsverband zurückgehalten wird, den es als Kerker empfindet – einerlei, der Völkerbund muß neutral bleiben. Ohne das grausame Dogma von der Souveränität der Staaten wäre die jugoslavische Krankheit nicht unbehandelbar. Heute ist sie fast hoffnungslos. Cujus regio, ejus natio! Das ist die verruchte Weisheit der neuen politischen Gegenreformation, der Staatsjesuiten von Heute.
Die Weltbühne, 15. Januar 1929
Herrn Groeners Empfehlungsschrift für Kreuzerbau, die für die Manualakten der Kabinettsminister bestimmt gewesen war, ist plötzlich in einer angesehenen englischen Zeitschrift aufgetaucht. Nachdem die deutsche Presse das erste lähmende Entsetzen überwunden und zu schreien begonnen hatte, wurde ihr vom Auswärtigen Amt Schweigen geboten. Ruhe trat sofort ein, und die Nachricht von einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt dürfte wohl der Epilog der Affäre sein. Mit dem Hinweis auf das schwebende Verfahren sollen lästige Fragen verhindert werden. Außerhalb Deutschland wird allerdings weiter gefragt werden.
Herrn Groeners öffentliche Begründung für seinen Kreuzer ließ es schon an Schlichtheit nicht fehlen. Was er indessen an Argumentation für seine Ministerkollegen aufgewendet hat, ist von einer Dürftigkeit, die sogar einem Kriegsminister kaum nachzusehen ist. Einige der sozialistischen Herren sollen die Denkschrift mit spitzen Marginalien geziert haben. Sie hätten eine herbere Form wählen sollen, um Herrn Groener ihre Meinung zu sagen. Das schließliche Kompromiß wird nach Kenntnis dieser internen Vorgänge nur noch unverzeihlicher.
Einen gewissen, wenn auch nicht bessern Sinn erhält Herrn Groeners fachministerielle Leistung allerdings, wenn in Betracht gezogen wird, daß er nicht nur den einen Kreuzer A, sondern das ganze maritime Alphabet vertritt, das gesamte Flottenprogramm, wie es gebacken ist. Daß sich mit dem einen Kreuzer nicht die ganze Ostsee verteidigen läßt, daß dieser einexemplarige heroische Kahn nicht zugleich die Seetransporte decken und die Küstenverteidigung unterstützen kann, das weiß auch Herr Groener. Denn dieser Panzerkreuzer ist ihm nur ein bescheidener Vorschuß auf die Seligkeit. Zwar teilt er lang und breit seine Befürchtungen wegen eines polnischen Handstreichs auf Ostpreußen mit, aber seine leitende Idee ist die Überlegenheit der deutschen Flotte im Baltischen Meer. Er spricht offen aus, daß nach Ersetzung der abgenutzten Linienschiffe durch die neuen Kreuzer die deutschen Ostseestreitkräfte die baltische Küste beherrschen und selbst die heutige russische Flotte neutralisieren könnten. In ähnlicher Rundheit ist das von deutschen Reichsministern bisher noch niemals gesagt worden. Hier dreht es sich nicht mehr um die bei allen Parteien gleich beliebte Verteidigung unsrer Grenzen, nicht mehr um die Ausnutzung der kargen Wehrmöglichkeiten, die uns der Friedensvertrag belassen hat, sondern wieder einmal um Überlegenheit, um Herrschaft.